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Hermann Peter Piwitt

Lebenszeichen mit
14 Nothelfern

Geschichten
aus einem kurzen Leben

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Das unterscheide, grün von treibendem Grün

von Flüssen, von dem oder jenem Grün

auch verteilt die Dämmerung die Farben

ins Ununterscheidbare

so sag ich im Hinblick auf Schmerzen.

Wolfgang Maier (1934-1973), aus: ›Traurige Zeit‹

Sind achtzig Jahre ein Leben? Der Vater war einundsechzig, als er starb. Die Mutter sechsundneunzig. Sie war im Rahmen des geschlossenen Wahnsystems, in dem sie lebte, völlig normal. Sie beklagte mindestens vierzig Jahre lang, dass sie nur Gutes getan habe. Und wie habe man es ihr gedankt? Einmal fuhren die Eltern mit uns für ein paar Tage nach Cuxhaven. Einmal besuchten wir den ältesten Bruder im Lazarett in Sigmaringen. Und immer herrschte ständig dicke Luft.

Es fing auch mit mir nicht gut an. Das heißt, anfangs lief es leidlich. Ich will mich auf die ersten zehn Jahre beschränken, wenn ich aus meinem Leben erzähle.

Es sei mein Kopf gewesen, sagte die Mutter später. Mein Kopf. Ich hätte wohl Stunden gebraucht, bis ich ihn draußen hatte. Offenbar hatte ich partout nicht auf die Welt wollen; wenigstens nicht auf diese. Aber ein Kind wird eben nicht gefragt.

Man musste sie aufschneiden. Und anschließend sei alles kaputt gewesen. Sie sagte ›kaputt‹. Und an sich heruntersehend, verbot sie sich, sich näher darüber auszulassen. Es verbietet sich mir, sagte sie. Jedenfalls alles ausgeräumt. Und dabei wies sie an sich herunter auf die riesige Narbe, die sie dort habe. Ich wagte nicht hinzusehen. Vor Scham. Ich saß auf der Bettkante, als sie sich aufdeckte. So, mein Junge, jetzt will ich dir mal was zeigen. – Dort also hatte ich mich rausgequält. Noch viele Jahre danach träumte ich davon. Wie ich lag in einem zähen, steifen Gelee und keine Luft bekam.

Sie deckte sich wieder zu. Nie ›da dafür‹, wie sie gewesen sei, sagte sie. Wofür, dazu äußerte sie sich nicht. Und ich habe das, glaube ich, alles schon woanders erzählt. In diesem oder jenem Roman. Ich habe die Titel vergessen. Auch wie der Vater, kaum dass ihre Wunden verheilt gewesen waren, wieder sein Recht verlangte. Die ganze Woche über haben sie kein Wort miteinander gesprochen. Dann, am Sonntagnachmittag, verschwinden sie im Schlafzimmer. Es muss schrecklich gewesen sein. Für beide. Und es war nie anders. Die Mutter kommt mit einem kleinen Koffer aus dem Zimmer, zieht sich den Mantel an und greift sich den Jüngsten, das bin ich. Komm, mein Junge, ich lass mich scheiden. Und der Vater, am Fenster stehend, dreht ihr, mit verschränkten Armen, den Rücken zu. Manchmal kam es schlimmer. Sie schlugen aufeinander ein. Und weil ein Junge immer die Partei des Schwächeren ergreift, schlug ich nach dem Vater, als ich versuchte, sie zu trennen. Und auch mit mir sprach er danach kein Wort mehr.

Dann schwiegen sie sich wieder an. Manchmal wochenlang. Bis zum Monatsende. Dann bekam der Vater sein Gehalt. Und wieder stand er mit verschränkten Armen am Fenster. Und sie musste irgendwie versuchen, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ihn um Versöhnung bitten, notfalls; anders kam sie nicht ran ans Haushaltsgeld. Sie spricht von Anschaffungen, die nötig seien, auch für die Kinder. Und das schon mal stimmte ihn gnädig. Dass sie gemeinsame Kinder hatten. Und sie sich daran erinnerte.

Danach gingen sie wieder zu Bett. Und anderntags sprachen sie wieder kein Wort miteinander.

Dass es mich zerrissen hätte? Nein, wieso? Dass sie merkwürdig miteinander umgingen? Über all ist was, und irgendwas ist immer, sagte die Mutter. Das leuchtete ein. Und wir hatten Fluchtwege. Das riesige Haus, wo sich im Lauf der Zeit immer neue bislang verbotene Zimmer, Kammern, Dachböden auftaten. Wälder und Teiche, die ganze Welt stand uns offen. Das ganze Land drum herum. Wir flüchteten vor der Familie nicht. Wir nahmen sie einfach nicht wahr. Wir liefen im Winter Schlittschuh. Und gruben sommers uns Höhlen in Strohmieten. Wir gingen in die Teichwiesen zum Schwimmen. Und wenn es regnete, kamen wir abends von Freunden, vom Briefmarkentauschen, heim und waren hungrig. Habe ich je Schularbeiten gemacht? Ich erinnere mich nicht.

Ich erinnere mich. Es ist Frühling, und ich liege im Kinderwagen im Garten, in einer Laube aus Hainbuchen. Ich bin verloren und doch ganz in Obhut gegeben den Vögeln, die drängeln und lärmen, und dem Wind, der die Baumschatten auf der weißen Bettdecke lautlos verwirbelt. Es ist die erste Erinnerung meines Lebens. So hätte es ewig weitergehen können.

Als die Eltern heirateten, war die Zeit des Geldverfalls gerade vorbei.

Der Vater war Untermieter bei der Brautmutter gewesen. In der Nachbarschaft hieß er nur der ›schöne Fritz‹. Und als die Tochter den Fehltritt mit ihm der Mutter gesteht, ist sie schon im sechsten Monat. Die Brautmutter nimmt den immer sauber und adrett gekleideten Beamtenanwärter bei der Ehre und erzwingt eine Shotgunwedding. Euer Vater wollte immer eine Frau, die rein in die Ehe geht, sagte die Mutter. Und wir Kinder ahnten nicht, was sie meinte, und nahmen ihn uns zum Vorbild.

Der Vater hatte nur ein winziges Gehalt. Die Brautmutter hatte ihnen noch zu Inflationszeiten das Erbe ausgezahlt; und es reichte eben für ein Brot. Aber die Banken gaben dem alsbald auf Lebenszeit Verbeamteten ohne Grenzen Kredit. Draußen an der Stadtgrenze, am Wald, bei einer Feldmark hatte die Stadt Bauland ausgewiesen. Und der Vater ließ ein Haus bauen. Ein Haus aus Klinker. Klinker war etwas Besonderes. Er war so was wie der Rohdiamant unter den Ziegeln, wenn ich der Mutter glauben sollte. Sie brüstete sich: Alles Klinker, sagte sie und legte die Hand auf den violett gebrannten Stein. Klinker, das blieb zeitlebens ein Wort wie ›hypothekenfrei‹ oder ›Alter Kämpfer‹. Ich weiß nicht, wie lange sie daran abbezahlten. Jahrelang tranken sie zu Weihnachten Wasser. ›Gänsewein‹ sagten sie dazu. Und mit dem ›schönen Fritz‹ war es von nun an vorbei. Der erste Sohn kommt 1923. Acht Jahre später der zweite. Und vier Jahre danach der dritte. Ich.

Ich war nie in einer Partei, sagt der Vater. Aber in die neue geh ich. Und die Mutter sagt, Männer machen Geschichte. Und: Als wir hier bauuuten, war ja noch alles Waaald.

Ein Teich, ein Tümpel nur, in der Feldmark, der erste Zufluchtsort. Ich konnte gerade laufen. Nachbarn aus dem Dorf warfen seit Jahren ihren Sperrmüll hinein. Sprung- und Fahrradrahmen, alte Schuhe, Lampenschirme. Aber er schien das alles zu verdauen. Und wir verbrachten Frühling und Sommer an seinem Ufer und fingen mit Keschern Wasserkäfer und ihre Larven. Und Molche. Die Larven von Köcherfliegen und Libellen sperrten wir mit ihnen zusammen in Einmachgläser. Und am andern Morgen waren die Lurche tot. Einfach aufgefressen. Wir sammelten sie in getrennte Gefäße. Die zarten, fast durchsichtigen Leiber mit dem gesträubten Kamm auf dem Rücken gediehen trotzdem nicht. Und ich fing an zu hoffen, dass der Bruder und seine Freunde, wenn sie sie im Wasser entdeckten, mit den Keschern vorbeistießen. Scheinbar absichtslos trat ich ihre Gefäße um und fing mir Knüffe ein. Das tapferste Tier war der Molch. Tapferer noch als der Gelbrandkäfer, so stämmig, wie er war.

Der Teich: Der Schlagersänger Hans Arno Simon (›Bowidldatschkerl‹) hat sich später seine Garage hineingebaut.

Ich bin fünf, als der Vater Leiter der Gemeindedienststelle Volksdorf wird. Und angesichts des unvermeidlichen Endsiegs beschließt er, sich auch privat zu vergrößern. Er fasst die Villa, die die Dienststelle bisher beherbergte, ins Auge und verkauft das eigene Haus. Für einen Pappenstiel. (›Soll ich mir später sagen lassen, ich hätte mich im Amt bereichert wie ein Sozi?‹) Und da sich die Neugestaltung der Villa hinzieht, bunkert er uns für anderthalb Jahre in Wohldorf, im alten Bauernhaus am Kupferteich.

Denk ich zurück, denke ich, dass ich Glück gehabt habe. Nicht nur weil ich fast sorglos aufwuchs. Sondern weil ich mich immer auch den Menschen entziehen konnte, ohne ihren Verlust ganz zu riskieren.

Das alte Bauernhaus war wie gemacht dafür. Es gab eine riesige Diele darin. Sie war mit rohen Ziegelsteinen ausgelegt: und von ihr ab gingen Türen zu Wohn- und Schlafzimmern, einer winzigen Küche und einem Klo nach hintenraus. In der Diele hingen und standen gewaltige schwarze Schränke und große, schwarzverräucherte Gemälde mit Segelschiffen drauf an den Wänden. Und unter die Balken, die das Spitzdach bildeten, war noch ein zweites Flachdach aus bunten Glasscheiben eingezogen. Und im Tran des Winters stießen wir das Glas mit einem Besenstiel herunter.

Ich erinnere mich an fast sonst nichts in diesem Haus. Nicht an ein gemeinsames Abendessen. Nur an die langen Wege über die kalte Diele morgens zum Klo im Winter.

Einmal hackte ich mir eine Fingerkuppe mit einem Beil ab. Sie hing nur noch an einem Hautlappen. Ich hatte ein Stück Blei damit festgehalten; ich hatte es spalten wollen. Ein Sanitäter von der Funkstation gegenüber klebte mir die Kuppe wieder an.

Hiermiam selber … Die Brüder spotteten über das Kind. Immer wollte ich alles selber machen. Und dann nahmen sie es mir aus der Hand. Und statt mir zu zeigen, wie man es richtig machte, machten sie es selbst. So trennte ich mich von Menschen und Dingen. Nie lernte ich, etwas richtig zu machen. Ich zog mich zurück, da man mir die Dinge entzog, zurück zum Spielen und Betrachten. Sie wollten haben, was ich nur zeitweilig gebrauchen und nützen, nie besitzen wollte. Warum sieht er nicht besser auf das, was ihm gehört?, sagten sie. Und eigneten es sich an.

Und einmal am Ufer des Kupferteichs ein Nest junger Mäuse. Wir wollen es dem Vater zeigen, das Geheimnis; es mit ihm teilen. Der Vater zieht sich die Holzschuhe an, und angekommen beim Nest, einen davon vom Fuß und schlägt drauf, dass es spritzt.

Dann baggerten sie den Teich aus. Es blieb nur eine ein paar Meter breite Rinne dort, wo die Aue, der einstige Fluss, hindurchführte bis zur Schleuse. Aus stehengebliebenen Blänken fingen wir einen Hecht; die Mutter mischte ihn den Hühnern unters Weichfutter; denn Süßwasserfische waren für sie keine; von Haus, von Finkenwärder, aus. Dann trocknete der Teichgrund ab, und die schwarze Schlickhaut schuppte über die ganze Breite. Da legten sie Schmalspur hinein, schirrten Kipploren zusammen, und fortan weckte uns morgens das Schuppern und Puckern der ihnen vorgespannten kleinen Lokomotiven. Am Sonntag aber drehten wir die am Teichgrund abgestellten Fahrzeuge los. Von einer Mutprobe spricht der Bruder; vom Schneid, den es kosten würde. Er erklärt die Loren für Militärfahrzeuge, feindliche Panzer, die unter Feuer genommen gehörten, mit Erdknollen und Steinen. Und beschied den Sohn des Nachbarn rechter Hand, Franz, die Lore so weit wie möglich an den Rand des Steilufers der Aue zu fahren, eh er sie stoppte. Dass das Siegen auch richtig Spaß machte. Franz erklomm das Fahrzeug; vor den Wurfgeschossen duckte er sich tief in die Bodenenge; dann warf er die Bremsen los, dass die Lore geradewegs auf den Fluss zuhielt. Sie schoss über die letzte Schiene hinaus und ging schnell unter.

Die schon schwimmen konnten unter uns brachten Franz an Land. Ein Notdienst von der Sanitätsstation schaffte ihn ins Krankenhaus. Und sein Vater, ein Invalide, der in einer Hütte nahe am Teich wohnte, schrieb dem Vater einen Brief: Er bat darum, ein Auge auf die Kinder zu halten, und schloss mit ›Ergebenst‹. Wir lasen ›érgebenst‹. Er hieß ›Érgebenst‹ seitdem. Mit der Betonung auf der ersten Silbe. Nach Wochen kam Franz nach Haus. Nun zog auch er das Bein nach. Manöverschäden, sagte der Bruder.

Ich habe das alles schon schöner erzählt vor fünfzig Jahren. Schöner. Oder schlechter. Jetzt, wo ich nicht mehr ganz bei Sinnen bin, liest es sich so. Ich könnte es auch ganz anders erzählen. Vielleicht mache ich das auch noch. Ganz ohne Worte. Oder eine kleine Oper: ›Érgebenst im Krieg‹. Es gibt so viele Möglichkeiten für einen Dichter, ein bisschen Geld zu verdienen. Ich beherrsche offenbar nur die, die man schlecht bezahlt. Sehr schlecht. Oder gar nicht. Ich könnte auch von den Eltern erzählen. Und von deren Eltern. Von Bauern und Fischern. Sie waren kleine Leute. Aber auf die einfachen Leute sahen sie herab. Und das hasste ich an ihnen. Vor allem an der Mutter. Sie waren Rassisten. Sie war als junges Mädchen bei Juden in Stellung gewesen. Und dazu gehörte, dass sie ihren Worten immer ein paar Brocken Jiddisch beimischte. Dieser war nicht ganz koscher, jener meschugge. Und der Vater? Immer dachte ich, er sei ein großer Nazi gewesen. Tatsächlich war er nur Kameradschaftsführer. Bei der Kriegsopferversorgung. Kameradschaft. Das war die kleinste kriminelle Einheit, die sie hatten. Sie waren kleine Leute; ich sagte es. Aber nicht mal als kleine Leute schafften sie es, sich unvergesslich zu machen.

Einmal, es war ein blasser Tag, und die Haustür fliegt auf, und der Vater stürzt heraus. Er trägt die Langschäfter, die braunen Hosen und das braune Hemd. Er schwingt den Binder in der Hand, und die Mutter augenblicklich hinter ihm auftauchend: dass er nur abhauen solle, zu seinem ›Dienst‹! Sie sei das ja nun schon gewohnt. Und sie wirft ihm die braune Jacke nach und die Tür zu. Und er, im Nieselregen, knüpft sich den Binder um und die Jacke zu und geht davon.

Wie ich es mochte, mit ihm durch den Wohldorfer Wald zu wandern, vorbei an den bunten Bildchen im Waldboden. In Abständen waren sie längs des Wegs in die Erde gesteckt. Bilder von Singvögeln, Kräutern und Insekten, die dort zu Haus waren, alle sorgfältig gerahmt und verglast. Wir kamen vom Ohlstedter Bahnhof her und liefen hinüber an den sumpfigen Gehölzstrich am Alten Teich. Und er zeigte mir die Zeichen, die die Naturschützer dazugesteckt hatten; ›auf sein Anraten hin‹, versteht sich: embirica citronella, die Goldammer; oder odanata, die Libelle. ›Wegweiser durch die Natur‹ nannte er sie, und: Hier, hör mal! Und er blieb stehen: Karekarekiekkiekiek, das ist der Drosselrohrsänger! Einen altritterlichen Gesellen nannte er ihn und klatschte in die Hände, dass er aufflog, feldgrau und kaum starengroß.

Und eines Morgens der Vater: Jetzt geht’s auch gegen Russland los! Und die Mutter: Na, dann muss der Älteste wohl auch mit.

Und einmal saß ich auf dem Rasen hinterm Haus und spielte mit einem Käfer. Ich ließ ihn einen Grashalm hochklettern, als ich bemerkte, dass der Vater sich von hinten näherte und bei mir stehenblieb. Ich ließ ihn im Glauben, er könne mich unbemerkt beobachten. Und redete weiter mit dem Käfer. Hopphopp, ich machte ihm Beine. Aber ich tat ihm nicht weh. Hätte Vater sich bemerkbar gemacht oder hätte ich ihm nur zu verstehen gegeben, ihn bemerkt zu haben, der Zauber wäre dahin gewesen. So gefiel es mir. So hätte es ewig gehen können.