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Ludwig Laher

Überführungsstücke

Roman

 

 

 

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Für Ernst J.

 

 

 

 

alles kann dies und jenes heißen.

alles mag auch etwas anderes heißen.

der apfel zwischen den zähnen ist geschmack.

der stein auf meinem schädel ist die ursache einer beule.

die dame vor deinen augen ist einstweilen noch ein anblick.

 

Konrad Bayer

I

Von Zeit zu Zeit, gesteht Brunngraber, da juckt es mich, und mich überkommt unbändige Lust, so ein bereinigtes Hanfsamentütchen wie dieses hier beim Stoßlüften einfach in den Hof zu entleeren. Direkt unter meinem Bürofenster findet sich nämlich an der Rückseite des Justizzentrums seit der Erweiterung ein dekoratives, aufwendig gestaltetes Biotop, Sumpf, Teich, künstliches Bächlein im Schotterbettchen, eine gefällig kupierte Wiesenfläche mit allerlei Pflanzungen. So etwas wie Kunst am Bau, nur eben Natur, genutzt in erster Linie von Hundebesitzern aus der ganzen Gegend. Ich stelle mir dann immer vor, dass Monate vergehen könnten, bis dort jemandem auffällt, da stimmt doch etwas nicht.

Ehrlich gesagt, ich habe nicht die geringste Ahnung, ob das Zeug da unten im Schatten auch wirklich keimen würde, aber so ein gepflegtes kleines Hanfdickicht mitten in der Höhle des Löwen, das wäre doch was. Sehen Sie, solche und ähnliche Hirngespinste begleiten mich durch den Alltagstrott. Darf ich natürlich nicht laut sagen, versteht sich.

Brunngraber ergänzt in der Maske des staatsanwaltschaftlichen Verwaltungsprogramms den Datenbestand zu dem unter Betäubungsmittel, kurz BTM, rubrizierten Überführungsstück auf seinem Schreibtisch um das Wort vernichtet und generiert so automatisch ein Vernichtungsprotokoll, das bis zur tatsächlichen Vernichtung in einem gesonderten Aktenordner geführt wird, den er, ohne einen Blick darauf zu verschwenden, mit sicherem Griff aus dem Regal schräg hinter sich zieht. Das Blatt wird noch gelocht und dann vorläufig abgelegt.

Bedächtig gießt er sich Kaffee nach und beißt ein großes Stück von seiner Vollkornsemmel ab. Brunngraber frühstückt immer erst im Büro, und das lediglich so nebenbei, wie er mit vollem Mund betont, bevor er die Arbeit und den Erzählfaden wieder aufnimmt.

Einer von den Chemikern des Landeskriminalamts, die für die Beweiswürdigung tagein, tagaus beschlagnahmte Substanzen untersuchen, Wirkstoffgutachten nennen wir das, der ist zum Spaß und aus Neugier auf die Idee gekommen, ein Haar seiner sechsjährigen Tochter zu testen. Volltreffer. Er selbst wäre sogar ein Paradesuchtgiftler, hat er gescherzt, und in eine genaue Verkehrskontrolle sollte er nach Dienstschluss besser nicht geraten, man riecht es ihm förmlich an. Bei mir wird es nicht viel anders sein, fürchte ich. Ein halbes Stündchen in der Asservatenkammer, und ich bin ziemlich benebelt.

In dem fensterlosen Bunker da unten habe ich ja praktisch keine Lüftung, das ist olfaktorisch nicht bloß anstrengend, sondern eine echte Zumutung, sage ich Ihnen. Ein einziger ebenso einsamer wie betagter Ventilator, direkt in die Wand integriert, setzt sich gemächlich in Bewegung, wenn die Tür aufgeht. Wie dieses bemitleidenswerte Gerät allein auf weiter Flur ausreichend Frischluft ansaugen soll, war mir schon immer ein Rätsel. Buchstäblich jedesmal, wenn ich durch die Sicherheitsschleuse durch bin, ekelt es mich ein wenig vor dem Schwall, der mich begrüßt, und ich möchte am liebsten auf der Stelle wieder umkehren. Gleichzeitig aber stellt sich eine Art Vertrautheit ein, für die mir die rechten Worte fehlen, die auch etwas Anziehendes hat, so blöd das klingen mag.

Inzwischen hat Brunngraber den ordnungsgemäß beschrifteten Umschlag mit dem Hanfsamenplastikbeutel längst sorgfältig mit einem speziellen Klebeband versiegelt. Ein letztes Mal wird das nicht weiter zu verwahrende Verwahrstück den Weg ins Untergeschoß antreten, denn sein Beweiszweck hat sich mit Rechtskraft erledigt.

Ganz am Anfang, das ist jetzt schon über fünfundzwanzig Jahre her, bin ich manchmal entgeistert im neonerleuchteten Archiv vor den BTM-Regalen gestanden und habe mir so richtig bewusst gemacht: Diese Haschplättchen, der Kokainpulverschnee, das Cannabiskraut, die bunten Ecstasy-Tabletten, der ganze zum Teil erbärmlich stinkende Kram da in den zahllosen Päckchen, das würde an einschlägigen Orten um sehr viel Geld gehandelt werden, um schwindelerregende Summen vermutlich, wenn man alles zusammennimmt.

Und hier hinter den massiven Stahltüren in diesem nüchternen Raum unter diesen Umständen haben dieselben Dinge ihren Wert komplett eingebüßt, sieht man einmal davon ab, dass sie für weitere Ermittlungen und mögliche Gerichtsverfahren bereitgehalten werden müssen. Insofern haben sie eine Zeitlang schon noch eine gewisse Bedeutung, jenseits vom Handelswert natürlich.

Sind die Fälle irgendwann aber rechtskräftig abgeschlossen, Brunngraber wirft bei diesen Worten wie zur Illustration das eben bearbeitete Kuvert mit den Hanfsamen zielsicher in die dafür vorgesehene Kiste unter dem Waschbecken, dann schlichte und staple ich die bereinigten Bestände unten auf einem meiner Transportwagen, wo sie geduldig ausharren, bis ich wieder genug Gift zusammen habe für eine kleine Dienstreise unter Polizeischutz, wir nennen es Sammeltransport, und zwar in die nächstbeste Müllverbrennungsanlage zur sogenannten finalen thermischen Vernichtung.

Diese Ausflüge stehen so alle paar Monate ins Haus, in der Regel zweimal im Kalenderjahr. Wir müssen sie laut Vorschrift übrigens ausnahmslos zu zweit unternehmen, weniger aus Sicherheitsgründen, dafür haben wir ja ohnehin die Polizeibegleitung, sondern wegen der Versuchung. Es gilt der alte Lenin-Spruch von wegen Vertrauen und Kontrolle, denn selbst Beamte sind letztlich nur Menschen, besonders ganz am Ende der Kette, wenn das BTM-Zeug, amtswegig betrachtet, praktisch eh schon gar nicht mehr vorhanden ist.

Ein leitender Drogenfahnder von der Kripo hier in Bayern ist vor einiger Zeit mit sage und schreibe fast zwei Kilo Kokain im Wert von einer guten Viertelmillion erwischt worden. Für Schulungszwecke sei es ihm überlassen worden, war, glaube ich, anfangs seine wenig originelle Ausrede. Später hat der Mann sich vor Gericht dann doch zu einem umfassenden Geständnis bequemt. Er hat, wenn ich mich richtig erinnere, selber ein veritables Suchtproblem gehabt, ist beim Prozess herausgekommen.

Also wird vor jeder Tour zum Verbrennungsofen selbstverständlich noch einmal peinlich genau überprüft, ob wir bis aufs letzte halbe Gramm auch wirklich alles eingepackt haben, was da aufgelistet ist. Wer vom Haus mir bei diesen Exkursionen jeweils auf die Finger schaut, bestimmt kurzfristig ausschließlich die Geschäftsleitung, das wechselt ständig. Eine weitere Präventionsmaßnahme.

So weit, so gut. Was aber machst du, wenn du zum Beispiel hier im Büro einsam auf der Feinwaage nachwiegst, was die Polizei einem Verdächtigen abgenommen hat, und es stellt sich heraus, das sind gar keine vier Gramm Cannabis, wie da geschrieben steht, sondern bestenfalls schwache drei? Erst vorgestern habe ich mich wieder ordentlich ärgern müssen über so eine Schlamperei.

Da kann ich ganz schön blöd dastehen, wenn das wer nachprüft und feststellt, bei der Polizei waren es noch vier und beim Brunngraber auf einmal nur noch schlappe drei Gramm. Theoretisch gäbe es sogar noch weit schlimmere Möglichkeiten: Lese ich etwa auf dem Lieferschein einer Neuanzeige etwas von hundertzehn Gramm Kokain, und die Waage bestätigt mir das auch exakt, mag sich im beigelegten Säckchen trotzdem bloß harmloses Milchpulver befinden und das Suchtgift über alle Berge sein. Ich kann nun einmal das elende Zeugs nicht persönlich verkosten, das kann niemand von mir verlangen.

Man müsste also von allem Anfang an, schon bei der Polizei, immer zwei Leute aufeinander aufpassen lassen, und weil die ja gemeinsame Sache machen könnten, am besten gleich noch einen Dritten dazunehmen. Reiner Schwachsinn. Und auch da herinnen müsste mir bei jeder Verrichtung dauernd einer über die Schulter schauen. Also tendentiell doch mehr Vertrauen als Kontrolle. Gott sei Dank.

Davon ganz abgesehen, ich kann es mir mittlerweile, ehrlich gesagt, überhaupt nur noch schwer vorstellen, auf Dauer jemanden Zweiten in meiner Kemenate sitzen zu haben, egal, was der oder die macht. Eine kleine Katastrophe wäre das für mich.

So, und auf welch verschlungenen Ganglienwegen bin ich einsamer Beamtenwolf jetzt vor lauter Quatschen und Ratschen in dieses Katastrophenszenario hineingerutscht? Stimmt, über den Hokuspokus Warenwert, der sich bei mir in der Hexenküche namens Asservatenkammer im Handumdrehen in nullkommanichts auflösen kann.

Das gilt selbstverständlich in gleicher Weise für ganz andere Bereiche als das Suchtgift, zum Beispiel für die bildende Kunst: Da lese ich in der Zeitung, ein sündteuer gehandelter Max Ernst hätte sich als geniale Fälschung entpuppt, renommierteste Experten stehen jetzt bis auf die Knochen blamiert da. Ist mir natürlich sofort wieder meine Amtsgruft in den Sinn gekommen. Habe ich alles schon lagern gehabt da unten, jede Menge große Namen, Gemälde und Graphiken von Picasso, Renoir, Miró, Schiele, Klee und so weiter und so fort, sogar eine immerhin etwa so hohe Rodin-Plastik, Bronze-Guss, echt oder nicht echt, redlich erworben oder nicht. Jedenfalls hat der Besitzer weder brauchbare Belege vorweisen noch die Provenienz schlüssig dokumentieren können, also wem diese Kunstgegenstände davor gehört hatten.

Ein paar Bilder waren ganz eindeutig gefälscht, die sind sofort eingezogen worden, aber bei anderen mochten sich die zugezogenen Gutachter nicht festlegen. Die Staatsanwaltschaft hat daraufhin kurzen Prozess gemacht und jeweils hinten auf dem Keilrahmen beziehungsweise sogar direkt auf der Leinwand zur Warnung einen deutlichen blauen Stempelvermerk anbringen lassen: ACHTUNG! KUNSTWERK IST VON ZWEIFELHAFTER HERKUNFT!

Sie haben keine Vorstellung davon, wie sich der dubiose Besitzer deswegen ausgetobt hat bei der Übernahme dieser am Ende doch wieder ausgehändigten Asservate. Dazu habe die Justiz kein Recht gehabt, was wir uns einbilden würden. Wieso soll nicht auch ein Picasso schlechte Bilder gemalt haben? Sein vorsorglich gleich mitgebrachter Anwalt hat sich nicht so aufgeregt, dafür aber Schadenersatzklagen in irrwitziger Höhe angedroht, nicht zuletzt, weil sein Klient angeblich von uns verursachte kleine Beschädigungen, Einrisse und Klebespuren, geltend gemacht hat. Geworden ist nach meinem Wissensstand nichts daraus. Wird schon seinen Grund gehabt haben, vermute ich einmal.

Höchst nachlässig in Noppenfolie gewickelt, hat der gute Mann schließlich die angeblich millionenteuren Museumsstücke ohne jeden weiteren Schutz in seinen alten Lieferwagen verfrachtet, statt dass er einen versicherten Spezialtransport organisiert hätte. Da kann man nur den Kopf schütteln.

Perfekte, zumeist höchst einträgliche Fälschungen kommen an sich laufend herein bei dieser Tür, bis hin zum schweren, täuschend echt aussehenden SS-Ehrendolch samt Schaft made in USA, den bekannt-berüchtigten Wahlspruch Meine Ehre heißt Treue auf der Klinge, das ganze natürlich im aufwendig verzierten Behältnis, ausgelegt mit blutrotem Samt. Überhaupt die Legionen an NS-Devotionalienrepliken neben den immer noch vorhandenen Heerscharen widerlicher Originale, ein einziger Wahnsinn das. Da rumort es sauber im Untergrund, kann ich Ihnen flüstern, da kracht es im Gebälk, da schürt man Hass und schnürt man Stiefel. Würde mich nicht wundern, wenn uns bald einmal alles um die Ohren fliegt.

Brunngraber lässt kurz von seiner Routinearbeit ab, bückt sich und zieht rechts unten eine Schreibtischlade heraus. Das da habe ich gestern extra auf die Seite gelegt, um es Ihnen zur Illustration vorzuführen. Er schiebt eine vergilbte Ansichtskarte über den Schreibtisch. Kommt danach wieder an seinen Platz als achtes Überführungsstück auf der schrecklich langen Liste ÜL 112 aus 16 und mit dem restlichen Nazi-Scheißdreck aus diesem Konvolut am frühen Nachmittag hinunter in die strenge Kammer.

Fällt Ihnen etwas auf? Nicht? Schauen S’ bitte auf das Datum: Der heutige Tag. Nur halt 1944. Da schreibt die Agathe aus Berlin an die Gerti in Stuttgart, dass sie noch lebt: Bin gesund und munter. Herzliche Grüße und tausend Küsse. Und ein Menschenalter später ist dieses schlichte private Schriftstück jetzt Teil eines amtswegigen Vorgangs geworden. Nicht wegen der Agathe oder der Gerti selbstverständlich, sondern wegen dem Kartenmotiv: Die siegreichen Fahnen und Standarten der deutschen Wehrmacht – Karte 9: Nachrichtentruppe. Fünf Hakenkreuze wehen da im Vordergrund trutzig auf einem mit Reichsadler und Eisernem Kreuz geschmückten Banner unter einem blassen Mondlicht, schemenhaft lassen sich dahinter tapfere Soldaten erkennen, wie sie im Dunklen eine Feldtelefonverbindung aufbauen. Nicht weniger als dreiundzwanzig Stück NS-Andachtsgegenstände von einem einzigen Flohmarkthändler habe ich gestern wieder asservieren müssen, es wird ermittelt.

Erneut klopft Brunngraber energisch das Wort vernichtet in die Tastatur. Sie werden vielleicht lachen, fährt er fort, während sich auf seinem eigenen rundlichen Gesicht ein breites Grinsen ausbreitet, aber es gibt tatsächlich Momente, da komme ich mir ein bisschen wie der liebe Gott vor.

Wer nämlich sonst außer ihm und mir, frage ich Sie, kann den Leuten daheim in ihren vier Wänden so unbemerkt über die Schulter schauen, wenn sie in gemütlicher Runde etwa das Dritte Reich wiederaufleben lassen oder ungeniert ein Näschen Koks nach dem anderen ziehen, wenn sie sich mit einer Familienpackung Chips zur Stärkung am hochauflösenden Computerbildschirm an kinderpornographischem Material weiden oder mit den unmöglichsten Gerätschaften zur Ausübung häuslicher Gewalt schreiten? Wer sonst außer ihm und mir hat darüber hinaus jeweils Namen und Adresse?

Jetzt im Winter manchmal, wenn ich nach Dienstschluss aus der Stadt hinaus heimfahre und die Fenster links und rechts der Landstraße schon überall heimelig erleuchtet sind, fallen mir diese Kopfbilder wieder ein, und ich ertappe mich dabei, wie ich mir ausmale, in diesem schmucken Haus da könnte sich im zweiten Stock soeben der eine Abgrund auftun, und dort drüben in der Ferne auf dem Hügel eskaliert womöglich gerade eine harmlose Auseinandersetzung, morgen oder meinetwegen erst in ein paar Wochen werden die diversen Beweismittel dann zuverlässig in meinem Büro landen.

Kürzlich habe ich mir die Mühe gemacht und ausgerechnet, dass ich, rein statistisch betrachtet, ungefähr von jedem Zweihundertsten im Einzugsbereich unserer Staatsanwaltschaft einmal im Jahr ein Souvenir erfassen muss. Wobei ein einziges Aktenzeichen, wenn ich ordentlich Pech habe, auch gleich zwanzig einzelne Asservatsposten und mehr aufweisen kann. Und oft bezieht sich ein Verwahrstück gleich auf mehrere Personen, zum Beispiel Täter und Opfer. Ist das unter dem Strich viel, ist das wenig? Ich kann es beim besten Willen nicht sagen.

Nur noch mit Mühe, muss ich zugeben, gelingt es mir, mich in normale Leute hineinzuversetzen, die nicht von früh bis spät mit der vielfältigen Hardware von lächerlichen bis schauderhaften Tatbeständen konfrontiert sind. Ich kann mich nicht einmal mehr richtig an die graue Vorzeit erinnern, als das alles hier noch keine Rolle in meinem Leben gespielt hat, jedenfalls nicht daran, welche Vorstellung von der gesellschaftlichen Verfasstheit unserer ach so zivilisierten mitteleuropäischen Welt ich als naiver junger Mensch mit mir herumgetragen hatte, bevor ich zunächst einmal im Morddezernat anheuerte. Höchstens nach vierzehn Tagen Erholungsurlaub irgendwo tief im Süden oder hoch oben auf der Alm verschiebt sich das Gleichgewicht in mir wieder ein Stück weit, und es kommt mir nicht mehr ganz so vor, hinter jeder Ecke könnte sich jeden Augenblick die nächste Straftat anbahnen.

Ich meine das jetzt nicht im Sinn von Paranoia, im Gegenteil. Mir macht, glaube ich, kaum etwas richtig Angst, ich bin da mittlerweile ziemlich abgebrüht, das dürfen Sie mir glauben. Ich bete auch das Strafgesetzbuch nicht an und gestatte mir zu dem, was auf dem Papier erlaubt ist oder streng verboten, sehr wohl meine eigenen Gedanken. Es ist nur so, dass die reine Menge dessen, was da täglich über meinen Schreibtisch wandert, einfach ihre Spuren hinterlässt, unweigerlich. Und dass es, was immer im einzelnen die Ursachen sein mögen, auf jeden Fall einen schönen Batzen kriminelle Energie gibt da draußen, ob wir das sehen wollen oder nicht.

Brunngraber hat, während er unablässig erzählte, beiläufig eine Reihe weiterer BTM-Bereinigungen abgeschlossen, ein gutes Dutzend dürfte heute noch vor ihm liegen. Nun unterbricht er diese Tätigkeit, umrundet gemächlich den Schreibtisch und schnappt sich zielsicher einen der Ordner aus dem schmalen Regal rechts neben der Tür.

Stellen Sie sich nur vor, gestern habe ich für eine einzige Sitzung der Jugendstrafkammer folgende Gegenstände aus meinem Fundus liefern dürfen: ein Paar schwarze Handschuhe, eine Schreckschusspistole Walther P22, einen Schlagring, zwei Butterflymesser, eine Schreckschusspistole Hämmerli, vierzehn Schreckschusspatronen, ein Scheckkartenmesser, einen Schlagstock Euro tonfa, einen Teleskopschlagstock, eine Taschenlampe, eine Blechdose mit Marihuanabröseln, eine Plastikdose mit Marihuanabröseln. Ich denke mir, das spricht, auch ohne die näheren Umstände zu kennen, einigermaßen für sich.

Mit einem vielsagenden Blick über den Lesebrillenrand bugsiert er den Ordner zurück an seinen Platz. Brunngraber ist Frühaufsteher und kommt um diese Jahreszeit bereits ins Amt, wenn es noch stockfinster ist. Jetzt macht er, weil er schon einmal den Schalter passiert, endlich das kalte Kunstlicht aus.

Mich in meinem Job brauchen die Hintergründe der -zig neuen Überführungsstücke pro Tag ja an und für sich gar nichts anzugehen, und ich will mit ihnen im Prinzip auch überhaupt nichts zu tun haben. Mir fehlen dafür neben Kompetenz und Zuständigkeit auch Zeit und Lust. Fast immer ignoriere ich den Inhalt der staatsanwaltschaftlichen Akten komplett, schließe ihnen einfach mein hellgrünes Sammelheft bei, auf dem ich zunächst automatisch den Vordruck Annahme- und Herausgabeverfügung für Asservate ankreuze.

Die zahllosen für mich relevanten Vorschriften, die Gesetze, Handreichungen, Leitfäden und Weisungen habe ich längst verinnerlicht. Es ist, wenn man sich alles gut organisiert und einen gewissen Sinn für Systematik hat, eine zwar verantwortungsvolle, in erster Linie aber von Routineabläufen gekennzeichnete, wenig phantasievolle Tätigkeit, der ich hier nachgehe, außer man denkt sich, wie ich das von Anfang an zu halten pflegte, bisweilen selbst Geschichten zu den wirklich absonderlichen Gegenständen aus, die ihren Weg zu mir finden. Die sind trotz ihrer Vielzahl aber eindeutig die Ausnahme.

Meistens arbeite ich, wie ich Auto fahre, ohne mir überhaupt bewusst zu sein, was ich da gerade tue. Andererseits, das muss ich schon erwähnen, macht diese berufsimmanente partielle Gehirnfreistellung bei einem, der so gestrickt ist wie ich, ungeahnte Räume, ganze Parallelwelten auf. Wenn es Sie interessiert, werde ich später vielleicht noch darauf zurückkommen.

Apropos absonderliche Gegenstände: Sie kennen doch sicherlich diese immer gleichen Fotos oder Fernsehbilder von Angeklagten, die zu Prozessbeginn vornübergebeugt auf der Armesünderbank hocken und ihre hängenden Köpfe in einen Leitz-Ordner gesteckt halten. So was findet sich beinahe täglich auf den Gerichtsseiten der Zeitungen.

Und jetzt stellen Sie sich bitte stattdessen eine Illustration vor, die von schräg hinten einen gut genährten, hart schuftenden Asservatenbeamten mit unerfreulichem Glatzenansatz samt seinem treuen Wägelchen zeigt, auf dem gerade ein äußerst ungewöhnliches und sperriges Beweismittel in den Verhandlungssaal gekarrt wird. Der Beamte war, wie Sie sich denken können, ich, und der besagte Gegenstand war – ein Felsen.

Ja, Sie haben sich nicht verhört, ein richtig schöner Felsbrocken, wie man ihn sich vorstellt, Konglomeratgestein, etwa vierzig Zentimeter lang und dreißig breit in der Grundfläche und noch einmal fast dreißig hoch. Ich hatte das in zweifacher Hinsicht schwerwiegende Stück davor im Keller mit zwei kräftigen Wachtmeistern mühselig auf mein Gefährt gehievt, und wie ich im Blitzlichtgewitter erschienen bin damit, ist ein Raunen durch den Saal gegangen.

Eine ziemlich unappetitliche Sache, kann ich Ihnen sagen, Russenmafia, dubiose Geschäfte, Erpressung, schließlich Mord. Das Opfer haben sie zu guter Letzt kurzerhand mit einem Spanngurt an mein schönes Asservat geschnallt und so auf scheinbar Nimmerwiedersehen versenkt. Ist dann, Wochen später, von Tauchern geborgen worden, wenn mich die Erinnerung nicht trügt. Grauslich jedenfalls. Den Zeitungsausschnitt habe ich mir aufgehoben.

Da könnte man, muss ich gestehen, schon ein ungutes Gefühl bekommen dabei. Gott sei Dank war ich auf dem Bild nicht wirklich zu erkennen. Und Gott sei Dank haben sie darunter nur etwas über den fotogenen Felsbrocken geschrieben: Bizarres Beweisstück oder so ähnlich. Wäre mir wenig angenehm gewesen, wenn die meine Vorderfront gezeigt hätten und ich in der Legende auch noch lesen hätte müssen: Das riesige Trumm wird vom schwitzenden Asservatenbeamten in den Verhandlungssaal geschoben.

Nicht dass ich mich vor dieser Russenmafia groß fürchten täte. Denen bin ich so was von egal. Aber Anonymität ist trotzdem kein Schaden in meinem Gewerbe. Wie oft zum Beispiel stellen sie einen Anruf durch zu mir, und einer labert mich an, er möchte gefälligst endlich sein Smartphone oder weiß der Geier was wieder haben, und zwar etwas plötzlich.

Wenn ich dann betont kühl antworte, tut mir leid, die Staatsanwaltschaft hat nach den mir vorliegenden Unterlagen in der Sache noch nicht entschieden, kommt es vor, dass so ein Typ unangenehm laut wird und mich anherrscht, das kann doch nicht ewig dauern, und ich soll auf der Stelle ausspucken, wann ihm das Ding endlich ausgehändigt wird. Wo es doch schon ein Witz ist, ihm, dem reinen Unschuldslamm, sein Handy überhaupt abgenommen zu haben. Provozieren lasse ich mich prinzipiell nicht, also fange ich geduldig zu erklären an, dass das leider außerhalb meiner Kompetenz liegt. Vom abrupten Abbruch der Verbindung bis zum Götzzitat ist bei so einer Klientel alles drinnen.

Da möchte ich halt nicht gleich bürgerserviceartig transparent mit freundlichem Gesicht aus der Website unseres Hauses herausglotzen müssen oder gar steckbriefreif ausgeleuchtet in der Zeitung vorkommen und dann bei guter Gelegenheit vom nächstbesten verzweifelten Junkie in die Mangel genommen werden oder vom zornigen Mann ohne Handy. Das kann man doch verstehen, oder?