image

Hans Dieter Schäfer

Die unsichtbare
Tätowierung

Erkundungen

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013

ISBN (Print) 978-3-8353-1249-4

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2364-3

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2365-0

Orte

Düsseldorf und Essen

Auf der Fahrt zur Benn-Tagung hält der ICE in Hanau wegen Personenschadens bei einer Regionalbahn – in einer Betonwanne vor dem Bahnhofsgebäude blühen unordentlich Glockenblumen und Winden, vermutlich von Luftströmen ausgesät. Der Schaffner bringt einen Kaffee und klappt dabei den Kiefer auf. »Es kann sich auf den Gleisen auch um ein Tier handeln«, versucht er zu beruhigen. Hier und da ziehen die Leute die Sonnenschutzleisten herunter. Der Hochgeschwindigkeitszug ist lang und spindelförmig, wobei die spitz zulaufenden Waggons aus Stahl mit einem roten Farbstreifen versehen sind. Ich gehe zum Fenster des Ausstiegs und denke an Grimmelshausen. Weil sein Geburtsort von kaiserlichen Truppen besetzt wurde, floh er mit dreizehn 1634 in die Festung Hanau – hier läßt sich Simplicissimus in einen Narren verwandeln, wobei ihm »hauptstärkende Arzneien« den Verstand retten. Der Roman schöpft unterschiedliche Quellen vom spanischen Schelmenroman bis zu Garzonis Enzyklopädie Piazza Universale aus; selbst die berühmte Weltklage ist eine fast wörtliche Übernahme von Antonio Guevaras Traktat Mißbrauch des Hoff- und Lob des Landlebens: »ADjeu Welt / dann auff dich ist nicht zu trauen / noch von dir nichts zu hoffen, / in deinem Hauß ist das vergangene schon verschwunden / das gegenwärtige verschwindet uns unter den Händen / das zukünfftige hat nie angefangen.« Nach einer Stunde setzt sich der Zug mit Piepsen wieder in Bewegung. Die Piktogramme nehmen ihre Arbeit auf, während rechts Gartenzäune, Lauben und auf der linken Seite der Hafen mit Kränen an den Scheiben vorbeigleiten. Bis Düsseldorf lese ich Joachim Dycks Benn-Monographie und erhalte die Bestätigung, daß der Essay über Goethe in fast allen Zitaten und der Argumentation aus der Einleitung Samuel Kalischers zum Band 36 von Goethes Werken im Bong Verlag stammt; die Ausführungen »wurden gekürzt, getrennt und in andere Zusammenhänge gestellt, so daß trotz der Ausschreiberei etwas Neues entstand«. Für Benn gab es die Person nur noch »in Anführungszeichen« – weil der Lyriker sein Ich nicht überhöhte, sondern in anderen Milieus zur Auflösung brachte, formulierte er auf Augenhöhe der Zeit.1

Nach der Ankunft in Düsseldorf fahre ich zum drittklassigen Hotel nahe am Hofgarten – im Zimmer hängt eine Preistafel mit 250 Euro, Frühstück extra; man erklärt, daß der Betrag nur bei Messen fällig ist und das Goethemuseum nicht einmal ein Viertel zahlen muß, doch offensichtlich handelt es sich um einen Kniff, damit bei größerer Nachfrage die Rate nach oben getrieben werden kann. Eine halbe Stunde später stehe ich am Rheinufer – schräg über der Brücke steigt eine Maschine auf. An den Lokalen schieben sich Leichtbekleidete vorbei, als kämen sie gerade vom Krafttraining. Immer mehr Menschen strömen von den Treppen auf die Promenade hinunter und setzen sich mit Bierflaschen auf Balustraden und Stufen. Von der Videowand flammt eine Frau in schwarzem Tanga vorbei; Maschinengewehre sind zu hören, die aus Autos die Luft durchlöchern, ohne eine Spur zu hinterlassen. Dann gerate ich in eine ruhige und friedliche Zone mit aufgehäufeltem Flußsand, Liegestühlen und Korbsesseln, wo man Cuba Libre trinken kann. Daneben essen Leute an einem Stand von Gosch Sylt Shrimps und Krabben – die Delikatessen, die vermutlich nicht aus der Nordsee, sondern aus Aquakulturen Südostasiens stammen, sind von Gelatine überzogen. Ich wende mich der Stadt zu, in der sich die Straßenlampen entzünden. Nach zehn Minuten kommt ein Brauhaus in Sicht, das von Hunderten Altbier trinkender Menschen umsäumt ist – die Entscheidung, trotz der rasch einsetzenden Abkühlung nicht in die beinahe leeren Räume zu gehen, ist vermutlich das Ergebnis einer Verwechslung zwischen Freiheit und dem Stehen außerhalb eines Gebäudes. Im Lokal wandern meine Gedanken zu Benn – vielleicht hat er 1953 in seiner Stammkneipe um die Ecke nach dem »Zischen« eines Bieres das Gedicht Bar auf einen Rezeptblock hingekritzelt:

Flieder in langen Vasen,

Ampeln, gedämpftes Licht

und die Amis rasen,

wenn die Sängerin spricht:

Because of you (ich denke)

romance had its start (ich dein)

because of you (ich lenke

zu dir und du bist mein).

Berlin in Klammern und Banden,

sechs Meilen eng die town

und keine Klipper landen,

wenn so die Nebel braun,

doch durch den Geiger schwellen

Jokohama, Bronx und Wien,

zwei Füße in Wildleder stellen

das Universum hin.

Benn starb drei Jahre später – ich schnitt die Todesanzeige aus und fuhr nach dem Abitur zu einem Freund nach Berlin. Einmal pilgerten wir zum Haus in der Bozenerstraße 20, wo der Dichter-Arzt in der rechten Parterrewohnung gelebt und praktiziert hatte. Deutlicher als das Treppenhaus mit hohem Marmorsockel und Reliefplatten sowie der Gedenktafel neben dem Eingang behielt ich die Einschußlöcher an der verputzten Außenwand in Erinnerung. Der Hinterhof, in den Benn von seinem Arbeitszimmer auf eine Hortensie und einen leeren Kaninchenstall geblickt hatte, blieb uns versperrt. Dafür landeten wir eines Abends auf dem Potsdamer Platz in einer Flachbau-Kneipe – alle Lichter waren rosa, also auch meine Hände und das Gesicht des Freundes. Wenn die Musikbox die Single abgespielt hatte, konnte man das Surren der Scheiben in den Rotamint-Automaten aus dem Nebenzimmer hören. Der Raum gab dunkel an der Bar eine Frau im Pailletten-Kleid frei – das nächste, was ich im trüben Licht erkannte, war ein Fuchs, der mit kleiner präparierter Nase auf ihrer Brust lag. Ich erinnere mich an die Geste, mit der sie ein Glas Weinbrand wie John Wayne vor dem Schußwechsel über die lange Theke zu uns schliddern ließ. Von draußen drang das Hämmern an einer Straßenbahnschiene herein, und durch den Türspalt sah man das Sprühen eines Schweißgeräts. Zwei Männer spielten Billard – Weinlaub aus Plastik und Fähnchen mit dem Bären hingen von der Decke. Die Prostituierte hielt uns für Homosexuelle und erzählte, daß sie von den Russen zehnmal vergewaltigt wurde. »Was für ein Gefühl war denn das?« fragte der Freund, nur um etwas zu sagen. »Tja … bloß das Gefühl einer großen, unendlichen Stumpfheit …« Als der US-Sergeant, ihre »große Liebe«, über Nacht von der Bildfläche verschwunden war, stand sie sich über Jahre auf der Tauentzien die Beine in den Bauch. Irgendwie kam das Gespräch auf Tripper und neue Heilmethoden; wir hatten es nicht leicht, den Namen des Arztes herauszulocken und waren doch überrascht, mit welcher Achtung »Benn« über die Lippen kam. Die Prostituierte besaß noch ein Rezept von ihm, das sie uns für ein paar Asbach Uralt zum Kauf anbot. Obgleich knapp bei Kasse, zahlten wir fünfmal und zogen mit der Frau ab, vorbei an dunklen Eingängen mit Stimmen wie »Soll ich Euch einen blasen?« In ihrem Haus empfing uns eine Ausdünstung von gekochten Kartoffeln und Urin, während von der Mauer mit griechischem Fries Wasser über den Bodenbelag tropfte – wir hatten Scheu, hoch in die Wohnung zu gehen, und warteten fast eine halbe Stunde umsonst auf die Verschreibung.

Die Tagung endet am Samstag mit einem ergreifenden Auftritt von Astrid Claes, die 1953 die erste Dissertation über den Autor der Morgue vorgelegt hatte. Vor wenigen Jahren erschien die Arbeit im Druck; aus diesem Anlaß schrieb sie einen Brief an den toten Dichter, um ihre Lage von damals mit einem unehelichen Kind und der Verstoßung aus dem Elternhaus offenzulegen. Die Hauptaufgabe des Vaters, der 1933 als Leverkusener Stadtdirektor von den Nazis entlassen worden war, bestand darin, die Tochter in der Schule zu Höchstleistungen zu bringen. »Ich lieferte alles, weil ich sein Leid begriff. Bäume und Blumen, Tiere, die ich liebte, waren Gefahren für diese Lieferung, Gedichteschreiben auch, ›bis zum Ende der Ausbildung‹«, doch Astrid Claes setzte sich unter einen Baum, machte Gedichte, besuchte heimlich das Tierheim und ließ sich von Benns Worten beschützen. Während der Lesung des Briefes donnert heftiger Regen auf das Dach – am Ende trudeln Sonnenstrahlen gegen die Scheiben so blendend, daß die Vorhänge zugezogen werden müssen. In feuchter, fast regloser Luft gehe ich am Mittag durch den Hofgarten zur Kunsthalle und esse im Bistro eine Kartoffelsuppe für 6 Euro 80 – im ganzen Museum sind nicht einmal zwei Dutzend Besucher, um sich die Bilder anzusehen. Jeder Maler, ob Kirchner, Kandinsky, Max Ernst oder Klee, war darauf aus, eine eigene Handschrift zu finden, um dadurch sein Ich zu behaupten. Es kommt mir vor, als ob alle Künstler hoffnungsvoll oder verzweifelt und manchmal schroff Schlußpunkte unter die Epoche der Originalität gesetzt hätten – diese wundervoll lebendigen Werke sind von unserer Zeit so weit entfernt wie Keramiken der Ertrusker. Die Objekte von Beuys dagegen kann man als Reflexe auf den Verschleiß wertunbeständiger Güter verstehen; daß er die eigene Person mit Hut offensichtlich für ein Kunstwerk hielt und sich selbst als Foto verkaufte, ist Ausdruck der materialistischen Denkweise unserer Zeit mit der Neigung zur Burleske. Ich hole meinen Trolley aus dem Hotel und will mit dem Zug weiter zu meinem Sohn nach Essen fahren. Auf dem Bahnhof herrscht ein tolles Treiben! Kinder unter riesigen Harry-Potter-Hüten ziehen durch die Halle. Von einer Treppe springen Männer mit Frauenperücken herunter und halten die Bierdosen wie eine Waffe von den nackten Oberkörpern gestreckt. Oben auf dem Bahnsteig kommt aus einem Lautsprecher die Meldung, daß die einfahrenden Züge Düsseldorf in Richtung Duisburg nicht mehr verlassen, weil die Polizei zwei Stationen gesperrt hat. Erst jetzt bemerke ich das Unwetter. Blitze mit dicken Keilen fahren an den Glaswänden herunter – Panik beginnt sich auszubreiten. Ich packe das Handy aus, um meinen Sohn zu verständigen, und sehe noch, wie eine Komödiantin in einem T-Shirt der Post auf der Rolltreppe die Arme in die Luft reckt und schreit: »Ihr seid alle Schweine!« Ein Taxi, das ein türkischer Erdöl-Ingenieur lenkt, lotst mich sachkundig aus dem Durcheinander heraus, und nach wenigen Kilometern ist der Wetterspuk vorbei.

Am Sonntagvormittag stehe ich mit Simon im Folkwang-Museum vor den Landschaften Caspar David Friedrichs – weil ein Mittelgrund fehlt, fühlen wir uns vom Dargestellten körperlich getrennt. Der Künstler zeichnete im Freien mit einem harten, spitzen Bleistift auf Velinpapier; die naturtreuen Studien übertrug er oft Jahre später in seine Gemälde, wobei die collageartige Verbindung und Ausarbeitung der Details den Gesetzen seiner Imagination gehorchte. Der bedeutendste deutsche Maler aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde als Außenseiter gedemütigt. Seit 1816 Mitglied der Königlichen Kunstakademie Dresden, erhielt er ein kleines Gehalt, aber keine Professur, und als man ihn acht Jahre später zum Professor ernannte, wurde ihm die vakante Malklasse verweigert. Der Körper reagierte darauf mit heftigen Krankheitsschüben, zumal sich Friedrichs ökonomische Probleme verschärften, denn nur wenige Sammler wie der russische Dichter und Staatsrat Wassilij Schukowskij erkannten den Wert der Bilder. 1835 legte ein Schlaganfall die rechte Hand still – ein weiterer hatte zwei Jahre später die fast vollständige Lähmung des Körpers zur Folge. Zuweilen konnten wir die geometrisch durchgeformten Bilder in ihrem Zusammenhang nur schwer erfassen, weil sich ein dichter Besucherstrom mit vielen jungen Menschen an ihnen vorbeischob.

Auf der Rückreise am Montag die Rheinische Post mit der Meldung über orkanartige Böen von 110 Stundenkilometern, die Schneisen der Verwüstung geschlagen hatten – viele Großveranstaltungen wie das »mini-Mal Happy Family Fest« auf dem Messegelände und am Rheinufer das Japanische Feuerwerk, zu dem man eine Million erwartete, sind von Düsseldorf Marketing & Tourismus über Radio und Internet abgesagt worden. Hinter den Scheiben des ICE bauschen sich geschmeidig große Wolken, während die Gleise rechts und links flache neue Fabriken flankieren. Auf der anderen Gangseite knirscht in konzentrierter Abwesenheit ein Mann mit den Zähnen, wobei die Ohren unter Kopfhörern liegen und seine Augen vom Clip auf der Rückenlehne gefesselt sind. Langsam fahren wir durch den Bahnhof von Hanau. Eine Gruppe japanischer Touristen wartet auf Anschluß; fast alle haben kleine Digitalkameras dabei, die einzelne Wagen unseres Zug knipsen. Ich blättere in einem Band Petrarca aus dem Düsseldorfer Antiquariat am Rathaus. »Das Geschäft gibt es jetzt seit mehr als zwei Jahrzehnten«, hatte der Buchhändler erklärt. »In den ersten Jahren kamen immer noch Professoren und Studenten, das ist jetzt vorbei. Und die Sammler sterben aus« – das Traktat Über die Heilmittel wider Glück und Unglück vergleicht Bücher mit der angenehmen Gesellschaft von Freunden: »Sie sind aus allen Ländern, aus allen Jahrhunderten. Ich lasse sie kommen und schicke sie wieder weg, sooft ich will. Sie antworten mir auf alle meine Fragen. Andere machen meine Seele fähig, alles zu dulden und nichts zu wünschen und lehren, mich selbst zu ertragen.« Ein Teich mit hohem Schilfrohr ist von Sonne umstellt – auf einem Steg sitzen zwei nackte Männer, der eine deutet mit den Händen einen unsichtbaren Raum an. Staunen wie in der Kindheit breitet sich über die Landschaft aus mit Kühen unter Hochspannungsmasten – eine Wiese ist rosarot, als wollte sie nach oben fließen. Das Licht wird sanfter, um hinter Würzburg ganz zu verschwinden. Die Frau im Sitz schräg gegenüber hat die Plastiksandalen von den Füßen gestreift, und Lampenkleckse fallen von der Waggondecke auf den Bodenbelag. Ich lege meine Hände trichterförmig an die Scheibe – der Bahnsteig einer kleinen Station treibt vorbei mit Gestalten, Aktenkoffer in den Händen, ein Mädchen schmiegt sich an den Mantel der Mutter. Der ICE beschleunigt wieder sein Tempo – bald ist nur noch das Band einer Straße da, über die der Laster einer Fleischfabrik fährt. Ich denke an die Andachtsbilder Friedrichs, die übereinandergeschobene Eisschollen zeigen, Berge, von oben gesehen, im Dunst Segelschiffe oder das Weichbild von Greifswald mit Dächern und Türmen, davor Wiesen, auf denen Pferde springen. Als der Zug bei Mariaort mit hellen Tönen über die Brücke gleitet, stehe ich neben anderen Fahrgästen mit Koffern und Taschen im Gang; ein Schwarzer verstaut Zeitungen, Kunststoffbecher und Flaschen in einen Müllsack, dann bündeln sich im Nebel verschwommen die Lichter von Regensburg – die Abteile sind fast menschenleer und sauber, als wir den Zug verlassen.

Tremmelshauserhöhe

Der Morgen beginnt mit dem gedehnten Rufen der Ringeltauben, die sich unterm Fenster auf dem Mauervorsprung zum Nachbarhaus ein Nest gebaut hatten. Jungvögel fiepen leise einem neuen Wüstentag entgegen, denn die zu Beginn des Frühjahrs angekündigte Hitze zeigt noch immer ein gnadenloses Gesicht. Vor drei Tagen brachte die Mittelbayerische Zeitung auf Seite eins ein Farbfoto vom Rheinufer bei Düsseldorf mit aufgebrochenen Bodenplatten wie vom Tschadsee. Heute erscheint an derselben Stelle ein Bild von Feuerwehrleuten aus Frankfurt / Oder, die wie Playmobilfiguren vor einem Getreidefeld stehen, aus dem Flammen schlagen – Rauchwolken ziehen in Säulen über den Horizont und färben ihn gewitterdunkel ein. Trotz der hohen Lufttemperatur wandere ich Richtung Tremmelshauserhöhe, aber die begonnenen Bewegungen werden zur Qual – ich durchquere die Senke von Rehtal, wo eine dicke Radfahrerin aus dem Rübenfeld heranschleicht und wie verrückt keucht. Oben auf dem Hügel steht unbewegt ein Pferd über Feldern, die leichte Wellen schlagen, aber in der Luft ist weder der Geruch von Rauch noch Mist, als hätte man die Landwirtschaft abgeschafft. Ein Augenblick absoluter Bewußtheit durchzieht den Mittag – Feldheuschrecken machen sich zur Fortpflanzung bereit und können bei anhaltenden Temperaturen leicht den Sprung über die Alpen schaffen. Maisstauden haben die Blätter apathisch eingerollt, und von den Schwellungen der Kolben ist kaum etwas zu ahnen.

Vor dem Wirtshaus setze ich mich mit einem Wasser auf einen niedergelegten Baumstamm und schaue nach Adlersberg zur Dominikanerinnenkirche hinüber. Einige der vielen beiläufigen Gesten in der Braugaststätte dort fallen mir ein – als mein Sohn mit Pampers auf einer Sitzbank hin und her tappte und dabei eine Schützenscheibe herunterriß, sagte Herr Prößl: »Das macht nichts«, und ließ ihn die Jagdhündin Anja ganz lange zur Beruhigung streicheln. Ein Biker mit Sturzhelm steigt ab; ein Handy am Ohr, bleibt er in einem Schattentümpel stehen. Das Laubwerk einer großen Kastanie verbirgt die Hälfte eines Hofes, hinter dem sich die Furchen der Kartoffelfelder ausstrecken. »Wir konnten wegen des langen und nassen Winters die Saaten erst sehr spät ausbringen«, erzählt der Bauer und zieht Knollen in der Größe von Murmeln oder Hühnereiern aus der Erde. Er wird den Tiefschlag wegstecken, aber wenn ein Anwesen verschuldet ist, dann kann eine solche Dürre das Ende bedeuten. Von den Winzerer Höhen aus zeigt der Fluß in der Biegung sein Metall, als gäbe es keine Absenkung des Pegels. Auf einer Bank neben einem Schneebeerenbusch mache ich Pause und mustere die verkohlten Holzstücke eines Lagerfeuers. Rechts sind die Hochhäuser von Königswiesen zu erkennen, wo ich während der Ehe gewohnt hatte – die mit Plastiktafeln benagelten Bauten ähneln Gletschern, die durch Tropenluft herüberstrahlen. Schon lange liegt die Zeit hinter mir, als es schwer fiel, von diesem Komplex lockerzulassen. Franzosenkäfer kreuzen den Schatten meiner Schuhe. Ich gehe den Wehrlochweg hinunter bis zur Autobahn, die seit Jahren Fahrzeug um Fahrzeug vorüberschleust und in einem Tunnel verschwinden läßt – am Ufer lauert wie ein Relikt aus einer anderen Epoche die meterhohe Statue eines Reihers, bis er nach unbeholfenem Waten die Flügel aufklappt, um gelassen am Saum der Bäume entlangzugleiten.

Universität

Seit einem Vierteljahr bin ich zum ersten Mal wieder auf dem Areal, wo sich dreißig Jahre mein Arbeitsplatz befand – mit Plastiktüten voller Bücher gehe ich zur Zentralbibliothek hinüber. Teile des Forums sind abgesperrt wie der Aufgang zur Mensa, der mit Brettern vernagelt wurde – Moos und Pfützen machen sich auf den Flachdächern breit; viele scheinen undicht zu sein, weil Kies, der das Bitumen vor der Sonne schützen soll, von der Isoliermasse an heißen Tagen verschluckt wurde. Neben dem Wasser, das durch Steine in das Rechteck des flachen Teichs prescht, faltet ein Mann vom Bauamt einen Plan auf; von ihm erfahre ich, daß man bald nach der Einweihung an der einen oder anderen Stelle den Armierungsstahl von Rost befreien mußte, doch der darauf geputzte Beton platzte trotzdem immer wieder weg wie am Verwaltungsgebäude, wo Männer die Mauern mit einem Spezialanstrich versiegeln.2 Die Ruine der Universität stülpt den Verfall aus dem Inneren nach außen – in den letzten Semestern kamen Studentinnen und Studenten selbst im Winter mit Wasserflaschen in meine Seminare, um sich jederzeit mit einem Schluck bedienen zu können. Fast die Hälfte wartete zur Sprechstunde vor dem Zimmer nicht mehr auf einem der Stühle, sondern hockte sich auf den Boden. »Das Hocken drückt eine Bedürfnislosigkeit aus, einen Rückzug auf sich selbst«, erkannte Canetti. »Man macht sich so rund wie möglich und verzichtet auf jede Aktivität, die sich zu einer gegenseitigen fortsetzen würde.« Als ich zu unterrichten begann, gab es im Fernsehen zwei Kanäle und eine Sendepause, die schwarz-weiß rauschte, jetzt laufen Filme rund um die Uhr – ein riesiger Akt ohne Ende mit einer Vervielfachung von Stationen. Der Markt hatte etwa zu der Zeit, als der Ostblock mit seltsamer Leichtigkeit implodierte, durch diese und andere Programme eine ihren Botschaften gehorchende Generation herangezogen – die Kraft, das Vielschichtige von Texturen zu entschlüsseln und einer Sache auf den Grund zu gehen, um getrennte Informationen zu neuen zusammenzusetzen, ist bei vielen so gut wie erloschen. Bis zum Schluß versuchte ich, die Teilnehmer für Literatur zu begeistern und den Seminaren in der Hoffnung auf einen Austausch von Argumenten Leben einzuflößen, doch weil die meisten ohne viel Hintergrundwissen aus den Schulen entlassen wurden, sahen sie sich auf ihre Gefühle angewiesen, so daß eine Gegenmeinung häufig als Bedrohung oder sogar als Beschneidung der Rechte empfunden wurde.

Gegen Mittag betrete ich den Zeitungskeller, der pro Woche nur noch eine Stunde geöffnet ist – alle Jahrgänge bis auf die letzten zehn wurden nach der Digitalisierung makuliert, obwohl die Daten langfristig nicht lesbar sind und immer wieder umkopiert werden müssen. Beim Öffnen der hinteren Tür zum Campus hin gibt es Probleme; Schlamm bedeckt den Weg, neben dem der Kadaver einer Taube die Krallen von sich streckt, während rechts und links Stauden ihre Teller mit Samen nach oben heben, um sich in der überhitzten Luft dem Sterben zu widersetzen. Hin und wieder erzeugen Türen zwischen den Bauten ein hallendes Geräusch, weil sie an Streusand schleifen, der noch vom Glatteis aus den Frostwochen im Februar auf dem Campus liegt. Junge Leute mit Rucksäckchen laufen über die Brücke zur Mensa. Das Licht fällt senkrecht und legt am Beton der Hörsaalgebäude Löcher frei, die Einschüssen in Flakbunkern gleichen – der Himmel ist beinahe ohne Wolken, und es ist, als ob die Glaswände der Zentralbibliothek wie Grabsteine aus schwarzpoliertem Granit leuchten.

Urlaub im Allgäu

Heute zeigen sich die Berge mit weißen Zacken – beim Frühstück auf der Terrasse dampft mein Kaffee, und der Porzellanbecher fühlt sich kalt an. Kaum taucht Frau Friedrich an meinem Tisch ihren Löffel in die Müsli-Schale, höre ich ihre Lebensgeschichte; sie hat viel Geld an der Börse verloren, mit dem Rest wurde auf Rat eines Maklers ihr Haus renoviert, jetzt sind die Immobilienpreise gefallen. »Mein Mann ist schon gestorben.« Am Abend bringt die Frau eine Mappe mit Farbfotos zum Essen mit und erzählt, daß sich der Tod vor dreizehn Jahren ereignet hat. »Damals war ich 39.« Es gab zwei längere Affären; einer wollte sie heiraten, aber der Mann sei dann doch nicht der richtige gewesen, während der andere sich nicht von seiner Ehe lösen konnte. »Immer zu Weihnachten war ich mit der Tochter allein zu Hause.« Die weiteren Frauen, die im Laufe der Zeit an meinem Tisch das Abendessen einnehmen, sind jünger. Die eine arbeitet hart als Arzneimittel-Vertreterin; wenn sie ihren Kopf beim Lachen zurückwirft, sieht man feine Fältchen in den Augenwinkeln, die Frau hat etwas Kämpferisches – der blauschwarze Ton ihrer Stoßfrisur paßt gut dazu. Ihre Eltern waren 68er gewesen und hatten immer nur an sich gedacht. Für sie sei es jetzt für eigene Kinder zu spät, dann erzählt sie von Ärzten, die am Wochenende in London übermüdet Magenspiegelungen machen, um ihre Praxen zu retten. Einmal sitze ich an der Bar mit Conny zusammen, die als einzige Mitarbeiterin einer Krankenkasse nicht gemobbt wird, weil der Chef ihren Sachverstand braucht; ihm geht es nur um Macht, von den wirklichen Problemen will er nichts wissen – sie ist zufrieden, wieder in einem Job zu sein. »Aus Dummheit gab ich wegen einem Kulturredakteur den Beruf auf und bin nach Koblenz gezogen«, sagt die Frau und nippt an einem Glas Prosecco. Als er an einem Morgen Schluß machte, wollte er nicht einmal eine Tasse Kaffee trinken. »›Gestern, das war das letzte Frühstück mit dir‹, hatte er zum Abschied gesagt.«

Wenige Tage später lädt die Wärme am Morgen wieder zu Bergtouren ein – der Wind weht aus nördlicher Richtung und trägt beinahe alle Schleierwolken vom Himmel. Kühe schauen mit aufgestellten Ohren und großen Augen vom Wiesenhang herüber, einige liegen einfach nur da und kauen. Ich wußte gar nicht, daß es hier so viele Dohlen gibt. Wenn man ihnen Apfelstücke hinwirft, fliegen sie in die Bäume hoch, sobald alles ruhig ist, kommen sie wieder herunter. Die Schatten in dem Einschnitt einer Felswand bleiben auch beim Höchststand der Sonne dunkel, so daß die hellen Tupfen vermutlich Schneemulden sind. Häufig bin ich von den Wanderungen so müde, daß die Stunden am Abend nur noch zu etwas Fernsehen reichen. Auf dem Bildschirm steppt eine Tänzerin von einer Ecke der Bühne zur anderen mit einem glitzernden Hut, der so hoch wie ein Schornstein ist. Man sieht in dem alten US-Streifen Halbwüchsige Bierbüchsen von einer Eisenbahnbrücke in die Strömung werfen – Forellen huschen durch das Wasser und sind wegen ihrer Musterung kaum von der Umgebung zu unterscheiden. Lastzüge fahren, monumental, über einen Highway. Abgeerntete Felder sind zu erkennen und die Ruine einer Fabrik, die meisten Fenster ohne Scheiben; mitunter hat in der Öde einer Halle Buschwerk Wurzeln geschlagen. Dann treten nachts Ferienhäuser aus Holz an einer einsamen Straße im Gebirge hervor – ein paar mit Geißblatt bewachsene Veranden haben Licht, aber die meisten liegen im Dunkeln. Am Wald wölben sich auf dem Campingplatz die runden Dächer der Wohnwagen, das Quaken von Fröschen und ein isoliert hingestellter Wasserspeicher verstärken den Eindruck der Weiträumigkeit – der Film, noch ohne Farbe, bringt die Atmosphäre der fünfziger Jahre zum Ausdruck, die etwas Melancholisches hatte, weil sich das Verhältnis zur Natur aufzulösen begann und der Wandel damals als Verlust erfahren wurde. »Was wir für Trauer oder Kummer halten, scheint oft nur die Unfähigkeit zu sein, uns in eine lebensfähige Beziehung zur Welt zu setzen«, notierte John Cheever in seinem Tagebuch 1954 über diese Haltung und nannte die »Welt um uns herum« ein »fast verlorenes Paradies.«

Vierzehnheiligen und Banz

Mitte Oktober zeigt das Thermometer 25 Grad. Apfelbäume blühen im Südwind zum zweiten Mal – so lange die Sonne den Schwalben über das Gefieder streicht, zögern sie ihren Start hinaus. Heute am Sonntag müssen die Uhren um eine Stunde zurückgestellt werden. Schlagartig sacken mit der Winterzeit die Temperaturen nach unten, so daß ich in den Trolley schnell noch einen dicken Anorak und Handschuhe packe. Mit großer Verspätung setzt durch den Kälteschock die Laubfärbung in vollem Umfang ein; die Bäume schleusen durch den Abbau von Chlorophyll aus den Blättern Zucker in die Stämme – das Gelb und Orangerot von Xantophyll und Karotin, die das Grün überlagert hatten, kommen erst jetzt für das Auge sichtbar zum Vorschein. Ein Freund holt mich mit dem Auto vom Bahnhof in Lichtenfels ab, um zur Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen zu fahren. Die Sonne ist noch immer von wärmender Kraft, obgleich sich vom Gehölz kalte Luftschichten ausbreiten. Auf den Stufen steht ein Wächter in Uniform mit Armaufschlägen, während ein zweiter eine Gruppe Jugendlicher den Weg zur Kirche hinauf begleitet; die jungen Leute tragen Stäbe mit farbigen Bändern – einige Mütter kommen in kurzen Abständen vom Parkplatz hinzu und begrüßen sich. Im Reiseführer liegt ein Zettel, auf dem ich im Vorjahr in der Nähe von Forchheim von einem Kruzifix auf Sandsockel diesen Spruch notierte:

Trag dein

Kreuz recht

willig froh,

unser Heiland

will es so

Wenn die Bauern in der Ackersenke bei der Aussaat den Kopf hoben, sollten die frei aufsteigenden Türme wie Riesenfinger auf das Himmelreich zeigen – das gute Leben unten auf der Erde zu verlangen ist Sünde, predigten die Mönche. Unser Blick geht jetzt zu den Türmen von Banz, das nach der Achse von Vierzehnheiligen ausgerichtet wurde. Der Freund erzählt, wie sein Großvater zur Silberhochzeit vom Kloster hierher gewandert war – die Großmutter mit Stöckelschuhen, die sie auf der letzten Wegstrecke in der Hand getragen hatte. Der einsetzende Wetterumschlag wirkt wie ein Vergrößerungsglas und läßt die mehr als zwanzig Kilometer entfernte Veste von Coburg wie eine Klippe im Meer leuchten.