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Horst Bienek Workuta

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Michael Krüger

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Workuta

Ich war das erste Mal in meinem Leben in Leipzig. Es war der letzte Tag der Buchmesse 1990. Mein Verlag hatte eine Lesung im Gohliser Schlößchen organisiert. Dort hatten früher die wichtigen Lesungen von DDR-Schriftstellern stattgefunden, über die man später noch lange gesprochen hatte, weil sie so ganz anders waren als üblich. Ich las aus der »Zelle«, dem Roman, der gerade erschienen war, mein Münchner Verlag hatte das Buch gedruckt, gebunden, mit einem neuen Umschlag versehen, und eine Auflage von zehntausend Stück war sofort vergriffen. Im Impressum stand Verlag Kiepenheuer Weimar und Berlin. Der Verleger sagte mir, wenn sie das selbst gedruckt hätten, hätte das sicher mehr als ein Jahr gedauert, und gerade dieses Buch war ihm (und den Lesern in der DDR) wichtig.

Der Saal war voll. Ich war überrascht, später, bei den Fragen, wie gut die Zuhörer informiert waren. Nicht nur über die »Zelle«, sondern auch über meine Schlesien-Bücher, die sie ja nicht lesen konnten. Aber sie hatten wohl davon gehört. Und jetzt konnten sie auch darüber reden. Denn viele von ihnen waren aus Schlesien, sie waren 1945 und 1946 von dort nach Sachsen geflohen oder später umgesiedelt worden. Sie durften in der DDR nicht darüber sprechen, daß sie aus Schlesien waren. Die ersten Jahre danach, ja. Aber später war das Thema tabuisiert. Warum, das wußte niemand so genau zu sagen. Schlesien sollte es nicht geben, nicht einmal in der Erinnerung. War jemand aus Breslau, so bekam er in seinen Ausweis hineingeschrieben: Wroclaw, Polen. Oder war er aus Gleiwitz, da sagte man, er ist aus Gliwice, Polen. Und Oberschlesien gab es nicht, hat es nie gegeben. Das hieß einfach Gorny Slask, Polen.

Nach der Lesung gab es eine Diskussion. Die wollte gar nicht enden. Es stellte sich heraus, daß die Leute nichts über Literatur wissen wollten, aber über meine Erfahrungen in der Zelle, in Workuta, über meine Erinnerungen an Schlesien. Es war, als ob sie das erste Mal darüber öffentlich reden durften, und wahrscheinlich war es auch so.

Nach einer Weile erzählten sie ihre eigene Geschichte. Sie waren alle Geschlagene. Einige von ihnen hatten in Bautzen gesessen, oder in Waldheim. Einer hatte in Moskau in der Butirka gesessen, und er glaubte, mir dort begegnet zu sein. Einer sagte, in Workuta müßte ich einem Walter Bauer begegnet sein, er soll dort noch bis 1955 im Schacht gearbeitet haben, es war ein Kumpel von ihm, danach war er verschollen. Er hatte keine Nachricht von ihm.

Wieder einer erzählte von Workuta, vom Streik 1953, der im Schacht 29 ausgebrochen war, und er glaubte, mir dort begegnet zu sein, er berichtete Details, die ich selbst schon verdrängt hatte.

Aber sie stimmten, und sie brachten mir die Ereignisse wieder in Erinnerung zurück. Ja, so war es wohl gewesen. Die dreihundert Deutschen im Lager, unter etwa dreitausend Ukrainern oder Balten oder Russen, wir kannten uns alle, auch wenn wir in ganz verschiedenen Baracken zusammengepfercht waren. An ihn konnte ich mich jetzt nicht erinnern, er war Pole und gehörte nicht zur deutschen Gruppe. In Wirklichkeit war er jedoch ein Deutscher, aus dem polnischen Oberschlesien, er sprach fließend Polnisch und er hatte sich als Pole ausgegeben, in der Hoffnung, vielleicht eher entlassen zu werden.

Ich sagte nichts mehr. Ich hörte nur noch zu. Und der Mann hörte gar nicht auf zu reden.

Ein Mann meldete sich zu Wort: Er war grauhaarig, sein Gesicht etwas gegerbt, als hätte er lange draußen im Freien gearbeitet. Er stand nicht auf, als er redete, er wollte wohl in der Masse nicht allzu sichtbar werden. Seine Stimme zitterte ein wenig. Ich glaube, er sprach zum ersten Mal öffentlich darüber. Als er geendet hatte, sah ich, daß sein Gesicht naß war. Ich weiß nicht, hatte er geweint oder war er verschwitzt.

Es war still im Saal. Keiner wagte weiter zu sprechen. Nun stand der Mann doch auf. Er sagte: Sie haben viele Bücher geschrieben, haben wir gehört. Warum haben Sie nicht über Workuta geschrieben?

Ich schwieg. Ich wußte nicht zu antworten. Diese Frage hatte mir auch noch keiner gestellt. Ich habe in vielen Städten, auch im Ausland, aus der »Zelle« gelesen, und die Zuhörer sagten manchmal, wie schrecklich, wo haben Sie diese Zelle erlebt, und wie haben Sie das überstanden. Aber nach Workuta hat bisher keiner gefragt.

Ich bin nach Haus gefahren. Ich habe mich an den Schreibtisch gesetzt. Es waren 35 Jahre seitdem vergangen. Und seit 35 Jahren war mir das nicht mehr so nahe gewesen.

Ja, jetzt war es vor mir, als sei es erst gestern geschehen.

Ich wußte, jetzt muß ich darüber schreiben.

Verhör

Plötzlich, in der Nacht, wurde mit dem Schlüssel gegen meine Tür gescheppert. Dawei, dawei, schrie der Wärter, während er mit lautem Geräusch den Riegel an der Tür zurückschob. Er hielt ein Stück Papier in der Hand: Kak Familie, fragte er und verglich meinen Namen mit dem Zettel. Paidiom, sagte er. Ohne Decke, ohne Blechschüssel. Um diese Zeit konnte es nur zum Verhör gehen. Denn die Verhöre wurden immer, und bei allen, des Nachts ausgeführt. Wir gingen durch den Korridor, und dann durch eine Schleuse, wo ein anderer Wärter bei Scheinwerfer-Licht Wache hielt. Auf der anderen Seite des Gefängnisses war der zivile Teil mit den Verhörräumen. Der Wärter lieferte mich ab. Ich mußte auf einem wackligen Stuhl Platz nehmen. Ich war auf der einen Seite. Auf der anderen Seite der Verhörbeamte. Es war ein höherer Offizier, jedenfalls hatte ich noch keinen mit soviel Aufschlägen am Kragen und mit soviel Orden an der Brust gesehen. Der Schreibtisch war mit rotem Tuch bezogen, und der Beamte saß da, stämmig, breitschultrig, seine Gesichtszüge waren weich und schwabbelig, sie schienen zu zerfließen. Hinter ihm hing ein großes Stalinbild. Ich versuchte nicht hinzusehen. Ich dachte manchmal, was geschähe, wenn ich von meinem Stuhl aufspränge und den Offizier attackierte? Ich würde gar nicht bis zu ihm kommen.

Der Schreibtisch war leer. Nur ein Stapel Papier und ein Faß mit Tinte. Der Verhörer sah mich an. Er sah mich sehr genau an. Er musterte mich. Er schaltete einen Scheinwerfer ein, der mich blendete. Nur für ein paar Sekunden, dann schaltete er ihn wieder aus. Als ob er nur probiert hätte, ob alles klappt. Er fragte mich nach meinem Namen.

Er zog einen Bogen Papier zu sich näher heran. Schrieb meinen Namen auf. Er schrieb weiter, ohne mich noch etwas zu fragen. Er schrieb. Er schrieb die halbe Nacht. Gegen Morgen – es graute bereits durch das Gitterfenster, drückte er auf eine Klingel, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte, und der Wärter kam wieder herein. Er befahl mir, aufzustehen und mit ihm zu gehen. Wieder durch die Schleuse, in den Gefängnistrakt.

Das wiederholte sich in der nächsten Nacht. Wieder fragte der Verhörbeamte nach Name und Vatersname, das war alles. Als ich einmal fragte, warum ich nicht verhört würde, schob er meine Worte mit der Hand zurück. Hier hatte nur einer zu fragen, und das war er.

In der dritten Nacht fing ich an zu schreien.

Ich wurde danach zwei Nächte lang nicht zum Verhör geholt. Dann ging es wieder los. Zum ersten Mal sprach der Verhörbeamte mit mir, und zu meiner Verwunderung in einem sehr guten Deutsch. Erzählen Sie, wie oft waren Sie bei der CIA? Welche Aufträge haben Sie vom CIA-Residenten Günter Grell bekommen? Sie haben doch ein Telefonbuch nach Westberlin gebracht und dem CIA-Residenten Grell übergeben. Ich wußte nicht, daß Grell für die CIA gearbeitet hat. Und was ein Resident ist, wußte ich auch nicht. Ja, das Telefonbuch hatte ich nach Westberlin gebracht. Aber das war doch nicht verboten.

Sie sollen nur meine Fragen beantworten, sonst nichts. Erzählen Sie weiter. Und der Beamte schrieb und schrieb. Ich wunderte mich, was er denn da alles aufschrieb. Ich hatte nichts zu erzählen.

Die nächsten Nächte bestanden aus Wiederholungen. Erzählen Sie weiter. Und der Beamte schrieb und schrieb. Er nahm einen neuen Bogen Papier vom Stapel und schrieb mit einer violetten Tinte. Er sah mich manchmal an. Aber so, als sei er in anderen Gedanken versunken. Ich glaube, er hörte mir gar nicht zu.

Ein paar Tage später sagte er plötzlich: Am 16. Februar, haben Sie gesagt, seien Sie Grell in der S-Bahn begegnet, rein zufällig. Finden Sie das nicht merkwürdig. Jede zwanzig Minuten fuhr eine S-Bahn von Potsdam nach Östberlin zum Bahnhof Friedrichstraße. Und ausgerechnet dort sollten Sie Grell treffen.

Grell wußte, daß ich jeden Morgen mit der S-Bahn von Potsdam nach Friedrichstraße fuhr, im ersten Wagen, dort trafen wir Potsdamer uns. Ich las in dieser Zeit Balzac. Jeden Morgen eine Stunde Balzac. Vielleicht habe ich es ihm gesagt, daß ich jeden Morgen mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße fuhr. Und Balzac las.

Im Protokoll vom 20. Februar haben Sie zugegeben, sich mit Grell in einem Café Kranzler am Kurfürstendamm getroffen zu haben. Also nicht in der S-Bahn, wie Sie jetzt sagen. Sie verwickeln sich in Widersprüche.

In einer anderen Verhörnacht lag auf dem Schreibtisch des Beamten ein Stapel Zeitungen. Ich sah sofort, das waren die Zeitungen und Illustrierten, die sie bei mir beschlagnahmt hatten. Er fing auch gleich damit an. Sie haben verbotene Literatur aufbewahrt. Hier ein Artikel über die rote Kapelle. Wir haben das prüfen lassen. Es geht um die Spionagegruppe Rote Kapelle, die jetzt im Westen noch weiter existiert und gegen uns arbeitet. Sie wissen, daß die Rote Kapelle jetzt von den Amerikanern unterwandert ist. Wann haben Sie sich mit Agenten der Roten Kapelle getroffen, und was haben Sie für Aufträge bekommen.

Ich habe niemanden von der Roten Kapelle getroffen. Ich weiß gar nicht, daß es sie heute noch gibt. Ich habe mir diese Illustrierten-Serie besorgt, weil ich eine Novelle über die Tänzerin Liane Berkowitz schreiben wollte. Sie war Mitglied der Roten Kapelle, sie ist 1943 verhaftet und von den Nazis aufgehängt worden. Darüber wollte ich etwas schreiben.

Der Beamte ließ zum ersten Mal ein spöttisches Lächeln über seinen Mund streichen. Hier haben Sie die Illustrierte (es war der Stern), lesen Sie, und zeigen Sie mir, wo etwas über die Agentin Berkowitz steht. Er klingelte nach dem Wärter, und der schob einen schmalen Tisch herein. Darauf legte mein Verhörbeamter den Packen mit den Zeitungen.

Lesen Sie. Und zeigen Sie mir, was über die Agentin Berkowitz darin steht. Ich laß Sie jetzt allein. Verlassen Sie aber nicht Ihren Stuhl. Ein Wärter wird Sie beobachten. Er klingelte und der Wärter kam herein, er setzte sich in den Sessel. Es gefiel ihm, und er grinste mich an. Tschitaj, tschitaj, sagte er.

Ich las eine Stunde. Ich las zwei Stunden. Ich vergaß, wo ich mich befand. Zum ersten Mal seit Monaten las ich deutsche Sätze. Sie machten mich taumeln. Ich weinte. Als der Verhörbeamte zurückkam, fragte er mich: Haben Sie den Namen gefunden? Nein, ich hatte ihn nicht gefunden. Ich spürte, daß er mir nicht glaubte. Aber er sagte: Lassen Sie das alles liegen. Morgen suchen Sie weiter.