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Hanjo Kesting

Begegnungen mit
Siegfried Lenz

Essays, Gespräche, Erinnerungen

 

 

 

Wallstein Verlag

Inhalt

I Annäherungen

Die Welt in Geschichten.
Der Erzähler Siegfried Lenz

Wasserwelten.
Von Meer und Küste, Fluss und Hafen,
Wracks und Tauchern und dem Glück,
einen Fisch zu fangen

Die Sensation des Zuhörens.
Das Rundfunkwerk

Etwas sehr Seltenes.
Siegfried Lenz & Helmut Schmidt

II Gespräche

Auf der Höhe des Lebens.
Gespräch zum 50. Geburtstag (1976)

Deutschstunde.
Gespräch zum 60. Geburtstag (1986)

Wir lebten vom Rundfunk.
Expeditionen in die Rundfunkkultur (1986)

Am Rande des Friedens.
Gespräch zum Friedenspreis
des deutschen Buchhandels (1988)

Mein unerträglich schlichtes Prinzip:
Weitermachen.
Gespräch zum 75. Geburtstag (2001)

III Chronik eines Tagebuchs

IV Man muss seinen Garten bebauen.
Kleine Gedenkrede auf Siegfried Lenz

Bibliografie

Nachweise

 

I  Annäherungen

Die Welt in Geschichten.
Der Erzähler Siegfried Lenz

Schreiben, hat Siegfried Lenz einmal gesagt, sei Rechenschaft geben vom eigenen Leben, Rechtfertigung der eigenen Existenz. Irgendwo, hat er hinzugefügt, hänge sein »düsteres Bild«, the picture of Dorian Gray, jenes Bild, das sein wahres Gesicht zeige. »Denn natürlich hat man fast fünfzig Jahre lang gearbeitet. Das hat Spuren hinterlassen.«

Lenz sprach hier von den Spuren des Alters. Ein Autor, der in seinen Büchern so beharrlich die Erfahrung des Scheiterns umkreiste, wird auch das Altern als ein teilweises Scheitern begriffen haben. In dem späten Aufsatz »Die Darstellung des Alters in der Literatur« hat er der Neigung, das Alter bei Künstlern zu verklären – berühmte Beispiele dafür sind »der späte Beethoven« und »der alte Fontane« –, widerstanden und sogar widersprochen: »Auch wenn hier und da bemerkenswerte sogenannte Spätwerke dagegen sprechen«, heißt es da, »im allgemeinen verhilft das Alter – im Sinne einer Steigerung – nicht zur Vollkommenheit …« Es wird sogar das Gegenteil konstatiert: »Das Alter wird zu einer langsamen Enteignung des Lebens, und da jede Auflehnung dagegen nutzlos ist, wird in Frage gestellt, woran man einst geglaubt hat.«

Das klingt nüchtern, um nicht zu sagen desillusioniert. Und die Erfahrung des Scheiterns wird auch nur teilweise gemildert durch das Bewusstsein des Vollbrachten, der Arbeit, des Werks. Für Siegfried Lenz war das Aushalten, das Durchhalten das Beste und Höchste, was dem Menschen zu erreichen möglich ist. Schon in dem frühen Roman »Duell mit dem Schatten« erklärt der Protagonist: »Am Aushalten … erkennt man den Grad der Mündigkeit … Aushalten, das heißt, dem Gleichmut der Welt seinen eigenen Gleichmut entgegensetzen.«

Der Satz ist ein Schlüsselsatz für Lenz, die Konfession eines Autors, der lebenslang geschrieben und »ausgehalten« hat: den Gleichmut der Welt und ihre Widerstände. Wenn zur Vollendung eines Schriftstellers, mit Goethe gesprochen, die Fülle gehört, die Stetigkeit in verschiedenen Lebensphasen, dann gab es dafür in unserer Literatur kein besseres Beispiel als Siegfried Lenz. In fünfundsechzig Jahren hat er ein Werk von erstaunlichem Umfang und imponierender Vielfalt hervorgebracht: vierzehn Romane (ein fünfzehnter, nachgelassener, soll demnächst erscheinen), über hundertfünfzig Erzählungen, Theaterstücke, Hörspiele, Essays, Reden, Rezensionen, politische Einmischungen und die vielen Forderungen des Tages, denen er sich nicht entzogen hat. Er gehört, gemessen nicht nur an Auflagenziffern und internationalem Ansehen, zu den bestimmenden und herausragenden Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur wie neben ihm nur Heinrich Böll und Günter Grass. Dabei ist er nie der Gefahr erlegen, als Schriftsteller zum »Oberkellner der Aktualität« zu werden, wie eine von ihm gern verwendete Formel lautete. Literatur war für ihn »das kollektive Gedächtnis der Menschen«. Er schrieb: »Sie ist der Speicher, die umfassendste Sammlung von Erlebtem und Gedachtem, sie ist ein einzigartiger Vorrat an Welterfahrung. Alles ist in ihr aufbewahrt, aufgehoben; alles, was erduldet und angenommen, was versucht und beklagt wurde in Jahrtausenden, hat in ihr seinen Ausdruck gefunden.«

Im Sommer 2003 legte Lenz seinen vierzehnten und letzten Roman vor: »Fundbüro«. Das Titelwort steht bereits im ersten Satz des Buches – ein Indiz für die geradlinige und zielstrebige Erzählweise des Autors. Es beginnt mit der lakonischen Feststellung: »Endlich hatte Henry Neff das Fundbüro entdeckt.« Henry Neff, die Hauptfigur, ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren, hat seinen Job als Zugbegleiter aufgegeben und wird an seinem neuen Arbeitsplatz vorstellig, im Fundbüro der Deutschen Bahn, bei seinem zukünftigen Kollegen Bußmann: »Warum sollen Sie sich hier melden?«, fragt Bußmann. Henry antwortet: »Sie haben mich hierher versetzt, ins Fundbüro, meine Unterlagen werden gewiß schon hier sein.« Was Henry Neff bei dieser Gelegenheit nicht sagt, ist, dass die Versetzung seinen eigenen Wünschen entspricht. Hat er keine höheren Ambitionen? Sein Onkel ist Bereichsleiter bei der Bahn – der könnte ihn protegieren, ihm Türen und Tore öffnen. Und Henrys Großvater ist der Gründer des größten und schönsten Porzellangeschäfts der Stadt, Neff und Plumbeck, ein Familienunternehmen – Henry könnte also, wie der jugendliche Held in Dickens’ Roman, große Erwartungen nähren. Warum strebt er ausgerechnet ins Fundbüro, zu einem Ort, wo sich tagtäglich die Verlierer – im wörtlichen und übertragenen Sinn – einstellen? Hannes Harms, der Chef, beschreibt das Fundbüro, dem er vorsteht, im Vorstellungsgespräch als wenig attraktiv: »Nirgendwo sonst gibt es einen Ort, wo Sie so viel Zerknirschung erleben, so viel Bangen und Selbstanklagen, na, Sie werden es ja erleben.« Er warnt Henry mit beredten Worten: »Sie sind jetzt vierundzwanzig, Herr Neff, vierundzwanzig, mein Gott, da müßte man die erste Schiene gelegt haben, auf ein Ziel zusteuern, wenn Sie wissen, was ich meine. Und jetzt sind Sie bei uns gelandet, auf unserem Abstellgleis, ja, in gewisser Weise müssen Sie sich wie auf einem Abstellgleis vorkommen, denn von hier aus beginnt man keine Laufbahn, bei uns gibt es keine Aufstiegsmöglichkeit, irgendwann fühlt man sich ausrangiert.« Henry antwortet: »Kein Bedarf, Herr Harms, wirklich, das Aufsteigen überlasse ich gern anderen, mir genügt’s, wenn ich mich wohl fühle bei der Arbeit.«

So die gedrängte Exposition des Buches. Auf den ersten Blick könnte man Henry Neff für die ironische Verkörperung einer Mentalität halten, die die soziale Hängematte zum Ziel aller Wünsche erklärt. In Wirklichkeit ist Henry Neff, der das Aufsteigen anderen überlässt, kein Verweigerer oder Aussteiger, schon gar kein Faulenzer. Zwar träumt er schon mit vierundzwanzig Jahren vom Vorruhestand und will verschont bleiben, wie er sagt, »von allem Gerenne und Getöse«. Zugleich aber möchte er sich bei der Arbeit wohlfühlen, und als Kollege Bußmann ihm zum ersten Mal gegenübersteht, zeigt sein Gesicht nicht »die gewohnte Verzagtheit oder gar Verzweiflung der alltäglichen Verlierer«. Was erfahren wir sonst noch über den Helden? Er wohnt in einem Hochhaus, hat keinen Fernseher und sammelt Lesezeichen, alte und neue. Er nimmt sich nicht allzu wichtig und ist ein eher harmloses Gemüt, zu normal, um als Außenseiter, zu sympathisch, um als sonderbar zu gelten. Er ist einer aus der Galerie von Siegfried Lenz’ unauffälligen Helden, denen Ehrgeiz fremd ist und die diese Haltung eigensinnig verteidigen. Schon an seinem ersten Tag am neuen Arbeitsplatz wird er durch den Gedanken erheitert, »daß er auf einmal berufen war, mit den alltäglichen Verlierern zu reden, sie aufzurichten, ihnen zu helfen«.

Siegfried Lenz hat sich den Schauplatz seines Roman sehr glücklich ausgesucht. Das Fundbüro, das dem Buch den Titel gibt, ist zunächst einmal, auf der unmittelbaren Handlungs- und Erzählebene, ein ganz realer Ort, nur scheinbar grau und abseitig, in Wirklichkeit farbig und abwechslungsreich, voller Kuriositäten und absonderlicher Vorkommnisse. Auch der Humor des Erzählers kann sich daran entzünden: etwa wenn Besucher erscheinen und nach verlorenen Sachen fragen. Wie können sie den Eigentumsnachweis führen? Eine junge Schauspielerin, die im Zug ihr Textbuch liegengelassen hat, gibt auf Henrys Geheiß eine Kostprobe aus dem Stück – Henry übernimmt dabei die Rolle des Dialogpartners. Auch ein Messerwerfer, der im Fundbüro sein Arbeitszeug wiederfindet, muss seine Könnerschaft unter Beweis stellen: »ein einfacher Beweis«, sagt Henry, »der einem Profi nicht schwerfallen dürfte: zwei, drei Zielwürfe, bitte, und Sie können Ihren Kasten haben.« Es ist dann Henry selbst, der sich als Zielscheibe aufstellt. Solche humoristischen Intermezzi werden von Siegfried Lenz ganz unaufdringlich in die Erzählung eingeführt – bis hin zu der Schülerin Anna, die am Ende des Buches eine musikalische Kostprobe auf ihrer wiedergefundenen Flöte gibt und damit die Zuhörer verzaubert: »Solche Verlierer läßt man sich gefallen, Verlierer, die für Unterhaltung sorgen«, sagt Henry. Sein menschenfreundlicher Chef fügt hinzu: »Die Bearbeitungsgebühr verrechnen wir mit dem Honorar für die künstlerische Darbietung.«

Man versteht in diesen Augenblicken, warum Henry sich in seinem Fundbüro wohlfühlt und keinen höheren Ehrgeiz kennt. Aber das Fundbüro hat im Erzählzusammenhang noch eine andere Funktion. Es ist ein transitorischer Ort, bestimmt von Kommen und Gehen, Suchen und Finden, Verlieren und Gewinnen, von der Bewegung des Lebens. Man könnte auch sagen: es ist ein symbolischer Ort. Alle Vorgänge, die erzählt werden, bedeuten noch etwas anderes, besitzen einen Subtext, der das Reale symbolisch vertieft oder erhöht. Zuweilen fühlt man sich an den alten Goethe der »Wanderjahre« erinnert. Überall stecke noch etwas anderes dahinter, hat Goethe über seinen Altersroman gesagt, »jede Lösung eines Problems sei ein neues Problem«. Auch Siegfried Lenz’ Roman ist ein solches Alterswerk, vielsinnig, spielerisch, von einer Heiterkeit, die vollkommen ernst, und von einem Ernst, der ganz heiter ist.

Dabei kann man sich durchaus Leser vorstellen, denen das Buch konventionell erscheint und die darin die erzählerische Verve vermissen, erst recht die sogenannte »Modernität«, und zwar sowohl in der Art des Erzählens als auch in seinem Thema oder Gegenstand. Tatsächlich ist man hier für einige Lesestunden der Darstellung des harten, realen Lebens entrückt, ohne es als Mangel zu empfinden. Vielmehr genießt man den milden Sog der Erzählung, die Gemessenheit des Stils, die Wärme des Humors, die unaufdringliche Lebensklugheit, erst recht den Verzicht auf Effekte und kalkulierte Pointen, auf Schockwirkungen jeder Art.

Vielleicht liegt es an der urvertrauten Melodie der Sprache von Siegfried Lenz, die darauf verzichten kann, mit ihrem Reichtum zu prunken oder ihre Einfachheit bewusst auszustellen. Das war schon immer ein Merkmal dieses Schriftstellers, nur dass es sich im Alter weiter verstärkte. Es passte auch zur Biographie von Siegfried Lenz, die vollständig frei war von sensationellen Aspekten und erst recht von Skandalen. Für die Öffentlichkeit verschwand sein Leben vollständig hinter seinem Werk. Zu einem Bewohner des Elfenbeinturms ist er deswegen nicht geworden, er hat sich vielmehr zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Fragen immer wieder engagiert oder, wie man sagt, »eingemischt«, wenngleich stets mit Augenmaß und persönlicher Zurückhaltung.

Überdies war er, wie eingangs erwähnt, ein Muster an Stetigkeit. Die gesamte Geschichte der Bundesrepublik hat er begleitet: Das macht ihn zu einer singulären Gestalt unter den deutschen Autoren, noch vor Günter Grass und Martin Walser. Dabei war er nie von dem Ehrgeiz angetrieben, der repräsentative Autor oder auch nur ein repräsentativer Autor dieses Landes zu sein. Er wurde es ganz einfach durch sein Werk. Auch dieses Werk existiert in dieser Kontinuität und Dimension dank der unglaublichen Stetigkeit, die Lenz noch in hohem Alter und unter physischen Schmerzen seinen Ort am Schreibtisch suchen ließ. »Ich habe früh festgestellt«, hat er im Gespräch gesagt, »dass, wenn man schreibend leben möchte, Sitzfleisch dazu gehört, nicht nur Inspiration, sondern Sitzfleisch, Starrsinn, Ausdauer …« – »Übrigens Qualitäten«, hat er hinzugefügt, »die auch Goethe festgestellt hat, wenn ich das in diesem Atemzug sagen darf.« Ein Muster an Stetigkeit war Siegfried Lenz auch im Verhältnis zum Verlag Hoffmann und Campe: Dort erschien 1951 sein erster Roman »Es waren Habichte in der Luft«, er war fünfundzwanzig Jahre alt. Und bei diesem Verlag ist er die folgenden fünfundsechzig Jahre geblieben.

Blicken wir einen Augenblick zurück. Lenz’ Debütroman handelte von Schrecken und Entscheidungsnot, aber auch – darin mit »Fundbüro« vergleichbar – von der Möglichkeit richtigen und falschen Handelns. Ein Roman, der durch Thema, Sprache und Form typisch war für den Geist der frühen Nachkriegszeit. Der junge Autor zeigte, dass er seine Lektion gelernt hatte: die geschichtliche Lektion eines jungen Deutschen, der im masurischen Ostpreußen geboren worden war, als Siebzehnjähriger in den Hitler-Krieg gezogen und durch ihn seiner Illusionen (wenn er denn welche gehabt hatte) beraubt, dafür um einige schmerzhafte Erfahrungen bereichert worden war. Davon hat Siegfried Lenz vierzig Jahre später in der großartigen Erzählung »Ein Kriegsende« berichtet. Den Satz von André Gide »Ich baue nur noch auf die Deserteure« hat er beherzigt, sein Gewehr weggeworfen und sich durchgeschlagen von Versteck zu Versteck in den dänischen Wäldern. Er war neunzehn, als Krieg und Naziherrschaft zu Ende waren, er begann zu schreiben, als die Bundesrepublik gegründet wurde, und er war bereits einer ihrer bekanntesten Schriftsteller, als sie im Wirtschaftswunder blühte und mit ihrer Vorgeschichte allzu früh fertig zu werden schien. Früher als vielen anderen war Lenz bewusst, dass die Heimat seiner Kindheit und Jugend unwiederbringlich verloren war.

Dieser Erfahrung, diesem Thema ist der Schriftsteller niemals entkommen. Vor allem seine beiden dem Umfang nach größten Romane sind davon bestimmt: »Deutschstunde« und »Heimatmuseum«, erschienen im Zehn-Jahre-Abstand 1968 und 1978. Diese Bücher stellen so etwas wie epischen Geschichtsunterricht dar, ohne in dieser Kennzeichnung völlig aufzugehen. Die »Deutschstunde«, in viele Sprachen übersetzt, weltweit mit fast drei Millionen Exemplaren verkauft, verbindet sich wie kein anderes Buch mit dem Namen des Autors. Es ist die Geschichte hauptsächlich dreier Menschen: des jungen Siggi Jepsen, der 1954 als Insasse einer Jugendstrafanstalt eine Strafarbeit über das Thema »Die Freuden der Pflicht« schreiben muss, die sich zu einem weitgespannten und intensiven Erinnerungsprotokoll seiner Kindheit und Jugend ausdehnt, ferner von Siggis Vater, der in dem fiktiven schleswig-holsteinischen Dorf Rugbüll in den letzten Jahren des NS-Regimes den Polizeiposten versieht, sowie des Malers Max Ludwig Nansen, dem vom herrschenden Regime ein Malverbot auferlegt ist, das Siggi Jepsens Polizisten-Vater, ein pathologischer Pflichtmensch, zu überwachen hat. Die Kontinuitäten eines so fragwürdigen Pflichtbewusstseins werden bis in die Nachkriegszeit untersucht, in der Nansens Malverbot längst aufgehoben ist, der alte Jepsen seinen Zwangscharakter aber nicht ablegen kann. So werden an einem bestimmten Ort, in konkreten Situationen, in einer spezifischen Figurenkonstellation Grundstrukturen deutscher Geschichte und Mentalität sichtbar gemacht.

Zehn Jahre später erschien »Heimatmuseum«, mit über tausend Seiten Lenz’ umfangreichster Roman, sein Opus magnum, auch wenn es zu Unrecht im Windschatten der »Deutschstunde« blieb. Salman Rushdie hat dieses Buch einen weiteren Beweis für die unbestreitbare Tatsache genannt, »daß der große epische Roman heute die zentrale, die lebendigste Form der westlichen Literatur ist«. Das wichtigste Wort des Buches steht bereits im Titel: Heimat. Ein Wort reich an Bedeutungen und Ambivalenzen, und ein Wort, das trennend zwischen Vergangenheit und Gegenwart steht, seit es durch seinen geschichtlichen Missbrauch in den tiefsten Abgrund gestürzt ist. Zygmunt Rogalla, ein alter Masure, Meister im Entwerfen und Knüpfen masurischer Teppiche, liegt mit schweren Brandwunden im Krankenhaus. Einem ständigen Besucher am Krankenbett erzählt er, wie er sie sich zugezogen hat. Das ist die Rahmenhandlung für eine tief ins zwanzigste Jahrhundert zurückgreifende, aus der Erinnerung heraufbeschworene Geschichtserzählung, ansetzend in Rogallas Kindheit vor dem Ersten Weltkrieg. Mit üppigem Schwung wird die Welt Masurens beschworen, eine Kleinstadt namens Lucknow samt Umgebung, Fakten und Folklore, östlichen Aventüren und genügend Zeitgeschichte, um über den Ersten Weltkrieg zum Zweiten zu gelangen, zur Katastrophe seines Anfangs und zur großen Flucht an seinem Ende, schließlich in die neue Zeit nach dem Krieg mit all ihren restaurativen Tendenzen. Sie bringen Rogalla zu dem Entschluss, ein feuriges Zeichen zu setzen und mit dem masurischen Heimatmuseum, das er in liebevoller Arbeit aufgebaut hat, den Fetisch einer erstarrten Erinnerung zu vernichten, um Raum zu schaffen für eine bessere, unverfänglichere Form, sich mit der Vergangenheit zu verbinden.

Rogalla nähert sich dem Thema »Heimat« mit den Worten: »Heimat, das ist für mich nicht allein der Ort, an dem die Toten liegen; es ist der Winkel vielfältigster Geborgenheit, es ist der Platz, an dem man aufgehoben ist, in der Sprache, im Gefühl, ja, selbst im Schweigen aufgehoben, und es ist der Flecken, an dem man wiedererkannt wird; und das möchte doch wohl jeder eines Tages: wiedererkannt, und das heißt: aufgenommen werden …« Für Rogallas Freund Conny ist Heimat dagegen »gemütlichste Blindheit«. Auch wenn Heimat trotz immer neuer Anläufe nicht genau definiert wird, ist ihre Essenz nachzuerleben in den zahlreichen Genrebildern und oft grausamen Idyllen, die der Autor durch den Mund des Erzählers entwirft, ausmalt, beschwört: in einer dichten, verhakten, immer komplexer verwobenen Prosa, für die das Bild des Teppichknüpfens sicher nicht zufällig gewählt ist. Das reicht von herrlichen Naturschilderungen und alten Volkssagen über originelle Jugendabenteuer, Beschreibungen der Eingesessenen und des fahrenden Volkes, der Natur- und Gewaltmenschen bis zu Miniaturen der Sehnsucht nach einem einfachen Leben, das aber stets als verlorene Möglichkeit kenntlich bleibt. Der Erzählstrom ist nicht aufzuhalten von der ersten bis zur letzten Seite, und er gipfelt in der Schilderung des großen Landfestes, in dessen Dunst Rogalla allzu bereitwillig eintaucht, in der trügerischen Glücksminute am Vorabend von Hitlers Überfall auf Polen.

Salman Rushdie hat Lenz’ großen Roman mit den Danziger Büchern von Günter Grass verglichen und angemerkt, »daß die Grundstimmung in ›Heimatmuseum‹ düsterer ist, als Grass in seinen Werken jemals war. Was nicht etwa heißt, daß sie weniger bemerkenswert wäre: Ich behaupte, dass niemand, der die Schilderung von Lucknow während der letzten, dunklen Tage des Zweiten Weltkriegs liest, sie jemals vergessen wird.«

Marcel Reich-Ranicki hat mit Blick auf Lenz’ große Romane Thomas Mann zitiert: »Nicht deutscher kann’s zugehen, als wo Deutsches mit Deutschem gezüchtigt wird.« Das gilt für das gesamte Werk von Siegfried Lenz und bereits für seine frühen Bücher. Der Debütroman »Es waren Habichte in der Luft« spielt im finnisch-russischen Grenzgebiet nach dem Ersten Weltkrieg und handelt von einem Lehrer, der den Widerstand gegen eine Besatzerarmee und ein totalitäres Regime organisiert und dabei zum Opfer der Verhältnisse wird. Im zweiten Roman »Duell mit dem Schatten« von 1953 fährt ein deutscher Oberst mit seiner Tochter nach Libyen, an einen Schauplatz des Zweiten Weltkriegs, um sich mit der eigenen Lebensschuld zu konfrontieren, mehr freilich um Rechtfertigung als um Begreifen bemüht. Die Tochter stellt sich dem Vater entgegen, befreit sich von dessen Machtanspruch in einem Konflikt, der im Verhältnis der (damals) jüngeren Generation zur Generation der Väter als exemplarisch zu verstehen ist. Beide frühen Romane entwerfen existentialistische Modell- und Entscheidungssituationen: Das verantwortlich handelnde Individuum muss sich bewähren, was ein tieferes Scheitern nicht ausschließt. Etwas Schicksalhaftes, Tragisches ist im Spiel. Daran mag es liegen, dass Lenz, sosehr er um Einfachheit und Geradlinigkeit bemüht ist, in den frühen Büchern in eine nicht selten angestrengte, pathetische, expressionistische Sprache verfällt. Sie wirkt von heute aus viel zeitgebundener als die gelassene, lebensvolle und vom konkreten Detail sich nährende Prosa seiner frühen Kurzgeschichten, deren hintergründige Simplizität ihren Reiz bis heute nicht eingebüßt hat.

In diesem Zusammenhang könnte man sich wieder dazu verleiten lassen, Lenz als Verfasser von Erzählungen und Kurzgeschichten gegen den Romancier auszuspielen. Lange Zeit, bis in die späten sechziger Jahre, galt er, obwohl er bereits mehrere Romane vorgelegt hatte, als Meister der erzählerischen Kurzform, der short story, nach angelsächsischem Vorbild. Einige seiner Geschichten haben klassischen Rang erlangt, sind schon bald in die Schulbücher eingegangen. Marcel Reich-Ranicki, obwohl Lenz freundschaftlich verbunden, dekretierte 1963: »Dieser Erzähler ist ein geborener Sprinter, der sich in den Kopf gesetzt hat, er müsse sich auch als Langstreckenläufer bewähren.« Ein Urteil, das wenn nicht widerlegt, dann längst relativiert ist durch Romane wie »Deutschstunde« und »Heimatmuseum« oder ein Spätwerk wie »Arnes Nachlass« – epische Entwürfe von imponierendem Reichtum und konstruktiver Kraft, die jeden Zweifel entkräften, wir hätten es bei Lenz nur mit einem Kurzstreckenläufer zu tun. Und doch bleibt die Formel vom »Geschichtenerzähler« im Kern gültig: Lenz gehört in die nicht kleine Reihe von Autoren, die wie Maupassant und Hemingway oder, in deutscher Sprache, wie Schnitzler und Böll trotz bedeutender Romane ihr Bestes in der erzählerischen Kurzform gegeben haben. »Ich bekenne, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen«, hat Lenz gesagt. Die Welt lieferte ihm unaufhörlich Stoff für Geschichten und zugleich Stoff für die alte Schriftstellerhoffnung, die Welt durch Geschichten wenn nicht begreifbarer, so doch überschaubarer zu machen. Lenz war wie Schnurre und Böll ein Wegbereiter der short story in der Bundesrepublik, und wie diese Kollegen hat er seine angelsächsischen Vorbilder, voran Hemingway und Fitzgerald, nicht verleugnet. Die Kurzgeschichte war ja nach dem Zweiten Weltkrieg nicht irgendein literarisches Genre unter anderen, sie war gleichsam Programm: knapp in der Form, wirklichkeitsnah in der Thematik, nüchtern in der Sprache, glänzte sie durch eine Eigenschaft, die Alfred Polgar einst an Hemingway gerühmt hatte: kein Gramm Literaturfett.

Ein schönes Beispiel ist Lenz’ allererste Erzählung »Die Nacht im Hotel« von 1949, die Arbeit eines Zweiundzwanzigjährigen, nur vier Seiten lang, präzis in der Milieu- und Figurenzeichnung, geladen mit Zeitstimmung. Da ist der schwermütige Junge, der zwischen den Trümmern aufwächst, der Kriegsinvalide, der desillusioniert aus dem großen Gemetzel zurückgekehrt ist, da ist schließlich das triste Hotel, das den Schauplatz bildet. Man kann aus der Geschichte eine Botschaft herauslesen, die lauten könnte: Es kommt nicht mehr auf die erhabenen Worte und die hehren Ideale an, die schlimm missbraucht worden sind, sondern auf die kleinen Freundlichkeiten zwischen den Menschen. »Die Nacht im Hotel« ist eine existentialistisch getönte Modellgeschichte von Lesebuchformat, fast ohne Vorbild in deutscher Sprache, sieht man ab von den Kalendergeschichten Brechts und den hundertfünfzig Jahre älteren von Johann Peter Hebel.

Lenz hat viele Geschichten geschrieben, die in der großformatigen Gesamtausgabe von 2006 mehr als 1500 Seiten füllen. Ihr Autor wird da mit den Worten zitiert: »Denn was sind Geschichten? Man kann sagen, zierliche Nötigungen der Wirklichkeit, Farbe zu bekennen. Man kann aber auch sagen: Versuche, die Wirklichkeit zu verstehen, wo sie nichts preisgeben möchte. In jedem Fall sind mir Geschichten immer wie Tellereisen vorgekommen, die man zur Vergeltung auslegt: weil die Wirklichkeit sich selbst unaufhörlich bestreitet, sucht man sie in kleiner Falle zu fangen und zur Offenbarung ihrer Identität zu zwingen.« Diese Geschichten, sicher in der Themenwahl, reich an Figuren und Charakteren, unermüdlich in der Abwandlung von Modellsituationen, bezeugen Lenz’ fast unerschöpfliche Erfindungskraft, die noch in hohem Alter mit einigen zarten, bekenntnishaften Liebesgeschichten das thematische Spektrum wunderbar erweiterte. Die Welt dieses Autors war lange eine männliche Welt gewesen, bestimmt durch die Erfahrung des Krieges und der Diktatur, und ihre Vorratskammer war auch nach vier Jahrzehnten noch nicht erschöpft. In der Erzählung »Ein Kriegsende« von 1984 etwa wird nüchtern und lakonisch erzählt, wie die unerbittliche Konsequenz von Militär und Justiz, wie unbedingter Gehorsam und Pflichterfüllung bis in den Tod selbst die Kapitulation überdauern und verhindern, in der militärischen Niederlage eine Möglichkeit der Befreiung zu finden. Obwohl als Vorlage für einen Fernsehfilm geschrieben, gelang Lenz hier noch einmal, wie Reich-Ranicki schrieb, ein »novellistisches Glanzstück«.

Person und Werk von Siegfried Lenz fasste der Kritiker damals in die Formel: »Der gütige Zweifler«. Sie ist einprägsam und gewiss nicht falsch. Güte und Zweifel, einander scheinbar widerstreitend, gehören in der Lenz’schen Erzählwelt unauflöslich zusammen. Wobei die Güte den Menschen gehört, die zu Opfern werden, die Zweifel aber den Prinzipien gelten, die Menschen zu Tätern werden lassen. Man findet diese Konstellation in Meistererzählungen der fünfziger und sechziger Jahre, wie »Mein verdrossenes Gesicht«, »Stimmungen der See«, »Das Feuerschiff« und »Der Verzicht« ebenso wie in den späten Geschichten des Erzählungsbandes »Ludmilla«. Sie erzählen von geringfügigen Begebenheiten, Alltagssituationen, Momentaufnahmen: von einem Soldaten, der beim Drill auf dem Übungsgelände seinen Feldwebel verletzt, in Panik das Weite sucht und bei der verspäteten Heimkehr in die Kaserne erschossen wird; von einem Universitätsdozenten, dessen Kurzurlaub in einem touristischen Animationsclub auf lächerliche Weise scheitert; von einem promovierten Altphilologen, der keine andere Arbeit findet, als Lexika an Haustüren zu verkaufen – darüber geht fast seine Ehe in die Brüche. Lenz erzählt von psychischen Notlagen, wie sie den Menschen durch die Verhältnisse aufgezwungen werden, in einer beiläufigen und diskreten Weise, ohne Pathos der Anklage, aus dem Wissen heraus, dass die Dämonen des Alltags oft in kleinen Dingen stecken. Dabei macht er »die Verhältnisse« nicht für alles verantwortlich, er weist auch auf die Verantwortung des Einzelnen für die Verhältnisse hin. So war er, um eine andere Formel Reich-Ranickis zu verwenden, ein »gelassener Mitwisser«. Wie Cervantes, Dickens und Thomas Mann, um nur einige seiner berühmten Kollegen zu nennen, besaß er die beiden wichtigsten Eigenschaften des großen Epikers: Gelassenheit und Humor. Doch lässt sich an seinen Geschichten, mehr noch als an seinen Romanen, auch die handwerkliche Könnerschaft bewundern. »Siegfried Lenz ist ein Autor, der Schüler haben sollte«, schrieb Peter von Matt. »Wie sehr er die schlauen Geheimnisse des Handwerks kennt und über die Tricks der Meisterschaft verfügt, zeigen [seine] Erzählungen. So spannend die Geschichten alle sind, spannender noch ist es zu beobachten, wie die Spannung entsteht, wie sie geplant und angelegt, gesteigert und wieder zurückgenommen und schließlich zum Finale gebracht wird. So wie dieser Autor erzählt, hat Hemingway gefischt. Alles ist ausgerichtet auf die letzten wilden Sekunden, bevor der Fisch an Bord gezogen wird oder wieder in die Tiefe fährt, und doch gilt jeder Einzelheit eine Aufmerksamkeit, eine epische Zuneigung, als gäbe es nur sie und alles andere spielte keine Rolle.«

Hemingway war der Leitstern des jungen Siegfried Lenz, und in einem bekenntnishaften Essay mit dem Titel »Mein Vorbild Hemingway« hat er es offen eingestanden: »Ein Schriftsteller hat durchaus das Recht, andere Schriftsteller zu bewundern«, heißt es da. »Ein Schriftsteller hat auch das Recht, sich von anderen Schriftstellern beeinflussen zu lassen – vorausgesetzt allerdings, daß er die Qualität des Einflusses verantworten kann. Ich glaube sogar, daß Bewunderung, die zur unwillkürlichen Beeinflussung führt, für einen Schriftsteller nicht der schlechteste Anfang für die eigene Arbeit ist; indem wir auf verschiedene Weise gezwungen werden, uns den fremden Anteil einzugestehen, kommen wir allmählich dahin, unsere eigenen Bücher zu schreiben.« Der junge Autor, der mit neunzehn Jahren als Deserteur das Ende des Krieges erlebt hatte, fand bei Hemingway die Wahrheit einer »Welt im Krieg«, die seiner Erfahrung entsprach: »Die Haltung des Menschen wird in all seinen Konflikten von der Kriegsregel bestimmt«, schrieb er über Hemingway. »Es gibt keine Sicherheit, keinen dauernden Frieden, sondern nur die Gefahr, die eine glänzende Gelegenheit zur Würde ist, es gibt wortlose Abschiede, stumme Schmerzen und Tode. Was allein gilt, ist die Wirklichkeit des Kampfes – eine Wirklichkeit, die auch da besteht, wo anstelle des gegnerischen Soldaten der Stier getötet wird, der Löwe oder der große Fisch.« Doch hat sich Lenz von Hemingways Feier der Tat, den Momenten gewaltsamer Erprobung, allmählich gelöst, um auch die Vor- und Nachgeschichten zu untersuchen und dem notorischen Scheitern seine »Vision der Ausdauer« entgegenzusetzen. So wurde Faulkner, der große Gegenstern am amerikanischen Romanhimmel, für ihn immer wichtiger, er löste das »Vorbild Hemingway« gewissermaßen ab. Bei Faulkner begegnete Lenz einer anderen fundamentalen Erfahrung, dass nämlich Vergangenheit nie aufhört, ja, dass sie in der menschlichen Seele fortbesteht und nicht einmal vergangen ist.

Siegfried Lenz hing der Überzeugung an, dass Literatur nicht um ihrer selbst willen entsteht, sondern stets an einen – wenn auch nicht klar definierten – Adressaten gerichtet ist, von einer »unwillkürlichen didaktischen Energie getragen wird«. Noch in der hermetischsten Lyrik glaubte er solche didaktischen Impulse zu erkennen. Da seine Didaktik unaufdringlich daherkam, bestimmt von Anteilnahme an den einfachen Menschen, hat er dadurch den Weg gerade auch zu jungen Leuten gefunden, und dafür haben ihm die Schüler des Weilheimer Gymnasiums im Jahre 2001 ihren Literaturpreis verliehen – Helmut Schmidt sprach damals die Laudatio. Obwohl der Schriftsteller die Welt keineswegs vernunftgemäß eingerichtet fand, wollte er sie doch bessern und erleuchten, durch Literatur aufklären. Beides wurde ihm zuweilen angekreidet: die pädagogische Unverdrossenheit nicht weniger als die Haltung des Epikers, der sich bemühte, die Welt und die Menschen lieber zu verstehen als sie zu verurteilen oder zu richten. Wenn Lenz Partei ergriff, dann nicht im Sinne eines theoretischen Programms oder eines abstrakten Gesellschaftsentwurfs, sondern gemäß den Möglichkeiten der Literatur, die nur im Leser, in vielen Einzelnen, ihren Verbündeten finden kann. Die Literatur ist zwar nur eine immaterielle Macht, unfähig, direkt in Politik und Gesellschaft einzugreifen, das ist aber kein Grund, sie zu unterschätzen. Sie ist das Mittel, wie es in Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« einmal heißt, die Starre der politischen Institutionen aufzulösen und uns an die Vielfalt unserer Wahrnehmungen zu erinnern. Lenz kam es vor allem darauf an, die Sprache zu verteidigen gegen alle Versuche, sie unter Gewaltanwendung zu missbrauchen: »Ein Schriftsteller, der einmal dem Sprachzwang huldigte, wird dieses Vergehen wie ein Stigma zu tragen haben«, schrieb er in dem Essay »Der Künstler als Mitwisser«, »er wird – und es gibt auch in dieser Hinsicht Beispiele – kaum noch zum Wagnis des freien Worts zurückfinden. Wenn die Sprache beschädigt ist, dann fällt Dunkelheit auf unser Denken; ein Denken aber, das seine Klarheit eingebüßt hat, ist nicht mehr in der Lage, uns bei der Suche nach der Wahrheit zu helfen.« Bei Lenz gibt es keine Indienstnahme der Literatur für außerliterarische Zwecke, aber auch keinen verzückten Gebrauch der eigenen Kunstmittel. Kennzeichnender ist eine epische Behutsamkeit, die ihm den Ruf eingetragen hat, ein Traditionalist zu sein, ein altmodischer Erzähler fast im Sinn des neunzehnten Jahrhunderts. Als er 1967 auf der letzten, durch politischen Zwist erhitzten Tagung der Gruppe 47 in der Pulvermühle aus dem Manuskript der »Deutschstunde« vorlas, kam er schlecht weg, man warf ihm vor, seine Sprache biete »zuwenig Widerstand«. Tatsächlich begegnet in seiner besten Prosa der sensitive Reichtum der russischen Novellisten dem Lakonismus der Angelsachsen. Als seien Turgenjew’sche Entwürfe von Hemingway umgeschrieben worden.

Das ist nicht als Einwand zu verstehen. Und ist auch von den Millionen Lesern, die Lenz gefunden hat, nicht als Einwand verstanden worden. Vor fünfzig Jahren hat er, der von literarischen Theorien wenig hielt, sein episches Programm formuliert: den Wunsch, wie er damals schrieb, einen »wirkungsvollen Pakt mit dem Leser« zu schließen. Der Text ist oft zitiert worden, im Pro und Contra, aber er ist so kennzeichnend für Lenz und überdies so gültig geblieben, dass es kein Wagnis ist, ihn hier noch einmal zu zitieren. Worauf kam es Lenz an? »Die Herkunft einer allgemeinen Trauer zu bestimmen, das Scheitern unserer Entwürfe zu begründen, die Furcht verständlich zu machen und der Hoffnung Namen zu geben, dies, stelle ich mir vor, gehörte dazu. Und ich stelle mir auch vor, daß diese Versuche nicht fehlen dürfen: den Schrecken zu neutralisieren und die Not als veränderbar zu beschreiben, die Chance der Sprache zu belegen und zu zeigen, daß es richtiges und falsches Handeln gibt.«

Solche Sätze sind auch nach fünfzig Jahren noch zitierbar. Da Lenz nie dazu neigte, den Mund voll zu nehmen, brauchte er auch nur wenig zurückzunehmen. Von der Literatur hat er gesagt, sie sei »eine Wieder-Erfindung der Welt«. In der Erzählung »Ein geretteter Abend« hat er diese Formel einem Volkshochschulreferenten in den Mund gelegt, der am Beispiel eines Seeaquariums die Gesetze von Literatur und Kritik erläutert. Sie verblüfft durch ihre Einfachheit, was ihre Gültigkeit nicht einschränkt. Lenz neigte nicht dazu, den Intellektuellen herauszukehren, er mied das Theoretisieren und zog die bündige, ergebnisorientierte Darlegung seiner Gedanken vor. Das gibt seinen Essays und Kritiken, die in der Werkausgabe zwei starke Bände füllen, einen Anschein von Simplizität, der zu ihrer Unterschätzung einlädt. In Wirklichkeit belegen diese Arbeiten, dass sich auch in nüchternem Zustand tief loten lässt und dass die Substanz einer Aussage nicht von der Zahl der Worte abhängt. Lenz brilliert nicht mit analytischen Höhenflügen oder dialektischem Tiefsinn, er zieht es vor – stets mit dem bescheidenen Gestus von »Mutmaßungen« –, die Quintessenz seines Nachdenkens vorzutragen.

Als 1999 der Roman »Arnes Nachlaß« erschien, sprach Dieter Borchmeyer von der »späten Meisterschaft des Siegfried Lenz«, die er höher stellte als seine frühe Kunst. Der Preis, den Lenz dafür habe zahlen müssen, sei allerdings der Verlust des Humors: »Lenz ist der größte Melancholiker der deutschen Gegenwartsliteratur. Die schwarzen Flügel der Melancholie haben die Heiterkeit aus seiner späten Prosa verscheucht.« Dem soll hier behutsam widersprochen werden. Man mache die Probe aufs Exempel mit Lenz’ letztem Roman »Fundbüro«. Das nach außen so sanfte Buch – der Rezensent der ›Zeit‹ nannte es den »philanthropischsten Roman, den wir seit langer, langer Zeit gelesen haben« – erzählt ja nicht nur von der Freundlichkeit der Welt, auch wenn Henry Neff im Fundbüro eine Art Insel der Seligen zu sehen scheint: das Abseits als sicheren Ort. Doch so leicht macht Lenz es seinem Helden nicht. Unversehens sieht sich Henry Neff mit den Einbrüchen einer raueren Wirklichkeit konfrontiert, vor der er eigentlich hatte flüchten wollen: Sein Kollege Bußmann verliert den Arbeitsplatz, wird wegrationalisiert; sein Freund, der baschkirische Mathematiker Fjodor Lagutin – auch ihn hat er gleichsam als Fundsache kennengelernt –, muss sich fremdenfeindlicher Übergriffe erwehren; verstört reist er daraufhin in seine Heimat zurück. Henry Neff kann da nicht neutral bleiben, er muss Partei ergreifen und zuletzt, nach einigem Zögern, tatkräftig handeln. Als eine Motorradgang, sinnlos gewalttätig, zunächst ihn selbst, dann den Freund Lagutin und zuletzt einen farbigen Postboten bedroht, ergreift er den Eishockeyschläger und setzt sich zur Wehr. Es gibt Situationen, wo Argumente versagen und nur zivile Gegenwehr helfen kann. Und noch wichtiger ist, dass Henry durch sein Handeln auch andere zum Eingreifen ermutigt.

Hier lässt sich einwenden, die Geschichte sei zu schön, um wahr zu sein, und die Wirklichkeit ganz anders. Das aber wusste auch Siegfried Lenz. Doch war er frei von dem Ehrgeiz, mit einem »realistischen« Roman ein umfassendes Bild der Wirklichkeit geben zu wollen. Eher trifft das Gegenteil zu. Er verzichtete auf epische Breite und sprachlichen Aufwand, auf alle Modernitätsräusche der Romankunst, beschränkte sich auf wenige Figuren, Situationen und Milieus. Im Kern erzählt er in »Fundbüro« eine existentialistische Parabel, in der mancherlei Symbolik versteckt ist. Er erzählt mit einer – scheinbaren oder wirklichen – Simplizität, die in ihren Kunstgriffen fast mechanisch und in ihrem Wirklichkeitsgehalt beinahe sklerotisch wirkt. »Fundbüro« ist ein soziales Märchen. Deswegen der eigentümlich heitere Glanz, der über diesem Alterswerk liegt. Man könnte auch einen anderen Gattungsbegriff einführen und von einem utopischen Roman sprechen. Nicht im landläufigen Sinn der schwarzen Utopie, wie bei Orwell, oder der rosa Utopie, wie bei Huxley. Eher als humane Utopie im Geist des achtzehnten Jahrhunderts. Lenz beschreibt nicht die beste aller Welten (sie gibt es bekanntlich nicht), sucht aber unverdrossen im schlechten Wirklichen nach dem besseren Möglichen. Damit erinnert sein letzter Roman an Voltaires »Candide«, ein Buch, das gegen den Optimismus streitet, ohne dem Pessimismus zu verfallen. Sein letzter Satz lautet: »Il faut cultiver son jardin« – »man muss seinen Garten bebauen«.

Nachweise