image

Stephan Braese

Jenseits der Pässe:
Wolfgang Hildesheimer

Eine Biographie

 

 

 

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2016

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,

unter Verwendung eines Fotos von Wolfgang Hildesheimer von 1962/63

ISBN (Print) 978-3-8353-1889-2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2983-6

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2984-3

Inhalt

das Gewünschte aussuchen
Hildesheimers autobiographische Abrisse 1953–1966

Faszinosum Biographie – Markierung der Differenz – Destruktion der Form – Kontingenz und Produktivität der Erfahrungen

In den humanen Fächern begabt
Hamburg, Nijmegen, Mannheim, Ober-Hambach 1916–1933

Wilhelmsburg 1916: Die Eltern – Nijmegen und Mannheim: Bürgertum und Zionismus – »Werde, der du bist!«: Auf der Odenwaldschule – Ein Ende in Deutschland

Gestern war unser Künstlerball.
Ich kam in Lederhosen

Jerusalem, London 1934–1939

Im Palästina der 30er Jahre: Zionisten und Flüchtlinge – Londoner Bohème: Menschen und Künste – Londoner Appeasement: Künste und Politik – Schweizer Intermezzo

a cosmopolitan way of life
Tel Aviv, Jerusalem, Haifa,
London 1940–1946

Palästina 1940: Krieg, Boom und persönliche Krise – Psychoanalyse bei Margarete Brandt – Briten, Juden, Araber: Treffpunkt Jerusalem – Englischlehrer, Maler, Dichter – Im Dienst des Public Information Office – »I moved in entirely Arab circles«: Arabische Freunde – Publizistik, Lyrik, Übersetzungen – London Transit

selecting, compiling, editing, and indexing
Nürnberg 1947–1949

Unter Besatzern und Übersetzern – Im Gerichtssaal: Zwischen Sprachen und Technik – Nürnberger Freizeit: »Unter Deutschen«

als Schriftsteller,
der der deutschen Sprache mächtig ist

Bayern 1949–1956

Vom Maler zum Schriftsteller – Im deutschen Kulturbetrieb der 50er Jahre – Premiere vor der Gruppe 47 – Rechtfertigungen – Rundfunk in Deutschland – Hörsinn nach Nürnberg – Kooperation mit Hans Werner Henze: Funkoper »Das Ende einer Welt« – Abschied von Jerusalem – Zwischen Gründgens und Kortner

ein Bild chronischen Abbruchs
Poschiavo 1957–1962

Der Umzug in die Schweiz – Auf dem Weg zum Theater des Absurden – Konflikt um Heidegger: Der Wechsel zum Verlag Günther Neske – Die Djuna-Barnes-Übersetzung – Debakel bei den Berliner Festspielen – Vor der »schmerzhaftesten und schwersten Wendung«: Selbstvergewisserungen mit Bachmann und Celan – Verteidigung des Absurden – und neuer »Ausgangspunkt«

Fühlen Sie sich schuldig, Herr Huncke?
Poschiavo 1963–1966

»Vergebliche Aufzeichnungen« – Zwischen Eichmann-Prozess und »Stellvertreter«: Einmischungen in den öffentlichen Diskurs – Der Konflikt um die Gruppentagung in Sigtuna – Radikale Zeitgenossenschaft: »Tynset« – Auszeichnungen und Reaktionen: Bremer und Büchner-Preis

Denken auf eigene Gefahr
Poschiavo, Trasanni di Urbino 1967–1973

Eine Entscheidung für Italien – 1967, Mai bis Juni: Sechs-Tage-Krieg und 1. Frankfurter Poetik-Vorlesung – 1967, Juli bis August: Kontroverse mit Weiss und Fried – 1967, September bis Oktober: Düsseldorfer »Musik«-Vortrag und Tagung in der »Pulvermühle« – Abflauen der antiautoritären Bewegung – »Mary Stuart«, »Anna Livia Plurabelle«, »Zeiten in Cornwall« – Verschmelzung der Künste: »Masante« – Ein verändertes Aufnahme-Klima – Der diskursive Schriftsteller: Die ersten großen Interviews

The writer of today should know better
Poschiavo, Trasanni di Urbino 1974–1976

Tendenzwende: Widerstände gegen »Hauskauf« – Die Rede in Irland: »The End of Fiction«

Gegen das Elend der Trivialbiographie
Poschiavo, Trasanni di Urbino 1977–1980

Genie und Gesellschaft: »Mozart« – Der andere Ton: »Biosphärenklänge« – »Was Sie sagen, finde ich sehr beunruhigend«: Das Interview mit Hanjo Kesting – Ein jüdischer Durchschauer im Deutschen Herbst – Ein neues Sprechen: »Mein Judentum« – »Waren meine Freunde Nazis?«: Antwort auf Raddatz’ »ZEIT«-Artikel – Drei Enden: »Endfunk« – schweizerische Staatsbürgerschaft – »Abschied von Masante«

um Verständnissen vorzubeugen
Poschiavo 1981–1983

In der »Marbot«-Werkstatt – Autobiographische Doppelschrift und ›Realismus‹-Spiel des biographischen Genres: »von einem Mann, der niemals existiert hat« – Flüchtige und genaue Leser: Reaktionen auf »Marbot« – Die letzte literarische Provokation: »Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes« – Verleihung des Bundesverdienstkreuzes

Ich hasse es, als Prophet des Unheils bezeichnet zu werden
Poschiavo 1984–1986

»Nutzung des Zufalls«: Die Collagen – Das »stern«-Interview und die Folgen – Zwischen Anklage und Klage – In Auschwitz

Ich hatte keine Vorurteile
Poschiavo 1987–1991

Das Jahr 1987: Von der Absage nach Wien bis zum Erdrutsch im Puschlav – Bilanzen – Letzte Auftritte: Berlin und Weilheim – Tod und Nachrufe

Siglen, Abkürzungen

Literatur

Bildnachweis

Dank

Register

Anmerkungen

das Gewünschte aussuchen

Hildesheimers autobiographische
Abrisse 1953 – 1966

Faszinosum Biographie

Lebensläufe haben Wolfgang Hildesheimer fasziniert; das biographische Genre durchzieht sein gesamtes literarisches Werk. Schon in den »Lieblosen Legenden« gab er mehrere – fiktive – Lebensabrisse; und in »Tynset« und »Masante« sind es biographische Vignetten, mit denen er vor allem nationalsozialistisch geprägte Existenzen skizzierte. Mit »Mozart« und »Marbot« schließlich dehnte er die biographische Form auf vieldiskutierte Weise aus.

Eine Autobiographie im üblichen Sinn hingegen legte Hildesheimer nicht vor. Zu Beginn seines 1982 gehaltenen Vortrags »Die Subjektivität des Biographen« heißt es: »Dieser Vortrag hatte zuerst einen anderen Titel, nämlich: Der Biograph als Autobiograph. Bei der ersten Niederschrift unterlief mir eine Fehlleistung; ich schrieb: Der Biograph als Ant-, war also daran zu schreiben: Antibiograph.« [1] Die Notiz – die selbst als autobiographisch zu bezeichnen ist – deutet auf eine tief sitzende Reserve des Schriftstellers gegen eine Identität als »Autobiograph«, damit zugleich gegen das Unternehmen einer Autobiographie.

Gleichwohl hat Hildesheimer im Verlauf seines Lebens, insbesondere während der ersten eineinhalb Jahrzehnte seines schriftstellerischen Wirkens im deutschsprachigen Raum, mehrere autobiographische Kurzviten verfasst, überschrieben mit »Lebenslauf«, [2] »Kleine Selbstbiographie« [3] oder auch »… und so wurde ich Schriftsteller«. [4] Diese Selbstdarstellungen verfasste er auf Wunsch von Hörfunk-Redakteuren und Verlagslektoren, die sich teils erst selbst ein Bild von dem bekannter werdenden Autor machen wollten, vor allem aber, um dem Interesse ihres Publikums an den herausragendsten Lebensdaten dieses Autors nachzukommen, oder auch, um das Interesse für sein Werk über den Umweg der Person erst zu wecken. Hildesheimer, der sich »Erfolg« [5] als Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland wünschte und dessen Voraussetzungen unter den Bedingungen des westdeutschen Literatur- und Kulturbetriebs rasch begriff, kam diesen Aufforderungen umstandslos nach.

Ein genauer Blick in diese kleinen Hildesheimer’schen Autobiographien unterrichtet nicht nur über sein ambivalentes Verhältnis zum biographischen Genre. Hildesheimers Kurzviten geben darüber hinaus – wenn auch indirekter, verborgener – entscheidende Auskünfte über jene Erfahrungen, die seine künstlerische Arbeit prägen sollten. Zugleich sind diese Fingerzeige geeignet, den Anspruch des vorliegenden Buches – als einer Biographie über Wolfgang Hildesheimer – zu verdeutlichen und zu schärfen.

Zwischen 1953 und 1963 verfasste Hildesheimer fünf kurze autobiographische Darstellungen; eine sechste erschien 1966. Nach der Buchveröffentlichung der zuvor in Zeitungen und Zeitschriften verstreut erschienenen »Lieblosen Legenden« bei der Deutschen Verlags-Anstalt 1952 und der Ausstrahlung des Hörspiels »Das Ende kommt nie« im Nordwestdeutschen Rundfunk im Juni desselben Jahres stand im Herbst 1953 das Erscheinen seines Romans »Paradies der falschen Vögel« im Münchner Kurt Desch Verlag bevor, als sich Anfang September Heinrich Böll mit einer Bitte an Hildesheimer wandte. Böll und Hildesheimer hatten sich wahrscheinlich auf der Tagung der Gruppe 47 in Bad Dürkheim Anfang Mai 1951 kennengelernt, auf der beide Autoren erstmals lasen und Böll den Preis der Gruppe erhalten hatte. Böll bat Hildesheimer um »einen kurzen biographischen Abriß«, [6] da er für den Süddeutschen Rundfunk »ein ›Portrait‹« [7] über ihn schreiben sollte. Hildesheimer antwortete in einem ausführlichen Brief am 7. September 1953. Die autobiographischen Angaben in diesem Brief bilden die erste nachweisbare Selbstdarstellung Hildesheimers als Schriftsteller, die auf ein deutsches Publikum zielte.

Der Duktus dieser Selbstdarstellung hält die Mitte zwischen einer stichwortartigen, fast tabellarischen Faktenaufzählung und stärker narrativ-erläuternden Einschüben, gerichtet an den vertrauten, von Hildesheimer geduzten Briefpartner. Im Gegensatz zu späteren Kurz-Autobiographien Hildesheimers handelt es sich also nicht um einen Text, der exakt in derselben Form die Öffentlichkeit erreichen, sondern um einen, der dem befreundeten Kollegen die Richtung der Darstellung weisen sollte. Sein Bewusstsein von einer erst noch bevorstehenden ›redaktionellen Bearbeitung‹ gibt Hildesheimer klar zu erkennen in dem Satz, mit dem er seinen Abriss einleitet: »Anbei einen schematischen Überblick aus dem Du Dir das Gewünschte aussuchen kannst« [8] – eine Bemerkung von prinzipiellerer Bedeutung.

Wolfgang Hildesheimer, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit rund sieben Jahren wieder in Deutschland lebte und spätestens mit Einsetzen seiner schriftstellerischen Arbeit 1950, intensiv seit seinem Eintritt in die Gruppe 47 im Mai 1951 den westdeutschen Literaturbetrieb kennengelernt hatte, wusste, dass der von ihm als Schriftsteller angestrebte Erfolg von einem kunstvoll zwischen Nähe und Ferne, zwischen Übereinstimmung und Differenz austarierten Verhältnis zu Multiplikatoren und Publikum abhing. Seine Erfahrungen des Kulturbetriebs sowohl in London als auch im Jerusalem der britischen Mandatszeit hatten ihn darin unterrichtet, dass die Anerkennung als Künstler sowohl an eine – möglichst individuell geprägte – Unterscheidbarkeit in der Produktion als auch an eine Zulassung zu Infrastruktur und Netzwerken geknüpft war. Wie wenig das eine das andere kompensieren konnte, war ikonisch im Bild des – womöglich genialen – Künstlers, der gleichwohl erfolglos, ein Außenseiter des Betriebs ist, überliefert.

Hildesheimers Existenz wies jedoch einen im Kontext der westdeutschen Verhältnisse der 1950er Jahre hoch bedeutsamen Differenzpunkt auf: Er war Jude. Es ist konstitutiv für Hildesheimers Umgang mit diesem Attribut in der deutschen Öffentlichkeit, dass sich die Bedeutung seines Jude-Seins für das deutsche Publikum von jener, die Hildesheimer selbst in ihm erkannte, kategorisch unterschied. Für das deutsche Publikum des Jahres 1953 verkörperte jeder Jude die – tendenziell unhintergehbare – Erinnerung an die Massenvernichtung, zu der es nur wenige Jahre zuvor auf die eine oder andere Weise in einem Nahverhältnis gestanden hatte. Mit diesem Sachverhalt ging es in sehr unterschiedlichen Formen um. Für Hildesheimer dagegen hatte sein Jude-Sein eine sehr viel aufgefächertere, komplexe subjektgeschichtliche Bedeutung – und bildete in dieser Eigenschaft unweigerlich auch eine biographische Bedingung seiner künstlerischen Produktivität. Doch nur wenige Jahre nach der Öffnung der Vernichtungslager ist solch eine andere, differenzierte Erfahrung des Jude-Seins in der deutschen Öffentlichkeit nahezu nicht aussprechbar, wenn das spontane Hervorschnellen, sei es philosemitischer, sei es antisemitischer Stereotype im Publikum vermieden werden sollte. Dieses Risiko ging Hildesheimer, der zu diesem Zeitpunkt genaue Einblicke sowohl in Details und Ausmaße der Massenvernichtung als auch in die Funktionsmechanismen der deutschen Öffentlichkeit besaß, nicht ein. Hildesheimer zog die Konsequenz: Er ›akzeptierte‹, dass jede auch nur indirekte Anspielung auf sein Jude-Sein – die auch der knappste Lebensabriss nicht hätte umgehen können – vom deutschen Publikum unweigerlich affektiv auf das Ereignis der Massenvernichtung bezogen, dadurch zugleich reduziert und zuletzt abgeschnitten wurde von jenen weiteren, für Hildesheimers Arbeit konstitutiven Bedeutungen.

Seine differenzierten Bewegungen auf diesem hochgradig spezifischen, von den deutschen Rezeptionsbedingungen abgesteckten Terrain verknüpfte Hildesheimer mit einer Destruktion der autobiographischen Textsorte. Diese Destruktion erlaubte nicht nur die subversive Re-Integration dessen, was zunächst ›abgeschnitten‹ schien. Sie wird selbst als genuines Paradigma in Hildesheimers Auffassung über das Verhältnis zwischen Leben und Kunst erkennbar.

Markierung der Differenz

Die Darstellung für Böll von 1953 mutet im Vergleich mit den späteren autobiographischen Abrissen unverstellt, direkt und gleichsam arglos an. »1933 wanderte ich mit meinen Eltern nach Palästina (damals britisches Mandat) aus und erlernte dort – im Rahmen einer allgemeinen beruflichen Umschichtung – Möbeltischlern.« [9] Für das deutsche Publikum war damit Hildesheimers jüdische Identität unzweideutig offengelegt. An dieser Unzweideutigkeit hat Hildesheimer lebenslang festgehalten (später steigerte er sie programmatisch). Die Begriffe »Auswandern« und »berufliche Umschichtung« deuten auf die zionistische Motivierung der Übersiedlung, durchaus nicht auf eine panische Flucht unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Tatsächlich wies Hildesheimer später eine Bezeichnung der Übersiedlung nach Palästina als Exil ausdrücklich zurück. [10] Doch diese Markierung als Auswanderung, nicht als Flucht, unterlag mit großer Wahrscheinlichkeit der Wirkung, die die schiere Jahreszahl »1933« im zeitgenössischen Publikum auslöste, das mit ihr unweigerlich den Beginn der NS-Verfolgungspolitik und der ersten Flüchtlingswelle verbinden musste.

Hildesheimers Differenzpunkt tritt in der Aufzählung seiner Lebensstationen nach dem Aufenthalt in Palästina ein zweites Mal prominent zutage in seiner Tätigkeit als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Auch diese Tätigkeit verwies letztlich zurück auf seinen ehemaligen Status als Verfolgter des NS-Regimes, betrauten die Alliierten doch vorzugsweise Personen mit dieser Funktion, die das NS-Reich hatten verlassen müssen. [11] Dagegen galt in weiten Teilen der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Jahre um 1953, darunter auch im Milieu der Gruppe 47 – nach der Aussage Hans Werner Richters – jede »Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten« als »Kollaboration«. [12] An Böll schreibt Hildesheimer: »Aus Interesse an dem mir damals völlig unverständlichen Simultandolmetschersystem machte ich eines Tages in der amerikanischen Botschaft [in London, SB] eine Dolmetscherprüfung und wurde als Dolmetscher zu den Nürnberger Gerichten engagiert.« [13] Hildesheimer gibt hier ein ›unpolitisches‹, von geradezu wissenschaftlicher Neugier geprägtes Motiv als Initial seiner Entscheidung an. Doch – gewiss auch eingedenk der enormen Signalbedeutung, die dem Stichwort »Nürnberger Prozesse« als Inbegriff einer verurteilenswürdigen Siegerjustiz in der westdeutschen Bevölkerung der Zeit zukam – begegnet er jeder Spekulation über seine Einstellung mit einer expliziten Stellungnahme: »Ich nahm dieses Angebot an, da ich mich von der damals vielzitierten Kollektivschuld überzeugen wollte, nicht aber, um endgültig nach Deutschland zurückzukehren. Diesen Entschluß faßte ich erst viel später, nämlich als ich mich überzeugt hatte, daß diese Kollektivschuld nicht existierte. Ich war bis Oktober 1949 in Nürnberg tätig, zuerst als deutsch-englischer Simultandolmetscher (ich bin völlig zweisprachig) und dann als Redakteur an den Buchausgaben der Gerichtsverhandlungen. Ich habe während dieser Jahre viele anständige Menschen, Opportunisten und Verbrecher kennengelernt.« [14] In diesen Zeilen thematisiert Hildesheimer offensiv, unmittelbar, direkt die Schuldfrage – und formuliert ein Urteil, das für das Kollektiv der Deutschen günstig ausfällt, unterstrichen noch dadurch, dass er seinen Entschluss, »endgültig nach Deutschland zurückzukehren«, an dieses Urteil knüpft. Im anschließenden Satz über die »viele[n] anständige[n] Menschen, Opportunisten und Verbrecher« dokumentiert er zugleich, dass diese Einstellung zur damals vieldiskutierten Kollektivschuldfrage [15] ihn jedoch nicht blind gemacht hat für den Unterschied zwischen veritablen Kriegsverbrechern auf der einen Seite und den im täglichen Umgang vielfach bedeutungsvolleren Mitläufern auf der anderen Seite. Mit diesen Zeilen geht Hildesheimer in eine Gesprächsoffensive mit den Deutschen: Er war bereit, mit großer Differenziertheit über die Schuld von Deutschen zu sprechen – die Voraussetzung dafür bildete freilich deren Bereitschaft, Schuld überhaupt zu thematisieren.

War das deutsche Publikum – nach Einschätzung von Hildesheimer und Böll 1953 – dazu bereit? Suche dir »das Gewünschte aus«, lautete Hildesheimers Bitte an Böll. Wie Böll sich entschieden hat, kann nicht mehr ermittelt werden; [16] ein Hinweis auf Hildesheimers Einschätzung erfolgte erst eineinhalb Jahre später. Am 1. März 1955 verfasste er erneut einen Lebensabriss, adressiert an ebenjenen Süddeutschen Rundfunk, für den Böll sein Portrait hatte abfassen sollen. Das Manuskript folgt über weite Passagen wörtlich dem an Böll gerichteten Text; umso stärker fallen die Abweichungen ins Auge. Die noch 1953 gewählte explizite Stellungnahme zur Schuldfrage anlässlich seines Engagements bei den Nürnberger Prozessen ist vollständig gelöscht; die gesamte Nürnberger Episode wird hier in die zwei Sätze gefasst: »Aus rein akademischem Interesse Dolmetscher-prüfung (ich bin zweisprachig) bei der amerikanischen Gesandtschaft. Darauf Kontrakt als Simultan-dolmetscher bei den nürnberger Gerichten bis 1949.« [17]

Dass hinter dieser Streichung mehr stecken könnte als lediglich die Neuausrichtung des Lebenslauf-Wortlauts auf einen anderen, im Vergleich zu Böll weniger vertrauten Korrespondenzpartner, legt die kurz darauf folgende Formulierung nahe: »1950 wieder deutscher Staatsbürger.« [18] Tatsächlich beantragte Hildesheimer seine Wiedereinbürgerung erst im Frühjahr 1952. Die radikale Kürzung der Nürnberger Episode verringert die Distanz zum deutschen Publikum, nicht weniger zu seinen Redakteuren, und die Erwähnung der deutschen Staatsbürgerschaft betont Zugehörigkeit. ›Anders-Sein‹ wird im Lebenslauf vom März 1955 vorsichtig zu reduzieren versucht.

Noch im selben Jahr 1955, da Hildesheimer seinem Lebenslauf für den Süddeutschen Rundfunk den Hinweis auf seine erneute deutsche Staatsbürgerschaft eingefügt hatte, erschien im Programmheft zur Uraufführung seiner Komödie »Der Drachenthron« am Schauspielhaus Düsseldorf die »Kleine Selbstbiographie«. Hildesheimer befand sich auf einem ersten Höhepunkt seiner Karriere als deutschsprachiger Schriftsteller: Im März desselben Jahres war ihm der renommierte Hörspielpreis der Kriegsblinden verliehen worden, die Regie seiner Komödie hatte der »erste Theatermann Deutschlands«, [19] Gustaf Gründgens, übernommen. Die »Kleine Selbstbiographie« bildet den ersten nachweisbaren autobiographischen Text, dessen exakter Wortlaut mit Hildesheimers Autorisierung das deutsche Publikum erreichte. Der kurze Text legt offen: Hildesheimer benutzte die Textsorte der »Selbstbiographie« zu einer hochgradig bewussten Selbst-Inszenierung als Künstler vor deutscher Öffentlichkeit, zugleich zur antiautoritären Persiflage, genauer: zur dissidenten Zersetzung des (auto-)biographischen Narrativs selbst.

Wie für alle autobiographischen Darstellungen Hildesheimers gilt auch in diesem Fall, dass keine der wesentlichen, vor allem keine der aus Sicht des deutschen Publikums signifikanten Lebensstationen ausgelassen oder gar umgedeutet wird. Es sind Akzentverschiebungen im Inhaltlichen und eigentümliche Formulierungen, durch die Hildesheimer Position bezieht.

Die augenfälligste Differenz, ja, gleichsam eine Art Kehrtwende zur Selbstdarstellung für den Süddeutschen Rundfunk aus demselben Jahr weist die Darstellung der Nürnberger Episode auf; in der »Kleinen Selbstbiographie« heißt es: »Anfang 1947 wurde ich als deutsch-englischer Simultandolmetscher an die Nürnberger Gerichte berufen. Dort blieb ich bis 1949 (als Besatzungsangehöriger).« [20] Hatte Hildesheimer es kurz zuvor noch für erforderlich gehalten, seine deutsche Staatsangehörigkeit zu erwähnen, betont er jetzt ein – zudem der Vergangenheit angehörendes – Attribut, das die Differenz zum deutschen Publikum keineswegs verringerte, eher nachdrücklich markierte. Vor solcher Markierung schreckte Hildesheimer – auf der Ebene der autobiographischen Kurzabrisse – künftig nicht mehr zurück, ja, er steigerte sie noch; rhetorische Polituren der Differenz, wie sie im Lebenslauf vom März 1955 anklingen, blieben hinfort aus.

Destruktion der Form

Den archimedischen Punkt der »Kleinen Selbstbiographie« bildet jedoch nicht mehr der Umgang mit jenen biographischen Daten und Fakten, die Hildesheimer von der Mehrheit der Deutschen unterschieden, sondern der Angriff auf die Textsorte der Künstlerbiographie und die durch sie epidemisch verbreiteten, populären Auffassungen von ›Künstlertum‹ und Künstlerleben und den sie flankierenden Ideologemen wie Berufung, Schaffensdrang, Empfindsamkeit und Schicksalhaftigkeit. Den Duktus solchen Denkens und Schreibens hatte er gerade erst in seinem Fälscherroman »Paradies der falschen Vögel« ironisch ausgestellt. Da gilt es, dass »schöpferische Instinkte aus dem Schlummer der Latenz geweckt« werden, der Künstler empfindet selbstverständlich eine »ethische Verpflichtung« gegenüber seinem Talent, und unweigerlich muss er eines Tages den »Entschluß« fassen, »sein Leben der Kunst zu widmen.« [21] Hildesheimers Generalangriff gegen das Genre und seine ideologischen Über- und Unterbauten, dessen grundstürzende Radikalität er erst im Mozart-Buch 1977 und in seiner »Biographie« »Marbot« (1981) vollständig entfaltete, deutet sich in den autobiographischen Kurz-Viten nur erst an, gibt sich im Horizont der späteren Werke gleichwohl klar zu erkennen. Wenn Hildesheimer etwa notiert: »Ausbildung in Möbeltischlerei (Gesellenstück: ein Stuhl, mein größter Stolz, denn Stühle zu machen ist schwer) und technisches Zeichnen«, [22] opponiert er nicht nur der populären Auffassung, dass – zumal ›dichterisches‹ – ›Künstlertum‹ mit handfesten Gewerken keinerlei Berührungspunkt aufweist, ja, vielmehr im Zeichen möglichst radikaler Vergeistigung stehe. Sondern das nonchalante Bekenntnis, sein »größter Stolz« sei »ein Stuhl«, muss die verbreitete Annahme irritieren, dass der Ehrgeiz eines Schriftstellers stets auf ein erstklassiges literarisches Werk ziele, mit dem er sich in die Annalen der Menschheit eintrage, nicht auf das profane »Gesellenstück« aus einer Etappe seines Lebens, da die eigene künstlerische Berufung wohl noch ›unerkannt‹ in ihm geschlummert habe. Auch Vorstellungen über das Verhältnis zwischen dem Gestaltungswillen des Künstlers und dem Kunstwerk selbst erfahren eine empfindliche Störung, wenn Hildesheimer über seine Produktion als Bühnenbildner mitteilt: »Erstes und einziges Bühnenbild: ›Onkel Wanja‹ von Tschechow (in London). Unbegreiflicherweise wurden aber auch Teile der Dekoration für ›Mrs. Warren’s Profession‹ von Shaw verwandt.« [23] Die unbeschränkte Verfügungsgewalt des Künstlers über sein Werk wird hier konterkariert durch eine – wohl ökonomisch diktierte – Praxis im Kulturbetrieb.

Auch dass ein Künstler eine wichtige Entscheidung in seinem Leben – in diesem Fall: auf eine Auswanderung nach Amerika zu verzichten – vor seinem Publikum damit begründet, dass er »keine Lust mehr [hatte]«, [24] widerspricht eklatant dem teleologischen Charakter der Biographie eines ›echten‹ Künstlers: Ein unbedingtes Ausdrucksbegehren, eine zwingende Berufung entscheiden über sein Schicksal. Auch wenn dieser Künstler Schmerz und Leiden gut kennt: Schiere Unlustgefühle haben über sein Leben keine Gewalt. Geradezu lustvoll schrieb Hildesheimer dieses Motiv im Jahr darauf aus, als er formulierte: »[D]ie Unlust hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt«. [25]

Es ist dieser Kontext bereits platzierter Störungen des populären autobiographischen Narrativs vom Künstler, in dem seiner Darstellung über den Beginn seines Schreibens besondere Bedeutung zuwächst. Die bereits zweimal zuvor verwendete Episode lautet in der »Kleinen Selbstbiographie« 1955 so: »Eines kalten Tages im Februar 1950 war es in meinem Atelier so eisig, daß ich nicht malen konnte; ich ging also in das wärmere Nebenzimmer, wo es zum Malen zu dunkel war. Daher beschloß ich, anstatt dessen, eine Geschichte zu schreiben. Von diesem Moment an habe ich niemals mehr einen Pinsel oder eine Zeichenfeder angerührt. Der Geschichte folgte eine zweite und eine dritte, die Farben trockneten ein, die Bilder verstaubten, die Holzschnittpresse begann, zu verrosten, und bald darauf verschenkte ich das ganze Material. Die gesammelten Stories erschienen […]«. [26]

Wo andere Künstler ein Erweckungserlebnis erfahren, eine ›tiefinnere‹ Berufung spüren, ein unbedingter Drang in ihnen um Ausdruck ringt, macht Hildesheimer die denkbar trivialste Ursache für seinen Eintritt in die Existenz als Schriftsteller namhaft: das Wetter, an einem bestimmten, aber letztlich austauschbaren Tag im Februar 1950 (in einem Brief an die Eltern war es noch der 24. Januar gewesen [27]). Die Quelle dieser Künstlerwerdung ist profan, ja, banal; nichts Erhabenes, keinerlei (Selbst-)Erkennen umgibt sie. Auf den Kredit einer Aura, den jener Künstler erwerben mag, der sein Publikum von anderen Auslösern seines Künstlertums zu überzeugen vermag, verzichtet Hildesheimer. Ja, bei wiederholter Lektüre seiner »Kleinen Selbstbiographie« erscheint nicht nur die Tatsache, dass Hildesheimer als Schriftsteller arbeitet, als Ergebnis eines puren Zufalls ohne jede tiefere Ursache. Auch sein ganzer Werdegang – vom Möbeltischler und Maler über den Simultandolmetscher zum Theaterautor – droht deutlich an innerem Zusammenhang, an Kohärenz zu verlieren. Spätestens in solcher Wirkung kündigte sich allerdings an, dass Hildesheimer die (auto-)biographische Form nicht nur zu dehnen, sondern geradezu zu zerdehnen begonnen hatte. Denn jeglichem Zweifel daran, dass das Leben eines Menschen irgendeinen zusammenhängenden Sinn aufweist, begegnet die Biographie als ein Genre, dessen Form aus eigener Kraft auch disparatesten Daten eines Lebens Kohärenz aufzudrücken vermag. Dem Versuch, dieses Zerdehnen aus dem Inneren der Form fortzusetzen, blieb Hildesheimer auch in seinen weiteren autobiographischen Darstellungen verpflichtet.

Die Destruktion des autobiographischen Genres durch ironische Persiflage steigerte Hildesheimer erkennbar bereits in seiner Version für die Dezember-Ausgabe der Zeitschrift »Spektrum des Geistes« 1956. Unter dem Titel »… und so wurde ich Schriftsteller« heißt es: »Ich wurde am 9. Dezember 1916 in Hamburg geboren. Meine ersten beiden Jahrzehnte verbrachte ich in Hamburg, Berlin, Cleve, Nymwegen, Mannheim, der Odenwaldschule, Frensham Heights School (England), Jerusalem, London, Cornwall, der Schweiz, und wieder Jerusalem; und zwar als Säugling, Kind, Elementarschüler, Gymnasiast, Kamerad eines Landschulheims, Public-school-boy, Tischlerlehrling, Kunststudent, Graphiker und Müßiggänger, das letztere zwischen längeren Perioden der Tätigkeit, jedoch nicht weniger intensiv. Dann brach der Krieg aus, und ich wurde, dank dieser vorzüglichen Vorbildung, englischer Informationsoffizier in Palästina. Als solcher habe ich – ich kann es nicht leugnen – einen interessanten Krieg verbracht.« [28] Die fast leiernd wirkende Aufzählung der Wohn- und Bildungsorte, dazu der Mangel eines irgend nachvollziehbaren kausalen Zusammenhangs ihrer Aufeinanderfolge konterkarieren die Vorstellung von einem Leben als Verwirklichung eines Bildungsganges, der mit jener inneren Zwangsläufigkeit erfolgt, die dem deutschen Publikum vor allem durch das Muster des Bildungsromans eingeprägt worden war. Im Gegenteil: Nicht nur die Bildung, sondern gar das ganze bisherige Leben dieses Schriftstellers scheint einer Ordnung zu entbehren. Der Hinweis auf die »vorzügliche Vorbildung« als Voraussetzung seiner Ernennung zum englischen Informationsoffizier treibt diese Deutung auf die Spitze. Zwar hatte der Ausbruch des Krieges die Bildungs- und Karrierepläne auch zahlloser anderer Deutscher völlig durcheinandergeworfen. Doch jede Identifikationsmöglichkeit für seine deutschen Leser wird noch im gleichen Atemzug verstellt durch die Bezeichnung seiner konkreten Position – im Dienste einer (ehemaligen) Besatzungsmacht in einem (fernen) Mandatsgebiet – sowie durch die geradezu tabuverletzende Wendung vom »interessanten Krieg«. Hildesheimer scheute hier nicht das Risiko, jene Affekte aufzurufen, an die Frank Thiess 1945 in seinem Zeitungsartikel »Innere Emigration« appelliert hatte, als er von den »Logen- und Parterreplätzen« schrieb, von denen aus die Exilanten das gefährliche Treiben in Deutschland komfortabel und ungefährdet hätten beobachten und kommentieren können. [29]

Im direkten Anschluss fährt Hildesheimer fort: »1946 kehrte ich nach London zurück und entwarf Textilien, bis der amerikanische Chefdolmetscher bei den Nürnberger Gerichten meine Befähigung zum Dolmetscher entdeckte (jedoch nicht auf Grund meiner Textilentwürfe). Ich wurde also Simultandolmetscher in Nürnberg und blieb es drei Jahre lang, nach deren Ablauf ich es wieder mit der Malerei versuchen wollte. (Ich halte viel von der Gewohnheit, ab und zu auf den Ausgangspunkt zurückzukommen.) Ich malte jedoch nicht lange, genau bis zum 18. Februar 1950 vormittags. An diesem Tag […]«. [30]

Geradezu provokant rückt Hildesheimer hier die vollständige Entkopplung von Bildungsgang und Berufstätigkeit in den Vordergrund. Der Textil-Designer wird Gerichtsdolmetscher. Das kleine Wort »also« suggeriert eine Kausalität, die auf die Bereitschaft des hier Portraitierten deutet, etwas so Fragwürdigem wie dem schieren Zufall das Regime über sein (Künstler-)Leben zu überlassen. Auch die Bereitschaft, »ab und zu auf den Ausgangspunkt zurückzukommen«, widerspricht eklatant der einem Künstlerleben vermeintlich innewohnenden ›vorwärts‹-drängenden Dynamik, ja, auch nur den geringsten Ansprüchen an ein kontinuierliches Fortschreiten im Bildungsgang. Eher erscheint dieses Leben als fortgesetztes Experiment, mit wiederholten Anfängen und völlig ungewissem Ausgang. Die im Anschluss wiederholte Episode vom kalten Tag unterstreicht einmal mehr die Stellung des Zufalls in dieser Biographie; und hier fällt auch – anlässlich seiner Erinnerung, er habe »unlustig […] ein Blatt Papier zur Hand« genommen – die schon zitierte Bemerkung: »[D]ie Unlust hat in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt«. [31] Eine von außen betrachtet chaotische Unordnung der geographischen Lebensstationen; der Zufall; die Unlust – das sind in diesem autobiographischen Abriss die Konstituanten des Schriftstellertums (»… und so wurde ich Schriftsteller«). Seine Kurzvita von 1956 endet mit einer vernehmlich ironischen Spitze gegen den Literaturbetrieb selbst, wenn er bekanntgibt, dass er sich von allen literarischen Formen »die Form des Aphorismus für meinen Lebensabend vorbehalten« wolle, »es sei denn, es fände sich ein eifriger Herausgeber, der, wie es ja üblich ist, einen kleinen Niederschlag wiederholenswerter Aussagen zu einem schmalen Bändchen zusammenbraut.« [32]

Als Hildesheimer sieben Jahre später, 1963, einen autobiographischen »Lebenslauf« für die Zeitschrift »Der Jungbuchhandel« verfasste, hatte sich viel verändert. 1957 hatte er Deutschland verlassen und war nach Poschiavo in Graubünden gezogen; der prominente Hörspielautor der 1950er Jahre hatte sich unterdessen zu einem Repräsentanten des deutschsprachigen absurden Theaters entwickelt, dann jedoch eine folgenreiche Wendung vollzogen, die die Arbeit an der monologischen Prosa von »Tynset« und »Masante« einleitete; seit 1960 stand er bei Suhrkamp unter Vertrag, einem der führenden Literaturverlage der Bundesrepublik Deutschland. Der »Lebenslauf« von 1963 klingt weniger verspielt-lustvoll in den Angriffen auf das biographische Genre und enthält belangvolle Hinweise auf Hildesheimers Schriftsteller-Ich – ohne dass jedoch die kategorische Absage an die Kohärenzbehauptung der (Auto-)Biographie und an den Ideologie-Charakter jeglicher Vorstellung vom Bildungs-›Gang‹ abgeschwächt wäre. Wenn Hildesheimer schreibt: »[I]n Mannheim besuchte ich das Karl-Friedrich-Gymnasium – ich bin allerdings nicht sicher, ob es wirklich so hieß, oder ob alle Gymnasia so heißen« [33] –, dann blitzt hier schon jene sarkastisch-distanzierte Absage an (insbesondere deutsches) Traditionsgut auf, dessen Tonfall weite Strecken von »Tynset« und »Masante« bestimmen sollte. Nicht nur wird hier die zentrale Bildungsagentur aller ›höheren‹, zumal humanistischen Bildung in Deutschland, das Gymnasium, weder liebevoll erinnert noch gemessen gewürdigt – sondern in der vorgeblichen Unkenntnis über die Namensgebung dieser Institutionen behauptet Hildesheimer hier eine geradezu grotesk erscheinende Ferne zu Kultur- und Bildungswesen in Deutschland, die ihn von jedem Leser trennte.

Die pittoreske Anekdote vom kalten Tag entfällt in dieser Kurzvita von 1963 komplett. An irritierenden Vermerken, die den Erwartungshorizont an die autobiographische Notiz eines Schriftstellers durchkreuzen, ist gleichwohl kein Mangel; so gibt Hildesheimer das Folgende zur Kenntnis: »Für Literatur interessiere ich mich mäßig, lese allerdings sehr gern gute Bücher, wie etwa die ›Blechtrommel‹, ›Finnegans Wake‹, ›Nightwood‹ von Djuna Barnes, ›Der Schatten des Körpers des Kutschers‹ von Peter Weiss, die ›Texte um nichts‹ von Beckett und alles von meinen Freunden Ilse Aichinger und Günter Eich, dazu jedes Jahr ein paar Shakespeare-, Schiller- und Strindbergdramen. (Meine Welt liegt irgendwo zwischen Djuna Barnes, Ilse Aichinger und Strindberg.) – Was mich am meisten beschäftigt ist – außer mir – Malerei, Musik und Architektur.« [34] Zweimal wird das Interesse an Literatur ausdrücklich relativiert – und die Beschreibung seiner »Welt« musste dem westdeutschen Publikum von 1963 vergleichsweise exklusiv, wenn nicht gar esoterisch erscheinen. Gleichwohl ist diese Aufzählung lesbar als eine Offerte Hildesheimers – ein Angebot, diese »Welt« durch die Lektüre der genannten Autoren, aber auch seiner eigenen Werke kennenzulernen. Nicht mehr die ironische Attacke gegen das biographische Genre organisiert diese Zeilen, sondern die objektive Ferne des Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer zu den verbreitetsten Vorstellungen eines Schriftstellers als Künstler. Dieser Schriftsteller interessiert sich für Literatur nur »mäßig«. Doch wen das nicht stört, wen überhaupt der unübersichtliche Werdegang dieses Autors und seine kurvenreiche Bildungsgeschichte nicht stört, der wird hier ausdrücklich eingeladen, diesem Autor zu begegnen. Den Ausgangspunkt dieser Begegnung bilden allerdings nicht die populären Stereotype über ›deutsche‹ ›Dichter‹, sondern literarische Texte. Vor ihnen zerrinnt das Genre der »Lebensläufe« und »Kleinen Selbstbiographien«, das Berufung und zwingendes Ausdrucksbegehren als die unanfechtbaren, naturgegebenen Hegemone im Leben jedes Künstlers feiert, zum nichtigen Überbau-Zubehör jenes kulturindustriellen Betriebs, dem jeder Text, der für Hildesheimer Geltung hatte, unversöhnlich opponiert.

1966 entstand eine (vorläufig) letzte »Vita« von Hildesheimers Hand. Unterdessen hatte sich die Virulenz der NS-Vergangenheit für sein schriftstellerisches Werk im 1965 erschienenen, breit rezipierten »Tynset« auf das Expliziteste entfaltet; und auch jenen Teilen der deutschen Öffentlichkeit, die diese Bezüge geflissentlich zu überlesen suchten, hatte Hildesheimer mit seinen »Antworten über Tynset« unüberhörbare Hinweise erteilt. Auf seine Tätigkeit bei den Nürnberger Prozessen hatte er nicht nur in diesem Text, sondern auch in seiner Rezension von Rolf Hochhuths »Stellvertreter« ausdrücklich hingewiesen. Auch seiner Sorge über den erneut anwachsenden Antisemitismus in Westdeutschland hatte er inzwischen wiederholt öffentlich Ausdruck gegeben. [35] Es war diese gegenüber den früheren Jahren veränderte Konstellation, in der er seinen autobiographischen Abriss mit einem gänzlich neuen Einleitungssatz versah: »Meine Vorfahren väterlicherseits waren Rabbiner, einer nach dem anderen, nur mein Vater hatte keine Lust mehr und wurde Chemiker«. [36] War in den vorherigen Lebensabrissen für den deutschen Leser Hildesheimers Jude-Sein erst im Verlauf seiner Darstellung aus den Hinweisen auf seine »Auswanderung« nach »Palästina« oder auch am Aufenthaltsort »Jerusalem« ablesbar gewesen, rückt der Schriftsteller sich jetzt bereits mit dem ersten Satz ein in die Genealogie einer Familie, deren prominente Stellung in der Geschichte des europäischen Judentums im Deutschland von 1966 freilich vollständig vergessen war. »Meine Vorfahren waren […] Rabbiner« – viel direkter war einem deutschen Publikum nicht mitzuteilen, dass man Jude ist. Im gleichen Atemzug thematisiert Hildesheimer jene Disposition der Reserve gegenüber der religiösen Tradition, die in diesem Satz sein Vater repräsentiert, die jedoch auch für den Sohn gültig war. Ihre genaueren Motive bleiben dem deutschen Publikum hinter der Floskel »nur mein Vater hatte keine Lust mehr« verborgen. Gleichzeitig wird auch bei dieser wichtigen Entscheidung erneut die »Unlust« ins Spiel gebracht, deren Bedeutung im Verlauf dieser »Vita« schließlich in dem Satz zugespitzt wird: »[D]ie Unlust hat in meinem Leben immer eine große, wenn nicht gar entscheidende Rolle gespielt, und ich habe ihr viel zu verdanken«. [37]

Kontingenz und Produktivität der Erfahrungen

Dieses Abschreiten von Hildesheimers Kurzviten zeigt: Er operierte hochgradig bewusst im Rahmen der Bedingungen, die die deutsche Rezeption der ersten Nachkriegsjahrzehnte einem jüdischen Künstler in der Öffentlichkeit setzte; und er löste systematisch die landläufige Vorstellung der (Künstler-)Biographie auf. Es ist das Letztere, das ihm ermöglicht, jene anderen Qualifikationen in seine autobiographischen Texte einzuspielen, die ihm – wenn auch noch nicht der deutschen Öffentlichkeit und den deutschen Schriftstellerkollegen – als konstitutiv für seine künstlerische Kreativität galten.

Dies war zum einen die eminente interkulturelle Erfahrung, auf die – unübersehbar und zugleich fast versteckt – in der immer wieder aufgeführten Vielzahl der Wohnorte hingewiesen wird, eine Erfahrung, die in Zweisprachigkeit mündete, mit unmittelbaren Folgen für die literarische Produktion, wie englischsprachige Gedichte (erwähnt 1955), aber auch literarische Übersetzungen (erwähnt 1953 und 1955). Zum andern war dies Hildesheimers ausgewiesene, von ihm nie unerwähnt gelassene Expertise als bildender Künstler sowie sein ausgeprägtes Interesse für Musik. Immer wieder erwähnt Hildesheimer sein Studium der Malerei, mehrfach seine Ausstellungen (1953, 1955).

Dabei ist augenfällig, dass Malen und Schreiben auf der Bühne von Hildesheimers Kurzviten einen verschobenen Konflikt miteinander austragen. Die schroffe, kategorische Trennung dieser Künste unterstreicht Hildesheimer rhetorisch, wenn er im Brief an Böll über den legendären Morgen im Februar 1950 mitteilt: »Das halbfertige Bild habe ich kurz danach weggeworfen, wie viele andere meiner Bilder, die Farbe auf der Palette trocknete ein, die Pinsel verstaubten.« [38] Im März 1955 dagegen gab er kund, dass er »vor kurzem – nach genau fünf Jahren – das Bild, an dem ich damals gemalt habe, vollendet« [39] habe. Kurz darauf behauptete er, er habe nach jenem Wintermorgen »niemals mehr einen Pinsel oder eine Zeichenfeder angerührt«. [40] 1956 heißt es erneut, er habe »vor ganz kurzer Zeit, das damals begonnene Gemälde fertiggestellt […] wider jegliches Erwarten.« [41] 1966 ist zu erfahren, dass er »1964 das damals begonnene Gemälde zu Ende malte […]. Jetzt male und zeichne ich wieder mit zunehmender Intensität«. [42]

Die widersprüchlichen Angaben deuten auf die Wahrnehmung einer Konkurrenz der beiden Künste, die auf eine Entscheidung zugunsten einer von ihnen zu drängen schien. So nachhaltig ein fortgeworfenes Bild, eine eingetrocknete Palette, verstaubte Pinsel auf das definitive ›Ende‹ dieser Kunst für diesen Künstler deuten sollen, so offenkundig fungiert das später vollendete Bild – doch nicht weggeworfen, doch noch vollendet – als Symbol einer Anziehung, der der Künstler schließlich nachgibt – ohne mit dem Schreiben aufzuhören. Dass entgegen dem Konflikt zwischen den Künsten, den Hildesheimer hier in Symbolen zu inszenieren versuchte, er längst an Verknüpfungen zwischen ihnen gearbeitet hatte, belegen seine Kooperationen mit Paul Flora (erwähnt 1953, 1955) und Loriot (1955). In den Kurzviten unerwähnt, aber sehr sichtbar – in der »ZEIT« vom 16. November 1962 – erschienen waren die mit sechs eigenen Illustrationen versehenen »Vergeblichen Aufzeichnungen«.

Aber auch das Interesse für Musik wird unüberlesbar in den Viten bekundet. Im März 1955 nannte er als »weitere Nebenbeschäftigungen: Musiktheorie und Musikgeschichte« und fügte an: »(ich habe Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt)«. Sein Lebensabriss von 1966 endet gar mit der für einen Schriftsteller zweifellos auffälligen Selbstcharakterisierung als »schwacher Bücherleser, guter Musikhörer«. Die direkte Folge für die künstlerische Arbeit, die in Kooperation mit Hans Werner Henze verwirklichte »Funk-Oper« »Das Ende einer Welt«, wird früh und wiederholt erwähnt (1953, März und Oktober 1955).

Nur schwer bemerkbar für den zeitgenössischen Leser der Kurzviten blieb hingegen ein anderes Depositum: Hildesheimers psychoanalytische Expertise. Kaum kenntlich in vereinzelt eingestreuten Vokabeln wie »latent« (1953), »Lust« (1955) und »Unlust« (1966) oder »verdrängen« (1966) schimmert einmal am Rande auf, was Hildesheimer erst in der Zukunft vor deutschem Publikum expliziter auszustellen bereit war.

[43]einerund