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Notker Hammerstein

Aus dem Freundeskreis
der »Weißen Rose«

Otmar Hammerstein –
Eine biographische Erkundung

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Inhalt

Inhalt

Literatur

Über kaum eine Epoche der deutschen Geschichte ist, wie bereits öfters festgestellt wurde, so viel geschrieben worden wie über die des Nationalsozialismus. Bestürzung, Scham, persönliche Rechtfertigung, aber auch Wichtigtuerei, politisches, wissenschaftliches, menschliches Interesse, Karriereüberlegungen, Abscheu, Gegnerschaft führten und führen immer wieder dazu, sich mit dieser Zeit zu befassen. Schließlich prägt sie noch vielfach Politik und Selbstverständnis der Deutschen, zum mindesten in ihrer Mehrheit, und sie erscheint in vielem fast wie gegenwärtig. Ungeachtet des allgemeinen Urteils darüber als einer schlimmen, in vielem negativen und unmenschlichen Zeit herrschen in bezeichnenden Nuancen gleichwohl unterschiedliche Einschätzungen und Erklärungen der damaligen Verhältnisse, Möglichkeiten, Ereignisse und Bedingungen. Das ist normal und nichts Überraschendes.

In jüngerer Zeit wird im Blick auf öffentliche Institutionen während der Zeit des Nationalsozialismus – Ministerien, Ämter jeder Art, Universitäten, Industrie und Handel – gern festgestellt, sie hätten eine allgemeine, zumeist heruntergespielte Mitverantwortung und Mitschuld am Dritten Reich. Das trifft auf einzelne Personen, auch auf private Lebensbezirke und nichtöffentliche Bereiche zu. Wer nicht unmittelbar Widerstand leistete, sich nicht direkt gegen die neuen Machthaber stellte und statt dessen bei seiner Tätigkeit blieb, dem wird eine Art »Selbstgleichschaltung«, eine »Selbstindienstnahme für das Regime«, eine Verantwortung und damit Unterstützung des NS-Staats unterstellt.1 Das kann in einer ganzen Reihe von Fällen zutreffen. Ja, selbst bei manchen Angehörigen des aktiven Widerstands werden – wie Kritiker überaus scharfsinnig analysieren – letztlich heute nicht akzeptable, da autoritäre und undemokratische Motive aufgedeckt, was insgesamt diesen Widerstand in Frage stellen könne. So anerkennenswert dieser Widerstand im einzelnen auch zu beurteilen sein mag: er gilt nicht allenthalben als ethisch zweifelsfrei und politisch korrekt.2

Es läßt sich im Blick auf die vielfältige Indienstnahme von Personen und Institutionen durch die Nationalsozialisten insoweit fast von einer neuerlichen Annahme einer recht breiten Kollektivschuld sprechen. Diese Feststellungen und Vorwürfe sind oft so allgemein und undifferenziert, daß sie den Anschein eines Mitmachens nahezu aller Nichtverfolgten oder -umgebrachten im und für das NS-System erwecken. Innere Emigration, von der früher gerne gesprochen wurde, kann es danach eigentlich nicht geben. Das sei nur eine Beschönigung einer letztlich systemkonformen, affirmativen Haltung. Übersehen bzw. ausgeblendet wird, daß sich neben dem aktiven Widerstand ein gar nicht so kleiner Teil der Bevölkerung durchaus in Geiselhaft dieser Diktatur genommen fühlte und auf eine möglichst unbemerkte Art in nichtöffentlicher Opposition, verdeckter Ablehnung und machtlosen Haßgefühlen in innerer, entschiedener Distanz zu diesem Regime lebte.3 Diese Ablehnung deutlich zu zeigen, gar öffentlich zu widersprechen, auf Einhaltung menschlicher, zivilisierter Werte zu pochen verbot sich angesichts der brutalen und vielfach zu erfahrenden und exekutierten Macht dieses skrupellosen Staates. Politische Alternativen wie Opposition, offene Kritik, Widerspruch wurden von ihm nicht geduldet. Die »Machtergreifung«, die eine in striktem Sinn dieses Begriffs war, hatte alle früheren und uns heute selbstverständlichen politischen Institutionen praktisch abgeschafft. An Stelle von Recht, Politik, Menschenwürde waren politischer Terror, hinterhältige Überwachung, verbreitete Bespitzelung, einseitiger und radikaler weltanschaulicher Fanatismus getreten. Diese NS-Herrschaft muß als eine militante Anarchie verstanden werden, die diktatorisch von oben alles in ihrem Sinne zu regeln suchte, unbeschadet ihrer polykratischen Struktur.4 Nachgeborenen ist dies oft schwer verständlich. Den Zeitgenossen hingegen war das eine erfahrene, bedrohliche Gegenwart. Lügen, sich verstellen und verstecken – innere Emigration eben – bestimmten weitgehend das Verhalten der meisten Nicht- oder Anti-Nationalsozialisten. Politisch wache Beobachter begriffen das von Anfang an. Ernst Robert Curtius erwiderte einem seiner Studenten, der ihm nach 1933 empört sagte: »Ich kann dieses Regime nicht anerkennen.« »Ein Regime, das Konzentrationslager unterhält, müssen Sie anerkennen.«5 Und das waren noch nicht einmal die späteren Todeslager, von denen hier die Rede war. Es handelte sich um die frühen Lager, die man häufig als eher vorübergehende, wenn auch beängstigende und schreckliche NS-Einrichtungen ansah. Sie mußten durchaus als Ausweis einer von keinen Skrupeln und Rechtsvorstellungen geleiteten Machtpolitik verstanden und gefürchtet werden, ebenso wie die frühen brutalen Übergriffe auf jüdische Mitbürger. Das erklärt den geringen direkten Widerstand von Menschen, die mit dieser Politik, der Entlassung, Erniedrigung und Verfolgung von vielen den Nazis nicht Genehmen alles andere als einverstanden waren. Das Risiko, sich selbst, der eigenen Familie und dem Freundeskreis zu schaden, erschien viel zu hoch.6

Das Leben in einer Diktatur räumt im Öffentlichen keine Wahlmöglichkeiten ein, keine Freiräume, keine nichtkonformen Verhaltensweisen. Selbst im Privaten, in dem noch am ehesten die Distanz zum Regime geäußert werden konnte, blieben Vorsicht, Stillschweigen, Tarnung und Täuschung probate Wege des Alltags. Selbst hier war darauf zu achten, nichts zu sagen, was den Mitwisser in den Augen der Machthaber zum Mittäter machen konnte. Natürlich gab es gelegentlich sogar Nischen, in denen einzelne recht normal und NS-fern leben konnten. Aber das waren eher Ausnahmen, insgesamt zu vernachlässigende Glücksfälle. Nicht aufzufallen, bei Bemerktwerden immer Ausreden oder vorgeschobene Argumente bereitzuhalten war nicht nur in solchem Umfeld die Handlungsmaxime. Es war ebenso gefährlich, in Distanz zum Regime zu leben, wie gedankenloses Mitmachen leicht war.

Im Folgenden soll an einem Beispiel gezeigt werden, wie schwierig es unter diesen Bedingungen war, sich für eine humanere Welt, ein freies, nicht gegängeltes Leben einzusetzen. Das kam einer Gratwanderung gleich, wobei das sich nicht anpassende Verhalten hohe Risiken enthielt. Das zwang die Beteiligten zu dem eigentlich von ihnen nicht geschätzten »Sich verstellen«, zu scheinbarer Unaufrichtigkeit. Die Geschichte selbst gehört in den engeren Umkreis der »Weißen Rose«.

Über die »Weiße Rose« ist inzwischen viel, aber auch widersprüchlich geschrieben worden.7 Dies Kapitel der NS-Vergangenheit der Deutschen gehört zu den ganz wenigen nicht belasteten dieser Jahre.8 Daß die Behandlung dieses Themas in unmittelbarer Nachkriegszeit und noch lange darüber hinaus ein Politikum von herausragender Bedeutung war – es sollte einer Verfestigung demokratischer, freiheitlicher Normen dienen –, erklärt die Vielzahl der Veröffentlichungen wie auch den breiten Bekanntheitsgrad insbesondere der Geschwister Scholl.9 Nicht immer waren die älteren Darstellungen frei von hagiographischer Überhöhung und politischer Instrumentalisierung. Der größere zeitliche Abstand und die bessere Kenntnis der nationalsozialistischen Herrschaft im Dritten Reich erlauben inzwischen jedoch eine politisch und moralisch weniger aufgeregte Betrachtung dieser Ereignisse. Politisch sind sie gleichwohl immer noch, wie an vielen Reaktionen und Äußerungen abzulesen ist.

Über die Motive, die Vorstellungen und die Vorgehensweise der Beteiligten und ihrer Freunde gibt die – eine kleine Bibliothek füllende – Literatur nach wie vor unterschiedliche Antworten. Oft werden sie von vermuteten bzw. aus Einzelaussagen abgeleiteten Schlußfolgerungen mitbestimmt. Das beginnt mit dem Namen »Weiße Rose« und reicht bis zu den bündischen Wurzeln der Opfer, ihrer Lektüre und ihren Vorlieben. Daß ihre Erfahrungen als Soldaten in Frankreich, in Polen und in der Sowjetunion eine große Rolle spielten – und nicht nur für die, die dort eingesetzt waren –, daß ihre christliche Überzeugung, die Bewunderung katholischer Traditionen und damaliger katholischer Intellektueller ihr Denken stark beeinflußte, ist unbestritten. Ebenso auch, daß die naturwissenschaftlich-medizinisch ausgebildeten bzw. in der Ausbildung Stehenden eine große Affinität zu Kunst, Literatur und Musik besaßen. Jüngeren Datums sind Versuche, eine Art Titanen- oder Heldensturz der vier »bestimmenden« Köpfe – Hans und Sophie Scholl, Prof. Kurt Huber und Alexander Schmorell – vorzunehmen. Diese heroisch überhöhten Personen gehörten vermenschlicht, ihre Schwächen dürften im Sinne eines modernen Dekonstruktivismus nicht tabuisiert bleiben, was ja an ihren Taten nichts ändere.10 Daher werden – auf der Basis problematischer Quelleninterpretationen und nicht hinreichend reflektierter historischer Argumentation – Schwächen aufzuzeigen gesucht und, so könnte man sagen, Minuspunkte gesammelt. Sie sollen belegen, daß bei aller Hochachtung vor diesem Widerstand auch unübersehbare negative persönliche wie politische Verhaltensmuster und Charaktereigenschaften mit bestimmend gewesen waren. Eine homosexuelle Neigung und Verfehlung Hans Scholls und eine Abhängigkeit der Geschwister von Opiaten, die die letzte Aktion in der Uni München scheitern ließen, neben einer ursprünglich NS-nahen und allemal undemokratischen und elitären Einstellung werden als ernst zu nehmende Einwände erhoben und als charakterliche Mängel diagnostiziert. Zudem könne – wie schon andere Autoren zuvor festgestellt hätten – an den Gesellschafts- und Staatsauffassungen der Weißen Rose, ihren Zukunftsvorstellungen, den politisch elitären Grundüberzeugungen durchaus Kritik geübt werden. Ähnlich wie bei den Männern des 20. Juli, denen des Kreisauer Kreises und anderen seien schließlich keineswegs demokratische Motive und Ziele bestimmend gewesen.11

Nun soll hier nicht der Versuch unternommen werden, eine weitere Analyse und Beurteilung der Weißen Rose, eine neue Darstellung dieser Ereignisse vorzulegen. Es geht allenfalls um teilweise Ergänzungen, eine marginale Erweiterung der bisherigen Untersuchungen, der behandelten und erforschten Phänomene. Um die Hingerichteten herum gab es eine ganze Reihe von Sympathisanten, Freunden und Helfern, die in unterschiedlicher Weise dem Kreis zugerechnet werden können. Das wird – bei aller Konzentration der Literatur auf die Hauptpersonen – durchaus gesehen und genannt. Über diese Unterstützer, Freunde und Mitwisser ist naturgemäß nicht gleich viel bekannt und an Unterlagen überliefert wie über die ins Verhör und in sog. Gerichtsverfahren in die Öffentlichkeit gezogenen Opfer. Eine dieser öfters auch genannten Personen war Otmar Hammerstein.12 Dank seines – keineswegs üppigen – Nachlasses und auf Grund von Kenntnissen aus der eigenen Familie versuche ich im Folgenden, einiges Erhellende und allenfalls Ergänzende zu dem Komplex Weiße Rose beizutragen.13 Otmar Hammerstein hat, im Unterschied zu seinen Freunden, überlebt. Aber diese Ereignisse haben sein Leben nachhaltig mit bestimmt. Er steht für eine Möglichkeit des Aufbegehrens gegen den Nationalsozialismus, die auch andere der Weiterlebenden aus dem Freundeskreis auf je eigene Weise erfahren, die sie zeitlebens geprägt und umgetrieben haben. Otmar Hammerstein steht also im Zentrum dieser Untersuchung. Es gilt zu zeigen, wie und auf welche Weise er »Drittes Reich«, Weiße Rose, das Leben im damaligen München erlebt hat und welche Folgen das für sein weiteres Leben hatte. Es handelt sich um biographische Notizen, die Möglichkeiten, Bedingungen und zufällige Ereignisse eines Lebens vor, während und nach dem Dritten Reich beschreiben.

Begreiflicherweise ist dieser Versuch ein Wagnis. Eine Geschichte aus der eigenen Familie, die eines Bruders zu schildern, die zudem nur lückenhaft dokumentiert ist, läuft immer Gefahr, subjektiver Befangenheit und allzu persönlichem Urteil zu unterliegen. Andererseits erscheint es allein mir möglich, als dem letzten der überlebenden Mitglieder der Familie, einen solchen Versuch zu wagen. Da mein Bruder fast nie und dann nur widerwillig und ausweichend von den Münchener Ereignisse berichtete, darüber also auch in der Familie wenig gewußt wurde und wird, erschien es mir sinnvoll, das, was ich weiß und was die Geschichte der Weißen Rose von ihrem Umfeld her partiell erweitern kann, festzuhalten. Sorgfältig von Otmar Hammerstein aufbewahrte Briefe, Korrespondenzen mit Anneliese Knoop-Graf, Hubert Furtwängler, Erich Schmorell u. a., die ebenfalls in das Umfeld der Weißen Rose gehörten, haben mir nach Otmar Hammersteins Tod im März 2003 neue Einsichten ermöglicht. Sie lassen mich Denken und Handeln meines Bruders in schwieriger Zeit besser als zuvor erkennen. Ich selbst konnte dann noch mit Anneliese Knoop-Graf, Hubert Furtwängler und Erich Schmorell Briefe wechseln. Ich glaube, daß es diese biographischen Mitteilungen und Ergänzungen zu den Vorgängen und möglichen Folgen der Teilhabe an der Weißen Rose verdienen, bekanntgemacht zu werden. Auch das war ein Leben zwischen Weimar und Bundesrepublik.

Gerade im Blick auf manche der Abhandlungen zu diesem Thema scheint es mir sinnvoll, nochmals auf einige Bedingungen, Vorgaben und Verhaltensweisen der Beteiligten zu verweisen, die für sie charakteristisch und prägend waren. Manche Darstellungen zu diesem Themenkomplex haben das bereits ähnlich dargestellt.14 Mit wenigen Ausnahmen – wie etwa Kurt Huber – waren alle in dem weiteren aktiven Freundeskreis recht junge Menschen. Als Studenten waren sie zwar gebildet bzw. ausgebildet und wohl auch selbstbewußt, aber letztlich waren sie doch eher Heranwachsende, die nach Vorbildern, Leitideen und weiterem Wissen strebten. Sie hatten noch nicht ein gereiftes, klares und festes Weltbild. Anders als die durch höheres Alter und Beruf – meist als Staatsdiener in hoher Stellung – in Politik und öffentlichem Leben erfahrenen und gestandenen Personen, wie etwa die Männer des 20. Juli, waren diese Medizinstudenten und ihre Freundinnen noch Suchende, Idealisten und in vieler Hinsicht jugendliche Schwärmer.15 Dank ihrer Herkunft, ihrer Elternhäuser, der gymnasialen Ausbildung, häufig auch der Mitgliedschaft in zeitverwurzelten Jugendbünden, dank ihrer kirchlichen Erziehung verfügten sie allerdings über sichere Wertvorstellungen und recht breite Kenntnisse der – damals so genannten – abendländischen Kultur. Literatur, Musik, auch Malerei und Theater, Konzerte und Opernaufführungen faszinierten und beschäftigten sie neben ihrem Fachstudium nachhaltig. München bot dafür die vielfältigsten Möglichkeiten, die sie auch gerne nutzten, um darüber im Freundeskreis und in wechselnden geselligen Runden zu diskutieren. Da diese Kultur ihnen vor ihrem Brotberuf Verpflichtung und Leitbild war, kamen sie zwangsläufig mit der brutalen Wirklichkeit des NS-Staates in Konflikt. Militärischer Drill, Verfolgung und Verfemung deutsch-jüdischer Künstler und Literaten, Greuel der deutschen Besatzer in Polen und Rußland, mangelnde Freiheit und Diskriminierung Andersdenkender, eigene Kriegerfahrungen und schließlich Stalingrad gaben hinreichend Anlaß, dem barbarischen NS-Regime entgegenzutreten. Daß sie diesen Konflikt in der dann stattfindenden Weise ausfechten sollten, hatte anfänglich keineswegs festgestanden, so konsequent diese Entscheidung ihnen erschien. Sie hofften damals auf einen Aufstand der anständigen Deutschen und eine allgemeine Besinnung auf die ihnen unverzichtbaren Ideale.16 So stellte es sich auch meinem Bruder dar.

Wer war nun Otmar Hammerstein? Er war am 22. November 1917 in einem kleinen Dorf mit dem schönen Namen Lämmerspiel im Landkreis Offenbach am Main als zweiter Sohn eines Lehrerehepaars, dem später noch zwei weitere Söhne geboren wurden, zur Welt gekommen. Der ältere Bruder Reinhold war im April 1915 am gleichen Ort geboren worden. Die idyllische dörfliche Lebenswelt fernab städtischer Unrast ließ die Knaben unbeschwert frei aufwachsen. Der Vater, als Lehrer am Ort, war eine Autorität. Das hinderte ihn keineswegs daran, für seine Söhne, aber auch für die Dorfjugend, allerlei lustige Spiele, kleine Wettkämpfe im Freien, Ausflüge ins nahe Umland, Vorlese- und Rezitationsstunden zu veranstalten. Der besorgte Pfarrer – seinerseits eine Autorität – fand solches Treiben häufig zu bunt, zu wenig christlich, was er seinem auch für das Seelenheil der Kinder zuständigen Lehrerkollegen vorhielt.

Für die Hammersteinschen Buben, der 3. Sohn Gerhard war 1923 geboren worden, waren diese Lämmerspieler Jahre fraglos eine Zeit unbeschwerter, glücklicher Kindheit. Der verspieltphantasievolle Vater – auch von der strengeren Mutter daher öfters als zu leichtfüßig gerügt – ließ das Heranwachsen zu einer abwechslungsreichen und heiteren Zeit werden. Sie vermittelte eher beiläufig und spielend vielfältige Kenntnisse und Einsichten und weckte das Interesse der Kinder an Lesen, Lernen und selbst aktiv sein Wollen. Neben den angeborenen Anlagen haben diese förderlichen und reichen Jahre mit dazu beigetragen, ein selbstgewähltes Studium und die spätere berufliche Tätigkeit leicht und ausgefüllt sein zu lassen. Jeder der Söhne wählte ein anderes Fach. Alle aber schlossen ihre Studien erfolgreich ab.

Reinhold studierte Musikwissenschaft in Freiburg und – für wenige Semester – in München. Später wurde er Professor für dieses Fach an der Universität Heidelberg. Aus persönlichen Gründen behielt er allerdings seinen Wohnort in Freiburg im Breisgau, wo er studiert hatte, bei. Otmar, der eine Laufbahn als Mediziner eingeschlagen hatte, konnte nach dem Krieg eine psychotherapeutische Praxis in Amsterdam eröffnen, was seiner neurologischen Fachausbildung einen eigenen Akzent verlieh. Gerhard, der dritte Sohn, wechselte nach zwei Semestern seines Jurastudiums an der Frankfurter Universität nach Freiburg i. Br., wo der älteste Bruder mit seiner Familie wohnte. Hier wurde er promoviert und konnte einer alteingesessenen Kanzlei beitreten, deren führender Partner er mit den Jahren wurde. Als überörtlich angesehener Strafverteidiger wurde er Honorarprofessor an der Universität Freiburg und hatte jahrzehntelang den Vorsitz des renommierten deutschen Strafrechts-Ausschusses inne.

 

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August Hammerstein vor eine Schulklasse in Lämmerspiel. Zweite Reihe, letzter links: Otmar Hammerstein, sich meldend

Der Vater, August Hammerstein, um auch ihn vorzustellen, war am 1. Juli 1890 in Wies-Oppenheim, im Kreis Worms, in Rheinhessen, als Sohn eines katholischen »Schreiners und Akkersmanns«, wie es in Urkunden hieß, geboren worden. Er hatte eine zwei Jahre ältere Schwester. Die Mutter starb, als August sechs Jahre alt war. Nach dem Besuch der Volksschule durfte er – auf Anraten des Pfarrers – die Präparandenanstalt in Lindenfels/Odenwald besuchen. Noch während der Aufnahmeprüfungen wurde er jedoch nach Hause gerufen, da sein Vater im Sterben lag. Auch er wurde, wie seine Frau zuvor, Opfer der damals verbreiteten Schwindsucht. Ein Onkel nahm sich der beiden Kinder als Mündel an. Es war für den Knaben keine schöne Zeit, wie er später sagte. Zwei Jahre bereitete ein Lehrer im nahen Worms August für die Aufnahme in das Lehrerseminar in Alzey vor. Dort bestand er mit 18 Jahren das Lehrerexamen und wurde anschließend als Vertreter erkrankter oder ausfallender Lehrpersonen an verschiedenen Orten im Großherzogtum Hessen-Darmstadt eingesetzt. Besonders gut gefiel es ihm im rheinhessischen Frei-Weinheim, von wo er gegen seinen Willen jedoch im Tausch mit einem älteren, aus Rheinhessen stammenden Lehrer nach Heldenbergen in Oberhessen versetzt wurde. Das hatte für ihn den Charakter einer Strafversetzung. Aus einem offenen, weinfröhlichen Umfeld hatte er in eine schwerblütig strenge, zurückhaltende katholische Enklave zu wechseln. Daß es ihm später gefallen sollte, konnte der Junglehrer nicht ahnen.

Wie damals üblich, logierten solche unverheirateten Junglehrer in einem untervermieteten Zimmer bzw. einer leeren Dienstwohnung, wie August Hammerstein. In der konnte der Alleinstehende auf seinem Fahrrad – eine Seltenheit damals – unbeobachtet die Fahrradfahrkunst vervollkommnen. Für seine Mahlzeiten suchte er sich, wie die meisten seiner Junggesellenkollegen, ein Wirtshaus des Ortes aus. In der jüngsten Tochter dieses Bauern- und Gasthofs sollte er seine spätere Ehefrau finden. Wie bereits ihre zwei älteren Schwestern, die schon zuvor Lehrer geheiratet hatten, und wie der nicht erbberechtigte Bruder, der Lehrer geworden war, galt dieser Beruf nicht nur bei Bauersleuten als finanziell – wenn auch nicht üppig – gesichert und als sozial anerkannt. Er eröffnete zudem die Möglichkeit einer akademischen Ausbildung der Kinder. Friederike Katharina Pauly, Frieda gerufen, war am 1. Februar 1893 als Tochter des Bauern und Gastwirts Friedrich Pauly (1851-1910) und seiner Ehefrau Susanna Katharina, geb. Kraus, aus Urberach (1855-1936) als deren sechstes Kind zur Welt gekommen. Am 3. August 1914 heirateten August Hammerstein und Friederike Pauly in der katholischen Kirche zu Heldenbergen.

Kurz nach Ausbruch des 1. Weltkriegs wurde August Hammerstein eingezogen. Als junger Lehrer hatte er ein einjähriges freiwilliges Jahr als Soldat in Offenbach am Main abgeleistet, was als »Vorgebildeter« möglich war. Nicht Begeisterung fürs Militär – ihm völlig fremd –, sondern das Privileg, dieses Jahr außerhalb der Kaserne privat wohnen zu können, hatte ihn dazu bewogen. So mußte er – als überzeugter Individualist – nicht in einer ihm unbehaglichen zufälligen Gemeinschaft essen und schlafen. In Offenbach hatte er bei seinem späteren Schwager und seiner Schwägerin, der Schwester seiner Braut, die ihn häufig besuchte, leben können. Er galt auf Grund dieses freiwilligen Jahres als geschulter Soldat und wurde unmittelbar nach Kriegsausbruch nach Frankreich in Marsch gesetzt. Bereits am 28. August 1914 erlitt er einen Beindurchschuss. Das Wadenbein war betroffen, und er mußte für längere Zeit in Militärlazarette. Das Bein heilte, aber es blieb leicht verkürzt, was noch 1915 zu seiner Entlassung aus dem Militärdienst führte. Er wurde auf eine Lehrerstelle in Lämmerspiel eingewiesen, auf der er bis 1928 tätig blieb.

 

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August Hammerstein mit Schulklassen in Heldenbergen 1913

August Hammerstein war ein überaus humorvoller und phantasiesprühender Mensch. Er liebte seinen Beruf, den er als Volksschullehrer, als Erzieher des Volkes, wörtlich nahm. Er war ein großer Freund und Mitspieler von Kindern, nicht nur der eigenen, und erhielt sich so selbst ein offenes kindliches Gemüt. Er engagierte sich in seinem Berufsstand – er wurde mehrfach in Ausschüsse des katholischen Lehrervereins gewählt –, war bildungshungrig und lesefreudig. Blieb vom schmalen Gehalt etwas übrig, wurde dieser Rest zum Bücherkauf verwandt. Der Bücherschrank war prall gefüllt und für die Kinder Garant nicht enden wollender Entdeckungen. Die Ehrfurcht vor dem Buch, der literarisch zu erfahrenden Welt, wurde den Kindern schon in früher Jugend vermittelt. August Hammerstein glaubte an das Gute im Menschen, vor allem an die Möglichkeit, Seele und Gemüt – wie er sagte – der Kinder zu bilden. Er verachtete den Materialismus und die auf Nutzen und Äußerlichkeiten ausgerichtete wilhelminische Zeit, wie er in vielen Beiträgen der »Hessischen Schulblätter« – des Organs der hessischen und pfälzischen katholischen Lehrervereine – schrieb. In diesem Zeitalter der »Maschinen, Luftschiffe und Flugzeuge« verkennten die Menschen die »überragende Bedeutung der seelischen und sittlichen Werte«, die »innere Kultur« komme entschieden zu kurz. Er teilte also die kulturkritische Haltung vieler Zeitgenossen. In der Zeit der Weimarer Republik meinte er, daß die Erfahrungen und Erschütterungen des vergangenen Krieges die Menschen zunehmend zu den »bleibenden Werten«, den »gemütvollen« schönen Seiten eines selbstbestimmten Lebens zurückführen würden. Walther Rathenau, Paul de Lagarde, Ortega y Gasset unter den Zeitgenossen, die »zeitlosen Klassiker« Schiller, Eichendorff, Adalbert Stifter, Blaise Pascal waren, neben vielen weiteren Autoren, Autoritäten, deren Ideen und Aussagen für die Eltern Hammerstein Leitbildcharakter hatten. Denn auch die Mutter war eine ausgesprochene »Leseratte«. Nach den Mustern und dem Vorbild dieser Autoren sei das eigene Leben auszurichten. Solche Ideale habe der verantwortungsvolle Lehrer und Erzieher zu vermitteln und vorzuleben, der »vorwiegend dem Seelischen, Sittlichen, Religiösen sich widmet« und »[…] mit Aposteleifer gegen die niedere Natur im Menschen wirkt und für innere, geistige Erhebung sich einsetzt«, wie er einmal schrieb. Daß dabei dem Christentum, dem Glauben an Gott eine hohe Bedeutung zukomme, war für ihn selbstverständlich. Er lebte als überzeugter Optimist in einem sicheren Gottvertrauen. So stellte er in einem seiner vielen Beiträge zu Fragen der Zeit 1919 fest: »Nein, nur geistige, göttliche Kraft, wie sie im Christentum wirksam ist, vermag den Menschen aus seiner Erdgebundenheit zu lösen und zur Höhe zu führen.«17 Trotz seiner religiösen, gottbezogenen Grundhaltung und seiner Verwurzelung im katholischen Lehrerverein – in Offenbach war er dessen Vorsitzender – war er jedoch ein entschiedener Anhänger der Simultanschule. Er hielt überhaupt nichts von einer kirchlichen Aufsicht über die Lehrer seitens der Geistlichkeit, der hier keine Kompetenz zukomme. Selbstbewußt habe der Lehrerstand die – im Endeffekt – christlichen Werte zu vermitteln, was er in der Schule ebenso wie bei den eigenen Kindern nie müde wurde zu tun und vorzuleben, wenn auch in seinem ihm gemäßen subjektiven Verständnis, das von einer großen Toleranzbreite geprägt war.

Das vom Preußentum bestimmte Deutschland des späten 19. Jahrhunderts, die Hochschätzung von Militär und Macht – in Bismarck negativ für ihn verkörpert – habe auf diesem Feld versagt. Nunmehr seien Völkerverständigung und ein weniger emphatischer Nationalismus geboten, wie es sich nach dem schrecklichen Krieg allmählich abzeichne. Immer wieder stellte er das seinen Lesern variierend und beschwörend vor Augen. Daß er als Anhänger des Zentrums aktiv und positiv für die neue demokratische Republik eintrat, war ihm selbstverständlich. Sie öffne jedem den Weg zur Selbstentfaltung, setze Freiheit gegen den älteren, alles regulierenden Obrigkeitsstaat und dessen Kadavergehorsam. Folgerichtig gehörte er 1925 zu den Unterzeichnern des Aufrufs, Hitler nicht zu wählen und Hindenburg die Stimme zu geben. Das sollte ihm nach 1933 nicht zum Vorteil gereichen.

In den »Hessischen Schulblättern«, dem »Organ des Katholischen Lehrervereins in Hessen«, hat er sich immer wieder zu solchen Fragen geäußert. Auch hielt er Vorträge zu solchen Themen, so etwa im Mai 1931 in Offenbach vor Kollegen, in denen er darlegte, daß »die demokratische Führung im politischen und im Schulleben die relativ bessere« sei. Schon zuvor, 1924, hatte er in einem Artikel »Der Einzelne und der Staat« gemeint, daß die »deutsche« Überzeugung, »daß der Staat die höchste Form des Menschenlebens sei«, einem verhängnisvollen Irrglauben gleichkomme. Für ihn stand fest, daß die Neuordnung, die die Weimarer Republik getroffen habe, einen erheblichen Fortschritt gegenüber dem vorherigen Zustand darstelle. »Ohne Hilfe des Staates schaffen und leben gilt überall als das zu Wünschende, das Individuum und die Familie sind das Wertvolle, welches sich keinem Massenwillen, keiner Reglementierung, keinem System unterordnet. […] Trotz vollzogenem Bruch mit der politischen Tradition, trotz demokratischer Republik und Weimarer Verfassung vollzieht sich noch täglich und stündlich ein Stören der Lebenskreise und Seinsrechte des Einzelmenschen und zwar ziemlich überall da, wo der Mensch über seinesgleichen Verfügungsrecht hat, sei es in der Struktur des Staates oder der Wirtschaft.« Wo ein Kollektiv alles, »das Individuelle nichts bedeutet, da herrscht drückende Luft für Geist und Seele des Einzelnen. […] Die alte Erkenntnis drängt sich auch hier auf, daß neue Formen noch nicht neuen Geist schaffen. Wollen wir aber diesen Geist gewinnen, den Geist, der das Recht der Person anerkennt und respektiert und nicht alles Individuelle einengt, den Geist, der unserer Demokratie erst den inneren Ausbau in Freiheit und Selbstverantwortung zu bringen vermag, dann müssen wir zähe danach streben und darum ringen.«

In diesem Verständnis erzog er seine Kinder.