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Göttinger Sudelblätter

Herausgegeben von

Heinz Ludwig Arnold

Toleranz

Drei Lesarten zu
Lessings Märchen vom Ring
im Jahre 2003

 

von

 

Angelika Overath, Navid Kermani,

Robert Schindel

 

 

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Angelika Overath, Navid Kermani und Robert Schindel
haben ihre Texte am 9. Mai 2003 in der
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
im Rahmen des Literarischen Collegiums
der STIFTUNGNIEDERSACHSEN vorgetragen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2003
4. Auflage 2015
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond
Umschlagvignette : Thomas Müller
Druck: Hubert & Co, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-89244-688-0
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2900-3
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2901-0

Inhalt

Gotthold Ephraim Lessing
Nathan der Weise, Dramatisches Gedicht
Dritter Aufzug, Vierter bis Siebender Auftritt

Angelika Overath

Navid Kermani

Robert Schindel

Der Vierte bis Siebende Auftritt des Dritten Aufzugs von

»Nathan der Weise« sind abgedruckt nach der Erstausgabe

von 1779 nach Gotthold Ephraim Lessing:

»Werke«, herausgegeben von Herbert G. Göpfert,

Zweiter Band, München 1971

VIERTER AUFTRITT

 

(Szene: ein Audienzsaal in dem Palaste des Saladin)

 

Saladin und Sittah

 

SALADIN (im Hereintreten, gegen die Türe).

Hier bringt den Juden her, so bald er kömmt.

Er scheint sich eben nicht zu übereilen.

SITTAH Er war auch wohl nicht bei der Hand; nicht gleich

Zu finden.

SALADIN Schwester! Schwester!

SITTAH        Tust du doch

Als stünde dir ein Treffen vor.

SALADIN        Und das

Mit Waffen, die ich nicht gelernt zu führen.

Ich soll mich stellen; soll besorgen lassen;

Soll Fallen legen; soll auf Glatteis führen.

Wenn hätt’ ich das gekonnt? Wo hätt’ ich das

Gelernt? – Und soll das alles, ah, wozu?

Wozu? – Um Geld zu fischen; Geld! – Um Geld,

Geld einem Juden abzubangen; Geld!

Zu solchen kleinen Listen wär’ ich endlich

Gebracht, der Kleinigkeiten kleinste mir

Zu schaffen?

SITTAH   Jede Kleinigkeit, zu sehr

Verschmäht, die rächt sich, Bruder.

SALADIN        Leider wahr. –

Und wenn nun dieser Jude gar der gute,

Vernünftige Mann ist, wie der Derwisch dir

Ihn ehedem beschrieben?

SITTAH        O nun dann!

Was hat es dann für Not! Die Schlinge liegt

Ja nur dem geizigen, besorglichen,

Furchtsamen Juden: nicht dem guten, nicht

Dem weisen Manne. Dieser ist ja so

Schon unser, ohne Schlinge. Das Vergnügen

Zu hören, wie ein solcher Mann sich ausredt;

Mit welcher dreisten Stärk’ entweder, er

Die Stricke kurz zerreißet; oder auch

Mit welcher schlauen Vorsicht er die Netze

Vorbei sich windet: dies Vergnügen hast

Du obendrein.

SALADIN    Nun, das ist wahr. Gewiß;

Ich freue mich darauf.

SITTAH        So kann dich ja

Auch weiter nichts verlegen machen. Denn

Ists einer aus der Menge bloß; ists bloß

Ein Jude, wie ein Jude: gegen den

Wirst du dich doch nicht schämen, so zu scheinen

Wie er die Menschen all sich denkt? Vielmehr;

Wer sich ihm besser zeigt, der zeigt sich ihm

Als Geck, als Narr.

SALADIN        So muß ich ja wohl gar

Schlecht handeln, daß von mir der Schlechte nicht

Schlecht denke?

SITTAH        Traun! wenn du schlecht handeln nennst,

Ein jedes Ding nach seiner Art zu brauchen.

SALADIN Was hätt’ ein Weiberkopf erdacht, das er

Nicht zu beschönen wüßte!

SITTAH        Zu beschönen!

SALADIN Das feine, spitze Ding, besorg ich nur,

In meiner plumpen Hand zerbricht! – So was

Will ausgeführt sein, wies erfunden ist:

Mit aller Pfiffigkeit, Gewandtheit. – Doch,

Mags doch nur, mags! Ich tanze, wie ich kann;

Und könnt’ es freilich, lieber – schlechter noch

Als besser.

SITTAH   Trau dir auch nur nicht zu wenig!

Ich stehe dir für dich! Wenn du nur willst. –

Daß uns die Männer deines gleichen doch

So gern bereden möchten, nur ihr Schwert,

Ihr Schwert nur habe sie so weit gebracht.

Der Löwe schämt sich freilich, wenn er mit

Dem Fuchse jagt: – des Fuchses, nicht der List.

SALADIN Und daß die Weiber doch so gern den Mann

Zu sich herunter hätten! – Geh nur, geh! –

Ich glaube meine Lektion zu können.

SITTAH Was? ich soll gehn?

SALADIN        Du wolltest doch nicht bleiben?

SITTAH Wenn auch nicht bleiben … im Gesicht euch bleiben –

Doch hier im Nebenzimmer –

SALADIN        Da zu horchen?

Auch das nicht, Schwester; wenn ich soll bestehn. –

Fort, fort! der Vorhang rauscht; er kömmt! – doch daß

Du ja nicht da verweilst! Ich sehe nach.

(Indem sie sich durch die eine Türe entfernt,

tritt Nathan zu der andern herein;

und Saladin hat sich gesetzt)

 

 

FÜNFTER AUFTRITT

 

Saladin und Nathan

 

SALADIN Tritt näher, Jude! – Näher! – Nur ganz her! –

Nur ohne Furcht!

NATHAN        Die bleibe deinem Feinde!

SALADIN Du nennst dich Nathan?

NATHAN        Ja.

SALADIN         Den weisen Nathan?

NATHAN Nein.

SALADIN  Wohl! nennst du dich nicht; nennt dich das Volk.

NATHAN Kann sein; das Volk!

SALADIN    Du glaubst doch nicht, daß ich

Verächtlich von des Volkes Stimme denke? –

Ich habe längst gewünscht, den Mann zu kennen,

Den es den Weisen nennt.

NATHAN    Und wenn es ihn

Zum Spott so nennte? Wenn dem Volke weise

Nichts weiter wär’ als klug? und klug nur der,

Der sich auf seinen Vorteil gut versteht?

SALADIN Auf seinen wahren Vorteil, meinst du doch?

NATHAN Dann freilich wär’ der Eigennützigste

Der Klügste. Dann wär’ freilich klug und weise

Nur eins.

SALADIN  Ich höre dich erweisen, was

Du widersprechen willst. – Des Menschen wahre

Vorteile, die das Volk nicht kennt, kennst du.

Hast du zu kennen wenigstens gesucht;

Hast drüber nachgedacht: das auch allein

Macht schon den Weisen.

NATHAN      Der sich jeder dünkt

Zu sein.

SALADIN Nun der Bescheidenheit genug!

Denn sie nur immerdar zu hören, wo

Man trockene Vernunft erwartet, ekelt. (Er springt auf)

Laß uns zur Sache kommen! Aber, aber

Aufrichtig, Jud’, aufrichtig!

NATHAN        Sultan, ich

Will sicherlich dich so bedienen, daß

Ich deiner fernern Kundschaft würdig bleibe.

SALADIN Bedienen? wie?

NATHAN        Du sollst das Beste haben

Von allem; sollst es um den billigsten

Preis haben.

SALADIN   Wovon sprichst du? doch wohl nicht

Von deinen Waren? – Schachern wird mit dir

Schon meine Schwester. (Das der Horcherin!) –

Ich habe mit dem Kaufmann nichts zu tun.

NATHAN So wirst du ohne Zweifel wissen wollen,

Was ich auf meinem Wege von dem Feinde,

Der allerdings sich wieder reget, etwa

Bemerkt, getroffen? – Wenn ich unverhohlen …

SALADIN Auch darauf bin ich eben nicht mit dir

Gesteuert. Davon weiß ich schon, so viel

Ich nötig habe. – Kurz; –

NATHAN      Gebiete, Sultan.