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Gangolf Hübinger

Engagierte Beobachter
der Moderne

Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf

 

 

 

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Inhalt

Der »Engagierte Beobachter« und die Zeitdiagnostik. Zur Einführung

Aufbrüche.
Wissenschaftliche Selbstbeobachtung um 1900

1. Sozialwissenschaftliche Avantgarden. Das »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« (1904 – 1933)

2. Sozialwissenschaft und Sozialreform im Welthorizont. Britische Fabier und amerikanische Progressive

3. Geschichtsdenken, kulturelle Evolution und sozialer Darwinismus

4. Erfahrung und Erforschung der »Säkularisierung«

Spannungen.
Max Weber und Ernst Troeltsch

5. Immer auf Kollisionskurs. Max Webers Gegenwartsdiagnostik

6. Max Weber und die »universalgeschichtlichen Probleme« der Moderne

7. Ernst Troeltsch und die politische Kulturgeschichte Europas

8. »Die ganze Welt wird anders«. Ernst Troeltsch als »Spectator« von Revolution, Bürgerkrieg und demokratischer Neuordnung (1918-1922)

Perspektiven.
Zeitdiagnostik um 2000

9. Fritz Stern zwischen Europa und Amerika

10. Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas. Zwei Varianten der europäischen Aufklärung

11. Über die Aufgaben des Historikers

 

Nachweise

 

Register

Der »Engagierte Beobachter« und die Zeitdiagnostik

Zur Einführung

»Engagierte Beobachter« sind Experten der Zeitdiagnostik. Der Berliner Religionsphilosoph und Kulturhistoriker Ernst Troeltsch wählte für seine regelmäßigen Kolumnen zur politischen und sozialen Neuordnung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg mit Bedacht das Pseudonym »Spectator«. Als »einen illusionslosen Beobachter der Dinge« bezeichnete er sich, als er im aufgewühlten Berlin der politischen Attentate im Oktober 1921 die Ermordung des katholischen Zentrumsführers und ehemaligen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger kommentierte. »Die Verfassungskrise« war der Artikel überschrieben, in dem Troeltsch die polarisierte Öffentlichkeit zugleich aufklärte, warum für ihn illusionslose Beobachtung alles andere bedeute als Standpunktlosigkeit in den Ideenkämpfen der frühen Weimarer Republik. Das Gegenteil sei der Fall. Wer die Befestigung der Demokratie, den Ausgleich mit den Siegerstaaten, die soziale »Hebung der Massen« und den »Kampf gegen die Teuerung« wollte, wer »an einem dieser Punkte wesentlich interessiert war, der wurde an diese Seite gedrängt und für das Ganze mitengagiert«. [1] Troeltsch war in den Zeiten des Bürgerkriegs und der Dauerkrisen der Republik höchst interessiert und engagiert. Gerade deshalb schien ihm die distanzierte Beobachtung der angemessene Ort eines politischen Publizisten zu sein, der Philosoph von Beruf ist und in welthistorischen Dimensionen denkt.

Wie Troeltsch wissen die »engagierten Beobachter« des 20. Jahrhunderts darum, dass die Einsicht in historische Entwicklungslinien immer einen Standpunkt in der Gegenwart voraussetzt, dass sie aber ihre politischen Werte und Urteile nicht unmittelbar aus dem Verlauf der Geschichte ableiten können. Engagierte Beobachter der modernen Zeiten und ihrer Krisen leben und schreiben im Bewusstsein dieser nicht lösbaren Spannung. Wie sie damit umgehen, darum geht es in diesem Buch an ausgewählten Beispielen.

Geschichte und Politik, was bindet diese beiden Welten zusammen, was hält sie auseinander? Und was tun historische Denker, wenn sie Gegenwartsdiagnostik betreiben? In der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts hat die Figur des »engagierten Beobachters«, des »spectateur engagé« oder des »committed observer« deshalb ihren besonderen Ort, weil sie sich diesem Problem in besonderer Intensität gestellt hat.

Der französische Philosoph Raymond Aron ist der Schöpfer des Sprachbildes vom »spectateur engagé«. In seinen »Mémoires – 50 ans de réflexion politique« von 1983, übersetzt unter dem treffenden Titel »Erkenntnis und Verantwortung«, [2] beschreibt Aron seine Erfahrungen als Lektor in Deutschland zwischen 1931 und 1933, seine intensive Auseinandersetzung mit der an Kant geschulten Geschichtsphilosophie und mit dem Denken Max Webers. In dieser Zeit beobachtete er die Zerstörung der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Machtübernahme. In Berlin wurde er unmittelbar Zeuge der Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933. [3] Diese Erfahrungen trieben ihn an, quer zum Mainstream der französischen Intellektuellen über das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart nachzudenken und als Gegenpol zu seinem Studienfreund und »petit camérade« Jean-Paul Sartre den Habitus des »engagierten Beobachters« zu entwickeln: »Weil ich ein engagierter Beobachter sein wollte, war ich es mir schuldig, die Beziehungen zu klären zwischen dem Historiker und dem handelnden Menschen, zwischen der Kenntnis der sich entwickelnden Geschichte und den Entscheidungen, die der historische Mensch zu treffen gezwungen ist.« [4]

Im Kern ist hier der »engagierte Beobachter« definiert durch eben jene Spannung zwischen wissenschaftlicher Beobachtung der historisch-sozialen Welt und politischem Handeln in dieser Welt, wie sie bei Troeltsch bereits zum Ausdruck kam. Sie beruht auf einer europäischen Grunderfahrung an der großen Kulturschwelle um 1900, der Übergangsphase in die »Moderne«, in der auch Arons geistiger Mentor Max Weber wirkte. Das Signum der »Moderne« ist nicht die Beschleunigung aller Lebensrhythmen als solche, als die sie gern charakterisiert wird. Es ist die »Vielfalt«, die Pluralität und die Gegensätzlichkeit der Lebensentwürfe und Lebensordnungen. In den demokratisierten Massengesellschaften führt das zwangsläufig zu Dauerspannungen zwischen konträren Ordnungsideen und zu dauerhaften Ideen- und Geltungskämpfen, vorneweg in den Metropolen von Paris, London, Wien oder Berlin.

Voller Erstaunen hielt ein sensibler Europareisender wie der amerikanische Schriftsteller Henry Adams angesichts der technischen und kulturellen Leistungsschauen der rivalisierenden Industrienationen auf der Pariser Weltausstellung von 1900 fest: »Das Kind, das 1900 geboren wurde, würde also in eine neue Welt hineingeboren werden, die keine Einheit, sondern eine Vielfalt darstellen würde.« Die neue Welt der Moderne biete nicht mehr die Sicherheit eines »Universums«, in dem die Geschichte Lehren für die Gegenwart bereitstellt. Das »Kind« der Moderne wird sich in den unübersichtlichen Verhältnissen eines »neuen Multiversums« zurechtfinden müssen. [5]

Der »engagierte Beobachter« ist auf konsequente Weise ein solches »Kind« der modernen Unübersichtlichkeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und niemand hat sich an diesem Typus als Essayist und Romancier so wortmächtig abgearbeitet wie der studierte Ingenieur und Philosoph Robert Musil.

Wenn die »Geschichte« für den »modernen Zivilisationsmenschen« eine Erfahrung bereithalte, so schrieb Musil nach dem Ersten Weltkrieg in einem Essay über »Das hilflose Europa«, dann die, dass die Gegenwart zwangsläufig eine Zeit »ohne große ordnende Gesichtspunkte« [6] sei: »Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein«. [7] Das schürt Dauerkonflikte, weltplanerische Allmachtsphantasien prallen auf fundamentale Zivilisationszweifel. Distanz zum historischen »Gefilz von Kräften« scheint geboten, eine Distanz, welche die Tugenden eines »Mannes ohne Eigenschaften« verlangt.

Ulrich, Musils »Mann ohne Eigenschaften«, ist alles andere als ein Weltflüchtling. Im faszinierenden Kapitel 85, »General Stumms Bemühung, Ordnung in den Zivilstand zu bringen«, [8] geht es um nicht weniger als um die Verfassung der Moderne. Seit der Jahrhundertwende »bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reitkamel«, in den pluralisierten Zeit- und Lebenswelten der Moderne prallen Hunderte »unbeantworteter Fragen von größter Wichtigkeit« [9] permanent aufeinander. Ziellose Beschleunigung und eine »allgemeine Vieldeutigkeit« in allen Lebensbereichen erzwingen die Einsicht: »Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge.« General Stumm von Bordwehr, ein Alter ego des Protagonisten Ulrich, hat es deshalb unternommen, mit militärischer Präzision in einem »Grundbuchblatt der modernen Kultur« alle miteinander rivalisierenden Ideen zu verkarten. Er verzeichnet »die heute im Gefecht stehenden Gedankengruppen« und hält im Ergebnis die moderne Kultur für einen »Sauhaufen«, weil »wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung« haben. Musils »geschulte Beobachter« [10] der Ideen-Topographie ihrer Zeit stoßen auf das Grundgesetz der Moderne: »Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee, so daß Individualismus und Kollektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube gleich gut darin zu Hause sind.« [11]

Musils »Mann ohne Eigenschaften« erschien in seinen beiden ersten Bänden zwischen 1930 und 1933 in Berlin. Es sind die Jahre des erneuten Bürgerkriegs und der nationalsozialistischen Machtergreifung, [12] die Raymond Aron unmittelbar vor Augen hatte, als er seine Figur des »spectateur engagé« formte. Zwei Medienforscher aus der linken Pariser Intellektuellenszene, Jean-Louis Missika und Dominique Wolton, hat der von Aron gelebte Typus so interessiert, dass sie ihm ein Interview-Buch gewidmet haben: »Es kommt selten vor, daß ein Intellektueller über einen so langen Zeitraum im Hinblick auf so viele Ereignisse und Probleme in so unterschiedlichen Funktionen – als Journalist, Historiker, Philosoph und Soziologe – die sich vollziehende Geschichte – denn die interessiert ihn – zu analysieren versucht, ohne auf eine gewisse kritische Distanz zu verzichten. Diese drei Haltungen, die des Analytikers, des Interpreten und des Handelnden, mit ihren Zwängen, ihren Widersprüchen, ihren Stärken, reizten und faszinierten uns.« [13]

Die Historiker hat es bislang weniger gereizt, sich mit Entstehung und Ausprägungen eines solchen Habitus mit seinen Stärken und Widersprüchen zu beschäftigen. In die Geschichte der Intellektuellen ist die Haltung des »engagierten Beobachters« als eine schwache Haltung eingegangen. So gewährt die maßgebliche Studie von Michel Winock über das 20. Jahrhundert als das »Jahrhundert der Intellektuellen« dem Historiker, Zeitdiagnostiker und Widerstandskämpfer Marc Bloch nur eine einzige nebensächliche Bemerkung. [14] Dabei ist Bloch eine Jahrhundertgestalt. Das Geschichtsdenken revolutionierte er mit Hilfe einer Zeitschrift, die er zusammen mit Lucien Febvre »Annales d’histoire économique et sociale« nannte und in der er »Historiker, Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen, Beobachter des Zeitgeschehens und schließlich Männer der Praxis« [15] zusammenführen wollte. Als vergleichender Analytiker der europäischen Geschichte widersprach er einer Instrumentalisierung im Dienst nationalistischer Politik und warb 1928 auf dem Internationalen Historikertag von Oslo für eine gemeinsame europäische Fachsprache »zur Versöhnung der Völker durch die Geschichtswissenschaft«. [16] Als kritischer Interpret des Zeitgeschehens wie als glühender Republikaner klagte er 1940 Frankreichs politische und militärische Elite an, durch Kleinbürgergeist und Inkompetenz die »seltsame Niederlage« gegen die Nationalsozialisten selbst verschuldet zu haben. [17] Im Juni 1944 wurde Marc Bloch als Jude und aktives Mitglied der Résistance von den Nationalsozialisten ermordet. Markanter können die drei Haltungen des Analytikers, des Interpreten und des Handelnden kaum zusammenfinden.

Wo steht nun wirklich im »Jahrhundert der Intellektuellen« der »engagierte Beobachter« mit seiner zeitdiagnostischen Kompetenz? Eine gute idealtypische Unterscheidung von insgesamt vier konkurrierenden Verhaltensmustern stammt von der Zeithistorikerin Ingrid Gilcher-Holtey. [18] Klassisch ist der »allgemeine Intellektuelle«, der von Voltaire über Zola bis zu Sartre im Namen universaler Werte von Wahrheit und Gerechtigkeit wortführend Partei ergreift. Radikalisiert wird dieser Typus durch den »aktivistischen Intellektuellen«, der sich wie Régis Debray als revolutionäres Subjekt an der Seite der weltweit Entrechteten begreift. Auf wissenschaftlicher Expertise beruht der dritte Typus, der als »spezifischer Intellektueller« (Michel Foucault) oder als »kollektiver Intellektueller« (Pierre Bourdieu) in den globalen Entfremdungsprozessen »Gegenmacht zu den nationalen, supranationalen, ökonomischen, politischen und massenmedialen Mächten der Gegenwart« ausübt. [19] Quer dazu steht als vierter Typus der »öffentliche Intellektuelle«, der »public moralist« in der angelsächsischen Tradition, der wie Ralf Dahrendorf darauf abzielt, »an den vorherrschenden Diskursen der Zeit teilzunehmen, ja deren Themen zu bestimmen und deren Richtung zu prägen«. [20]

Um das Profil des »engagierten Beobachters« zu schärfen, kommt dem Soziologen, Politiker und Publizisten Dahrendorf, dem Wanderer zwischen deutscher und britischer Kultur, gleich doppelte Bedeutung zu. Er repräsentierte, ja zelebrierte den »public moralist« wie kein Zweiter. Und er sah im »engagierten Beobachter«, als den er den »öffentlichen Intellektuellen« ausmachte, keine schwache, sondern ganz im Gegenteil die stärkste unter den konkurrierenden Figuren. In weit ausholenden ideengeschichtlichen Reflexionen griff er dazu auf Erasmus von Rotterdam zurück und nahm als hervorstechende »Erasmier« seiner eigenen Zeit neben Raymond Aron besonders Isaiah Berlin und Karl Popper in den Blick.

Dahrendorfs einschlägiges Buch über die »Versuchungen der Unfreiheit« enthält ein Kapitel über die »Besonnenheit des engagierten Beobachtens«. [21] Raymond Aron wird als Freund und Vorbild vorgestellt und, wichtiger, dessen Selbstbild des »spectateur engagé« soziologisch als die dem modernen »Leben in Widersprüchen« angemessene Haltung gewürdigt. Ob und wie sich »Akteur« und »Beobachter« in einer Person vereinigen lassen, sei in der abendländischen Philosophie immer schon klug behandelt worden. Engagiertes Beobachten der »uns umgebenden Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind« (Max Weber), dürfe keinesfalls mit dem Ideal einer vita contemplativa verwechselt werden: »Das engagierte Beobachten beruht demgegenüber auf einer inneren Beteiligung, die der der Handelnden an Intensität nicht nachsteht.« Unerlässlich sei »eine gewisse Besessenheit von und mit der Thematik der Zeit«. [22] Die besondere Herausforderung liege darin, die Spannung zwischen den Haltungen des Analytikers, des Interpreten und des Handelnden, die Antinomien zwischen Beobachten und Intervenieren, intellektuell auszuhalten. Engagierte Beobachter sitzen »regelmäßig zwischen den Stühlen«. [23] Sein philosophischer Gewährsmann Erasmus von Rotterdam habe das praktiziert: »In einer manichäischen Welt brachte er es fertig, nicht Partei zu nehmen, sondern den Durchblick zu behalten.« [24]

Dreh- und Angelpunkt in Dahrendorfs Argumentation ist das historische Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit. Dazu verlegt er sich ganz auf die 1930er Jahre, als reihenweise die europäischen Kultureliten wie Carl Schmitt in Deutschland oder Beatrice Webb in England ihren Wirklichkeitssinn dem »Glauben an Hitler oder Stalin« [25] opferten und im faschistischen Führerprinzip oder in den kommunistischen Gleichheitsutopien die Erlösung von den sozialen Übeln ihrer Zeit suchten. Nur in den Zeiten revolutionärer Umbrüche wie 1917 oder 1933 zeige sich das Ethos des »engagierten Beobachters«, der, »in besonderem Maße der Wahrheit verpflichtet«, »auf diese Weise im Dienste der Freiheit« steht. [26] Dagegen seien »normale Zeiten Zeiten einer gewissen Verlegenheit«. [27]

Was den persönlichen Mut öffentlicher Intellektueller in den Umbruchzeiten zu diktatorischer Herrschaft angeht, ist das zweifellos richtig. Was die kulturgeschichtliche Verortung des »engagierten Beobachters« in der Moderne betrifft, ist Dahrendorfs Fixierung auf die totalitärer Herausforderungen jedoch zu eng und zu einseitig. Zählt der »Aufbruch in die Moderne«, den in den 1980er Jahren ein viel beachtetes »Funkkolleg« der deutschen Rundfunkanstalten auf die Zeit zwischen 1880 und 1930 datierte, [28] zu den »normalen Zeiten«, in denen es für die öffentlichen Intellektuellen nichts Aufregendes zu beobachten und zu schreiben gab?

Es ist die These dieses Buches, gerade die vielfältigen Aufbrüche in die pluralisierte und demokratisierte Moderne als die Zeit anzusehen, in der sich der »engagierte Beobachter« herausbildete mit einem Habitus, an den das 20. Jahrhundert hindurch immer wieder angeknüpft wurde. Merkmale der Moderne waren um 1900 ja nicht nur atonale Musik und abstrakte Malerei. Massenkommunikation und Massenkultur, die »zunehmende Zugänglichkeit und Vervielfältigung der Kultur«, wurden zu ihrem Signum. [29] Wer erlangte in diesen Aufbrüchen die »Definitionsmacht über kulturelle Entwicklungen« und »kollektive Argumentationsmuster«? [30] Soziale Bewegungen und kulturelle Zirkel reklamierten im Namen von Marx die wissenschaftliche Steuerung der sozialen Revolution, im Namen von Darwin die naturgesetzliche Regelung politischer Konflikte oder im Namen von Nietzsche die vitalististische Umwertung der christlichen Tradition.

Moderne, so wurde es für die Bewohner der wachsenden Großstädte, die Hörer der expandierenden Universitäten oder die Aktiven der zahllosen Vereine zur täglichen Erfahrung, das ist die Dauerrivalität um Deutungshoheit und Einflusschancen auf einem freien Massenmarkt der Ideen und Interessen. Auf einem solchen Markt der Gegensätze den »Durchblick« zu behalten, wie Dahrendorf den »engagierten Beobachter« charakterisierte, und die »Beziehung« zwischen historischer Erkenntnis und politischem Handeln zu klären, wie es Aron zu dessen Hauptmerkmal machte, das wurde um und nach 1900 zur großen Herausforderung an die »Wissenschaft als Beruf«, insbesondere an die Sozial- und Kulturwissenschaften. Und es wurde, bildlich gesprochen, zur Geburtsstunde des »engagierten Beobachters«. Nicht zufällig erklärte es Max Weber in seiner berühmten Rede über »Wissenschaft als Beruf« im Namen Kants zur obersten Aufgabe eines Wissenschaftlers, gerade wenn er »Stellung« bezieht [31] und Zeitdiagnostik betreibt, »im Dienste der Klarheit (…) Rechenschaft zu geben« über die eigenen »Denkvoraussetzungen« und wissenschaftliche Aussagen über die Wirklichkeit nicht in den Gestus eines Propheten unverbrüchlicher Geschichtswahrheiten zu kleiden. [32]

Von Weber bis Dahrendorf ist Kant der heimliche oder ausdrücklich angesprochene intellektuelle Patron des »engagierten Beobachters«. Raymond Aron, der seine Diplomarbeit 1927 über Kant verfasst hatte, bekannte in seinen Memoiren, »ein Jahr der Vertrautheit mit dem Werk von Kant hat mich ein für alle Mal von der intellektuellen Eitelkeit (in einem tieferen Sinne wenigstens) geheilt«. [33] Das kantianische Denken stellte ihm die Weichen, sich hernach so ausführlich an Weber schulen zu lassen. [34]

»Marx oder Kant«? lautete denn auch die Gegenüberstellung, zu der in der führenden Zeitschrift »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« heftig diskutiert wurde, variiert zu »Kant und Marx« oder zu »Kant in Marx«. [35] Das 1904 von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé neu begründete »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« trägt das Problem des engagierten Beobachtens bereits im Titel. Mit welchen Instrumenten beobachten und beschreiben Nationalökonomie und die neue Wissenschaft der »Soziologie« die moderne Massengesellschaft? Wie klären sie die politischen Akteure der Sozialreform über die allgemeine »Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung« auf? [36] Und wie reflektieren sie die »Denkvoraussetzungen« und klären die Beziehungen zwischen Sozialwissenschaft und Sozialpolitik? Die Avantgarde der internationalen Ökonomen und Sozialforscher, aber auch maßgebliche Kulturwissenschaftler versammelten sich im »Archiv«, um sich dieser Problemstellung in theoretischer Grundlegung wie in empirischer Detailforschung gleichermaßen zu widmen. Mit einem Profil dieser außergewöhnlichen Zeitschrift beginnt deshalb dieses Buch (Kapitel 1).

An verschiedenen Orten der westlichen Industriegesellschaften bildeten sich um 1900 Zentren, in denen neue wissenschaftliche Wege begangen wurden, um neue Formen der Sozialreform zu erproben. Sidney und Beatrice Webb engagierten sich deshalb so entschieden für die 1895 gegründete London School of Economics, weil sie damit eine überparteiliche Schulung sozialtechnologischer Reformeliten bezweckten. In seiner Geschichte dieser bis heute Maßstäbe setzenden Institution beschreibt Ralf Dahrendorf, der die LSE zwischen 1974 und 1984 leitete, wie schwer es für die Webbs und ihre Fabian Society war, intellektuell auf der »fault line between wanting to know the causes of things and wanting to change things« zu balancieren. [37] Das Gleiche gilt für die Chicago School of Sociology, die in ihrer Gründungsphase der 1890er Jahre eng mit der religiösen und sozialreformerischen Settlement-Bewegung und mit dem sozialpolitischen Engagement von Jane Addams verbunden war. Einem Vergleich der britischen Fabier um Beatrice Webb und der amerikanischen Progressiven um Jane Addams widmet sich Kapitel 2.

Mindestens so attraktiv wie ein zeitdiagnostisches Denken mit Marx oder Kant war um 1900 ein Denken mit Darwin. Unter den geschichtlichen Grundbegriffen »Entwicklung« oder »Evolution« konnten darin Kultur- und Naturwissenschaften aufs Engste miteinander verbunden werden. Symbolisch zum 1. Januar 1900 suchte ein Preisausschreiben nach der besten wissenschaftlichen Beantwortung der Frage: »Was lernen wir aus den Principien der Descendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwickelung und Gesetzgebung der Staaten?« Kapitel 3 verfolgt durch das 20. Jahrhundert hindurch, in welcher Weise jeweils evolutionistisches Geschichtsdenken »in Beziehung« stand zu politischen Ordnungsmodellen.

Neben »Evolution« avancierte »Säkularisierung« zu einem zweiten Prozessbegriff, mit dem sich die westlichen Industriegesellschaften durch ihre Deutungseliten über Merkmale und Verlaufsrichtung der »Moderne« aufzuklären suchten. Das geschah weniger in der Absicht, die eigene Zeit als ein entchristlichtes Zeitalter zu begrüßen oder zu verdammen, als vielmehr, um die »Vielförmigkeit sozialer Zeiten« [38] zu erkunden und darin die Kulturbedeutung der Religion für Genese und Struktur moderner Gesellschaften mit neuen sozialwissenschaftlichen Konzepten zu ermitteln. Max Weber und Ernst Troeltsch gelten bis heute als Protagonisten für die Problemstellung, [39] wie und in welchen Transformationen religiöse Ideen soziale Gestaltungskraft erlangten (Kapitel 4).

Wenn für die kulturelle Achsenzeit um 1900 nach Gründungsfiguren des »engagierten Beobachters« gesucht wird, dann sind Max Weber und Ernst Troeltsch zweifellos an erster Stelle zu nennen. Gemeinsam machen sie die »Zerrissenheit« (Karl Jaspers über Weber) und die »Vielspältigkeit« (Troeltsch) der Moderne zum Thema ihrer politisch engagierten Zeitdiagnosen und rücken sie jeweils in universalhistorische Perspektiven. Weber nimmt dazu einen eher wirtschaftshistorischen, Troeltsch einen geistesgeschichtlichen Sehepunkt ein. Markant sind die unterschiedlichen Schlüsse, die sie aus ihrer Beobachtung der Moderne ziehen. Max Webers Begreifen und Beschreiben der »heutigen Kultur« ist konfliktorientiert. Die moderne Welt ist ihm eine Welt der sozialen und politischen Gegensätze und Spannungen, durch keine ganzheitliche Philosophie zu überwinden, stattdessen in legitime Herrschaftsordnungen zu gießen und persönlich zu ertragen (Kapitel 5). Eigenart und Aktualität seines Denkens zeigen sich in der Art, wie er alle Themen, die er behandelt, die kapitalistische Wirtschaft, die Weltreligionen, den modernen Staat und die Demokratie, stets als »universalgeschichtliche Probleme« anspricht (Kapitel 6).

Ernst Troeltschs Zugriff auf die europäische Kulturgeschichte ist konsensorieniert. Der Erste Weltkrieg wird ihm zur Lehre, »Humanität in der Weltpolitik« durch eine »Kultursynthese« der deutschen idealistischen Tradition mit der angelsächsischen Aufklärung zu befördern und die demokratische Neuordnung Deutschlands nach Kriegsniederlage und Revolution nicht gegen, sondern im Verbund mit den westlichen Industriegesellschaften einzuleiten (Kapitel 7). Wie ausgeprägt und ausdrücklich Troeltsch für sich die Rolle des »engagierten Beobachters« beanspruchte, wurde einleitend schon gesagt. Kapitel 8 erfasst die Schärfe und die Eindringlichkeit, in der Troeltsch die Phasen des deutschen Bürgerkriegs, die ideenpolitischen wie die Straßenkämpfe »zwischen rechts und links«, die Belastungen der Weimarer Koalition aus Sozialdemokraten, Katholiken und Liberalen durch die Versailler Friedensordnung, vor allem aber die neue Weltordnung durch die amerikanische Hegemonie und die »Amerikanisierung Deutschlands« beurteilte. Seine Kommentare machten Spectator-Troeltsch zum bedeutendsten Diagnostiker dieser Nachkriegszeit aus einer liberalen und christlichen Werthaltung heraus.

Die Kapitel 9 und 10 widmen sich Fritz Stern und Ralf Dahrendorf, den engen Freunden und intellektuellen Weggefährten, beide engagierte Verfechter des »aufgeklärten Liberalismus« (Ottfried Höffe). Eine Genealogie des »engagierten Beobachters« wird den amerikanischen Historiker Fritz Stern eher in den Spuren Ernst Troeltschs, den britischen Soziologen Ralf Dahrendorf dagegen auf den Schultern Max Webers verzeichnen. Raymond Arons Deutschlandbild in einer offenen transatlantischen Perspektive bildete sowohl für Dahrendorf als auch für Stern einen zentralen Bezugspunkt. Fritz Stern war es, der Arons viel zitierten Ausspruch, das 20. Jahrhundert hätte das Jahrhundert Deutschlands werden können, erstmals kolportierte. Er fiel im Gespräch der beiden anlässlich einer Ausstellung zu Albert Einstein und Lise Meitner in West-Berlin 1979. [40] Dass es auf ganz andere und katastrophale Weise das Jahrhundert Deutschlands geworden ist, hat neben Aron auch Fritz Stern ins Exil getrieben und Ralf Dahrendorf veranlasst, einen britischen Blick auf die Zeitgeschichte einzunehmen. Dazu zählt der ausdauernde kritische Dialog mit Jürgen Habermas, der in den 1960er Jahren begann, im Epochenjahr 1989 einen Höhepunkt erreichte und 2003 erneut heftig wurde, als der von den USA begonnene Irakkrieg den Westen spaltete. Der Streit zwischen Habermas und Dahrendorf um die hegemoniale Machtpolitik der USA war auch ein Streit um Kant, in dem sie zwei Varianten der europäischen Aufklärung verkörperten (Kapitel 10).

Was ist die Aufgabe der Historiker, wenn sie, wie Raymond Aron es forderte, die Beziehung reflektieren zwischen Erkenntnis der Geschichte und Handeln in der Geschichte, oder, wie Fritz Stern es auf den Punkt brachte, engagiert »in zwei Welten leben« und weder als Mönch sich der Einmischung in die Gegenwart enthalten, noch als Prediger die Vergangenheit ganz auf gegenwärtige Interessen reduzieren? Unter diesen Fragestellungen werden in Kapitel 11 die Linien der einzelnen Fallstudien zusammengeführt. Im Jahr 2010, in der Folge der finanzkapitalistischen Weltkrisen, hat der britische Historiker Tony Judt im Stil der Aufklärung einen Traktat überschrieben, »Dem Land geht es schlecht«, und mit dem dramatischen Appell an die Historiker verbunden, in Zeiten zersplitterter und partikularer Erinnerungskulturen »die Geschichte« als Ort der Selbstaufklärung der Gegenwartsgesellschaften nicht dem »Vergessen« preiszugeben. Historische Selbstbeschreibung und Selbstaufklärung der Gegenwartsgesellschaft, hier knüpft das Schlusskapitel an Tony Judt an, ist nur möglich durch den reflektierten Balanceakt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der den »engagierten Beobachter« ausmacht. Im 19. Jahrhundert, dem »historischen Zeitalter«, wurde dieser Balanceakt in das Bild vom »Historiker des Lebens« gefasst, abgesetzt vom »Historiker der Stube« wie vom »Historiker des Salons«. Welche Konturen das Bild vom Historiker des Lebens im Zuge der Moderne erhielt und in welcher Mischung aus distanzierter Analyse, scharfsichtiger Interpretation und engagiertem Handeln Historiker ihre Rolle als Zeitdiagnostiker jeweils wahrnahmen, das ist der resümierende Gegenstand dieses Schlusskapitels.

Bei den elf Kapiteln handelt es sich im Wesentlichen um Aufsätze, die unter der hier entwickelten Problemstellung zwischen 2004 und 2015 entstanden sind, dazu der bereits 1994 veröffentliche Beitrag über die britischen Fabier und die amerikanischen Progressiven. Erstmals in deutscher Sprache erscheint in Kapitel 1 der Beitrag zum »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«. Bislang unveröffentlicht ist Kapitel 10 zu Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas als zwei Varianten der europäischen Aufklärung. An dieser Stelle sei Thedel v. Wallmoden herzlich gedankt für die spontane Zusage, das Buch in seinen Verlag zu übernehmen, Andrea Knigge für die sorgfältige Lektorierung und Sophie Schwarzmaier für ihre Hilfe bei der Überarbeitung des Manuskriptes.

 

 

 

Aufbrüche

Wissenschaftliche Selbstbeobachtung
um 1900

1. Sozialwissenschaftliche Avantgarden

Das »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«
(1904–1933)

Das »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« (AfSS) wurde 1904 von Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber neu gegründet und gilt als ein Pionier der internationalen Sozialforschung. Britische Historiker erklärten es sogar zum bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Journal des gesamten 20. Jahrhunderts. [1] Wenn sich Avantgarden fanden, um das komplexe Wechselspiel zwischen sozialwissenschaftlichem Begreifen der Wirklichkeit und sozialpolitischem Ordnungsdenken grundsätzlich zu überprüfen, dann in dieser Zeitschrift.

Neue Theorien und Methoden wurden hier erprobt, um die industriekapitalistische Durchdringung aller Lebensbereiche zu erörtern. Weltwirtschaft, Arbeit und Eigentum, Gewerkschaften und Frauenberufe, Religion und Ökonomie, der Antagonismus von Massendemokratisierung und Elitenbildung waren die Themen. Am Anfang des Jahrhunderts besetzte diese Zeitschrift wie keine andere das Problemfeld, das wir beim Übergang in das 21. Jahrhundert erneut abstecken, nunmehr unter den Stichworten »Globalisierung«, »Arbeitsgesellschaft«, »Armut«, »Grenzen des Sozialstaates« und neue Ungleichheiten durch soziale und kulturelle Polarisierungen. Nicht zufällig versammelte das AfSS im Zuge seiner Neugründung von 1904 klangvolle Namen, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften bis heute als »moderne Klassiker« für innovative Wege der wissenschaftlichen Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung und Selbstkritik moderner Gesellschaften gelesen werden.

Im Sommer 1903 verkaufte der sozialdemokratische Publizist und Sozialpolitiker Heinrich Braun sein »Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Zeitschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder« [2] an den Nationalökonomen Edgar Jaffé. Jaffé gewann mit Werner Sombart und Max Weber zwei Mitherausgeber, die in dieser Durchbruchsphase der Verwissenschaftlichung aller Lebensordnungen für Innovation und intellektuellen Streit standen. Durch diese Namen ließ sich der noch um ein eigenständiges Profil als Wissenschaftsverlag ringende Paul Siebeck als Verleger gewinnen. Im Laufe der nächsten zwei Jahrzehnte traten Robert Michels, Joseph Alois Schumpeter und Alfred Weber zeitweilig in den Herausgeberkreis ein. Die redaktionelle Hauptlast lag bei Edgar Jaffé, aber auch Max Weber engagierte sich in den ersten Jahren sehr. Ab 1909 sorgte der Ökonom und demokratische Sozialist Emil Lederer für organisatorische Kontinuität der international breit abonnierten Zeitschrift. Im August 1933 stellte der Verlag die Zeitschrift ein, nachdem Emil Lederer und andere führende Mitarbeiter bereits emigriert und an der New School for Social Research in New York untergekommen waren. Deren 1934 begründete Zeitschrift »Social Research« führte den Geist des AfSS fort, ein aufschlussreiches Beispiel für transatlantischen Wissenstransfer.

Wie lässt sich am Beispiel des AfSS von »sozialwissenschaftlichen Avantgarden« sprechen, im Kontrast zu den stets im Mittelpunkt stehenden ästhetischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts? Es gibt markante Unterschiede, geht es doch um die eigenständige Erkenntnissphäre der Wissenschaft, nicht um die revolutionäre Einheit von Kunst, Wissenschaft, Politik und Leben. [3] Das Wort »Archiv« im neuen Titel von 1904 signalisiert eher die Verbindung von Geschichte und Gegenwart, weniger die avantgardistische Überwindung der Gegenwart durch die Manifeste der Zukunft. Es geht um Diagnosepotentiale der Durchdringung empirischer Wirklichkeit, nicht um Gewaltpotentiale zu deren Veränderung. Aber auch bei den Intellektuellen rund um das AfSS, die auf eine Verwissenschaftlichung aller sozialen Fragen drängen, gibt es ein ausgeprägtes Bewusstsein für »Anfänge«, für neue Muster gesellschaftlicher Selbstbeobachtung. Zu Unrecht hat die vergleichende Geschichte europäischer Wissenschaftskulturen dem innovativen Charakter dieser Zeitschrift bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gewidmet.

Auf vier Ebenen lassen sich solche Innovationen verzeichnen, welche die Zeitschrift in die charakteristischen Umbrüche der klassischen Moderne vor dem Ersten Weltkrieg rücken: ein neuer Herausgeberkreis, ein neuer Verlag, eine neue Programmatik, verbunden mit einem neuen Zeitschriftentitel, und daraus resultierend neue Perspektiven auf die beherrschenden Themen.

Eine Vorbemerkung zum Avantgardebewusstsein in den europäischen Sozialwissenschaften im späten 19. Jahrhundert, also vor der Neugründung des AfSS von 1903/04, erscheint erforderlich. Als Avantgarde galt, zumindest im kontinentalen Europa, wer Sozialwissenschaft mit Sozialismus in revolutionärer Rhetorik verband. Am Anfang stand Karl Marx, wenn auch vornehmlich im deutschsprachigen Raum. In Frankreich waren es die Frühsozialisten, der Weg führte von Proudhon zu Georges Sorel. In Großbritannien verweigerte die Fabian Society mit Beatrice und Sidney Webb ausdrücklich die Marxlektüre und las lieber Herbert Spencer oder die Historische Schule der deutschen Nationalökonomie mit Gustav Schmoller und Lujo Brentano. In Deutschland gründete 1888 der nationalökonomisch geschulte Publizist und Sozialpolitiker Heinrich Braun (1854-1927), dem als Jude und Sozialist die Universitätskarriere gleich doppelt versperrt war, das »Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik«, aus dem das AfSS dann hervorging. Für orthodoxe Marxisten in den sozialistischen Parteien war schon der Titel eine Provokation. Braun wollte mit den Mitteln der freien Wissenschaft die Sozialreform forcieren, die Theorie an die empirischen Erfahrungen anbinden und Politikberatung betreiben. Brauns programmatische »Einführung« bemühte keine revolutionäre Geschichtsphilosophie. Sie forderte die »wissenschaftliche Untersuchung und Feststellung der gesellschaftlichen Zustände« rein vom empirischen »Standpunkt der Tatsachen« aus. Eine sozialstatistisch vergleichende Analyse der »kapitalistischen Produktionsweise« aller Länder, bezogen auf deren Sozialgesetze, zu diesem Zweck sollte mit seinem »Archiv« eine »Stätte freier und nach allen Seiten hin unabhängiger Forschung geschaffen werden«. [4] Dieses Einreißen der »chinesischen Mauer« zwischen bürgerlicher Wissenschaft und proletarischem Klassenbewusstsein galt der Sozialdemokratischen Partei im Deutschen Kaiserreich, über deren Geist Karl Kautsky wachte, als Todsünde. [5] Für junge sozialwissenschaftliche Intellektuelle dagegen wurde die neue Beziehung von Sozialwissenschaft und Sozialpolitik immer attraktiver.

I.

Im Jahr 1903 zog es Heinrich Braun stärker zurück in die Politik. Er beteiligte sich erfolgreich am Reichstagswahlkampf und trug sich mit neuen Zeitschriftenplänen im Dienst der sozialdemokratischen Gesellschaftsreform. Zwangsläufig geriet er in zu große finanzielle Schwierigkeiten und musste das florierende »Archiv« verkaufen. [6] Als neue Herausgeber fanden sich Gelehrten-Intellektuelle zusammen, um deren avantgardistischen Spürsinn für die Durchdringung der sozialen Realität mit neuen theoretischen Konzepten es im Folgenden geht. Mit Werner Sombart, Edgar Jaffé, Max Weber, später mit Robert Michels, führte das neue AfSS vor dem Weltkrieg kreative Randfiguren des akademischen Establishments im Kaiserreich zusammen, jeder auf seine eigene Art ein Außenseiter. Ihr Eigensinn war die Quelle für zahlreiche mehr oder weniger produktive Spannungen in der Entstehungsphase der deutschen Soziologie.

Werner Sombart (1863-1941) war zu diesem Zeitpunkt immer noch Extraordinarius für Nationalökonomie in Breslau. Als ständiger Mitarbeiter sozialistischer Zeitschriften stand er trotz seiner eher linksbürgerlichen Haltung im Ruf, Marxist zu sein. Sombart pflegte engen Kontakt zu Heinrich Braun und lieferte dem Braun’schen »Archiv« in den 1890er Jahren regelmäßig Beiträge. In einem klugen Artikel von 1897 über »Socialwissenschaftliche Zeitschriften« und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung rühmte Sombart das Braun’sche »Archiv« als Beleg für den Aufstieg der Zeitschriften zum Leitmedium der Wissenschaften. Besser als an Büchern lasse sich an ihnen inzwischen die Leistungskraft einer wissenschaftlichen Generation ablesen. Wissenschaftlich wie politisch stehe Braun mit seinem »Archiv« an der Spitze der fortschrittlichen Sozialreform mit dem Ziel einer Demokratisierung der Massen. Sombart artikulierte nicht ohne Selbstlob für seine Generation damit eine Absage an die Revolutionstheorien von Karl Marx und an den Kathedersozialismus eines Gustav Schmoller gleichermaßen. [7]

1902 eröffneten seine zwei Bände »Der moderne Kapitalismus« eine völlig neue Diskussion über den »spiritus capitalisticus« als Schicksal der Moderne. 1903 vollzog er mit der Studie »Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert« eine fortschrittsskeptische Kehre und schloss sich den Strömungen der um die Jahrhundertwende rasch anwachsenden Kulturkritik an. In dieser inneren Anspannung zwischen sozialem Reform- und Verfallsdenken übernahm Sombart die Herausgebertätigkeit im neuen AfSS und reklamierte anfänglich sogar eine programmatische Federführung. Er trieb die disziplinäre Verselbständigung der Soziologie an und war 1909 Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 1920 trat er demonstrativ als Herausgeber des »Archivs« zurück, da ihm der linksdemokratische Kurs in der Gründungsphase der Weimarer Republik missfiel. Sombart radikalisierte im Gegenzug seine Ordnungsideen eines nationalistischen Antikapitalismus. Die Forschung zählt den späten Sombart deshalb zum Milieu der »konservativen Revolution«. [8]

Auch Avantgarden brauchen Geld. Sombart sorgte für die entscheidenden Kontakte zwischen Heinrich Braun und Edgar Jaffé (1866-1921), der sich gerade in Heidelberg für Nationalökonomie habilitierte. Jaffé entstammte einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie in Hamburg und erwarb das »Archiv« für 60.000 Mark. Der Vertrag, der am 23. August 1903 zwischen dem »Privatgelehrten Dr. Edgar Jaffé« und dem Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen geschlossen wurde, regelte Jaffés verantwortliche Stellung: »Dr. Jaffé übernimmt die Redaktion des Archivs, er hat allein das Recht sich Mitredakteure, Mitherausgeber oder Stellvertreter zu wählen. Er bestimmt die Mitarbeiter sowie die Zusammensetzung des Inhaltes des Archivs.« [9] Es wurde eine Lebensaufgabe, die Jaffé mit großer Hingabe bewältigte. In der Revolution von 1918, nach der Kriegsniederlage des Deutschen Reiches, erlangte Jaffé für kurze Zeit politische Prominenz, als er im November 1918 im Kabinett von Kurt Eisner bayerischer Finanzminister wurde. Bei der Amtsübergabe nach Eisners Ermordung erlitt er einen psychischen Zusammenbruch, der letztlich zu seinem Tod führte. Der Nachwelt ist Jaffé indes besser bekannt als Ehemann der in jeder Hinsicht emanzipierten Else Jaffé (geb. von Richthofen), die hin und wieder auch als »Frau Redakteurin« wirkte, und in deren Besitz das AfSS 1921 überging. [10]

Jaffé brachte als seinen Wunschherausgeber Max Weber, ebenfalls Nationalökonom, ins Spiel. Weber (1864-1920) schied nach seiner langen psychosomatischen Krankheit 1903 als öffentlich-ordentlicher Universitätsprofessor endgültig aus dem aktiven Hochschuldienst aus. Durch Jaffé erhielt er unverhofft die Chance, sich über das »Archiv« als Privatgelehrter neu im wissenschaftlichen Feld zu positionieren. Wie hinreichend bekannt, nutzte Weber die Chance gründlich und mit wachsender Streitlust. Das AfSS wurde das Forum, um seine Konzepte zu einer neuen »kulturwissenschaftlichen Logik«, zur ökonomischen Bedingtheit wie Relevanz religiöser Ideen oder zu agrar- und industriekapitalistischen Arbeitsbedingungen zu präsentieren. [11] Weber setzte »seine« Zeitschrift gezielt ein, um die historischen, anthropologischen und ökonomischen Paradigmen seiner Zeit zu attackieren. Der interessanteste Kopf, den Weber für Fragen der Herrschafts- und Parteientheorie an das AfSS binden konnte, zuerst als Autor, dann sogar als Mitherausgeber, war zweifellos Robert Michels.

Robert Michels (1876-1936) hatte nach seiner Promotion als Mitglied der italienischen sozialistischen Partei und eines Marburger syndikalistischen Zirkels keine Chance, sich an einer deutschen Universität zu habilitieren. Er wechselte deshalb nach Turin zu Achille Loria und schloss dort 1907 seine Habilitation ab. Weber war für das AfSS auf Michels gestoßen, als er während seiner eigenen Arbeit an den umfänglichen Artikeln zur Russischen Revolution von 1905 einen kompetenten Autor zur Behandlung der sozialistischen und anarchistischen Bewegungen suchte. Von 1906 bis 1915 lieferte Michels regelmäßig provozierende Aufsätze zur Parteiensoziologie. Darin entwickelte er seine gesinnungsradikalen Vorstellungen von syndikalistischer Politik im Dienste der unmittelbaren Demokratie. 1913 setzte Weber durch, Michels in den Herausgeberkreis des inzwischen international renommierten AfSS aufzunehmen. Mit seiner Spezialisierung auf dem Gebiet von Demokratisierung und Elitenbildung machte Michels eine europäische Karriere als politischer Soziologie. Er lehrte nach Stationen in Brüssel und Paris seit 1907 mit Unterbrechungen bis 1928 in Turin. Hier unterhielt er eine enge Beziehung zu Vilfredo Pareto. 1923 trat Michels in den »Partito Nationale Fascista« ein. Mussolini, die Heldenfigur vieler europäischer Intellektueller, förderte ihn durch einen eigens eingerichteten Lehrstuhl an der Universität von Perugia, den Michels bis zu seinem Tod innehatte. [12]

II.

Auch der Tübinger Verleger Paul Siebeck ist ein wichtiger Akteur des Neustarts dieser bedeutenden sozialwissenschaftlichen Zeitschrift. Paul Siebeck (1855-1920) ist in der europäischen Verlagsgeschichte berühmt, weil er nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer war, sondern weil sein Verlag ein deutliches kulturelles Profil besaß. Er erklärte sich bereit, das »Archiv« zu übernehmen, nachdem er sicher war, dass sein Autor Max Weber eine führende Rolle spielen wird. In sensibler persönlicher Betreuung versammelte er in seinem Verlag eine intellektuelle Elite aus Theologen, Ökonomen und Soziologen. Er empfand es als sein Lebenswerk, »einer wissenschaftlichen Richtung durch Sammelbände, Lehrbuchreihen und Zeitschriften eine zusammenhängende Struktur zu geben«. Die Arbeit an Periodika und vielbändigen Handbüchern würdigte er als genau so wertvoll wie das Bücherschreiben selbst. [13] Paul Siebeck repräsentiert einen Typus, den die Zeitgenossen als Kulturverleger schätzten. In seiner Verlagspolitik waren es die Werte von Wissenschaft, Aufklärung und Liberalismus, durch die er kulturell wirken wollte. In der ersten Auflage der fünfbändigen Enzyklopädie »Religion in Geschichte und Gegenwart«, zwischen 1905 und 1913 erschienen, kommt dieses Profil besonders markant zum Ausdruck. Dem Verlag gelang mit diesem »Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung«, so der Untertitel, eine Pionierleistung vergleichender theologischer und soziologischer Religionsgeschichte. [14]

Um den medialen Wirkungsgrad des AfSS zu ermessen, ist ein kurzer Blick auf den Absatz erhellend. Die Auflage betrug 1000 Exemplare, das lag leicht über dem Durchschnitt sozialwissenschaftlicher Periodika. Hervorzuheben ist die breite internationale Distribution.

 

  31,2
Sept. 1910
39,1
Aug. 1914
46,3
Feb. 1919
54,1
Juli 1925
Auflage 1000 600 (?) 600 (?) 1000
Absatz Deutschland 420 357 410 569
Absatz Ausland 309 281 226 256
davon USA 20 25 7 14
davon England 3 2 1
davon Frankreich 12 10 5
davon Polen [10] [5] 8 6
davon Russland 39 34 1
Gesamt 729 638 636 825

 

Vor dem ersten Weltkrieg wurde knapp ein Drittel der Auflage an auswärtige Universitäten, Forschungseinrichtungen und Einzelpersonen versandt; der Verlag führte immer auch seine ausländischen Vertragsbuchhandlungen auf dem Titelblatt seiner Zeitschrift mit, Brüssel, Budapest, Christiana, Den Haag, Kopenhagen, London, New York, Paris, St. Petersburg, Rom, Stockholm, Wien und Zürich. Das Abonnement für einen Band von drei Heften betrug 16 Mark, das Einzelheft kostete 7 Mark. Und auch 1925, als der Absatz in Deutschland deutlich anstieg, der russische Markt dagegen vollständig weggebrochen war, blieb die internationale Wissenszirkulation beachtlich. [15]

[16]