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Selbstbildnis mit eigenhändiger Signatur Germaine Bertons
und Datum: 20 / 7 / 22

Yvan Goll

Germaine Berton
Die rote Jungfrau

Herausgegeben und
mit einem Nachwort von
Barbara Glauert-Hesse

 

 

 

 

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Die fünf im Text stehenden Zeichnungen

sind Arbeiten von L. Berings

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Erste Auflage 2017

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

isbn (Print) 978-3-8353-1984-4

isbn (E-Book, pdf) 978-3-8353-4067-1

isbn (E-Book, epub) 978-3-8353-4068-8

Inhalt

Germaine Berton

Iwan Goll »Prozess Germaine Berton«
in: Das Tage-Buch (Berlin), 5 (5. 1. 1924)

Nachwort

 

 

 

 

Nach dem Krieg. Nach dem Frieden. Frankreich fiebert. Fieber ist der Kampf zwischen heiß und kalt. Geht es nach rechts? Geht es nach links? Eine bestimmte Krankheit ist nicht zu konstatieren, aber um so gefährlicher ist jeder Millimeter der Kurve. Das Tamtam des Sieges ist groß, aber das Schweigen der Massen ist imposant. 1920 wirft ein Streik einen roten Schein in die Nacht. Paris ist die Stätte der ehrfurchtgebietenden Patina, die ererbten Ideologien leben im Volke weiter, wie Bart und Nägel an den Kadavern weiter wachsen. In Wirklichkeit hat die russische Revolution die Weltgeschichte mit einem Ruck um Jahrhunderte weiter gebracht: aber Frankreich lebt noch nach alten Kalendern, mit den entwerteten dreiprozentigen Renten und einer Ideologie, die aus feinem Weißbrot ist, aber schon acht Tage altem, ungenießbar gewordenem Weißbrot, an dem man sich die Zähne zerbricht. Die sozialistischen Köpfe selbst leben von ererbtem Gut, von Jules Guesde und Vaillant, und glauben an die Namen von vor 1914. Aber von der Front stürmen junge Männer zurück, die riechen nach Blut, die haben einen Wind vom weiten Europa herüberwehen hören, und schütten ihn jetzt auf den öffentlichen Plätzen aus, in den Wahlversammlungen, in den Meetings. Sie sind die Abgeordneten der Kriegsbetrogenen, im Ballsaal der Geretteten. Sie gründen Clarté, mit Barbusse zusammen. Es ist eine wirre, neblige Zeit. Das Gespenst der Revolution wird auf den Boulevards herumgetragen: eine freche, rotbärtige Fratze, mit einem Messer zwischen den Zähnen, das ist das Wahlplakat der Reaktion gegen den Kommunismus. Der Bürger hat aber genug Blut gehabt, er braucht Ruhe. Die Amerikaner haben Montmartre besetzt gehalten, und die Hotels Meublés, die Bäckereien, die Dancings verzehnfachen ihre Einnahmen. Das Volk wählt für die berühmte Ordnung der Kassa.

Der Zorn des Parti Socialiste schlägt nach innen. Das Geschwür ist nicht gereift, die Blutzirkulation ist zerstört und vergiftet. Nun kommen Handel und Händel mit Moskau. Auf dem berühmten Kongreß von Tours tritt der Parti in die III. Internationale ein. Aber nur die Partei: dem individualistischen Franzosen behagt kein Papsttum, er versucht die eisigen Dekrete Rußlands auf seine Körper- und Seelenmaße umzumildern. Die Diktatur meint es anders. Und langsam krachen die Fugen des Hauses. Die linke Minorität hat einen Augenblick noch die Oberhand und erobert definitiv im nächsten Pariser Kongreß die Humanité mit allem Drum und Dran, und die tatsächliche Erbfolge Jaurès. Der Parti Socialiste, mit Blum und Renaudel, glitscht langsam in den Parlamentarismus zurück.

Viele Arbeiter, angeekelt von den politischen Umtrieben der Führer, sehen sich nach was anderem um. Da ist die Anarchie. Sie ist eine lockende Illusion, sie negiert Staat, jegliche Autorität und proklamiert die Freiheit des Individuums. Ziel: die arbeitenden Massen sollen Arbeitsgemeinschaften bilden und alle Produktionsmöglichkeiten an sich reißen. Keine Politik, direkte Tat. Es ist nur eine Illusion. Aber sie tröstet. Viele kommen zu ihr.

In den Pariser Faubourgs gedeiht eine eigentümliche Fauna. Nirgends, wie sonst in Vorstädten, der Geruch von Armut oder Elend. Fast ein behäbiges Leben. Die proletarischen Allüren immer menschlich und zivilisiert. Irgendwo ist der kleine Mann immer ein Monsieur. Äußerlich fast ein Bürger: auch die Casquette, auch der rote Gürtel sind elegant. Sonntags nimmt man den Amer Picon auf der Terrasse der Cafés und bringt ein Dutzend Austern zu 1 Franken heim. »Ich will, daß jeder am Sonntag seine frischen Austern habe,« könnte Herriot ausrufen. Aber dazu liest man die »Humanité«. Und das Frondeurherz ist leicht in Schwingung zu bringen. Die Luft von Paris erinnert immer an Frühling. In den Faubourgs wächst viel Flieder. Die Seine ist ein grüner Sirenenleib. Der Mont Valérien und hinter ihm die wilden Hügel von Saint Cloud besänftigen jedes Auge. Es gibt kein Whitechapel, kein Moabit. Es gibt zwar die Fortifikationen, hinter denen in einem unentwirrbaren Dschungel von seltsamen, aus Latten, Planken, Papier und Wellblechstückchen zusammengesetzten Hütten eine bis zum heutigen Tage (so geht die Sage) von der Polizei noch nicht durchforschte Menschheit lebt. Aber ich glaube, daß diese Apachenwelt mehr der Romantik angehört als der Wirklichkeit.

In diesen Faubourgs wurde Gemaine Berton groß. Sie ist am 7. Juni 1902 in Puteaux geboren. Ihr Vater besaß ein kleines Atelier für mechanische Reparaturen. Er hatte einen solchen Drang zur Unabhängigkeit, daß er es in einer großen Fabrik nicht aushielt und lieber so sein Leben fristete. Auch blieb er nicht lange an einem Ort. Er zog später nach Nanterre, und dann immer etwas weiter von der Stadt, immer etwas tiefer ins Provinzielle. Vater und Tochter liebten die pittoreske Halbnatur der Vororte und machten gemeinsam große Spaziergänge mit ihrem kleinen Hündchen Kiki. Germaine war äußerst sentimental: sie liebte die Blumen, die Landschaften, die Tiere und die armen Leute. Ihr später sich immer mehr entwickelndes Freiheitsgefühl kommt bestimmt aus einer gewissen verdrängten lyrischen Sehnsucht heraus. Weil ihr zur Dichterin die Tiefe fehlte, wurde sie zur Mörderin. Zum Morde gehört ebensoviel Inspiration wie zur Erschaffung eines »Bateau Ivre«. Beide entspringen einem Überschwang des Lebenstempos. Beide sind Siedepunkte eines seelischen Überschwelgens.

Die ganze Atmosphäre der Banlieue verdichtete sich in dem kleinen Herzen dieses Mädchens. Wenn der Vater einen Trupp blitzblanker Soldaten vorbeiziehen sah, machte er seine Witze und verzog spöttisch die Lippen. Der Franzose ist ein guter Patriot, aber er haßt die Armee, weil sie ein Institut gegen die persönliche Freiheit ist. Er ist ein guter Soldat, aber er verachtet seine Vorgesetzten. Er hat den akutesten Instinkt für Freiheit. Jeder ist Individuum, jeder ein Ganzes. Jeder denkt, kritisiert, urteilt, schimpft. Nirgends wird soviel geflucht. Aber nirgends hat man auch soviel Geduld, mit sich und den anderen. Es geht so lange gut, als die Menschenwürde nicht angetastet wird, nirgends ist die Freiheit des Lebens vollkommener. Der Kommunismus ist eine schöne Sache. Aber bringt er dem Individuum größere Freiheit? Hier liegt der Grund, warum er in Frankreich so langsam fortschreitet.

Endlich siedelt der Vater nach Tours über und eröffnet dort eine Werkstatt mit zehn Arbeitern. Er hat sich emporgeschwungen. Germaine huscht zwischen den Motoren, beschmutzt sich die Finger mit Öl und mit Pech, ist ein schäkernder Kobold unter den Arbeitern. Sie lernt schnell eine Dynamomaschine auseinandernehmen. Sie hat die Gelenkigkeit eines Knaben. Ein andermal schleicht sie auf den Speicher hinauf, macht sich über einen verbotenen Bücherkorb und verschlingt dort tagelang die Werke von Voltaire, Victor Hugo, France, Zola, Kant, Sammlungen von Witzblättern und Schriften über die Freimaurerei. Dann gibt es Tage, da läuft sie an die Ufer der seidenen Loire, streift durch die Wiesen, verliebt sich in die Bäume, in die Vögel, in die Sonne.

Der Vater will sie bürgerlich erziehen. Sie kommt in eine Zeichenschule und glaubt eine Künstlerin zu werden. Ihre Wildheit erfaßt ihre Kameraden. Auf dem Heimweg von der Schule skandalisiert sie die Bürger der kleinen tugendhaften Stadt. Im Sturmschritt durchläuft sie die Stationen einer Jugend. Einige Wochen lang Fanatikerin des Sports, lernt sie die Namen aller Radfahrer und Boxer auswendig. Sie schillert wie Quecksilber. Wohin sie kommt, ist Bewegung, Aufruhr.

Mit dreizehn Jahren liebt sie. Es gehört in ihr Schicksal, daß der Krieg den Auserwählten abruft. Vierzehn Tage lang irrt sie in ihrem Schmerz herum, verkriecht sich in der St. Martinskirche und kehrt nicht mehr heim. Zum erstenmal denkt sie an Selbstmord. Derselbe mystische Hang durchzieht ihr ganzes Leben. Wir werden sie später noch einmal in einer Kirche mit Selbstmordgedanken antreffen. Der Hang zum Opfer und zum Leide treibt sie in die Felder hinaus, und mitten in einem sentimental purpurnen Sonnenuntergang läßt sie sich in die Wellen der rauschenden Loire gleiten. Aber ein Mann hat sie beobachtet. Die Trambahn von Vouvray nach Tours fährt gerade vorbei, und sie läßt sich retten.

Kurze Zeit darauf stirbt ihr Vater. Die Hoffnungen eines bürgerlichen Mädchendaseins zerschellen. Die Mutter bleibt arm zurück. Germaine wird arbeiten müssen. Sie flieht nach Paris. Gibt es ein anderes Ideal für ein junges Gemüt in der Provinz, als eine Flucht nach Paris? Diese gehört fast in jede Biographie. Täglich berichten die Zeitungen von der Ankunft kleiner Schüler in der Gare de l‘Est oder Gare de Lyon: sie haben etwas gestohlenes Geld in der Tasche, einige Bücher unter dem Arm, sie finden nicht heraus aus dem Trubel der Automobile und Menschenjäger, sie wagen sich nicht in ein Hotel und werden meistens kraftlos auf einer Bank auf den Boulevards von einem gutmütigen Schutzmann aufgefunden.

 

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