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Mark A. Fraschka

Franz Pfeffer von Salomon

Hitlers vergessener Oberster SA-Führer

 

 

 

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Inhalt

Einleitung

 

 

Erster Teil: »Konterrevolutionär«

 

1. Politische Sozialisation und Weltkriegserfahrung – Wege zu einer Weltanschauung (1888-1918)

1.1 Familie und Prägung

1.2 Militärzeit

1.3 Weltkrieg

 

2. Lange Freikorpszeit (1919-1923)

2.1 Skizze: Ausgangssituation und Rahmenbedingungen

2.2 Das westfälische Freikorps von Pfeffer (A. K. VII)

2.3 Die Idee einer Soldatenvertretung – der Frontbund

2.4 Die »Arbeitsgemeinschaft P.«

2.5 Oberschlesien

2.6 Ruhrwiderstand

 

3. Die Familie

3.1 Privates Glück

3.2 Finanzen

 

4. Franz von Pfeffer 1923 – ein Charakter voller Widersprüche

 

 

Zweiter Teil: »Sozialrevolutionär«

 

Vorbemerkung: zur Namensfrage

 

5. Gauleiter (1924-1926)

5.1 Der 9. November 1923: Wirkung und Folgen

5.2 Der Völkisch-Soziale Block und die Nationalsozialistische Freiheitsbewegung

5.3 Gauleiter der NSDAP in Westfalen

5.4 Überregionale Ambitionen I: Weltanschauung und Programm – Pfeffer und die »Arbeitsgemeinschaft Nord-West der NSDAP«

5.5 Überregionale Ambitionen II: Organisation – der »Großgau« Ruhr

 

6. Oberster SA-Führer (1926-1930)

6.1 Skizze: Die SA bis Sommer 1926

6.2 Berufung nach München – Interpretationen

6.3 Die Reorganisation der SA

6.4 Auf dem Weg zur Massenorganisation

6.5 Putsch- oder Legalitätstaktik?

6.6 Demission

6.7 Bilanz

 

7. Exkurs: Ränkekämpfe – Konflikte, Kommunikation, Konfliktlösung und »Politische Kultur« in der frühen »Kampfzeit« der NSDAP

7.1 Vorkampf: Pfeffer gegen Gärtner

7.2 Menetekel: Pfeffer gegen Hurlbrink

7.3 Streit mit München: Pfeffer und Feder

7.4 Pfeffer und die Finanzen: Philipp Bouhler und Karl Kaufmann

7.5 Resümee

 

8. Bedeutungslosigkeit (1930-1945)

8.1 Auf der Suche nach Aufgaben

8.2 Privates: Vom bescheidenen zum priviligierten Leben

8.3 In Ungnade

 

9. Nachkriegszeit (1945-1966)

9.1 Verhaftungen und Armut

9.2 Letzte Versuche: Ostberlin 1955 und das Institut für Zeitgeschichte

 

10. Schlussbetrachtungen

10.1 Franz von Pfeffer – ein »typischer« Vertreter seiner Zunft?

10.2 Bilanz – Ergebnisse

 

Dank

Quellen und Literatur

Abkürzungen

Anmerkungen

Einleitung

Ein lohnendes Unterfangen: Franz Pfeffer von Salomon – eine politische Biographie

»Pfeffer ist der geborene Organisator. […] Ich will Ihnen etwas sagen: Ich habe ohne Zweifel hervorragende Offiziere, aber ich bin der Überzeugung – um ein Beispiel zu erwähnen, der Hauptmann von Petersdorf, der im Übrigen ein Schlawiner ist, und der Hauptmann Pfeffer, der auch ein Schlawiner gewesen ist, haben ein Freikorps organisiert und haben keine Befugnisse gehabt. Der Manstein kann das nie.«[1]

Als die Wehrmacht am 2. März 1945 längst geschlagen war und Hitlers »Drittes Reich« in Trümmern lag, erinnerte sich der »Führer und Reichskanzler« bei einer seiner immer bizarrer anmutenden Lagebesprechungen im Führerbunker an einen Mann, der in der so prägenden »Kampfzeit«[2] der NSDAP fast vier Jahre lang einer seiner wichtigsten »Mitarbeiter« gewesen war. Dieser hatte eine für den Aufstieg Hitlers und der »Bewegung« maßgebliche Rolle innegehabt, war dann aber in Ungnade gefallen und in den letzten Kriegstagen nur knapp den Häschern der untergehenden Diktatur entkommen. Die Rede ist von Hitlers langjährigem Obersten SA-Führer (Osaf) Franz Pfeffer von Salomon.[3]

Obgleich nahezu alle Personen der ersten Garde der »Bewegung« bis heute eine wissenschaftlich-kritische Würdigung erfuhren, fiel die Person Franz von Pfeffers bislang fast vollständig durch das Raster der historischen Forschung. So liegt zu ihm, neben einigen wenigen kleineren lexikalischen Artikeln,[4] lediglich ein einziger, im regionalgeschichtlichen Kontext entstandener, biographisch akzentuierter Aufsatz vor.[5] Selbst in Standardwerken finden sich bei den meist dünnen Angaben zur Person Pfeffers oft tiefgreifende Fehler.[6] Dies verwundert, hätte man doch erwartet, dass schon der alttestamentarisch anmutende Name in vorderster Reihe der NSDAP ausreichen müsste, das Interesse an einer Aufarbeitung des Werdegangs des ehemaligen Osaf zu wecken. Eine individualbiographische Studie zu Franz von Pfeffer legitimiert sich jedoch keineswegs nur aus dem im nationalsozialistischen Kontext befremdlichen Klang des Namens. Vielmehr verdeutlicht der Blick auf Positionen, Rollen und Funktionen, die Pfeffer zeitlebens innehatte, dessen historische Relevanz und somit den Bedarf an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung seines Lebens und Wirkens.

Geboren im Jahr 1888 als ältester Sohn des Geheimen Regierungsrates Max Karl Friedrich Ferdinand und dessen Ehefrau Anna Pfeffer von Salomon, wuchs Franz im konservativen Milieu Münsters auf. Die Familie Pfeffer war Teil der staatstragenden Schicht des wilhelminischen Staates. Nach abgeschlossenem juristischem Examen und Referendariat zog es den jungen Mann 1909 als Berufsoffizier zum Militär. Im Krieg erhielt Pfeffer 1917 eine Generalstabsausbildung, diente jedoch die meiste Zeit als Frontoffizier und stieg bis zum Hauptmann und Bataillonsführer auf. Nach der Niederlage befehligte er ab Jahresanfang 1919 als Freikorpsführer eines der größten Freikorps und etablierte sich unter anderem durch seine Tätigkeit im Baltikum früh im radikal antirepublikanischen Milieu der Nachkriegszeit. An der Auslösung des lettischen Staatsstreichs im April 1919 hatte er maßgeblichen Anteil und erlangte so erstmals reichsweite Aufmerksamkeit. Nach der Rückkehr aus dem Baltikum beteiligte er sich mit seinem Korps am Kapp-Putsch und bei der anschließenden Niederschlagung des Ruhraufstands. Nach der Auflösung seines Freikorps bemühte sich Pfeffer mehrmals um den Aufbau verschiedener antirepublikanischer Freikorpsnachfolgeorganisationen. Während des dritten polnischen Aufstandes 1923 kommandierte er in Oberschlesien erneut einen Freiwilligenverband. Bereits ein Jahr zuvor hatte er mit Maria Raitz von Frentz eine Tochter aus einer der ältesten Adelsfamilien Deutschlands geheiratet. Aus der glücklichen Ehe sollten bis 1932 fünf Kinder hervorgehen. Zurück aus Oberschlesien etablierte er sich rasch im politisch radikal-rechten Spektrum Westfalens. Während der französisch-belgischen Besetzung des Ruhrgebietes kooperierte Pfeffer erneut mit staatlichen Stellen. Von Münster aus organisierte er den aktiven Widerstand im nördlichen Ruhrgebiet.

Nach dessen Abbruch stieg Pfeffer rasch zum westfälischen Gauleiter, zunächst der NSDAP-Vorläuferorganisationen und schließlich, nachdem er sich zu Jahresbeginn 1925 als einer der ersten norddeutschen Regionalführer zu Hitler bekannt hatte, der NSDAP auf. In dieser Position trug er maßgeblich dazu bei, dass sich die bis 1923 noch größtenteils auf Bayern beschränkende NSDAP im Norden etablierte. Im Herbst 1925 war Pfeffer Mitinitiator der »Arbeitsgemeinschaft der nord- und westdeutschen Gauleiter der NSDAP« und spielte in deren Rahmen eine maßgebliche Rolle. Die Zusammenfassung der Gaue Rheinland-Nord und Westfalen zum sogenannten, bis 1932 bestehenden, »Großgau Ruhr« ging auf seinen Anstoß zurück.

Im Herbst 1926 wurde Pfeffer von Hitler zum Obersten SA-Führer berufen und mit dem Aufbau einer zentralen Obersten SA-Führung (OSAF) in München beauftragt. Im Münchener Führungszirkel der NSDAP, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, baute er zwischen 1926 und 1930 die SA zu einem veritablen, auf Hitler ausgerichteten Machtinstrument aus und legte damit die Grundlage zu den späteren Propagandaerfolgen, ohne die die »Machtergreifung« der NSDAP 1933 kaum vorstellbar gewesen wäre. Als Osaf war er zugleich einer der engsten Mitarbeiter Hitlers und wirkte, trotz der aufzuzeigenden Kontroversen, an der Durchsetzung seines uneingeschränkten Führungsanspruches in der Partei maßgeblich mit. Nach seiner Demission im Spätsommer 1930 erfolgte ein rasanter Abstieg. Bis zu seiner Wahl in den Reichstag im November 1932 blieb Pfeffer ohne Funktion. Erst im Sommer 1934 erhielt er erneut ein offizielles Parteiamt und wurde für einige Monate zum »Beauftragten des Führers in Kirchenangelegenheiten« bestellt. Von den Ereignissen um den »Röhmputsch« blieb er unbehelligt. In den kommenden Jahren wurde Pfeffer, inzwischen dem Stab des Stellvertreters des Führers (StdF) zugeordnet, jedoch nur noch mit Aufgaben von immer geringerer Reichweite und Bedeutung betraut. Im Zuge des Fluges seines Vertrauten Rudolf Heß nach Schottland erfolgte 1941 der Parteiausschluss. Mehrfach wurde er in den folgenden Jahren bis 1945 verhaftet. Das Kriegsende erlebte er dennoch unbeschadet in München. Pfeffer starb im Jahr 1968 im Münchener Stadtteil Pasing.

Schon angesichts dieser biographischen Skizze wird deutlich, dass sich eine Studie zur Person Pfeffers keineswegs nur einem einzigen thematischen Nukleus widmen kann. Vielmehr stehen zwar Freikorps- und SA-Zeit im Mittelpunkt der Biographie, das historische Erkenntnisinteresse, das mit der Betrachtung und Analyse der Person einhergeht, geht jedoch darüber hinaus. Dies gilt umso mehr, da sich Pfeffers Werdegang mit den Stationen Freikorps in Westfalen, im Baltikum und in Schlesien, bündische Strukturen der Freikorpsnachfolgeorganisationen, Hitlerputsch in Norddeutschland, Geheimdiensttätigkeit im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs oder auch seiner Tätigkeit im Stab des Stellvertreters des Führers, fast permanent im »toten Winkel« der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts bewegte.

Zugleich weist dieser Befund auch auf die Grenzen der Biographie hin. Diese sind in erster Linie definiert durch eine, noch darzustellende, zumeist problematische Quellensituation. Zudem agierte Pfeffer in schon für die Zeitgenossen undurchschaubaren und heute kaum noch zu rekonstruierenden Milieus und Kontexten.[7] Beides hatte zur Folge, dass schon die reine Rekonstruktion des Werdegangs des Protagonisten eines erheblichen Aufwandes bedurfte. Die vorliegende Untersuchung erhebt daher nicht den Anspruch einer lückenlosen, kontinuierlich nachgezeichneten Lebensbeschreibung des Franz von Pfeffer. Gleichzeitig kann es gemäß den Anforderungen an eine moderne, wissenschaftliche Biographie auch keineswegs nur darum gehen, ausschließlich eine individuelle »Charakterstudie« des Protagonisten zu erstellen oder Pfeffers »Weg durch die Zeit« zu beschreiben. Auch kann die Biographie natürlich nicht mit den systematischen Forschungen zur Geschichte bestimmter sozialer Gruppen konkurrieren. Zu der in den letzten Jahren stark vorangetriebenen kulturhistorischen Erforschung des Adels[8] kann sie nur insofern einen Beitrag leisten, dass dieser ein Einzelfall hinzugefügt wird.[9]

Vielmehr sollen in einer Art politischer Schwerpunktbiographie Stationen und Determinanten des politischen Lebens Franz von Pfeffers aufgezeigt und dessen Wirken und Wirkung untersucht werden. Gleichzeitig muss es Ziel der Untersuchung sein, Pfeffer in seiner Zeit zu verankern und die einzigartige Perspektive der Biographie Pfeffers als Zugang zu breiter angelegten Problemstellungen im Umfeld des Protagonisten zu nutzen. So sollen etwa querschnittartig und epochenübergreifend neue Erkenntnisse rund um die Lebenswelt und das soziokulturelle Umfeld des Protagonisten zutage gefördert werden und gleichzeitig der bisherige Stand der Forschungen kritisch überprüft werden. Ausgehend von zentralen Wegmarken des Werdegangs Pfeffers untersucht die Studie des Weiteren anhand konkreter Fragestellungen Strukturen und Funktionieren von Systemen sowie deren Wechselwirkung mit der Biographie des Protagonisten.

Fragestellungen

Der biographische Zugang ist geprägt von einer immanenten Wechselwirkung zwischen Individuum und Struktur.[10] Obgleich bei der vorliegenden Arbeit in erster Linie überindividuelle – »strukturgeschichtliche« – Fragestellungen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen, ist es zugleich doch auch Ziel der Studie, die Biographie des Protagonisten in die Wissenschaft einzuführen und damit sein Handeln und Wirken »sichtbarer« zu machen.[11] Trotz aller modernen Ansätze ist eine eingehende Betrachtung und Analyse des Wesens und des Charakters des Protagonisten im Rahmen des biographischen Zugangs als Voraussetzung für jedes weitergehende Erkenntnisinteresse nach wie vor unentbehrlich.[12] Im Zuge der erstmalig erfolgten Rekonstruktion des Werdegangs gilt es sich daher insbesondere folgenden personenbezogenen Fragestellungen zu widmen.

 

 

Insbesondere mit der letzten Fragestellung wird deutlich, dass eine scharfe Trennung zwischen Biographie und Struktur kaum möglich ist.[13] Dennoch bilden vermehrt »strukturgeschichtliche« Leitfragestellungen den Referenzrahmen, der sich in zwei Hauptteile gliedernden Studie. Der erste Teil, »Konterrevolutionär«, widmet sich Pfeffers Werdegang bis zum Jahreswechsel 1923/24 und wird von vier zentralen erkenntnisleitenden Fragestellungen geprägt:

 

 

Insgesamt bleibt das Ziel, den oftmals allgemeinen und theoretischen Darstellungen zur Geschichte der Freikorps einen konkreten Einzelfall hinzuzufügen.

Im zweiten Teil der Arbeit, »Sozialrevolutionär«, steht Pfeffers Wirken im Nationalsozialismus ab den Jahren 1924/25 im Mittelpunkt. Anhand seiner Karriere werden hier die Strukturen, Prozesse bzw. Mentalitäten im frühen Nationalsozialismus exemplarisch aufgezeigt. Dabei stehen folgende übergeordneten Fragestellungen im Zentrum der Untersuchung:

 

 

Die Einordnung Pfeffers als »Typus« und damit die Frage, ob sein Werdegang als exemplarisch für den Typus des Freikorpsführer gelten kann oder ob insbesondere seine ab dem Jahr 1924 erfolgte Integration und sein Aufstieg in der NSDAP als Sonderfall angesehen werden muss, wird die Studie erst bilanzierend zum Ende aufgreifen. Hiermit soll eine Tendenz, sich bei der Quellensituation geschuldeten »Leerstellen« im Lebenslauf schlicht auf das zuvor festgestellte »Typische« der entsprechenden Klientel oder sozialen Gruppe zurückzuziehen, vermieden werden.[14]

Methodische Überlegungen

Nachdem die Biographik vor allem in den späten siebziger und beginnenden achtziger Jahren auch im Zuge geschichtspolitischer Auseinandersetzungen starker Kritik ausgesetzt war, hat sich ab Mitte der neunziger Jahre auch dank neuer methodischer Ansätze ein bis heute anhaltender Trend hin »zur Biographie« eingestellt.[15] Dieser ging einher mit einer deutlichen Erweiterung der methodischen Vielfalt. So ist mit den Begrifflichkeiten Sammel- und Kollektivbiographien, Täter-, Funktionärs- oder Opferforschungen bzw. den Forschungen zur Alltagsgeschichte nur ein Bruchteil der methodischen Möglichkeiten innerhalb des biographischen Spektrums genannt. Gleichzeitig haben in den vergangenen 20 Jahren Autoren wie Kershaw,[16] Herbert[17] oder Szöllösi-Janze[18] jeden Zweifel an dem Mehrwert des traditionellen Ansatzes ausgeräumt, ja diesen gar zur »Königsdisziplin«[19] der historischen Wissenschaft erhoben.

Trotz dieser Euphorie dürfen jedoch die methodischen Probleme, die der biographische Ansatz mit sich bringt und denen sich die Forschung zur Biographie seit mehr als 100 Jahren widmet,[20] nicht außer Acht gelassen werden. Einige der zentralen Punkte müssen auch hier skizzenhaft genannt sein:

Zweifelsohne führt die intensive Betrachtung einer einzelnen Person zwangsläufig zu einer Perspektivität. Die Gefahr einer Überbetonung des Individuums und dessen Wirkungsgrad ist insbesondere dort immanent, wo, wie auch häufig im Fall Pfeffer, umfangreiche ereignis- und strukturgeschichtliche Vorforschung zum historischen Umfeld des zu Betrachtenden (noch) nicht vorliegt und das Handeln der Person damit im wissenschaftlich »luftleeren« Raum beschrieben wird. Hier bedarf es der stetigen Überprüfung und Relativierung. Auch darf die intensive Beschäftigung mit einer historischen Person weder zu einer zu großen Identifikation mit dieser, noch zu einem anachronistischen oder moralisierenden Urteil führen. Die moderne Biographieforschung hat inzwischen den Mythos der geschlossenen historischen Persönlichkeit, die konsequent einem kohärenten Lebensentwurf folge, widerlegt.[21] Auch bewegt sich das Individuum keineswegs in einem in sich abgeschlossenen Mikrokosmos.[22] Vielmehr ist dieses als Produkt seiner Zeit und als ein Teil des historischen Prozesses, der den Handlungsrahmen, in welchem von dem Individuum nicht beeinflussbare Mechanismen und Interdependenzen wirken, zu begreifen.[23] Von ihm nicht zu beeinflussende individuelle historische und milieu- bzw. gruppenspezifische Bedingungen, wie gesellschaftliche Schicht, Religion, soziale und generationelle Erfahrungsmuster sind maßgeblich für sein Handeln.[24] Die Aufgabe des Biographen ist es daher nicht, das Individuum aus der Struktur herauszulösen, sondern es sowie sein Werk in seiner Zeit zu verorten. Zugleich muss dem Verfasser einer Biographie stets das Spannungsverhältnis zwischen Narrativität und Wissenschaftlichkeit der Darstellung,[25] wie die latente Perspektivität sowie die inszenierte Authentizität einer jeden Biographie bewusst sein.[26] Jeder Versuch einer Biographie ist zudem zwangsläufig eine Inszenierung. Eine Biographie steht stets, ebenso wie jede andere wissenschaftliche Arbeit, etwa durch die Eröffnung neuer Quellen, unter Revisionsvorbehalt und kann demnach immer nur einen vorläufigen Charakter haben.[27]

Selbst von einem der entschlossensten Verfechter der Strukturgeschichte, Hans-Ulrich Wehler, sind jedoch die Vorzüge, die der biographische Ansatz zweifelsfrei mit sich bringt, nicht (mehr) zu bestreiten.[28] So vermag die Biographie zwischen einer Vielzahl häufig isoliert betrachteter Handlungsbereiche einen Bogen zu schlagen und sie miteinander in Beziehung zu setzen. Des Weiteren ergibt sich die Möglichkeit, über einen bislang historiographisch unerschlossenen Werdegang – etwa im Fall Pfeffers – neue Erkenntnisse zu scheinbar bereits abschließend bearbeiteten Thematiken – hier zum Beispiel der »Kampfzeit«[29]  – zutage zu fördern und zugleich bestehende Thesen der Forschung aus einem neuen Blickwinkel zu beleuchten und neue Aspekte hinzuzufügen. Außerdem kann diese neue Perspektive dazu beitragen, dass, etwa bezgl. der Geschichte der Freikorps, ein etwaiges Quellendefizit zwar nicht überwunden, jedoch in Teilen überbrückt werden kann. So konnten auch im vorliegenden Fall über diesen personenzentrierten Zugang neue Quellen erschlossen werden, die von strukturgeschichtlichen Untersuchungen bislang unbeachtet geblieben sind.

Bei der vorliegenden Arbeit ist das übergeordnete Ordnungselement der Darstellung die Chronologie, die jedoch bisweilen, insbesondere bei Themenkomplexen, bei denen umfangreichere Vorforschungen vorliegen, zugunsten einer analytischeren Herangehensweise durchbrochen wird. Zudem ist dabei festzuhalten, dass die verschiedenen Stationen von Pfeffers Werdegang strukturgeschichtlich in unterschiedlichem Grad aufgearbeitet wurden. Die Arbeit reagiert darauf, indem die Abstraktionsebene der Analyse jeweils dem Stand der Forschungen angepasst wird. Bei wissenschaftlich kaum oder gar nicht erschlossenen Abschnitten – wie etwa den Nachfolgeorganisationen der Freikorps – konzentriert sich die Arbeit zunächst auf die Rekonstruktion der Ereignisse, bevor eine historische Einordnung erfolgt. Bei strukturgeschichtlich gut erforschten Passagen – etwa der SA-Zeit – wird hingegen auf die Darstellung der Ereignisgeschichte weitgehend verzichtet und unmittelbar ein höherer Abstraktions- und Analysemaßstab angesetzt.

Forschungsstand

An Biographien zu Nationalsozialisten im Dritten Reich herrscht heute kein Mangel. Funktionärs-, Militär-, Täter- sowie Opferbiographien liegen sowohl als Einzeldarstellung als auch sammelbiographisch in großer Anzahl vor.[30] Weit zurückhaltender verhielt sich die historische Forschung, wohl häufig aufgrund des hier latent vorhandenen Quellenmangels, bei biographischen Darstellungen zu den Freikorpsführern.[31] Während etwa zu Waldemar Pabst, Manfred von Killinger oder Wilhelm Heinz eine oder gleich mehrere Biographien variierender Qualität vorliegen,[32] blieben die Lebensbilder bedeutendster Personen der »langen Freikorpsgeschichte«,[33] etwa Hermann Ehrhardts, Georg Escherichs, Gerhard Roßbachs oder Oskar Hauensteins, bis heute ohne eine konzise wissenschaftliche Aufarbeitung.[34]

Ein ähnliches Bild offenbart sich, betrachtet man die biographische Aufarbeitung von Personen, die zwar im Rahmen des Aufstiegs der NSDAP in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre für die Entwicklung der Partei in verschiedensten Kontexten von wesentlicher Bedeutung waren, jedoch im »Dritten Reich« aus unterschiedlichsten Gründen keine maßgeblichen Funktionen erlangten. Gottfried Feder, Hermann Esser, Kurt Gruber, Walther Stennes, Reinhold Wulle, Franz Stöhr oder etwa Albrecht von Graefe – zu keiner dieser Personen gibt es bis heute eine wissenschaftliche Biographie.[35] Dabei würden solche Arbeiten für eine tiefergehende Erforschung des Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik, insbesondere von Strukturen, Denkmustern und personellen Netzwerken, zweifelsohne einen großen Mehrwert darstellen. Auch Franz von Pfeffer, der in beide dieser Kategorien fällt, hat bis heute keine seiner historischen Bedeutung entsprechende Beachtung gefunden. Eine wissenschaftliche Biographie liegt nicht vor. Neben den bereits erwähnten wenigen Klein- und Kleinstbeiträgen findet Pfeffer lediglich – zumeist als Neben- oder gar Randfigur – in thematisch einschlägigen Darstellungen Erwähnung. Hier stehen jedoch fast ausschließlich die Funktionen Pfeffers im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Person, Motive und deren Folgen bleiben, auch mangels biographischer Vorarbeiten, zumeist unbeachtet. Es ist daher kaum verwunderlich, dass sich die Autoren bei den seltenen Charakterbeschreibungen des Protagonisten häufig auf einzelne Aspekte des Wesens Pfeffers konzentrierten. So verleiht Malinowski Pfeffer das Prädikat eines »Gewaltspezialisten«,[36] Bronder beschreibt ihn als einen »frommen Katholik[en]«.[37] Während Höhne Pfeffer dem revolutionären Sozialismus zuordnet,[38] meint Orlow bis in die Mitte der zwanziger Jahre hinein monarchistische Neigungen bei Pfeffer feststellen zu können.[39] Bräuninger rückte Pfeffer in seinem stark zu apologetischen Tendenzen neigenden Werk gar in den Kreis der innerparteilichen »Kontrahenten« Hitlers[40] – ganz im Gegensatz zu Andreas Werner, der in Pfeffer einen »getreue[n] Parteigänger Hitler[s]«[41] festzustellen meint. Einig ist man sich bei dem Urteil, in Pfeffer einen Militaristen zu sehen.[42] Hoegner bescheinigt Pfeffer als Osaf unbeliebt gewesen zu sein.[43] Frank betont im Gegensatz dazu Pfeffers politisches Gespür.[44] Campbell geht auf den Charakter Pfeffers etwas detaillierter ein, wenn er schreibt: »he was a genuine leader, a strong-willed personality of great energy and ability, but of equally great arrogance and independence, who did not lack enemies within the NSDAP because of his ambition and lack of tact.«[45] Horn sieht in Pfeffer einen »der fähigsten Organisatoren der NSDAP.«[46] Auch Peter Longerich beschreibt die organisatorische Detailversessenheit Pfeffers, hält sich aber genauso wie der wohl beste Kenner der rechten Szene der Weimarer Republik um Münster, Gerd Krüger, mit einer persönlichen Lebens- und Charakterbeschreibung Pfeffers zurück.[47]

Diese wenig substanziellen und in Teilen widersprüchlichen Urteile zu Pfeffer verwundern kaum, tat sich doch bereits die zeitgenössische Publizistik mit einer detaillierteren Beschreibung des häufig in konspirativen Kreisen verkehrenden Hauptmanns schwer. Umso stärker schwankten die Urteile zu Pfeffer von dem jeweiligen politischen Standpunkt des Autors. So betitelte die kommunistische Presse ihn im Nachkrieg als »Räuberhauptmann«[48] und der linksgerichtete Journalist Walter Oehme bescheinigte ihm 1930 eine »wilde Desperadolaufbahn.«[49] Der zeitweilige Hamburger Gauleiter der NSDAP, Albert Krebs, sah in Pfeffer einen sorglosen »Abenteurer und Lebemann«[50] während Hitlers Sekretärin, Christa Schroeder, ihn als »kritische und stark eigenständige Person«[51] beschreibt. Hitler sah in seinem Osaf in erster Linie den herausragenden Organisator.[52] Wilhelm Groener attestierte Pfeffer eine »an Unzurechnungsfähigkeit grenzende Selbstüberschätzung«,[53] während sein ehemaliger Vorgesetzter und späterer Bewunderer, Otto Wagener, Pfeffer nach dem Zweiten Weltkrieg apologetisch mit den Worten beschrieb: »Pfeffer war ein Mann von bedingungsloser Einsatzbereitschaft, verbunden mit ernstem Abwägen, großem taktischen und politischen Verständnis und einer unbedingten Treue zum gegebenen Wort. Seine besondere Stärke war eine unerhörte Fähigkeit, Menschen zu beurteilen und sein Urteil durch einige charakteristische Striche zum Ausdruck zu bringen.«[54] Vielleicht am interessantesten, da am authentischsten und über einen längeren Zeitraum in verschiedensten Kontexten aufgezeichnet, sind die Einschätzungen, die Joseph Goebbels in seinen Tagebüchern niederschrieb. Auch sie könnten kaum stärker divergieren.[55] Sie schwanken gleich mehrfach und innerhalb kürzester Zeit von der Feststellung, dass Pfeffer, der gute und humorvolle Unterhalter und Erzähler,[56] ein »toller«,[57] lieber,[58] oder »anständiger Kerl«[59], ein »tolles Unikum«[60] und bisweilen sogar der neben Hitler und Rosenberg in der Münchener Parteileitung einzige Kopf[61] mit »sehr kluge[n] Ansichten«[62] sei, bis hin zu dem Befund, Pfeffer sei »unmöglich«,[63] ein »durchtriebener Junge«,[64] ein unkontrollierbarer »Freischärler«,[65] ein »Intrigant«,[66] ja ein »vollkommen chaotischer Mensch, ein politischer Vagant, der zu praktischen Leistungen überhaupt nicht befähigt« sei.[67]

Bei der Betrachtung des historischen Kontextes, in dem sich Pfeffer bewegte, fällt das Fazit positiver aus. So existieren sowohl zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der wilhelminischen Gesellschaft[68] um und nach der Jahrhundertwende als auch zur Sozialisation der Offiziere im wilhelminischen Heer.[69] Den Fragen nach den Ursachen der Kriegsniederlage widmete sich bereits in den zwanziger Jahren ein Untersuchungsausschuss des Reichstages, dessen Ergebnisse kurze Zeit später in einem zwölf Bände umfassenden Werk publiziert wurden.[70] Die historische Wissenschaft griff die bereits hier angedeuteten mentalitätsgeschichtlichen Aspekte jedoch erst ab Mitte der 1990er Jahre erneut auf, was, wie zu erwarten war, unmittelbar zu fruchtbaren Erträgen führte.[71] Während damit die mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen unter den einfachen Soldaten im Ersten Weltkrieg umfassend dargestellt wurden, steht eine eingehende Analyse der Radikalisierung des Offizierskorps noch aus.[72]

Die Geschichtsschreibung zu den Freikorps war bis in die sechziger Jahre dominiert von einer unüberschaubaren Anzahl zumeist zeitgenössisch-apologetischer, häufig in Erinnerungsform aufbereiteter Darstellungen.[73] Eine Einzeldarstellung zum Freikorps von Pfeffer liegt allerdings nicht vor, obgleich dieses schon in Anbetracht seiner Stärke als eines der bedeutendsten angesehen werden muss.[74] Die zu den Korps vorliegende quantitativ unüberschaubare und zugleich qualitativ unzuverlässige Materialmenge trug wohl auch dazu bei, dass erst im Jahr 1969 mit Hagen Schulzes Werk eine bahnbrechende Studie zu den Freikorps erschien, die bis heute als Standardwerk gelten muss.[75] Die Darstellung Schulzes endet im Jahr 1921, ein Makel, den wenige Jahre später Hannsjoachim Koch, der in seinem Überblickswerk den Betrachtungszeitraum bis ins Jahr 1923 erweiterte, beseitigte.[76] Weitere größere Monographien zur Freikorpsgeschichte stehen seitdem aus.[77] Die Tatsache, dass insgesamt, trotz der dargestellten Ansätze, die Geschichte der Freikorps bislang im Schatten der großen Forschungstrends blieb, zeigt auch der Mangel an Darstellungen zum Wirken einzelner Freikorps und ihrer Führer.[78]

Die Geschichte der Freikorpsnachfolgeorganisationen muss nach wie vor als ein Desiderat gelten. Da mangels zuverlässiger Quellen diesbezügliche Einzelstudien einen Rechercheaufwand bedeuten,[79] der nur selten im Verhältnis zum erwartenden historischen Mehrwert stünde, hielt sich die historische Wissenschaft hier merklich zurück.[80] So sind auch die Episoden der von Pfeffer geführten Freikorpsnachfolgeorganisationen »Arbeitsgemeinschaft P.« sowie des Frontbundes bislang wissenschaftlich vollständig unbeachtet geblieben.

Das rechte Milieu Münsters, in dem sich Pfeffer in den Jahren 1922 bis 1925 bewegte, kann hingegen als gut erforscht gelten. So schildert Gerd Krügers brilliante Studie den Auf- und Abstieg der Rechten in Münster um das Jahr 1923.[81] Gleichzeitig revolutionierte der Autor mit der Erschließung des Quellenbestandes »Zentrale Nord« im Münsteraner Staatsarchiv den Blick auf den aktiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung.[82] Explizit der Geschichte des Ruhrkampfes widmen sich daneben eine ganze Reihe von Werken, unter denen Paul Wentzckes Ruhrkampfepos aus dem Jahr 1932, wenngleich apologetisch angelegt, aufgrund der Pionierleistung eine Sonderstellung zukommt.[83]

Versuche, Kontinuitätslinien von den Freikorps zum Nationalsozialismus herauszuarbeiten wurden zumeist im angelsächsischen Raum unternommen[84] und führten nicht selten zu deren Überbetonung, wie Matthias Sprenger in seiner Dissertation zum Freikorpsmythos belegt.[85]

Weniger abstrakt untersuchten gleich mehrere Darstellungen mit reichsweitem[86] sowie regionalgeschichtlichem, spezifisch-westfälischem,[87] Fokus die Entwicklung der politischen Rechten hin zum Nationalsozialismus nach der Neugründung der NSDAP. Mühlberger und Böhnke widmeten sich dabei zugleich dem Aufbau und der Entwicklung des Gaues Westfalen und der Ruhr, ohne dabei jedoch den eigentlichen Protagonisten – Pfeffer – in den Fokus zu setzen. Eine Analyse der Verbindungen nach München nach dem Vorbild der Studie Hanna Behrends zu den Beziehungen zwischen der NSDAP-Parteileitung und dem Gau Süd-Hannover-Braunschweig vor 1933,[88] steht dagegen für Westfalen noch ebenso aus wie die Untersuchung und Einordnung der Motive und Zielsetzungen der entscheidenden Personen.

Zur Geschichte der »Arbeitsgemeinschaft der nord-westdeutschen Gauleiter der NSDAP« liegen mehrere Darstellungen vor.[89] Die Pilotstudie verfasste der Braunschweiger Historiker Gerhard Schildt bereits im Jahr 1964 als Dissertationsschrift. Schildt griff dabei auch auf Interviewaussagen der noch lebenden Zeitzeugen – unter anderem Pfeffer und Stennes – zurück, denen er jedoch quellenkritisch nur eine begrenzte Aussagekraft zurechnete.[90] Mit Ausnahme der Arbeit Schildts standen im Rahmen der wissenschaftlichen Betrachtungen der AG stets Ziele und Motive der »nationalsozialistischen Linken« – Strassers und vor allem Goebbels’ – im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, so dass diese bis heute als weitestgehend aufgearbeitet gelten können.[91] Im Gegensatz dazu wurden Wirkung und Einflüsse Pfeffers in der AG, trotz seiner Funktion als Mitinitiator der AG, nicht selten fast vollständig außer Acht gelassen oder auf die bloße Beschreibung seiner Tätigkeit beschränkt.[92]

Die Geschichte der Entwicklung der SA ist weitgehend erschlossen. Die erste große Studie zur SA-Geschichte verfasste Wolfgang Sauer im Rahmen des von ihm zusammen mit Karl Bracher, Karl Diedrich und Wolfgang Schulz verfassten Pionierwerks zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland in den Jahren 1933/34.[93] Dieser Arbeit folgte wenige Jahre später die Studie des Zeitzeugen und Historikers Bennecke und die detailreiche Dissertation Andreas Werners,[94] die bis heute, zusammen mit Peter Longerichs »Braunen Bataillone«, als Standardwerk zur Geschichte der SA gelten muss.[95] Im Zentrum aller genannten Betrachtungen steht jedoch stets die Entwicklung der SA ab 1930.[96] Neben dem langen Schlagschatten der charismatischen Figur Ernst Röhm – in dem zweifelsohne auch Pfeffer stand und steht[97] – sowie der besonderen Anziehungskraft der Ereignisse um den 30. Juni 1934, lag der Grund dafür auch in der beschränkten Anzahl an Quellen für den Zeitraum vor dem Schlüsseljahr 1930. So liegen insbesondere zum SA-Chef Pfeffer nur wenige persönliche Dokumente vor, auch standen biographische Vorforschungen zur Person aus. Fast zwangsläufig konzentrierte sich die Forschung zur SA vor 1930 auf die von Pfeffer ab November 1926 herausgegebenen SA-Befehle (SABE) sowie auf die ab 1927 erlassenen und von Hitler gegengezeichneten »Grundsätzliche[n] Anweisungen für die SA« (GRUSA) und auf deren Organisationsgeschichte.[98] Die persönliche Perspektive des Osaf fand, ebenso wie sein Verhältnis zu Hitler, nur selten Beachtung. Eine dezidierte Analyse der Rolle und der Motive Pfeffers zwischen Herbst 1926 und Spätsommer 1930 stand bis dato noch aus. Zugleich ist in dieser dennoch historisch am besten aufgearbeiteten Passage in der Biographie Pfeffers die klare Tendenz zur »Objektivierung« seiner Person zu erkennen. So wurden vorwiegend lediglich die bloßen Handlungen Pfeffers aufgezeigt, ohne jedoch auf die Motive des Handelnden näher einzugehen. Nicht selten wird Pfeffer damit mehr als abhängiger Faktor, denn als eigenständige Variable oder Größe dargestellt. So ist es kaum verwunderlich, dass zum Beispiel die Frage nach der Legalitätstaktik der SA bis 1930 ebenso wie die genauen Umstände der Demission Pfeffers bis heute kaum analytisch aufgearbeitet wurden. Insgesamt lässt sich zudem konstatieren, dass, obgleich die Geschichte der SA, genauso wie die der »Kampfzeit« der NSDAP allgemein, Gegenstand zahlreicher Untersuchungen war und ist, anders als zur Geschichte des Dritten Reiches, große wissenschaftliche Kontroversen hierzu heute nicht bestehen.

Für die Stationen von Pfeffers Werdegang nach 1933 ergibt sich ein fast einheitliches Bild. Zwar wurden die Kirchenpolitik des Jahres 1934, die Österreichpolitik desgleichen Jahres, die Mixed Claims Commission 1936 sowie der Heß-Flug historisch – im letzteren Fall soweit es die zugänglichen Quellen zulassen – aufgearbeitet, Pfeffers Rolle schenkte man jedoch auch hier kaum Aufmerksamkeit. Zur Kirchengeschichte 1934 liegen neben zahlreichen Studien[99] auch einschlägige publizierte Quellenwerke vor.[100] Dem Juliputsch 1934 in Österreich widmeten sich naturgemäß österreichische Historiker.[101] Lange Zeit kontrovers diskutiert wurde dabei die Frage, ob Hitler in die Putschpläne der österreichischen Nationalsozialisten eingeweiht war oder sie gar anordnete.[102] Eine Frage, die – nach der Herausgabe der Goebbels-Tagebücher – von Kurt Bauer in seiner preisgekrönten Monographie »Elementarereignis« – wohl abschließend – bejaht werden konnte.[103]

Der Pfeffer’sche Geheimdienst im Stab des StdF fand mangels weiterer Quellen bislang keine wissenschaftliche Beachtung.[104] Anders die deutsch-amerikanische Schadenskommission, die die amerikanischen Ansprüche an das Reich infolge des Ersten Weltkriegs klären sollte, die Mixed Claims Commission. Dieser widmeten sich, neben einigen zeitgenössischen Schilderungen,[105] der in Erlangen lehrende Auslandswissenschaftler Professor Reinhard R. Doerries und sein Schüler Burkhard Jähnicke.[106]

Die Literatur zum Schottland-Flug von Rudolf Heß ist so vielfältig wie qualitativ von unterschiedlichem Niveau.[107] Das heutige Standardwerk lieferte Rainer F. Schmidt mit seiner im Jahr 1997 erstmals erschienenen Habilitationsschrift.[108] Die Rolle Pfeffers konnte jedoch, zumal die Freigabe mutmaßlich bedeutsamer Akten zur Causa Heß nach wie vor in britischen und russischen Archiven auch nach mehr als 70 Jahren noch immer aussteht, bis heute nicht abschließend geklärt werden. Auch die vorliegende Studie wird, so viel sei vorweggenommen, lediglich die Fakten und Gerüchte darlegen, Pfeffers Rolle jedoch nicht auflösen können.[109]

Pfeffers Wirken nach dem Zweiten Weltkrieg findet in der Wissenschaft nur einmal Erwähnung. Lediglich einige Notizen in der gut erforschten Soldaten- und Neutralitätspropaganda der DDR um den ehemaligen Feldmarschall Friedrich Paulus im Umfeld der westdeutschen Wiederbewaffnung weisen auf ein kurzes Engagement in diesem Rahmen hin.[110]

Quellensituation

»Ich bin niemals auf den damals lächerlichen Gedanken gekommen bei meinen Kämpfen und Erlebnissen auch noch Papierbeweise für ihr Stattfinden zu sammeln. Auch hatte ich niemals die Absicht meine Memoiren zu schreiben. Trotzdem würde ich über eine Menge Dokumente verfügen die aus anderen Gründen in Verwahr blieben. Aber meine Berliner Wohnung ist mit allem Hab und Gut mit allen Akten und (Berichten) soweit sie die Gestapo verschont hatte total ausgebombt.«[111]

Die Frage, warum es bis heute keine Publikation zum Leben und Wirken Franz Pfeffer von Salomons gibt, lässt sich neben der unterschätzten historiographischen Bedeutung vor allem mit einem Blick auf die Quellensituation erklären. So gibt es keinen einheitlichen archivalisch erfassten Nachlass. Ein Großteil der zeitgenössischen Unterlagen Franz von Pfeffers ging im Jahr 1945 bei einem Bombenangriff auf Berlin verloren.[112] Hinzu kam das Ausbrennen des Heeresarchivs in Potsdam nach einem Bombenangriff am 14. April 1945. Dem Brand fielen mehr als 90 Prozent der ursprünglichen Akten, insbesondere zu Weltkrieg, Freikorps und deren Nachfolgeorganisationen, zum Opfer.[113] Ein Defizit, das sich auch mit Hilfskonstruktionen, etwa Kongruenzschlüssen oder der Motivforschung, kaum kompensieren lässt. Hinzu kommt der geringe Grad der Verschriftlichung in nahezu allen Pfeffer betreffenden Thematiken bis 1930. Dies war ohne Zweifel einerseits den zumeist unbeständigen und provisorischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Organisationen geschuldet, andererseits verkehrte Pfeffer einen großen Teil seines politischen Lebens in konspirativen und »halblegalen« Kreisen, in denen man kaum Interesse hatte, detaillierte Aufzeichnungen zu machen oder in solchen genannt zu werden.[114] Pfeffer entwickelte dadurch eine Art Aktenscheue, die sich noch bis in die sechziger Jahre bei seiner Zeitzeugenaussage für das Institut für Zeitgeschichte bemerkbar machte.[115] Auch erfolgten die Organisationsversuche bis Ende der zwanziger Jahre stets unter provisorischen Bedingungen, unter denen an eine geregelte Aktenführung nicht zu denken war. Schließlich stellt auch die aller Wahrscheinlichkeit nach erfolgte nationalsozialistische »Aktensäuberung« nach Pfeffers Parteiausschluss 1941 den Historiker vor große Herausforderungen. Umso mehr galt es, aus einzelnen Versatzstücken und Überlieferungsfragmenten in einer Art Puzzlespiel aus einzelnen Indizien und Anhaltspunkten, ein möglichst komplettes Bild des Protagonisten zu erstellen und damit die historiographisch gesehen bislang »blasse« Figur Pfeffer zu konturieren und sie greifbar zu machen.

Im Rahmen der Arbeit wurden in achtzehn Archiven maßgebliche Dokumente zu Pfeffers Werdegang und Wirken aufgefunden. Darunter fallen auch Klein- und Kleinstbestände in verschiedenen Archiven.[116] Für die Forschungen in Bezug auf die Freikorpszeit erwiesen sich die Bestände des Stadtarchiv Münster (StdAM), Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch), Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BArch-MA), Staatsarchiv Münster (StaM) sowie das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes (PA AA) als besonders ergiebig. Im Folgenden sollen nur die für die Arbeit bedeutsamsten Bestände der jeweiligen Archive und deren Nutzen für die Studie in chronologischer Reihenfolge genannt sein.

Im Stadtarchiv Münster konnte ein bislang weitgehend unbeachteter Bestand der »Sammlung Eduard Schulte« zutage gefördert werden, der, in seiner Provenienz wohl einmalig, tiefe Einblicke in die Gründung des Freikorps von Pfeffer in der revolutionären Atmosphäre des Jahreswechsels 1918/19 gibt.[117] Zusammen mit dieser Überlieferung diente der Bestand »Die Zukunft der baltischen Provinzen« in den Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes auch als Grundlage für die Neubewertung von Pfeffers Tätigkeit im Baltikum und seiner Rolle im Rahmen des lettischen Staatsstreiches im April 1919.

Im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde waren gleich mehrere Bestände relevant. So hatte die systematische Auswertung des »Zeitungsarchivs des Reichslandbundes« (R 8034) an der erstmals erfolgten Rekonstruktion von Pfeffers Tätigkeit im Rahmen des Frontbundes und der Arbeitsgemeinschaft einen maßgeblichen Anteil. Hinzu kamen, neben mehreren kleineren Beständen, die Bestände des Reichskommissars für die besetzten Gebiete (R 1601), die Rheinlandbesetzung und der Kapp-Putsch im Rheinland (R 1603) sowie die ab 1920 verfassten Berichte des Reichskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung (R 1507), die ein umfassenderes, allgemeineres Bild des rechten Milieus vermittelten. Aktenfunde im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg insbesondere zu den Arbeitsgemeinschaften sowie zum Baltikum-Unternehmen rundeten das Bild Pfeffers und dessen Einordnung in die frühe Freikorpsgeschichte ab.

Im Staatsarchiv Münster trugen die Akten des Bestands »Regierung Arnsberg« dazu bei, Pfeffers Tätigkeit und Handlungsoptionen in Westfalen zwischen 1922 und 1925 zu rekonstruieren und ihn im rechten Spektrum Westfalens zu verorten. Zudem hatte hier, neben kleineren Beständen, der Quellenbestand »Zentrale Nord« zum aktiven Widerstand gegen die Rheinlandbesetzung besondere Relevanz. Dieser bislang lediglich in regionalgeschichtlicher Hinsicht genutzte Bestand wurde nun einer personenbezogenen systematischen Auswertung unterzogen und vermittelt tiefe Einblicke in Mentalitäten und Strategien des Protagonisten und seiner Klientel. Ergänzend hierzu greift der Autor auf die Akten des Bundesarchiv-Militärarchivs Freiburg und des Bundesarchivs Lichterfelde in Berlin zurück.[118]

Für die Zeit nach 1924 stellte sich die Recherche in den Archiven Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Staatsarchiv München, dem Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv sowie erneut im Staatsarchiv Münster und Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde als besonders ergiebig heraus. Die Bestände »Gauleitung Westfalen-Nord Gauschulungsamt« im StaM geben weitreichende Einblicke in Pfeffers Tätigkeit beim organisatorischen Aufbau, zunächst des Landesverbands Westfalen des Völkisch-Sozialen-Blocks, später des NSFB- bzw. NSDAP-Gaus Westfalen. Die Bestände zur Polizeidirektion München im Staatsarchiv München (StaMünch) vervollständigen das Bild der Entwicklung aus anderer Perspektive. Ergänzt werden diese Bestände durch die bislang nur rudimentär erschlossenen Unterlagen des Hauptstaatsarchivs Düsseldorf (HStaD) zur »Gaukorrespondenz« (RW 23) der NSDAP-Gaue Westfalen, Rheinland-Nord und später des Gaues Ruhr. Ihre Relevanz auch für die Struktur und das Funktionieren der Arbeitsgemeinschaft Nord-West der NSDAP stellt zudem einen Beleg dafür dar, wie der biographische Zugang auch für strukturgeschichtlich vermeintlich weitgehend abgeschlossene Themenfelder neue Quellen und Erkenntnisse zutage fördern kann. Für Pfeffers Gauleiterzeit sind zudem die im BArch (ehemaliges Berlin Document Center (BDC)) aufbewahrten Parteikorrespondenzen Pfeffers (PK/J 64) sowie die Akten des »Obersten Parteigerichts der NSDAP« (OPG) einschlägig. Von besonderer Bedeutung zeigten sich zudem die Akten des Reichsschatzmeisters der NSDAP (NS 1) sowie die Bestände des Hauptarchivs der NSDAP (NS 26).

Für den organisatorischen Aufbau der SA haben, neben zahlreichen Kleinbeständen, in erster Linie die ebenfalls im BArch gelagerten Akten der Sturmabteilung der NSDAP (NS 23) sowie erneut das Hauptarchiv der NSDAP Bedeutung. Ergänzt wurden diese durch Funde im Archiv des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ).