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Fritz Rudolf Fries

Last Exit to El Paso

Roman

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Dankbar bin ich dem Literaturfonds Darmstadt für die großzügig gewährte Unterstützung meiner Arbeit. Fritz Rudolf Fries

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013
www.wallstein-verlag.de

Für Fabian

La vida es sueño – das Leben ist Traum.

Pedro Calderón de la Barca

This is the end, my only friend, the end …

Jim Morrison, The Doors

Der Mensch tritt nicht durch eine wundersame, gefährliche Reise in die Traumwelt ein, sondern durch die tagtägliche Wanderbewegung.

César Aira, Gespenster

Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass einige der in meinem Roman beschriebenen Personen und Lebensumstände von tatsächlichen Personen und Lebensumständen inspiriert worden sind. So ist der auf Seite 16 beschriebene Film »Burning Life« das hervorragende Werk des Regisseurs Peter Welz. Der chilenische Autor Roberto Bolaño (1963 – 2003) hinterließ einen genialen Roman mit dem rätselhaften Titel »2666«. Einige Figuren des Romans, darunter die scharfsinnigen Kritiker, führen ein Geistergespräch in einer Huldigung für den chilenischen Autor und seinen Übersetzer Christian Hansen mit den Figuren meines Romans.

Wer aber ist Archie? Wie im Roman beschrieben, ist er ein einfallsreicher Dramaturg und genauer Beobachter unserer Gegenwart. Den Herren Arronax und Archie habe ich versprochen, ihre bürgerlichen Namen für mich zu behalten. Im Gegenzug haben sie mir erlaubt, sie in Situationen und Umstände zu bringen, die so nur im Traum vorkommen. Wenn Leben ein Traum ist, finden wir dann nicht in den Träumen unser eigentliches Leben?

Am Ende werden alle Figuren, die Lebenden wie die Toten, ihre Träume verlassen und sich in den Paradiesen wiederfinden, die sie zu ihren Lebzeiten gesucht haben.

Fritz Rudolf Fries

Es dunkelte schon, als das Telefon klingelte.

Der Mann in seinem Bett, seine Tage sind gezählt nach Ansicht der Ärzte, drückt die grüne Taste an seinem Mobiltelefon. Altmodisch, wie er zu sein glaubt, verweigert er sich einer eskalierenden Technik. Bevor er sich mit heiserer Altmännerstimme meldet, berührt seine Hand den warmen Leib seines Enkels Fabius. Schlaftrunken, aber aufmerksam für die Geräusche im weiten Haus wartet das Kind auf das Märchen, das sein Großvater heute für es ausgesucht hat. Es muss ein kurzes Märchen sein, denn vor der Tür steht schon Kathleen, Großvaters Pflegeschwester, Sekretärin, Haushälterin, um das Kind ins Bett zu bringen. Während das Telefon klingelt, beobachtet Fabius den Flug der Obstfliegen um die matt scheinende Deckenlampe, eine Art Weltkugel aus japanischem Papier. Die Fliegen jagen einander, balgen sich wie junge Katzen, retten sich auf die Verstrebungen der Lampe, die im Windhauch aus dem spaltweit geöffneten Fenster schaukelt.

Der alte Mann in seinem Bett meldet sich ein zweites Mal. Eine eilige Stimme, Mann oder Frau, fragt: Spreche ich mit Herrn Pierre Arronax, ja, herzlichen Glückwunsch, Herr Arronax! Sie haben eine Weltreise gewonnen! Wir melden uns in wenigen Minuten wieder, nehmen Sie Papier und Bleistift zur Hand, wir rufen an …!

Blödsinn, denkt der alte Mann, woher wissen sie meinen Namen, der dazu noch ein Pseudonym ist aus der Zeit, da er sich mit Jules Verne beschäftigte. Er? Eine Weltreise, in achtzig Tagen? Da er schon heute ein toter Mann ist?

Er greift nach dem Buch auf dem Nachttisch, richtet den Kegel der Leselampe auf die aufgeschlagene Seite. Die Bremer Stadtmusikanten liest er und versucht, seiner Stimme die alte Festigkeit zu geben. Hat er nicht früher einmal als Kabinendolmetscher gearbeitet, in Caracas, Paris, Moskau? Die Bremer Stadtmusikanten, wiederholt er. Fabius ist ganz Ohr. Mit seinen fünf Jahren ist er ein von Vorurteilen, Schulstoff oder Fernsehen unverdorbener Zuhörer. Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Der Alte prüft seine Brillengläser. Doch, der Satz steht da. Esel, Hund, Katze und Hahn gehen auf die Wanderschaft, als keiner mehr ihre Dienste haben will. Fabius beobachtet weiter die sich balgenden Fliegen, die nun von Esel, Hund, Katze und Hahn verfolgt werden.

Das Telefon – einer von den im Haus verteilten Apparaten – klingelt ein zweites Mal, bevor die Tiere die Diebe zur Strecke gebracht haben und es sich gut sein lassen am Ende ihrer Tage.

Telefon!, ruft Kathleen schon an der Tür, ungehalten, in Eile immer, mit leisem Vorwurf in der Stimme, dass der Alte von Tag zu Tag schlechter hört.

Fabius, mein Herr, sagt sie, ab in die Falle! Es hilft kein Murren, sie hat das Sagen. Der Großvater reicht ihm die Hand, männlich ritterlich; einen Kuss geben sie sich nur, wenn keiner zusieht. Gute Nacht, murmelt das Kind mit abgewandtem Blick.

Der Alte kann es nicht vermeiden, durch seine Brillengläser auf die gut gerundete, milchkaffeefarben gebräunte Gestalt zu schauen, soweit seine Lesebrille das Bild hergibt. Sein Verdacht hat sich längst bestätigt. Ihre Anstellung als Pflegeschwester (bei Nachweis medizinischen Grundwissens), als Köchin und Sekretärin war nur Vorwand für eine Magisterarbeit. Eine Magisterarbeit im Auftrag welcher Geheimdienste? Im Alter vergrößert sich das Misstrauen. Ihr Interesse gilt jenem Pierre Arronax und seinen Publikationen im Schnittpunkt zweier Systeme. Die Systeme mit ihren feindlichen Ideologien haben Schiffbruch erlitten. Was bleibt, ist das Werk, so eines vorhanden.

Kathleen hält ihm das Telefon ans Ohr. Die Bedingungen für die Weltreise? Aber am anderen Ende der Leitung ist sein Freund Arcimboldi – auch dieser Name ein Pseudonym und mehr noch, eine bösartige Anspielung auf einen alten Mann, der weniger aus Äpfeln und Birnen, Blumen und Kohlköpfen zusammengesetzt ist, wie sie der Maler Arcimboldi einst malte, denn aus den Ersatzteilen einer himmelwärts fortschreitenden Medizin, für die der Übergang vom Menschen zum Roboter kaum noch eine Frage der Zeit ist.

Archie also, for short. Wie immer beginnen seine Worte mit einem glucksendem Lachen, das um Nachsicht zu bitten scheint für das, was nun folgt.

Du wirst es kaum glauben, sagt er. Mich ruft doch eben jemand an und sagt, ich hätte eine Weltreise gewonnen! Einen Partner oder eine Partnerin könne ich mitbringen, die Bedingungen würden noch bekannt gegeben. Es geht wohl darum, einen gewissen Punkt auf der Erde in einer vorgeschriebenen Zeit zu erreichen, um eine Prämie zu kassieren. Meine Frau weigert sich jetzt schon, mitzukommen. Umso besser. Auf Reisen überfiel sie jedes Mal die Lust zu gähnen, sodass ich immer dachte, sie verschluckt die fremde Landschaft samt ihren Menschen. Wie wär’s mit deiner Frau?

Eingedenk ihrer hinter einer Mauer verbrachten Jugend, sagt der alte Mann, kam sie aus dem Staunen nicht heraus. Für sie war die Fremde noch die Fremde. Nimm doch, schlägt er vor, deinen Sohn Piet mit auf die Reise. Im Übrigen, ich habe den gleichen Anruf vor einer halben Stunde bekommen.

Ach, sagt Archie. Eine Verschwörung, vermute ich. Pozor! (Archie redet gern in den slawischen Sprachen, die ihm zur Verfügung stehen).

Sag ihnen, wenn sie wieder anrufen, sie sollen zu mir kommen, ihr kommt dazu, und wir hören uns an, was da geboten wird. Etwas Schlimmeres als den Tod findest du überall.

Archie lacht. Die Bremer Stadtmusikanten gehen auf Weltreise, sagt er. Gut, wir kommen.

Am besten gleich, sagt der alte Mann, dem die Ärzte nur eine kurze Zeit geben.

Und wie an jedem Abend kommt Kathleen, um ihm die Medizin für die Nacht zu bringen. Ist es ein Schlafmittel, vermischt mit Acid oder einem anderen Dope, Träume und Erinnerungen zu provozieren wie im amerikanischen Roman, oder tut sie es auf Empfehlung Gorkas, Kathleens rätselhaftem Freund? Wohl eher, um ihm zu helfen, im Traum die letzten Kammern seiner Vergangenheit aufzuschließen und sein Leben so zu verlängern.

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An anderen Abenden bringt Kathleen den Jungen in ein nahes Untermieterzimmer, das seine Mutter gemietet hat. Die Eltern leben in Scheidung. Doch nein, er bringt da etwas durcheinander. Der alte Mann, darin geübt, die Jahre und Zeiten nach Belieben zu verwechseln, begleitet das Kind durch den nächtlichen Ort. Es herrscht Krieg, wenn auch noch nicht in der Stadt. Nach zwanzig Uhr ist die Stadt wie ausgestorben. Die Angst vor einem Bombenalarm bannt die Menschen in ihre Zimmer, die Hände am warmen Kachelofen, das Ohr am Rundfunkgerät. Wer noch auf der Straße ist, muss eine Phosphorplakette am Revers tragen, ein Irrlicht, das an schwirrende Glühwürmchen erinnert. Die mit abgeblendeten Lichtern den Bahnhof der Endstation erreichenden Straßenbahnen illuminieren (wie auf Bildern von Paul Delvaux) ihrerseits insektengleich den Vorort, durch den Mutter und Kind eilen. Am Tag hat beengt wohnende Verwandtschaft sie aufgenommen, beköstigt und beraten, wie man die Ämter zur Eile mahnen könnte. Die Einweisung in eine eigene Wohnung ist ein Staatsakt, der begleitet wird von Bezugsscheinen für neue Möbel und den Lebensmittelkarten einer eingeschränkten Wirtschaft. Denn alles, was man besaß, ist in einem anderen Land geblieben, seit der Ehemann in den Krieg gerufen wurde, an eine Front, die noch außerhalb der deutschen Staatsgrenzen verläuft.

Der kurze Weg von der Wohnung der Verwandten in das Untermieterzimmer im zweiten Stock eines hochherrschaftlichen, von einer Pappel bewachten Hauses ist ein Weg durch ein Niemandsland. Zwischen Nacht und Tag liegt ein Land der Sehnsucht; das ist da, wo sie herkamen. In den Erzählungen der Mutter, wenn sie in den klammen Betten des Zimmers liegen, wird es zum verlorenen Paradies der Märchenbücher. Später, wenn aus dem Kind der alte Mann geworden ist, weiß er, dass vor allem seine Mutter aus ihren Paradiesen vertrieben wurde. Er selber, als Kind, konnte, solange er von ihr beschützt wurde, aus keinem Paradies vertrieben werden. Im Gegenteil. Er fand immer neue Paradiese, künstliche Paradiese, die an Oasen in einer Wüste erinnerten. Der Aufstieg in die zweite Etage blieb dennoch eine Strecke, auf der die Gespenster der Nacht zugreifen konnten. Der automatische Lichtschalter versagte mit einem überlauten Knacken seinen Dienst, noch ehe man den nächsten Treppenabsatz erreicht hatte. Das Kind blieb stehen, mit angehaltenem Atem, und überließ seiner Mutter, den Lichtschalter zu finden. Einmal entdeckte das Kind auf dem Nachttisch eine winzige Spielzeugeisenbahn. Der debile Sohn der Wirtin, der seiner Zustände wegen vom Kriegsdienst verschont blieb, hatte sie ihm geschenkt.

Später erfuhr der alte Mann, die neue Ordnung habe ihn mit Hilfe von Gas zu Tode gebracht als ein unnützes Glied der deutschen Volksgemeinschaft. Der alte Mann hatte über die Jahre die Eisenbahn aufbewahrt. Jetzt fand er sie nicht. Er schenkte seinem Enkel das Spielzeugmodell einer Weltraumstation.

Im Traum, denkt der alte Mann, ließen sich die Fragmente seiner Vergangenheit zu einem Roman verdichten. Ein Roman, auf den die Kritiker warten müssen, solange das letzte Kapitel nicht geschrieben – nein, erlebt worden ist.

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Der alte Mann raffte sich auf. Verließ ächzend sein Bett. Rief nach Kathleen. Die hantierte in der Küche mit dem Geschirr. Das Kofferradio verbreitete die neuesten Nachrichten. Andy-Warhol-Sammlung in Los Angeles gestohlen. Eine Portraitserie mit Sportgrößen aus den siebziger Jahren. Die Sammlung soll mehrere Millionen wert sein. Dann übertönte der Geschirrspüler die weiteren Nachrichten.

Der alte Mann hüllte sich in seinen moosgrünen Morgenmantel, knüpfte einen Schal, made in China, letztes Geschenk seiner verschwundenen (entführten?) Frau, um den mageren Hals, tupfte etwas Aramis auf die eingefallenen Schläfen und schlurfte, die Weite seines hell erleuchteten Hauses genießend, in die Bibliothek.

Er versenkte seinen mageren Körper in einen der schwarzen Ledersessel, schloss die schmerzenden Augen. Er rief noch einmal nach Kathleen, um ihr den Besuch Arcimboldos und dessen Sohnes Piet anzukündigen und um eine Flasche Bourbon und passende Gläser zu bitten. Er hatte noch keine Haushälterin erlebt, die die passenden Gläser zu einem bestimmten Getränk gefunden hätte.

Kathleen wiederholte ihm die Nachricht von der gestohlenen Sammlung in L.A.

Eine kubanische Haushälterin soll den Diebstahl entdeckt haben.

Von mir aus, sagte der alte Mann und betrachtete die Bilder an seinen Wänden. Wer holt sich denn amerikanische Sportgrößen ins Haus, und dabei wies er auf seine Sammlung post-expressionistischer und post-surrealistischer Grafiken und Kalenderblätter.

Es klingelte. Kathleen entriegelte die Haustür und öffnete.

Arcimboldo ließ sein bekanntes Lachen hören, das von einem nicht weniger vertrauten Stöhnen begleitet wurde. Er nahm Kathleens Hand in beide Hände, die an die Pranken eines Seemanns erinnerten; es gab keinen Beruf, den Archie in seiner Jugend nicht ausgeübt hätte. Später studierte er Theaterwissenschaft, arbeitete, was er nicht müde wurde zu wiederholen, im Schatten Brechts und in unmittelbarer Nähe Helene Weigels am Schiffbauerdamm. Dann kam er als Dramaturg zum Film, lernte den alten Mann kennen, damals ein Mann in den besten Jahren, der seine erfolglosen Drehbücher unter dem Pseudonym Pierre Arronax anbot, und sie wurden Freunde. Im Alter einander beobachtend, wer denn nun dem Grabe ein Stück näher war und wessen Krankheiten mehr Beachtung fänden. Um den Tücken des Alters zu entkommen – was nichts anderes hieß, als den Verlust der Sexualität zu ignorieren –, führten sie einander ihr geistiges Lebenswerk vor, mit dem Hinweis, einen sensationellen Einfall zu einem neuen Buch oder Film seit gestern erst mit sich herumzutragen.

Du wirst lachen, gluckste Archie und streichelte seinen Petrusbart, es ist eine Ehegeschichte. Da war Sohn Piet gefragt, eine in sich gekehrte Erscheinung, der in den letzten Jahren mit zeitkritischen Filmen für Aufsehen gesorgt hatte, wenn auch nur in den neuen Bundesländern. Der alte Mann hatte diese Filme, bei aller Abneigung gegen die neue Technik, mit seinem Videogerät aufgenommen, und er führte sie sich so oft vor wie in früheren Jahren die Marx Brothers, W.C. Fields oder die Filme des italienischen Neorealismus. Einen Roman schreiben, mit der Poesie und der Montagetechnik eines Fellini und der absurden Komik eines Groucho Marx, das gehörte zu den Illusionen seiner späten Tage.

Waren Archie und der alte Mann besessen von einer Darstellung ihrer privaten Leben, durchaus mit der nötigen Verfremdung, so lächelte Piet über so viel Altmännereitelkeit, die auf eine verkappte Entschuldigung alter Schulden hinauslief. Piet mit seinem korrekten Haarschnitt, seinem unauffälligen Outfit, vermied jede Künstlerboheme als eine Art Garantie für verborgene Genialität. Seine Filme sollten die falschen Ideologien der Gegenwart, und sei es mit Komik oder Gewalt, entlarven. Nichts komischer, dachte der alte Mann und begrüßte den Jungen wie einen eigenen Sohn, als jener dilettantische Banküberfall zweier junger Frauen in einer Sparkasse in Märkisch-Oderland. Während sie das Geld einsacken, zwingen sie die Bankkunden, die Nationalhymne zu singen – »Deutschland, Deutschland über alles« –, eine groteske Szene! Die beraubten Kunden bitten die Bankräuberinnen um ein klein wenig Geld – das Auto unbezahlt, der Kredit ein Alptraum. Die Mädchen öffnen den Sack und teilen mit vollen Händen aus, und entkommen mit ein paar Scheinen in ihrem Fluchtauto, eine von den Russen zurückgelassene Staatskarosse. Und dann wird die Verfolgungsmaschinerie des neuen Staates in Gang gesetzt, als gälte es, eine Neuauflage der Rote Armee Fraktion zu vernichten.

Der alte Mann lässt es sich nicht nehmen, mit zitternder Hand die Flasche zu öffnen und einzuschenken.

Bourbon, lobt Archie mit Kennermiene. Überhaupt Amerika. Vielleicht kommen wir dorthin, auf unserer Weltreise … Wie hast du gesagt? Etwas Besseres als den Tod findest du überall?

Grimms Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, ihr erinnert euch, wie wir die Geschichte aktualisieren wollten, sozusagen aus den Vierbeinern Zweibeiner machten …

Das Drehbuch war gut, erwidert Archie. Aber dass die Sache in Bremen spielen sollte, damals noch Feindesland, unmöglich. Und dass der Esel seine musikalischen Talente nur in der Freien Hansestadt Bremen an die Öffentlichkeit bringen kann – an wen erinnerte das?

Der alte Mann wehrte ab. Vorstellen könnte ich mir, sagte er, der Esel wird erfolgreich als einer von den Schlagerfuzzies, die weder Talent noch Stimme haben, doch in jeder Gesellschaft gebraucht werden, weil sie die Massen bei der Stange halten und ihre von Natur aus mitgebrachten ungetrübten Empfindungen verkleistern und verkitschen. Und je mehr sie verdienen, desto begabter glauben sie sich.

Piet lachte. Das wäre ein Film nach seinem Sinn.

Archie ließ sich nicht beirren. Und die Frauenrolle, fuhr er fort, wie sieht es da aus; denn aus der Katze machten wir eine Frau – die Oelschlägel wollte erst das Drehbuch sehen, Domröse lehnte ab, die Karusseit war uns zu alt …

Unsere eigenen Erfahrungen mit der neuen Zeit, sagt der alte Mann, könnten heute einfließen. Du, Archie, bist der Esel, den der neue Staat aus seinem alten Beruf hinausprügelt. Ich bin der Hahn, der den neuen Tag verkündet und das Wetter voraussagt, Piet, du bist der Hund, der auf die Pauke haut und die Verbrecher zur Strecke bringt … Die Moral von der Geschicht: Kunst als Waffe im Kampf gegen das Böse.

Am Ende aber, sagt Archie, verzichten sie auf die Bremer Freiheiten und machen es sich bequem im Räuberhaus. Eine feine Anspielung auf das Verhalten unserer Menschen heute. Fehlte noch, dass sie sich mit ihren alten Ausbeutern, die ihnen an den Kragen wollten, arrangieren.

Wäre eine wunderbare Weiterführung des Grimmschen Märchens.

Auch den Film macht uns heute keiner, sagt Piet.

Wie schon oft entwickelten sie zu ihrem Vergnügen den einen und anderen Plot. Die Bremer Stadtmusikanten als Vertreter einer zerstrittenen Linken nach der Wende. Der Esel ein unverbesserlicher Stalinist, der Hahn ein Wendehals, der Hund ein Linker, der seinen Anteil am Regierungsgeschäft haben will, die Katze eine attraktive Dame mit belasteter Vergangenheit … Die Frage, die sie sich stellen (bei einem Versuch, ihre Ansichten abzustimmen), war: Machen wir mit den Räubern gemeinsame Sache, um den neuen Herren keine Chance zu lassen, uns abzuwickeln und zu diffamieren?

Auch den Film macht uns heute keiner, sagt Piet.

Wie immer, sobald sie ins Fabulieren gerieten, fanden sie kein Ende.

Archie erinnert an ihre Version des Rosenkriegs: der Streit unter betagten Eheleuten, wer den anderen überlebt, um endlich unbeschwert und mit den Segnungen reicher Erbschaft ausgerüstet (welche eine Scheidung unmöglich gemacht hätte) ein neues Leben zu beginnen. Die Frau ist im Bunde mit dem Notar, der das Testament aufsetzt. Er verliebt sich in sie, sodass der Ehemann den Intrigen beider ausgesetzt wird. Doch die Frau stirbt zuerst – und der zu erwartende Schrei der Entrüstung von Seiten der Feministinnen warnte die Filmgesellschaft, sodass ein Vertrag nicht zustande kam. Viel hatten sich die Autoren von der grotesken Szene versprochen, wie der Notar und der Ehemann am Grab der Frau stehen, die sie beide geliebt haben.

Sie entwickelten den Stoff und schrieben ein zweites Exposé. Diesmal blieben sie ziemlich nahe an der realen Vorgabe und verlegten die Handlung in die späten Jahre der DDR. Pierre Arronax bekam damals die Genehmigung, sich von seiner Ehefrau auf einer sog. Westreise begleiten zu lassen. Bei der Rückkehr, als der Zug längere Zeit am Bahnhof Zoo hält, steigt die Ehefrau aus, um einen Abschiedsblick auf den in nervöser Unruhe vibrierenden Bahnhofsvorplatz zu werfen. Ein junger Mann spricht sie an und will sie zum gemeinsamen Frühstück einladen. Sie zögert, sie lacht ihn aus (mit ihrem unwiderstehlichen Lachen) – und geht mit ihm. Und kommt nicht zurück. Der Film spinnt die Geschichte zum bösen Ende weiter (sie endet als Callgirl), und in der Wirklichkeit weiß der alte Mann bis heute nicht, was aus ihr geworden ist. (Es sei denn, er verwechselt im Alter Fiktion und Realität.) Weder das Fernsehen noch die in Babelsberg sich etablierende Nachfolgerin der DEFA wollten diesen Film finanzieren. Die Autoren malten die westdeutschen Verhältnisse zu schwarz. Ein dritter Versuch kam nicht zustande, zumal Piet sich ihre Geschichten nicht aneignen wollte. Auch er steckte in einer Krise, wenn er über den Film als Medium dieser Zeit nachdachte.

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Damals, als der alte Mann noch ein junger Mann war, vergleichsweise, auch wenn er viel älter war als seine zweite Frau, geschah, was ungeklärt blieb. Da er allein im Abteil sitzend, am Bahnhof Zoo, Endpunkt Bahnhof Friedrichstraße, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, auf ihre, Jäckies, Rückkehr wartete, und sie kam nicht zurück – hätte er aussteigen sollen, die Notbremse ziehen? Vielleicht war es das Beste, dachte er mit der Moral seiner späteren Jahre, wenn er den Dingen ihren Lauf ließ.

Zu Hause angekommen, alarmierte er in den nächsten Tagen die Polizei, und dachte sich im Stillen eine Mordgeschichte aus, die er mit seinem Freund, dem Dramaturgen Archie, besprechen wollte. Doch das Misstrauen der Polizei hielt sich in Grenzen, sobald er die Einzelheiten mitteilte – denn alles lief auf eine straffällige Geschichte hinaus, die von Paragraphen gespickt den juristischen Tatbestand einer Westflucht erfüllte. Wozu hatte man die Stadt mit Stacheldraht und Mauer versichert, wenn die Bürgerinnen und Bürger noch immer einen Weg ins Freie fanden? Flucht oder Entführung, das war hier die Frage. Und die überforderte die Kompetenz der Deutschen Volkspolizei.

Und so klingelten Tage später zwei Herren in makelloser Zivilkleidung, mit elegant geschwungenem Binder um den Hals, an des Mannes Wohnungstür. Sagten, sie kämen vom Wohnungsamt. Er habe doch, ja?, einen Antrag zu laufen zwecks Zuweisung einer größeren Wohnung. Da könne ihm geholfen werden. Und schon standen sie im Wohnzimmer und schienen ein wenig, gleich dem Agnostiker, der eine Kirche betritt, an Selbstsicherheit zu verlieren. Die Irritation kam ihnen von den Kunstreproduktionen, die der alte Mann, damals ein vergleichsweise mittelloser junger Mann, an seine Wände gepinnt hatte. Picassos Schlafende, die ihn an Jäckie erinnerte, war relativ erkennbar, aber Di Chiricos beunruhigende Musen machten ihnen nachdenkliche Gesichter. Sie fanden rasch zu sich selbst, indem sie ihre Klappkarten mit jener trickreichen Bewegung öffneten und schlossen, mit der Carmen ihre Kastagnetten auf- und zuklappt. Und so konnte der Tanz beginnen.

Arronax (falls er schon damals auf diesem Pseudonym bestand) zeigte sich nicht überrascht. Er bot ihnen Plätze an, die sie mit Misstrauen einnahmen, da der Hausherr seine Ledersessel aus den dreißiger Jahren vom Sperrmüll geholt hatte und hier und da die Sprungfedern durch das Leder stachen. Seine Höflichkeit als Gastgeber war eine schwer durchschaubare Ironie, und Ironie ist zuweilen der beste Selbstschutz.

Doch es ging um seine verschwundene Frau. Da hatte er mit den unerwarteten Besuchern gemeinsame Interessen. Im Folgenden entwickelten sie geradezu ein Drehbuch für einen Politkrimi, wie nämlich diese Frau entführt wird, da man aus ihr irgendwelche Geheimnisse (welche, darauf kommen wir noch, wenn Sie uns helfen) herauspressen will. Doch die Tschekisten (großes Wort für diese Helfershelfer der Partei) sind schneller, sie holen sie zurück, und zum Film startet eine Pressekampagne über das Thema Frontstadt Westberlin, dieser billigsten Atombombe im Fleisch der Deutschen Demokratischen Republik. Bei dem Wort Fleisch hatte Arronax’ Fantasie die Wahl zwischen dem Fleisch des Generalsekretärs der Partei und dem rosigen Fleisch Jäckies; und die Wahl fiel ihm nicht schwer. Er verlor sich in einer Reihe von Bildern, die im Film vermutlich der Zensur zum Opfer gefallen wären.

Was für ein Mensch, fragten die Genossen, ist denn Ihre Frau?

Arronax sah sie an. Bis jetzt war ihm nicht aufgefallen, dass sich beide Herren wie Vater und Sohn glichen, sodass er in dem einen den Chef vermutete, in dem anderen den Anfänger und Assistenten. Durchaus machte der Jüngere den intelligenteren Eindruck, sodass er sich vor allem an den Älteren wandte.

Er glaubte, er könne ihnen mit allgemeinen Sentenzen kommen.

Nun, sagte er, da sie, wie Sie wissen, meine zweite Frau ist, ich meine Ehefrau (ein maliziöses Lächeln vereinte für eine Sekunde alle drei Männer), habe ich in sie alle Illusionen investiert, die ich in der ersten Ehe verloren hatte. (Er hörte sich belustigt zu und setzte noch eins drauf.) Doch wie allgemein bekannt ist, gleicht nach einer Weile die zweite Frau der ersten bis aufs Haar, vor allem, wenn beide Frauen vom gleichen Mann finanziell abhängig waren. (Mehr wollte er nicht sagen, am Ende würden sie glauben, er habe sie zur Westflucht überredet, um sie loszuwerden und Platz für eine dritte Frau zu schaffen.) Denn auf der Rückreise hatten sie sich verkracht, sodass er glauben konnte, sie sei absichtlich gegangen, so wie man nach einem Ehestreit sich entweder mit fliegenden Tellern oder Türenknallen verabschiedet. Die Polizei hatte er benachrichtigt, als er nach drei Tagen in bekannter Sehnsucht nach ihr keinen Schlaf fand. Fast hätte er, als der Zug am Bahnhof Friedrichstraße hielt, vergessen, ihren Koffer mitzunehmen, über dessen Inhalt er sich immer wieder lustig gemacht hatte. Denn sie hatte für ihren ersten Ausflug in die große, vom Westfernsehen und den Zeitschriften, die Arronax unter der Hand besorgte, verklärte Welt alles an Garderobe eingepackt, was sie besaß oder in letzter Stunde mit seiner Hilfe gekauft hatte. Anhand dieser Siebensachen hätte man sich ihre Verwandlung von der frechen Göre mit Ponyfransen, in Jeans und knapp sitzendem Pulli zur jungen Dame im Abendkleid, die Stola kühn um den schönen Hals geschwungen, vorstellen können. Doch bevorzugte sie auf der Reise die pfirsichgelben indischen Blusen und die weit geschnittenen Leinenblusen, wie sie die Fotografien eines Engländers populär gemacht hatten und die Arronax von seinen Reisen mitgebracht hatte, zusammen mit den langen schwarzen Kleidern, deren grober Stoff durch farbige Aufschläge an den Ärmeln und durch kleine Spiegel oder Metallplättchen verzaubert wurde …

Die Herren ergänzten ihre Notizen. In einer der Aktentaschen versteckt hatte ein Aufnahmegerät alles festgehalten, was gesprochen worden war. Und so genügte es, dass sie für ihre Berichte aufschrieben, was ihnen aufgefallen war und Jahre später wiedergefunden wurde: »Der A. machte einen vernachlässigten Eindruck, unrasiert und schlampig angezogen, an seinem Hemd fehlte ein Knopf.« Dann reichten sie ihm die Hand und meinten beiläufig: Das mit der Wohnung können wir regeln.

Ein letzter Blick auf Di Chiricos drohende Musen und die Tür fiel ins Schloss. Arronax wusch sich die Hände, öffnete das Fenster und goss sich einen doppelten Wodka der Marke Lunikoff ein.

Den Koffer mit ihrer Garderobe hatte er noch immer nicht geöffnet, als fürchtete er, ihre Blusen, Kleider, ihre Unterwäsche würden sie zurückbringen; doch schon jetzt verdrängte die Sehnsucht nach ihr die anfängliche Gleichgültigkeit.

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Noch einmal sprachen sie an jenem Abend über den Film.

Piet, der in einem Lande groß geworden war, darin die Praxis am Gängelband sakrosankter Theorie gehalten wurde, hatte an der Babelsberger Filmhochschule mit einer Arbeit Aufsehen erregt, in welcher er nachwies, wie die verschlissene Ideologie in jeder Gesellschaft eine Weile überlebt dank der Verklärung im Film. In Amerika sorgte Hollywood für den Fortbestand amerikanischer Tugenden. Nicht anders in der Sowjetunion, wo Stalins Verbrechen im Film unsichtbar wurden und der Stern der Revolution mit jeder neuen Kinovorstellung strahlend aufging.

Was war mit Eisenstein, fragte Archie und bekam keine Antwort.

Der alte Mann nickte zustimmend. In puncto Ästhetik, sagte er, sind wir an einem Wendepunkt angelangt. Unsere von der Aufklärung und der Romantik bezogene Moral, dazu eine mechanistisch praktizierte Psychologie, reichen nicht mehr aus, unsere Gegenwart darzustellen.

Arcimboldi, der gerade begonnen hatte, einen Roman im alten Stil zu schreiben, weigerte sich, seinem Freund zu folgen.

Dennoch, sagt der alte Mann zu Piet gewandt, da wäre ein brandneuer Filmstoff: ein Kunstraub in Los Angeles. Ein road movie, vielleicht ein Krieg unter Sammlern oder in den Bilderrahmen ist Kokain versteckt, das Ganze eine mexikanische Mafiageschichte, die einen B. Traven als Drehbuchautor brauchte.

Ein klassischer whodunnit-Film, nicht mein Fall, sagt Piet. Denn was steckt hinter so einem Raub?

Klingt nicht schlecht. Nun aber zur Sache, sagt Archie und zündet sich eine Zigarette an. Der alte Mann überlegt, ob er mithalten soll. Die Ärzte haben ihm das Rauchen nicht geradezu verboten. Mit Wein und Zigarren versorgt, mag der Weg zur Hölle weniger bedrohlich aussehen.

Piet und ich, fährt Archie fort, würden da einsteigen wollen. Wen würdest du mitnehmen?

Der alte Mann überlegt. Kathleen vielleicht, sagt er.

Zu den Bedingungen: Gleich werden hier zwei junge Männer auftauchen, die Gebrüder Frankfurter, Piet kennt sie vom Fernsehen.

Ein Interview?, fragt der alte Mann misstrauisch.

Nein, nein, sagt Archie. Sie bringen eine Art Vertrag mit allen Klauseln. Der Gewinner bekommt an die 30 000 Euro, zu allen kostenlosen Vergünstigungen der Reise, die auch der Verlierer nicht zurückzuzahlen braucht. Kostenlos auch das zur Verfügung gestellte Auto.

Es klingelte, und die Gebrüder Frankfurter standen im Zimmer. Sie standen etwas schief und unsicher mit Hilfe ihrer Krücken. Sie waren Zwillinge und über die Maßen hoch aufgeschossen und mager, sodass sie erst in einer vorstellbaren Verdopplung eine ganze Person ergeben würden. Ihre eulenklugen, mit randloser Brille versehenen Gesichter erfassten im Nu die optischen Gegebenheiten der Bibliothek, und es war klar, auf den Ruf ihres Handys würde ein Fernsehteam das Zimmer stürmen, womöglich umräumen, und die Brüder würden ihre Fragen stellen, nachdem sie ihre Glückwünsche ausgesprochen hatten im Namen eines Reiseunternehmens, das zu Werbezwecken Weltreisen verloste – ohne dass jemand sich mit dem Kauf eines Loses dafür bewerben musste.

Und genauso geschah es. Sehr zum Ärger Kathleens, die längst hätte schlafen gehen wollen.