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Christine Lavant

Aufzeichnungen
aus dem Irrenhaus

Neu herausgegeben und
mit einem Nachwort versehen
von Klaus Amann

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2016

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,
unter Verwendung der Fotografie »Wittenauer Nervenheilanstalt in Berlin-Reinickendorf«, © ullstein bild – Imagno/Austrian Archives

ISBN (Print) 978-3-8353-1967-7

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4043-5

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4044-2

Inhalt

Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus

Glossar

Nachwort

  Kontexte

  Entstehung

  Überlieferung

  Zur Edition

  Quellen und Literatur

Ich bin auf Abteilung Zwei. Das ist die Beobachtungsstation für die Leichteren und man kommt eigentlich von Rechts wegen nur hinein, wenn man Drei schon hinter sich hat. Ich habe Drei noch nicht hinter mir und das nehmen mir hier die meisten übel. Gestern hörte ich die Königin zu Renate sagen: »Mit Augengläser und Aktentasche ist die hier einmarschiert, der Teufel soll sie holen! Was hat sie auch da bei uns zu tun? Wahrscheinlich spionieren, was auch sonst?!« … Renate sagte bloß: »Ach fangen Sie schon wieder an.« Aber am Abend kam sie dann doch und sagte, dass sie die Haarklammer nun wieder selbst braucht. Schade! Nämlich nicht um die Haarklammer, aber um Renate, denn ich dachte, wir könnten so eine Art von Freundschaft schließen. Ich war ihr gleich am ersten Tag schon zugetan, weil sie so sanftmütige traurige Augen hat und ein armes verschwommenes Lächeln, das wohl ein wenig schmerzt, aber längst nicht so erschreckt wie das Lachen der anderen. Übrigens gewöhnt man sich unglaublich schnell an die eigentümlichen Gesichter und Reden. »Ach sehen Sie sich das lieber nicht an, das ist nichts für Sie!« sagte das Nusserl, als die große Magere – ich glaube sie heißt Baumerl – hinfiel. Um nicht roh zu erscheinen, musste ich so tun, als ob es mich tatsächlich angriffe, aber in Wahrheit hätte ich mir lieber alles ganz genau angesehen. So schoben sie mich in den Waschraum ab, wo ich dann auch pflichtschuldigst einen Weinkrampf bekam. Aber es war nicht wegen der Hingefallenen, obwohl man ihre Schreie hier schlimmer empfand, es war nur, weil man einfach nicht länger so auf dem Rand der Badewanne sitzen konnte ohne irgendetwas zu tun. Ich hätte ebenso gut singen können oder pfeifen oder mit den Anstaltspantoffeln gegen die feuchte Mauer schlagen, aber ich entschloss mich schließlich doch für das Weinen. Dass es dann solche Ausmaße annahm, war allerdings etwas peinlich, aber ich konnte nichts dagegen tun. Natürlich trösteten mich die Schwestern und wollten alles Mögliche wissen. Nun, das wird auch vorübergehen, in acht Tagen wird sich keine einzige mehr darum kümmern, ob ich weine oder mit dem Kopf gegen die Mauer schlage. Vielleicht wird es dann Renate sein, die zu mir kommt, um mich bloß verschwommen anzulächeln. Aber ich glaube sie fürchtet sich vor der Königin. Diese kann mich nämlich nicht ausstehen, ebenso wenig wie die Baumerl, und so bin ich eigentlich von den höchsten und maßgebenden Stellen beider Klassen von vorneherein abgelehnt. Ich weiß, ich könnte das mit einem Schlag ändern, ich brauchte zum Beispiel nur einmal bei der Essensverteilung meinem Ekel nachgeben und die Blechschale an die Mauer werfen, aber mir liegt noch zu viel daran, dass die Schwestern Sie und Fräulein zu mir sagen und dass die Ärzte ihr Visitlächeln ein wenig ins Menschliche abbiegen, wenn sie zu mir kommen. Solange man mich hier nur als vorübergehenden Gast betrachtet und ich diese Stellung auch vor mir selber aufrechterhalte, ist die letzte Grenze noch nicht überschritten.

Eben hat Berta getanzt. Seltsam, dass es keiner der Schwestern, auch dem Nusserl nicht, einfiel mich diesmal wegzuschicken. Scheinbar tanzt sie selten, denn der ganze Saal nahm daran teil, sogar Schwester Minna hörte für einige Augenblicke auf, an ihrem Babyjäckchen zu stricken und lachte mit ihren runden schwarzen Augen überaus gutmütig und fast wohlgefällig vor sich hin. Wie, wenn ich wirklich auf Berta zugegangen wäre, um sie so lange zu schütteln, bis sie aufgehört hätte? Wahrscheinlich würde sie mir die Augen ausgekratzt haben. Vielleicht war sie sogar glücklich dabei oder zumindest ein ganz williges Werkzeug. Wer aber war in ihr? Wer hieß sie den gestreiften Anstaltsrock über die nackten mageren Knie aufheben und die fahlen Haarsträhnen so in die Stirne schütteln, dass sich darunter ihre blassen Augen unendlich veränderten? Wer gab ihr den eigentümlichen Rhythmus ein, nach welchem sie auf den braunen Fliesen vor und zurück schritt? Und die hohe Stimme, die einer singenden Säge glich und aus dem zahnlosen Mund so fremd herausschrie, dass man jeden Moment erwartete, ein kleines weißes Tier darin zu entdecken. Aber es blieb verborgen, es sang nur hoch und verzückt für irgendjemanden, der vielleicht unsichtbar mitten unter uns war. Wenn es aber Dinge gibt, die unsichtbar unter uns sein können, dann gibt es wohl auch solche, die nach uns noch ausdauern und ich bin mit dem, was ich tat, schon vom Verstande her ins Unrecht gesetzt. Was nützt es ein Leben abzubrechen, wenn es noch irgendwelche Fortdauer gibt? Aber ach du mein Gott, vielleicht habe ich nun die Grenze schon überschritten und bin längst nicht mehr bloß Gast hier, sondern gehöre zu allen diesen, die mich noch fremd und voll Verdacht ansehen? … Was ist geschehen?

Nichts weiter, als dass eine Irre wirres Zeug vor sich hin sang: »A e i o u was werde ich morgen sein? Zuerst war ich Erde, dann Stein, dann ein Baum und eine Blume … Aber dann war ein Fenster offen, ein großes wunderbares Fenster. A e i o u es kam dann von allen Seiten zu mir und ich war mehr als ein wehender Wald … Aber sie schlugen es mir zu, das Fenster, mit ihren schweren schwarzen Flügeln schlugen sie es mir zu. A e i o u Erde, Stein und Baum und keiner begreift das Wort unter den stummen Flügeln …«

Sonst ist nichts geschehen. Alle lachen noch und Schwester Minna trägt hier lachend ein Kind. Warum hat gerade die Königin eingegriffen? Ich glaube nicht, dass sie es bloß aus Verbissenheit tat oder um ihre Macht zu beweisen. Irgendetwas in der alten Buckligen flackerte wie eine wissende Furcht als sie der Tanzenden mit den blauen Strümpfen, die sie gerade in Arbeit hatte, über den Nacken schlug: »Hör auf du verrückter Teufel!« sagte sie böse und kümmerte sich nicht im mindesten darum, dass ihr Schwester Minna mit der Zwangsjacke drohte. Ihre Furcht war eine andere, ihre Furcht war mit meiner vielleicht verwandt. Nein, ich bin hier sicher nicht mehr bloß zu Gast und wer weiß, wie lange die Schwestern noch Sie und Fräulein zu mir sagen werden.

Eben ging die Visite durch. Der Herr Primarius fragte, was ich schreibe, drang dann aber nicht weiter in mich, weil er wahrscheinlich dachte, ich wäre über seine Frage so erschrocken. Noch jetzt zittern mir die Knie, dass ich sie fest aneinanderpressen muss, um überhaupt sitzen zu können. Aber er war es nicht. Es war ein anderer, fremder und nur die weißen Haare rissen mich in den bestürzenden Irrtum hinein. Als mich der Herr Primarius ihm so quasi vorstellte und sagte: »Sehen Sie Kollege, das ist der erste Fall in meiner Praxis, der aus eigenem Antrieb zu uns gekommen ist. Natürlich gehört das Fräulein eigentlich nicht hierher, aber ein Sanatorium mit Mast und Liegekur kann man einer Landgemeinde nicht zumuten und so versuchen wir es eben hier mit ein bisschen Arsen.« … Da hat mein Aussehen seine Worte sicher Lüge gestraft, denn der fremde Arzt lächelte sehr zweifelhaft. Auch die Oberschwester sah mich eigentümlich an und glich mehr als je einem hüpfenden aufgeregten Vogel. Nur der Herr Primarius tat, als merke er nichts und nickte mir beruhigend zu. Aber ich bin überzeugt, dass er es sogar sehr gemerkt hat und wenn es mir nicht gelingt, ihn in dem Glauben zu lassen, ich wäre bloß über seine Frage so erschrocken, so werde ich mich die nächsten Tage sehr in Acht nehmen müssen. Wahrscheinlich lässt er mich morgen schon zu einer »kleinen Aussprache« in das Ärztezimmer rufen.

Eben hat sich die Königin darüber aufgehalten, dass hier eine ganz neue Mode aufkommt und Dritte-Klasse-Patienten einfach Dame spielen. Die Schwestern lachen mir zwar freundlich zu und das Nusserl sagte: »Machen Sie sich bloß nichts draus, der Herr Primarius hat gesagt, Sie dürfen tun was Sie freut. Der Drache dort wird sich schon wieder beruhigen.« Aber der Drache beruhigt sich nicht. Ihr Buckel wird immer größer wie bei gereizten Katzen und wenn eine von den Stopferinnen zu ihr muss, um sich die Schere zu erbitten, dann fährt sie immer so auf, als würde sie im nächsten Moment jemanden anfliegen. »Du Krell, wenn du nicht bald manierlich wirst, kommt die starke Rosel, lang schau ich nimmer zu!« sagte Schwester Minna mit ganz spitzen Augen. Es ist zum Verzweifeln! Zum Schluss bekommt sie wirklich noch meinetwegen die Zwangsjacke. Ich werde meine Furcht und den Abscheu doch überwinden müssen und die Bucklige um ein Paar Strümpfe bitten. Vielleicht verliert sie dann etwas von ihrer Abneigung gegen mich.

Nun habe ich die dritte vollkommen schlaflose Nacht hinter mir und ich bin so mit aller Kraft am Ende, dass ich den Kampf mit der Krell nicht mehr aufnehmen mag. Schade nur, dass Renates neuerwachte Zuneigung nun wieder eingehen wird. Sie hatte immer eine so erschütternde Art mir tröstlich zuzulächeln, wenn ich um die Schere zu der Buckligen musste. Trotzdem sie selbst Angst vor ihr hat, wollte sie immer für mich hingehen, aber damit hätte ich ein für alle Mal mein Gesicht vor allen verloren. Seltsam dass immer der ganze Saal an unserem Kampf teilnahm. Sogar die Zweite-Klasse-Patienten, welche eigentlich einen ganz abgeschlossenen Zirkel für sich bilden. Frau Baumerl hatte eine Art über ihre Augengläser spöttisch herauszuschielen, dass ich ihr manchmal vom Herzen wünschte, sie möge einen Anfall bekommen. Scheinbar ist nichts so ansteckend wie Feindseligkeiten. Manchmal komme ich mir schon vor, als ob ich aus lauter Hass zusammengesetzt wäre. Wenn die Krell mich zum Beispiel mit ihren Wutaugen ansah und dazu hämisch sagte: »Wird sich das Fräulein wohl nicht zu viel anstrengen?« dann begriff ich, dass die Schwestern oft mit einem Ausdruck von Wonne eine Zwangsjacke recht fest zusammenschnüren können. Vielleicht hätte ich noch einige Tage durchgehalten und die Königin schließlich gebogen, wenn ich in den Nächten schlafen könnte. Neben meinem Bett steht der Leibstuhl. Jede Viertelstunde mindestens tappt sich jemand am Gitter meines Bettes vorwärts, glosende Augen stieren mich an, unverständliche Worte werden über mir gemurmelt und manchmal ist sogar eine Entschuldigung darunter. Ich beiße die Zähne zusammen und lege den zweiten Polster über mein Gesicht, aber wenn die Nachtschwester kommt, muss ich ihn wieder vorschriftsmäßig unter den Kopf legen. Sie kann mich nicht leiden. In der ersten Nacht war sie ernsthaft um mich bemüht und es war ihr anzusehen, dass ich ihr leidtat. Aber sie wollte so vieles wissen. Ob ich eine unglückliche Liebe hätte? … »Muss es denn immer das sein?« fragte ich übertrieben spöttisch dagegen und das hätte ich nicht tun sollen. »Warum haben Sie sich dann erschießen wollen?« frug sie schon leicht gekränkt und als ich lachend sagte: »Aber liebe Schwester ich habe ja nur Pulver genommen«, rauschte sie vollends beleidigt hinaus. Es tut mir leid. Sie hat ein schönes klares Gesicht und wollte mir anfangs sicher wohl. Aber diese verfluchte Fragerei! Wenn ich wenigstens wüsste, ob der Herr Primarius dahintersteckt! Eigentlich sieht ihm das nicht ähnlich, er könnte mich ja auch geradezu fragen, dass er es nicht tut, ist allerdings verdächtig. Wahrscheinlich denkt er, so von Frau zu Frau macht sich das leichter. Nun, wenn er wüsste, wer es ist, würde er sicher diskreter vorgehen. Nicht denken, nur nicht daran denken!! Lieber an die Majorin, lieber an Hansi und an alle, alle, die hier sind und leiden, leiden. Nein ich werde dem Hass nicht verfallen, ich werde es noch so weit bringen, dass ich die Krell liebe und die Baumerl und die Nachtschwester und das Gesicht von Minna, wenn sie funkelnd vor böser Lust eine Zwangsjacke zusammenschnürt. Was wird aus diesem Kind werden, das sie mit solchem Gesicht austrägt? Es soll verboten sein, dass Frauen in »gesegneten Umständen« Dienst im Irrenhaus tun. Was soll aus einem Geschöpf werden, das fortwährend diesen Hass- und Elendsstrahlungen ausgesetzt ist? Wenn ich bloß an die Majorin denke … Stunde für Stunde und wie eine Uhr schießt sie Tag und Nacht in ihrem Bett hoch. »Verflucht sei Österreich! Verflucht sei der Zar von Russland! Dreimal verflucht und vermaledeit sei die ganze Welt. Meinen Mann haben sie umgebracht, meinen herrlichen stolzen Mann. Verflucht! Verflucht! Verflucht!! Der Teufel hole alles was noch lebt!« Ihre Augen funkeln wie Kohlen, ihre weißen wirren Haare stehen wie Drähte zu Berg und Hände hat sie wie verlängerte Vogelkrallen. So geht das Stunde für Stunde und selbst das Schnarchen der Sängerin mit dem Vollbart, das sonst den ganzen Saal ausfüllt, vergeht wie ein Hauch vor diesem Ausbruch. Manchmal warte ich schon wie auf eine Erlösung darauf, denn dann kann man für die Dauer von Minuten wenigstens das Wimmern von Hansi nicht hören. Hansi ist erst zwanzig Jahre alt, ein volles Jahr liegt sie schon hier und wird alle Tage dreimal mit einem Schlauch durch die Nase ernährt, weil sie sich scheinbar vorgenommen hat zu verhungern. Sie ist nur mehr ein Skelett, muss aber einmal vollendet schön gewesen sein. Ihr blauschwarzes Haar fällt ihr meist vom Bett bis auf den Boden hinunter. Wenn nachmittags ihre Mutter kommt, hebt diese das Haar wie ein Heiligtum auf. Selbst die Majorin bricht dann manchmal mitten in ihren Flüchen ab noch ehe ihr Sohn kommt. Die Schwestern werden hilflos wie Schafe vor dieser Mutter und selbst Friedel, die ewig singende, verzieht sich jedes Mal. Jeden zweiten Tag kommt Hansis Mann. Er ist ein höherer Offizier, wie auch der Sohn von der Majorin, und wenn sie sich zufällig treffen, erröten beide vor Kummer oder Scham. Es wachsen hier ewig Berge der Qual, aber die Gipfel bilden jene, die täglich liebend hierherkommen und verzweifelt wieder gehen. Diesen kann man nicht ins Gesicht sehen, man ertrüge es einfach nicht. Es ist überhaupt schamlos dabei zu sein und doch lege ich mich mittags nur deshalb oft auf ein paar Stunden hin, um zur Besuchszeit im Schlafsaal zu sein. Und da kenne ich nun eigentlich schon alles auswendig. Den schmalen gebogenen Rücken der alten Dame, wenn sie die Haare ihrer Tochter vom Boden hebt, die breiten hilflosen Schultern des Mannes, mit denen er immer so viel als möglich von den Rosen oder Nelken verdecken will, welche er stets auf die Bettdecke und ganz nahe an das Gesicht seiner Frau legt. Ach, wie sie immer wieder etwas von diesem Gesicht erwarten können! Das leiseste Zeichen des Erkennens, ein Lächeln, den Abglanz eines früheren Lächelns vielleicht nur, oder einen veränderten Ton in ihrem Wimmern. Aber es geschieht und verändert sich nichts. Leise und hoch schneidet der ewig gleiche Ton in fast wie berechnet wirkenden Abständen durch den Saal, man denkt immer wieder an eine junge Katze in Dornen dabei. Wie oft mag das Herz dieser Mutter schon durchbohrt worden sein?! Nein, ihr Gesicht kenne ich nicht und will es nie kennen. Ihr Rücken und die blasse Biegung ihrer Hand, welche für Sekunden oft zitternd über der Stirne der Wimmernden hängt, genügen für jede Aussage. Manchmal, ehe sie den Saal verlässt, wendet sie sich für einen Augenblick dem Bett der Majorin zu. Zwei Mütter, zwei alte Damen aus der Gesellschaft, zwei unendlich Leidende. Gläsern und dünn wird die Luft um die beiden und oft tritt dann gerade der Sohn ein. Er grüßt Hansis Mutter fast wie eine Heilige, sonst grüßt oder sieht er niemanden. Mit ein paar großen Schritten ist er am Bett seiner Mutter und küsst ihr die Hand. Diese Hand ist nun aber keine Vogelkralle mehr, sie ist das Vornehmste und Zurückhaltendste, das man sich denken kann. Immer wirft jemand Schleier um diese beiden und man kann eigentlich nur mit geschlossenen Augen ahnen, was wahrhaft vor sich geht. Denn dieses ist nicht das Wahrhafte, dass der Sohn stets eine Zeitung entfaltet und leise daraus vorliest, auch nicht die paar Sätze die sie auf Französisch zueinander sagen, nicht das Klirren des Gitterbettes, wenn eine Bewegung etwas stärker oder jäher ausfällt. Nein, dieses alles geschieht nur außen herum etwa wie ein undurchdringlicher Glassturz über etwas unendlich Kostbarem. Innen haben sie Verzückung aneinander. Ich weiß es, ich spüre es, wenn ich mit geschlossenen Augen in meinem Bett liege. Hier gehen noch Veränderungen vor, die keinem Wunder nachstehen. Das ist nun keine Irre, keine Tobende und Fluchende mehr, nicht der leiseste Hauch von Hass lebt in diesen Stunden in der alten Aristokratin. Wie Christus über das Wasser, geht diese Mutter in der Gegenwart ihres Sohnes über das Meer ihres Irrsinns. Und er glaubt ihr. Er fürchtet keine Sekunde, dass sie plötzlich wieder einbrechen könnte. Und sie bricht nicht ein. Nie bricht sie früher ein, als bis sich die letzte Türe des Irrenhauses hinter dem Sohn geschlossen hat, dann aber wird es furchtbar. Es ist, als ob sich eine ganze Hölle rächen wollte, dass sie für eine Stunde aus ihrem Eigentum verwiesen worden war. Aber das kann man mit Worten nimmer sagen, das ist fast noch schlimmer als der Anblick der Gekreuzigten. Ob ich nach den Wochen hier noch einmal die Lust oder den Mut haben werde zu lachen? Ach, vielleicht sogar sehr? Vielleicht soll man überhaupt an solchen Orten erst das Lachen erlernen, um es ganz unverlierbar in sich zu haben. Eben ging die Krell vorüber und sagte leise, sie werde mich zu Staub und Asche zerreißen. Ich lachte sie an. Aber ich habe Furcht. Vielleicht versuche ich doch einmal an den Lehrerinnentisch vorzudringen? Es geht dort immer so manierlich zu und man fragt sich oft unwillkürlich, warum denn diese eigentlich hier sind. Aber ich werde es nicht leicht haben, als Dritte-Klasse-Patientin und Unstudierte in diesen Kreis der oberen Zehntausend einzudringen. Wenn ich bloß an ihnen vorübergehe, sehen sie mich schon alle so abweisend an, bloß die dicke Goetheanerin, welche in demselben Saal schläft wie ich, lässt sich manchmal zu einem kleinen Lächeln herbei. Ob ich sie um den Wilhelm Meister bitten soll? Aber dann fragt sie mich zum Schluss darüber aus und ich habe nicht die Absicht ihn wirklich zu lesen.