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HISTORISCHE GEISTESWISSENSCHAFTEN FRANKFURTER VORTRÄGE

Herausgegeben von
Bernhard Jussen und Susanne Scholz

Band 4

Ute Frevert
Vergängliche Gefühle

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Lithographie: SchwabScantechnik GmbH, Göttingen
Druck und Verarbeitung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

I. Was vergeht

Endlichkeit – Lebensspanne – Historizität: Thesen und Einwände – Die Sprache der Gefühle: Ausdruck und Eindruck – Soziale Praktiken und Institutionen

II. Scham und Ehre

Herzenssachen – (Vor-)Moderne Gefühlsökonomien – Weibliche Tugenden: Schamhaftigkeit – Meynung und Gewohnheit – Definitionswandel – Obsessionen und Widersprüche – Natur und Evolution – Die Welt von heute: schamlos? – Sexuelle Scham im 20. Jahrhundert – Soziale Scham und innere Ehre – Beschämungen – Würde statt Ehre – Ehre zwischen Militär- und Zivilcourage

III. Mitleid und Empathie

Moralische Empfindungen – Vom Mitgefühl zum Mitleid – Erziehung des Mitleidens: Theater und Romane – Läppisches versus männliches Mitleid – Brüderlichkeit – Solidarität: Tat statt Phrase – Sozialreform und nationale Solidarität – Mitleid und Ekel – Mitgefühl als Distinktion – Zwischen Natur und Kultur – Reines Mitleid – Fernsten-Liebe? – Menschenrechte – Humanitarismus in der Diskussion

IV. Was bleibt

Anmerkungen

I. Was vergeht

Vergängliche Gefühle: Darunter mag man sich dreierlei vorstellen.

Endlichkeit

Erstens: Gefühle sind flüchtig und instabil, sie haben eine zeitliche Struktur und dauern gemeinhin nicht ewig. Wut steigt auf, bricht los und ebbt ab. Tut sie das nicht und entwickelt sich stattdessen zu einer anhaltenden Raserei, wird sie pathologisch. Gleiches gilt für Freude, Angst, Trauer. Wer sich stets freut, fällt ebenso aus dem Rahmen wie jemand, der von immerwährenden Ängsten geplagt wird. Darüber, wie lange man um einen geliebten Menschen trauern soll und darf, haben sich Gesellschaften seit jeher Gedanken gemacht und unterschiedliche Antworten gefunden.

Die vorerst letzte, aus den USA kommend, hat viel Staub aufgewirbelt und scharfe Kontroversen ausgelöst. Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung, die seit 1952 ein Diagnostisches und Statistisches Handbuch psychischer Störungen (DSM) herausgibt, erwägt, Menschen, die auf einen Trauerfall mit Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Energieverlust, Konzentrationsschwierigkeiten und Niedergeschlagenheit reagieren, umstandslos als depressiv einzustufen. Hatte die dritte, 1980 erschienene Auflage des DSM Psychiatern noch empfohlen, ein Jahr abzuwarten, bis sie eine entsprechende Diagnose stellten, war die als ›normal‹ bewertete Trauerphase 1994 bereits auf zwei Monate verkürzt worden. Die fünfte, derzeit diskutierte Auflage will sie auf null herunterschrauben, im wohlverstandenen Interesse der Trauernden, wie es heißt, die auf diese Weise rasch professionelle Hilfe bekommen könnten. Dass die Pharmaindustrie dieses Interesse teilt, versteht sich von selber.1

Aber auch diejenigen, die gegen die Medikalisierung und Pathologisierung des Trauerns Einwände erheben, stimmen darin überein, dass Trauer eine begrenzte Dauer hat. Sie mag nach Temperament und Lebensumständen variieren. Selbst der größte Verlustschmerz jedoch wird mit zunehmendem Zeitabstand geringer, ebenso wie die Art und Intensität seines Ausdrucks sich verändern. Zudem gibt es kulturell-religiöse Vorgaben und Rahmungen, in die sich individuelles Trauern einpasst und die ihm eine gesellschaftlich akzeptable Form verleihen. Trauerrituale und Trauerpraktiken, die festlegen, wer was zu welchem Zeitpunkt und wie lange tun oder nicht tun darf, sind ebenso endlich wie das Trauerempfinden selber.

Lebensspanne

Dass Gefühle vergänglich sind, bildet sich zweitens im individuellen Lebensverlauf ab. Jugendliche, haben Psychologen herausgefunden, erleben ihre Gefühle nicht nur als ungeordnet und in Aufruhr, sondern lassen auch deutlich mehr negative Gefühle zu als ältere Menschen. Letztere wirken zufriedener, gelassener, optimistischer.

Das widerspricht zwar dem kulturellen Stereotyp vom verbitterten alten Misanthropen. Tatsächlich war man noch in den 1950er Jahren der Meinung, emotionales Wohlbefinden und biologische Funktionstüchtigkeit gingen Hand in Hand und erreichten ihren Höhepunkt mit Anfang zwanzig, um anschließend kontinuierlich zu sinken. Neuere Untersuchungen beweisen allerdings das Gegenteil: Positive Gefühle sind bei älteren Erwachsenen signifikant häufiger zu finden als bei jüngeren. Dafür gibt es viele Erklärungen: mit dem Alter zunehmende Selbstkontrolle, veränderte Motivationen und Lebensziele, weniger Stress und geringere Stressempfindlichkeit. Auch Langzeitstudien belegen, dass Menschen, je älter sie werden, negativen Gefühlen wie Angst, Enttäuschung, Neid, Verachtung oder Wut weniger Raum geben als positiven.2

Historizität: Thesen und Einwände

Gefühle wandeln sich aber nicht nur in der individuellen Lebensspanne, sondern auch in der geschichtlichen Zeit. Um die Historizität von Gefühlen als dritter Dimension von Vergänglichkeit geht es in diesem Buch. Es stellt die These auf, dass Gefühle historische Konjunkturen, Auf- und Abschwünge kennen. Zu manchen Zeiten und in manchen Gesellschaften sind sie stärker, sichtbarer, kraft- und machtvoller als in anderen. Sie gehen vielleicht nicht völlig verloren und verschwinden gänzlich von der Bildfläche. Aber sie rücken in den Hintergrund, geraten womöglich in Vergessenheit. Dabei verändern sie sich: in ihren Bezügen, ihrer sozialen Wertigkeit, ihrem Ausdruck, ihrer Intensität. Sie fühlen sich anders an.

Aber zeichnen sich Gefühle denn nicht, könnte man einwenden, durch eine untrügliche und unwandelbare Phänomenologie aus? Sind sie nicht Teil biologischer Systeme, gebunden an Hirnstrukturen, Nervenbahnen, Herzmuskeltätigkeit und biochemische Botenstoffe? Und sorgt diese Bedingtheit nicht dafür, dass sie sich in gleichbleibenden körperlichen Symptomen äußern?

Scham, zum Beispiel, wird seit jeher mit Erröten identifiziert. Das lässt sich physiologisch herleiten, und über die schaminduzierte Weitung der Blutgefäße haben Mediziner schon im 19. Jahrhundert gearbeitet. Heute weiß man zudem, dass das körpereigene Immunsystem Hormone aktiviert, die den Organismus schonen. Wer sich schämt, fühlt sich wie gelähmt, senkt den Blick, vermeidet den des anderen, wendet das Gesicht ab oder vergräbt es in den Händen. Mimik und Gestik der Scham haben eine lange Geschichte, die mitnichten auf den westlichen Kulturraum beschränkt ist.3

Schamreaktionen gibt es auch nicht nur bei und unter Menschen. Leguane etwa zeigen ein ähnliches Verhalten: Die Muskulatur erschlafft, der Körper signalisiert Demut. Die Aggressionsspirale wird unterbrochen, der Krieg ausgesetzt. Ebenso wie Furcht scheint sich auch Scham evolutionär tradiert zu haben, weil sie für das Überleben des Einzelnen und der Gattung wichtig waren.

Doch heißt das im gleichen Atemzug, dass Scham gleich Scham ist, dass alle Wirbeltiere einschließlich des Menschen sie gleich empfinden und dass sie als erlebbares Gefühl weder von räumlichen noch von zeitlichen oder sachlichen Kontextbedingungen beeinflusst wird? Empirisch-experimentell kann diese Frage nicht beantwortet werden, zumindest beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht. Die affektive Neurowissenschaft, die den Gefühlen auf der Spur ist, steckt noch in den Kinderschuhen. Da sie ihre Probanden vorzugsweise aus engen westlichen Herkunftsmilieus rekrutiert, liegen sozial- und kulturübergreifende Ergebnisse in weiter Ferne. Phylogenetische Untersuchungen bleiben ihr prinzipiell verschlossen, und für Langzeitstudien ist der Atem bislang zu kurz (und das Geld zu knapp).

Eine Beobachtung jedoch lässt schon jetzt aufmerken: Offenbar ist es eine Sache, Gefühle in bestimmten Gehirnregionen zu lokalisieren und zu messen, und eine andere, dieses Gefühl bewusst zu empfinden. Zum Erlebnis gehören Benennung und Bezeichnung. Erst der kognitive Akt der Zuschreibung hebt das, was physiologisch-neuronal wahrgenommen werden kann, in die subjektive Erfahrung. Gefühle, so die logische Konsequenz, sind immer auch sprachlich verfasst und somit an Kultur und Gesellschaft gebunden. Denn ebenso wie Sprache kein passives Abbild dessen liefert, was sie beschreibt, sondern das Beschriebene aktiv formt, projiziert und konstituiert, ist sie auch kein individuelles Unterfangen. Wörter und Begriffe dienen der intersubjektiven Verständigung und müssen deshalb mitteilbar sein. Die Mitteilung wiederum setzt einen gemeinsamen Bedeutungs- und Referenzrahmen voraus.

Wenn Gefühlswörter also entscheidenden Anteil daran haben, ob und wie eine Person ein Gefühl erlebt, transportieren sie zugleich allgemeine Konventionen und Vorstellungen, die jenes Erleben ebenfalls beeinflussen. Gefühlswörter stehen in einem sozialen Kontext und markieren Praktiken, die gesellschaftlich mehr oder weniger anerkannt sind. Ihre semantischen Schwingungen und Beiklänge sind für Menschen, die in einer gegebenen Kultur sozialisiert werden, unmittelbar hör- und lesbar. Jeder britische oder deutsche Junge, der im 19. Jahrhundert aufwuchs, wusste, dass ihn Furcht zum Feigling stempelte. Er suchte deshalb, wenn möglich, alle Gefühlsregungen und Verhaltensweisen zu vermeiden, die nach Furcht aussahen. Hatte er seine Lektion gut gelernt, konnte er aufkommende Furcht bereits im Keim ersticken und sich so trainieren, dass er furchtlos, mutig und tapfer durchs Leben zog. Die Tochter ›aus gutem Haus‹ wiederum kannte den diskreten Charme schamhaften Errötens und übte ihn von klein auf ein. Hätte man ihr Schamlosigkeit vorgeworfen, wäre sie in den Boden versunken und elendiglich zugrunde gegangen.

Die Sprache der Gefühle: Ausdruck und Eindruck

Gefühle und ihre Sprache, heißt das, sind in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet, die ihnen Bedeutung verleihen. Sie haben einen Ort und eine Zeit, und sie sind keineswegs sozial amorph und unbeschrieben. Die Sprache der Gefühle hört sich bei Arbeitern und Bauern anders an als in der Aristokratie oder im gebildeten Bürgertum. Sie klingt bei Kindern und Jugendlichen anders als bei Erwachsenen. Sie ist für Frauen anders konnotiert als für Männer. Und sie ist kulturell heterogen. Ethnologen haben in den vergangenen Jahrzehnten viel Material zusammengetragen, das die kulturelle Differenz im Aus- und Eindruck von Gefühlen sowohl illustriert als auch analysiert.4 Selbst wenn sogenannte Grundgefühle wie Furcht, Ekel, Freude, Trauer, Überraschung und Wut in ihrer Mimik tatsächlich, wie Psychologen nachzuweisen suchten, von Betrachtern in der ganzen Welt zutreffend identifiziert werden,5 schließt das Unterschiede im Empfinden, Beurteilen und Bewerten nicht per se aus.

Gesellschaften entwickeln verschiedene Sensibilitäten und Gefühlskulturen; sie geben manchen Gefühlsäußerungen Vorrang; sie erwarten je nach Situation und Umgebung bestimmte Regungen und verwerfen andere. Um auf die anfangs erwähnte Trauerkontroverse zurückzukommen: Wenn die amerikanische Gesellschaft die Zeit, in der Hinterbliebene um einen geliebten Menschen trauern dürfen, ohne als depressiv und therapiebedürftig zu gelten, so dramatisch schrumpfen ließe, wie es die psychiatrische Zunft verlangt, führte das mittel- und langfristig zu anderen Gefühlspraktiken als in Gesellschaften, die die legitime Trauerzeit in Monaten oder gar Jahren messen. Wie sich Menschen verhalten und ihre Gefühle äußern, wirkt wiederum auf das Gefühlte selber zurück.

Diese sozial- und kulturrelativistische Lesart von Gefühlen ist bei Weitem nicht so umstürzlerisch, wie es scheinen mag. Selbst Psychologen, die von ein- und angeborenen Affektprogrammen ausgehen, räumen ein, dass die Aktivierung solcher Programme gesellschaftlich und kulturell kontingent sei.6 Die Rückkoppelungsthese, wonach das Wie und Wann der Aktivierung Folgen hat für das Wie und Was dessen, das gefühlt wird, geht allerdings einen Schritt darüber hinaus. Aber auch das ist alles andere als neu: Dem Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal wird das Bonmot zugeschrieben, man verliebe sich, indem man viel über die Liebe rede; manche Menschen, sekundierte 1666 sein Zeitgenosse, der Moralist François de La Rochefoucauld, hätten sich niemals verliebt, wenn sie niemals von der Liebe hätten sprechen hören.7 Das konnte sarkastisch gemeint sein, nach dem Motto: Jene Menschen folgten lediglich einer Konvention und kennten keine wahren, echten, authentischen Gefühle. Es lässt sich aber auch, mit Niklas Luhmann, konstruktivistisch lesen: Erst der Code der Liebe, wie er in zahllosen Briefen, Gedichten, Episteln, Bildern und Liedern Gestalt gewinnt, ermutigt dazu, »entsprechende Gefühle zu bilden«.8

Nicht ums Bilden, sondern ums Ent-Bilden und Verlernen ging es Friedrich Nietzsche. »Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet«, notierte er Anfang der 1880er Jahre, »also nicht die Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben das mit, was man nicht will: die Unterdrückung der Leidenschaften selber, mindestens ihre Schwächung und Veränderung«. Als Beispiel führte er die Epoche Ludwigs XIV. an, also die Zeit, in der Pascal und La Rochefoucauld lebten. Nachfolgende Generationen hätten dann gar keine Leidenschaften mehr gespürt, »so daß selbst eine Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen Worten angenommen und zurückgegeben wurde«. In seiner eigenen Zeit sei nun das Gegenteil zu beobachten: »Ich sehe überall, im Leben und auf dem Theater und nicht am wenigsten in allem, was geschrieben wird, das Wohlbehagen an allen gröberen Ausbrüchen und Gebärden der Leidenschaft: es wird jetzt eine gewisse Konvention der Leidenschaftlichkeit verlangt«. Das habe, prophezeite der Philosoph, Folgen für die Leidenschaft selber: »Unsre Nachkommen werden eine echte Wildheit haben und nicht nur eine Wildheit und Ungebärdigkeit der Formen.«9 Nietzsche ging also von einer systematischen Liaison zwischen Form und Inhalt aus: Die Art und Weise, wie ein Gefühl geäußert oder eben nicht geäußert werde, wirke auf seine Empfindung zurück.

Aber nicht nur Philosophen und Literaten zogen eine Verbindung zwischen Außen und Innen. Auch in Charles Darwins Beobachtungen über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren, die unmittelbar nach ihrem Erscheinen 1872 sofort ins Deutsche übersetzt wurden, fand sich die These, dass sich ein Gefühl durch seinen Ausdruck sowohl intensivieren als auch besänftigen lasse. Darwin berief sich dabei unter anderem auf die Forschungen des französischen Anatomen Louis Pierre Gratiolet.10 Wilhelm Wundt, Begründer der experimentellen Psychologie, pflichtete Darwin bei, unter Hinweis auf die in Deutschland bereits ausgestorbenen, in anderen Regionen noch verbreiteten Klageweiber, bei denen »der Ausdruck selbst die Gemüthsbewegung herbeiführt«. Und er zitierte Gotthold Ephraim Lessing, der in seiner Hamburgischen Dramaturgie Regeln aufgestellt hatte, wie ein Schauspieler eine Empfindung spielen könnte, die er nicht besäße: durch Anwendung des »Gesetze[s], daß eben die Modifikationen der Seele, welche gewisse Veränderungen des Körpers hervorbringen, hinwiederum durch diese körperliche Veränderungen bewirket werden«.11

Soziale Praktiken und Institutionen