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Autorität im Wandel

Herausgegeben von
Corinne Michaela Flick

 

 

 

 

 

 

 

WALLSTEIN      CONVOCO! EDITION

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Celine Singh

ISBN (Print) 978-3-8353-3029-0

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4094-7

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4095-4

Inhalt

Einführung

Thesen

Corinne M. Flick und Clemens Fuest
 Gedanken zur Autorität

Stefan Oschmann
 Autorität in der Unternehmenswelt von heute

Stefan Korioth
 Autorität in der Demokratie

Roger Scruton
 Verantwortlich reagieren

Kai A. Konrad
 Autorität in der Medienlandschaft

Christoph G. Paulus
 Hat das Recht noch Autorität?

Peter M. Huber
 Die Autorität des Rechts im Wandel

Wolfgang Schön
 Wer verwaltet den Rechtsstaat?

Peter Maurer
 Machtfragmentierung, Gewalt und die Autorität des Rechts – ein Blick auf bewaffnete Konflikte

Thomas Hoeren
 Big Data und die digitale Revolution im Recht

Claudia M. Buch
 Macht und Ohnmacht öffentlicher Institutionen: Das Beispiel Finanzstabilität

Hans Ulrich Obrist und Richard Wentworth im Gespräch
 Autorität in der Kunstwelt

Die Autoren

Einführung

Liebe Convoco-Freunde,

wenn es darum geht, ein Jahresthema für Convoco zu finden, versuchen wir stets vorauszudenken: Was könnte im nächsten Jahr gesellschaftlich so relevant werden, dass man es wesentlich und interdisziplinär diskutieren sollte? Welche Fragestellung erfüllt den Anspruch der Serendipität?

Selten hat sich ein Thema als so relevant erwiesen und im Verlauf des Jahres weiterentwickelt wie »Autorität im Wandel«. Überall in der Welt befinden sich althergebrachte Autoritätsstrukturen im Umbruch. Das Establishment, gesehen als Garant für Beständigkeit, wurde durch Abwahl abgestraft. Es bilden sich neue Autoritäten, von denen wir noch nicht wissen, wie sie sich entwickeln werden. Der Band beleuchtet diesen Wandel und geht ihm auf den Grund.

Auch in der Struktur von Convoco gab es einen Autoritätswandel in Form einer Erweiterung. Zu den traditionellen Autoritäten von Wissenschaft, Politik, Recht und Wirtschaft, die vielfach in der Edition vertreten sind, haben sich zum ersten Mal beim Convoco Forum neue Autoritäten der digitalen Welt gesellt – Startup-Unternehmer und Akademiker wie Bruce Pon, Julie Maupin, Garrick Hileman und Marcella Atzori. Ein Autoritätswandel vollzieht sich durch die wachsende Digitalisierung unserer Gesellschaft. Es ist essenziell, dass wir uns bewusst diesem Wandel stellen und ihn integrieren. Andernfalls kann zum Beispiel die Tatsache, dass regierende Autoritäten Zweifel an der Globalisierung ignorieren, zum Autoritätsverlust führen, wie wir es derzeit beobachten.

Wenn sich Gesellschaften mehr und mehr von ihren Regierungen entfremden und die Unzufriedenheit wächst, wird nach Alternativen gesucht. Die Nutzung von digitalen Errungenschaften wie der Blockchain-Technologie ist eine solche Alternative. Durch sie kann man die Autorität der Banken unterlaufen oder dem Tracking durch Staaten entgehen. Geistiges Eigentum kann unabhängig von staatlicher Regulierung geschützt werden. Menschen, die hinter Grenzen gefangen sind, die nicht wählen können oder keinen Pass haben, können durch Blockchain-Technologien wie Bitcoin finanziell unabhängig von ihren Staaten werden.

Gleichzeitig birgt die Dezentralisierung durch Technologien Gefahren. Oft werden neue Technologien wie zum Beispiel Blockchain für ihre Transparenz und demokratische Natur gelobt, doch auch sie befinden sich nicht in einem neutralen Raum, unabhängig von einem existierenden Machtgefüge. Hier gilt ebenfalls: Je mehr Wissen, je mehr Know-how, desto größer die Kontrolle über technologische Entwicklungen. So kann es sein, dass man unter dem Deckmantel der Transparenz ein technokratisches System schafft, das nicht demokratischer oder transparenter ist als die existierenden Strukturen.

Wir haben über Jahrhunderte innerhalb des internationalen Gesellschaftsgefüges das Recht entwickelt, um unser Miteinander zu regeln. Bitcoin begann als ein rechtloser Raum, der sich bewusst von Regierungen und Autorität abgrenzen wollte. Blockchain-Technologie sowie andere Errungenschaften der Digitalisierung können und sollten jedoch nicht losgelöst von existierenden Rechtsstrukturen bestehen. Es muss eine Verknüpfung zwischen der digitalen Welt und der realen Welt geschaffen werden. Diese Verknüpfung sollte durch Recht entstehen.

Wie unter anderem Peter M. Huber, Christoph G. Paulus, Wolfgang Schön und Peter Maurer in ihren Beiträgen anmerken, ist jedoch das Recht selbst nicht von Autoritätskonflikten verschont. Seine Gültigkeit wird immer häufiger untergraben und in Frage gestellt. Peter M. Huber macht in seinem Beitrag »Die Autorität des Rechts im Wandel« deutlich, dass die Fälle, in denen die Politik sich über das Recht hinweggesetzt oder es mit seiner Bindung nicht so genau genommen hat, in den vergangenen Jahren zugenommen haben. So allerdings beschädige man auf Dauer das Vertrauen der Bürger in die Integrität der Institutionen. Der Rechtsstaat existiert durch das Gesetz oder er existiert nicht, so Peter M. Huber in »Die Autorität des Rechts im Wandel«. Und Christoph G. Paulus merkt in seinem Aufsatz »Hat das Recht noch Autorität?« an, dass die Rechtsstaatlichkeit die größte Garantie für individuelle Freiheit ist. Dieses Fundament gilt es zu bewahren. Dies bedeutet eine fortlaufende Auseinandersetzung mit unseren Rechtsgrundlagen. Wolfgang Schön stellt in seinem Beitrag fest, dass sich die Anforderungen an unseren Rechtsstaat in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich erhöht haben (zum Beispiel durch neue Rechtsfelder in den Bereichen Cyberspace und Digitalisierung). Dieser wachsenden Komplexität sollte durch ein besseres Rechtsverständnis entgegengewirkt werden. Den Bürgern muss von den Autoritäten Klarheit vermittelt werden. Denn: kein Rechtsstaat ohne »Kapazitäten« für den Rechtsstaat.

Um Stabilität und eine funktionierende Gesellschaft zu bewahren, müssen regierende Autoritäten sich mit aufkommenden Autoritäten aller Art auseinandersetzen und versuchen, Herausforderungen besser zu begegnen durch Erklärung und Führung. So lassen sich neue Akteure und Wissensfelder, die nach Autorität streben, in unsere heutigen Systeme einflechten, damit es bei einem Wandel von demokratischer oder rechtsstaatlicher Autorität bleibt und nicht zu einem Bruch oder Versagen der Demokratie und des Rechtsstaats kommt.

Corinne Michaela Flick, im Januar 2017

Thesen

Wer Autorität besitzt, hat Verantwortung. Je mehr Autorität, desto größer die Verantwortung.

Corinne M. Flick

 

Die Übertragung von Autorität erfolgt durch Wahlen oder durch Übernahme eines historischen Amtes entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen. Jedoch gibt es kein Amt ohne die es bestimmende Verantwortung. Die Ausübung von Macht jenseits der Grenzen dieser Verantwortung ist, wie das Gesetz es formuliert, Handeln ultra vires, jenseits der übertragenen Macht. Eine solche Betrachtung des politischen Prozesses vermittelt uns, dass Politik nicht mit Macht, sondern mit Autorität zu tun hat. Diese Autorität ist gegeben, wenn Menschen anderen, weniger Mächtigen gegenüber direkt oder indirekt rechenschaftspflichtig sind.

Roger Scruton

 

Demokratie benötigt Autorität und sie muss Autorität ausstrahlen, sie darf aber nicht autoritär sein. Ihre größte gegenwärtige Gefährdung liegt in der Entwicklung zu einem »Spiel ohne Bürger«, bei dem niemand da ist, der der Demokratie Autorität gibt und die Bürger keine Autorität verspüren.

Stefan Korioth

 

Autorität bedeutet heute weniger denn je, dass Politiker schlicht entscheiden und die Bürger folgen. Trotzdem wird die Hoffnung, Referenden würden zu einer stärkeren Orientierung der Politik an den Interessen der Bürger, schnell zur Illusion, wenn Referenden von Regierungen für strategische Zwecke missbraucht werden, wie es derzeit immer wieder geschieht. Volksabstimmungen sollten einen klar definierten Platz in der konstitutionellen Ordnung haben, und Initiativen für Referenden sollten in erster Linie aus der Bevölkerung kommen, nicht von den Regierungen.

Clemens Fuest

 

Das Recht lebt von seiner Autorität. Diese Autorität erschöpft sich nicht darin, dass das Recht vom Bürger befolgt wird. Bevor es vom Bürger ge- und beachtet werden kann, muss das Recht auch verstanden, erklärt und in seiner Bedeutung für den Einzelfall erfasst werden. Dafür müssen Staat und Gesellschaft Kapazitäten bereithalten: personell, finanziell und intellektuell. Sonst drohen lähmende Übervorsicht oder riskanter Blindflug durch das Recht.

Wolfgang Schön

 

Während das Recht als Imperativ und als Leitlinie für alle zukünftigen Fälle verstanden werden soll, passt sich die Politik an die Bedürfnisse und Notwendigkeiten des Tages an. Dieser Antagonismus zwischen Recht und Politik wird unterhöhlt, wenn Gesetze so formuliert werden, dass ein Handeln entgegen der proklamierten Intention möglich ist; denn damit orientiert sich das Recht an den Notwendigkeiten der Politik und droht, mit ihr seine Autorität zu verlieren. Damit geht es zugleich einer seiner wertvollsten Eigenschaften verlustig, nämlich die Antizipierbarkeit bestimmter Ergebnisse.

Christoph G. Paulus

 

Die unbedingte Achtung der Autorität des Rechts gehört zur nationalen Identität Deutschlands. Sie ist seit Jahrhunderten gewachsen und hat zu vielfältigen »Einträgen in unser kollektives Wörterbuch« geführt. Die Autorität des Rechts hat gelitten. Unter den Bedingungen von Globalisierung, europäischer Integration und bundesstaatlicher Machtverschränkung hat der Kern des Rechtsstaats, die Bindung der Politik durch das Recht (Kant), an Wirkmächtigkeit verloren.

Peter M. Huber

 

Die Wiederherstellung des Konsenses über Geltung und Bedeutung des Rechts und die Grundsätze humanitärer Arbeit werden entscheidend sein. Aus diesem Grund hält das IKRK seinen Einsatz an der Front und die Verhandlungen mit den Konfliktparteien mit dem Ziel, die Normen zu respektieren und humanitäre Freiräume zu schaffen, für den wichtigsten humanitären Beitrag zur Wiederherstellung von Autorität in der Gesellschaft.

Peter Maurer

 

Die digitale Transformation ist im vollen Gange. Die Veränderungen ergreifen nicht nur Felder des »digitalen« Rechts, sondern das Recht in seiner Gesamtheit. So steht mit dem BGB auch traditionelles Zivilrecht auf dem Prüfstand. Im Hintergrund schwelt die Frage, welche Anforderungen Big Data an das Verfassungsrecht stellt.

Thomas Hoeren

 

Das traditionelle Verständnis von Autorität gerät zunehmend unter Druck, auch in der Wirtschaft. Verliert Autorität also an Relevanz? Obwohl es paradox erscheint, ist das Gegenteil der Fall. Sich verändernde gesellschaftliche Werte, eine unbeständige Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklung sowie rasanter technologischer Fortschritt sind für etablierte Organisationen ernsthafte Herausforderungen. Mit diesen Faktoren umzugehen, erfordert Autorität, aber in einer neuen Form.

Stefan Oschmann

 

Kurzfristig bestimmen viele Faktoren die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Einer dieser Faktoren ist die Psychologie. Die wirtschaftliche Entwicklung erfordert oft gleichgerichtete oder komplementäre Handlungen vieler Wirtschaftsakteure. Deshalb spielt das Vertrauen in das Handeln der Anderen, und damit das Vertrauen in den wirtschaftlichen Aufschwung oder die Stabilität der Konjunkturlage eine entscheidende Rolle. In diesem Punkt kommt die Autorität der Presse ins Spiel.

Kai A. Konrad

 

Es gab in der Vergangenheit immer wieder Phasen der Liberalisierung und Phasen, in denen Marktöffnungen wieder zurückgenommen wurden. Auf die schwere Finanzkrise, die in den Jahren 2007/2008 begann, haben wir mit einem Ausbau der internationalen Kooperation, neuen Institutionen und einer besseren Regulierung der Finanzmärkte reagiert. Daher sind wir heute besser als in der Vergangenheit aufgestellt, um mit den aktuellen Herausforderungen für die Märkte umzugehen.

Claudia M. Buch

 

Ich liebe gute Ermittler und mein eigenes Urteilsvermögen steht im Mittelpunkt meiner Selbstachtung. Ich halte Ausschau nach kreativen Denkern und Menschen, die ihre eigene Erfahrung mit Talent vermitteln. Irgendwo in diesem Gemisch verortet sich mein Sinn für Autorität. Ich habe große Hochachtung vor Menschen, die mehr ›wissen‹ als ich.

Richard Wentworth

 

 

 

 

 

Autorität: ohne sie kann der Mensch nicht existieren, und doch bringt sie eben soviel Irrtum als Wahrheit mit sich.

 

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Corinne M. Flick und Clemens Fuest

Gedanken zur Autorität

Welche Rolle spielt Autorität in unserer Gesellschaft heute? Autorität als bloße Machtausübung über andere, ohne deren Zustimmung, sollte in freiheitlichen, demokratisch verfassten Gesellschaften keinen Platz mehr haben. Aber Autorität ist weit mehr. Menschen können durch Verdienste, Kompetenz und charakterliche Qualitäten zu Autoritäten werden, die Orientierung geben und Vertrauen genießen. Ein Politiker wie Helmut Schmidt hatte Autorität, weil er in Krisen wie der Hamburger Sturmflut oder auf dem Höhepunkt des RAF-Terrors im Herbst 1977 Führungsqualitäten unter Beweis gestellt hat. Eine Institution wie die Deutsche Bundesbank hat Autorität, weil sie sich über Jahrzehnte als Garantin einer stabilen Währung bewährt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat Autorität, nicht in erster Linie deshalb, weil es Parlamente und Regierungen in die Schranken weisen kann, sondern weil die Bürger darauf vertrauen, dass das Gericht sie vor einer Verletzung ihrer Grundrechte schützt, auch vor der Willkür staatlicher Behörden. So verstandene Autorität beruht auf Zustimmung und Akzeptanz aller Beteiligten.

 

Max Weber hat die Frage der Autorität mit jener der Legitimation verbunden. Unsere staatliche Autorität zeichnet sich dadurch aus, dass sie legitimiert ist. Beruht Macht auf Zwang, verliert sie an Autorität. Autoritätsbewusstsein existiert in einer Bevölkerung, wenn den Autoritäten freiwillig gefolgt wird, weil ihnen Autorität zum Beispiel durch Wahlen übertragen wurde. Deutschland ist wie viele andere Länder der westlichen Welt eine repräsentative Demokratie. Die Bürger übertragen durch Wahlen Verantwortung und Autorität an Repräsentanten.

 

Diese freiwillig gewährte Form von Autorität kann sich im Lauf der Zeit verändern, sie ist fragil. Ihre formelle Grundlage, beispielsweise als Parlamentarier gewählt zu sein, bedarf der Ergänzung durch Akzeptanz seitens der Wähler und der Öffentlichkeit. Meistens dauert es lange, Autorität zu gewinnen, aber es kann sehr schnell gehen, sie zu verlieren. Politiker oder Wirtschaftslenker, die gegen Gesetze verstoßen oder krasse Misserfolge zu verantworten haben, können innerhalb von Tagen oder Stunden jegliche Autorität verlieren.

 

Der plötzliche Autoritätsverlust von Personen mag für die Betroffenen schmerzhaft sein. Für die Gesellschaft insgesamt ist der Schaden begrenzt, und zwar nicht nur deshalb, weil Amtsinhaber ersetzbar sind. Es ist ja gerade erwünscht, dass die mit Autorität verbundene Macht nur so lange besteht, wie sie durch die Zustimmung anderer legitimiert ist. Viele sehen in aktuellen politischen Entscheidungen wie dem Brexit-Referendum oder der Nominierung von Donald Trump zum US-Präsidentschaftskandidaten und seinem letztendlichen Wahlgewinn einen beunruhigenden Verfall der Autorität bewährter politischer Kräfte.

 

Man kann aber auch die Auffassung vertreten, dass die etablierten Parteien sich zu weit von den Wünschen der Bevölkerung entfernt haben. Wenn sie ihr Verhalten ändern, haben sie die Chance, ihre Autorität wiederzugewinnen.

 

Ganz bewusst lautet der Titel dieses Bandes »Autorität im Wandel« und nicht »Autorität in der Krise«. Wir sehen nicht, dass die Autorität unseres demokratischen Systems vollends in Frage gestellt wird. Das berühmte Churchill-Zitat »The best argument against democracy is a five-minute conversation with the average voter« verweist auf Grenzen der Möglichkeit, Sachentscheidungen in Volksabstimmungen treffen zu lassen, stellt aber die Demokratie nicht in Frage. Konfrontiert sind wir aber mit einer Veränderung der Rolle von Autorität und den daraus resultierenden Folgen für unser Demokratieverständnis. Das Bestehende wandelt sich, indem es sich weiterentwickelt.

 

Nehmen wir als Beispiel die repräsentative Demokratie in ihrer heutigen Form. Sie hat nur noch wenig mit der ursprünglichen Demokratie des antiken Griechenlands zu tun, die sich durch ein Handeln ohne Vermittlung, ohne Repräsentation auszeichnete. Sie ist aber auch nicht mehr die Demokratie von 1949, als das deutsche Grundgesetz in Kraft trat. Heute wollen die Bürger den politischen Prozess mitbestimmen.

 

Die rein repräsentative Demokratie scheint nicht mehr den jetzigen Ansprüchen und Bedürfnissen zu genügen, denn es ist der Eindruck entstanden, dass das repräsentative System, die großen Parteien, das Verlangen teilzunehmen nicht ernst genommen haben. Dadurch ist bei vielen Bürgern ein Gefühl der Machtlosigkeit entstanden, das zum Wunsch nach mehr direkter Demokratie geführt hat.

 

Wenn von Autorität die Rede ist, kann leicht der Eindruck entstehen, dass mehr Autorität weniger Freiheit bedeutet. Autorität wird oft mit Fremdbestimmung gleichgesetzt. Wenn Autorität auf breiter Zustimmung beruht, besteht jedoch ein Verhältnis der Kooperation zwischen Autorität und Freiheit. Freiheit kann nur unter bestimmten Rahmenbedingungen genossen werden. Die Aufgabe von Autorität ist es, diese zu setzen, damit Freiheit sich entfalten kann. Einem Autoritätsverlust entspricht nicht automatisch ein Freiheitsgewinn. Autorität verhält sich nicht gegensätzlich zur Freiheit.

 

Festzustellen ist eine zunehmende Auflösung von Hierarchien zugunsten einer stärker werdenden Partizipation. Mehr Menschen möchten aktiv bei politischen Entscheidungsprozessen mitwirken. Viele Forderungen, die in diese Richtung gehen, erinnern an Jean-Jacques Rousseaus Idee einer radikalen Demokratie. Eine wesentliche Veränderung unseres Demokratieverständnisses findet statt. Es bewegt sich auf eine Mehrebenendemokratie zu, auf eine »multiple Demokratie«, wie es der Historiker Paul Nolte nennt. Ein Beispiel stellen die Gerichte dar. Immer öfter wenden sich Bürger direkt an Gerichte und gehen nicht den indirekten Weg über Institutionen und Parlament. Auch auf EU-Ebene ist diese Form der »justiziellen Demokratie« zu beobachten.[1] In diesem Zusammenhang kann man die Klage gegen den OMT-Beschluss[2] der EZB erwähnen: Erstmals in der Verfassungsgeschichte haben sich Wähler – nicht Staatsorgane – gegen die Maßnahme einer EU-Institution gestemmt.

 

Zu beobachten ist allerdings auch, dass Institutionen ihre Autorität verlieren. Ein solcher Verlust ist teilweise für die Gesellschaft schwerwiegender als der Verlust der Autorität von politischen Persönlichkeiten. Institutionen sind einem Wandel unterworfen, trotzdem sollen sie stabile, auf Dauer angelegte Einrichtungen sein. Im Gegensatz zu wählbaren und abwählbaren Politikern, die über Autorität verfügen und sie auch wieder verlieren können, bilden Institutionen wie Gerichte, Zentralbanken, Wettbewerbsbehörden das Fundament staatlicher Systeme und den Rahmen für internationale Kooperation (EU, NATO). In Zeiten, in denen der Ruf nach direktem Einfluss der Bürger immer lauter wird, leiden Institutionen unter einem ihnen oft vorgeworfenen demokratischen Defizit. Zwar sind sie ihrem Auftrag nach politisch neutral, doch dadurch sind sie auch der direkten demokratischen Kontrolle entzogen und erscheinen leicht als bürgerfern.

 

Andererseits entwickeln sich neue Formen der Bürgerbeteiligung in außerparlamentarischen Vertretungsorganen, in nichtstaatlichen Institutionen, wie etwa Greenpeace und Attac.[3] Der Ruf nach mehr direkter Demokratie und dem Wandel unseres Autoritätsverständnisses steht für eine neue Form von Stabilitätssuche und Autorität, wobei die Bürger zugleich eigene, direkte Verantwortung anstreben.

 

Volksabstimmungen sind ein Verfahren, bei dem die Bürger auf den ersten Blick am direktesten in politische Entscheidungen einbezogen werden. Es gibt Demokratien, in denen Voksabstimmungen eine lange Tradition haben und nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung der repräsentativen Demokratie gesehen werden.

 

Grundsätzlich ist allerdings zu überlegen, welche Fragen sich überhaupt eignen, direkt von den Bürgern entschieden zu werden. War das Brexit-Referendum zum Beispiel eine Entscheidung, die sinnvoll direkt von der Bevölkerung getroffen werden konnte, und konnte diese der damit einhergehenden Verantwortung überhaupt gerecht werden? Bei verschiedenen Referenden der letzten Jahre muss man bezweifeln, ob sie die Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen wirklich verbessert haben. Das Brexit-Referendum war in erheblichem Umfang ein Instrument für David Cameron, zunächst seine Macht in der Konservativen Partei zu erhalten und dann die anderen Mitgliedstaaten in der EU unter Druck zu setzen, den britischen Forderungen entgegenzukommen.

 

In Griechenland nutzte Alexis Tsipras die Volksabstimmung über das Sanierungsprogramm als Instrument, um seine Forderungen nach Konzessionen der Kreditgeber durchzusetzen.

 

Volksabstimmungen geraten auch leicht zu Wahlen über Dinge, die gar nicht zur Abstimmung stehen. In Italien sollte das Volk am 4. Dezember 2016 eine Verfassungsreform beschließen, aber es sieht so aus, als habe es über Matteo Renzi und dessen Politik abgestimmt.

 

Autorität bedeutet heute weniger denn je, dass Politiker schlicht entscheiden und die Bürger folgen. Trotzdem wird die Hoffnung, Referenden würden zu einer stärkeren Orientierung der Politik an den Interessen der Bürger beitragen, schnell zur Illusion, wenn Referenden von Regierungen für strategische Zwecke missbraucht werden, wie es derzeit immer wieder geschieht. Volksabstimmungen sollten einen klar definierten Platz in der konstitutionellen Ordnung haben, und Initiativen für Referenden sollten in erster Linie aus der Bevölkerung kommen, nicht von den Regierungen.

 

Wer Autorität besitzt, hat Verantwortung. Je mehr Autorität, desto größer die Verantwortung. Etymologisch kommt Autorität von Autor, Schöpfer, Gestalter und geht letztlich zurück auf das lateinische augere