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Wolfgang Matz

Adalbert Stifter

oder Diese fürchterliche
Wendung der Dinge
 
Biographie

 

 

 

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für Elisabeth

 

 

 

 

Zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich die Welt:

die Ordnung und die Unordnung.

Paul Valéry

Inhalt

PROLOG
Aufbruch vor Tag

ERSTER TEIL
Auf dem Weg

ERSTES KAPITEL
Kindheit im böhmischen Dorf

ZWEITES KAPITEL
Ein Zögling in Kremsmünster

DRITTES KAPITEL
In die Wildnis der Stadt

VIERTES KAPITEL
Éducation sentimentale

ZWEITER TEIL
Prekäres Gleichgewicht

ERSTES KAPITEL
Der Dichter greift zur Feder

Der Condor – Feldblumen – Das Haidedorf

ZWEITES KAPITEL
Eheszenen

DRITTES KAPITEL
Waldphantasien eines Städters

Der Hochwald | Wien und die Wiener

VIERTES KAPITEL
In den Wohnungen der Vorfahren

Die Mappe meines Urgroßvaters | Die Narrenburg

FÜNFTES KAPITEL
Sonnenfinsternis

Abdias | Die Sonnenfinsternis am 8. Juli 1842 | Das alte Siegel | Brigitta

SECHSTES KAPITEL
Bildnis eines Klassikers

Studien

SIEBENTES KAPITEL
Der unfruchtbare Feigenbaum

Der Hagestolz | Der Waldsteig | Die Schwestern | Der beschriebene Tännling

ACHTES KAPITEL
Figuren der Einsamkeit

Zuversicht | Der Waldgänger | Prokopus

NEUNTES KAPITEL
Revolution!

DRITTER TEIL
Auf des Messers Schneide

ERSTES KAPITEL
Das sanfte Gesetz

Die Pechbrenner | Bunte Steine | Kalkstein | Bergkristall | Kazensilber – Turmalin

ZWEITES KAPITEL
Ein Nachsommertagtraum

Der Nachsommer

DRITTES KAPITEL
Obstruktionen

Nachkommenschaften

VIERTES KAPITEL
Die Große Geschichte

Witiko | Der Waldbrunnen

FÜNFTES KAPITEL
In die weiße Finsternis

Der Kuß von Sentze – Der fromme Spruch | Die Mappe meines Urgroßvaters | Aus dem bairischen Walde

EPILOG
Über die Berge

ANHANG

Nachwort zur Neuausgabe
Literatur und Biographie
Nachweise
Bibliographie
Register

PROLOG

Aufbruch vor Tag

Warum schreibt einer? Womit hat er sein Leben verbracht? Was hat ihn einen Weg geführt, auf dem er kein Glück fand und der sich jetzt zum Ende neigt? Wo liegen die Ursprünge eines Menschen und dessen, was er getan hat? Je näher das endgültige Dunkel rückt, desto drängender werden die Fragen, desto unausweichlicher die Suche nach einer Antwort. Viel Zeit bleibt nicht mehr, und bald ist es Nacht. Wo aber wäre diese Antwort zu finden? Je dichter die Finsternis, desto tiefer taucht der Blick zurück in die fernsten Fernen der Vergangenheit, in die Anfänge eines Lebens, das fast vorüber ist.

Ein alter Mann sitzt am Tisch und schreibt. Schreibend hat er sein Leben gelebt und schreibend erlebt er sein Ende. Und nur schreibend gelingt es ihm, sich jenen Fragen zu stellen, die er beantworten muss, denn bald ist es zu spät. Die Worte tasten sich zurück in eine dunkle Ferne, in der es keine Worte gibt, wo aber der Ursprung all dessen liegt, was der Mann je geschrieben hat. Jetzt oder niemals muss er finden, wonach er sucht. Ein alter Mann sitzt im Hause seiner Kindheit am Tisch und tastet mit Worten nach den frühesten Anfängen seiner selbst. Er schreibt.

»Weit zurück in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich. Die Merkmale, die festgehalten wurden, sind: es war Glanz, es war Gefühl, es war unten. Dies muß sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe, weite Finsternis des Nichts um das Ding herum.

Dann war etwas anderes, das sanft und lindernd durch mein Inneres ging. Das Merkmal ist: Es waren Klänge.

Dann schwamm ich in etwas Fächelndem, ich schwamm hin und wieder, es wurde immer weicher und weicher in mir, dann wurde ich wie trunken, dann war nichts mehr.

Diese drei Inseln liegen wie feen- und sagenhaft in dem Schleiermeere der Vergangenheit, wie Urerinnerungen eines Volkes.

Die folgenden Spitzen werden immer bestimmter, Klingen von Glocken, ein breiter Schein, eine rote Dämmerung.

Ganz klar war etwas, das sich immer wiederholte. Eine Stimme, die zu mir sprach, Augen, die mich anschauten, und Arme, die alles milderten. Ich schrie nach diesen Dingen.

Dann war Jammervolles, Unleidliches, dann Süßes, Stillendes. Ich erinnere mich an Strebungen, die nichts erreichten, und das Aufhören von Entsetzlichem und zu Grunderichtendem. Ich erinnere mich an Glanz und Farben, die in meinen Augen, an Töne, die in meinen Ohren, und an Holdseligkeiten, die in meinem Wesen waren.

Immer mehr fühlte ich die Augen, die mich anschauten, die Stimme, die zu mir sprach, und die Arme, die alles milderten. Ich erinnere mich, daß ich das ›Mam‹ nannte.

Diese Arme fühlte ich mich einmal tragen. Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren. Dann war eine Empfindung, wie die erste meines Lebens, Glanz und Gewühl, dann war nichts mehr.«

Im September 1866, nur wenig mehr als ein Jahr vor seinem Tod, war Adalbert Stifter nach langer Zeit noch einmal zurückgekehrt in sein bäuerliches Geburtshaus im böhmischen Oberplan. Hier, am äußersten Rande seiner Lebenszeit und im Angesicht der Orte von Kindheit und Jugend, entstanden jene Seiten, die wahrhaft einzigartig dastehen in der Weltliteratur. Gibt es jemanden, dem gelungen wäre, tiefer einzudringen in die eigenen Anfänge? Denn es sind ja nicht einfach Kindheitserinnerungen, was hier niedergeschrieben wurde, es sind tastende Schritte in einen Bereich, der noch vor dem eigentlichen Erwachen des Bewusstseins liegt. Ein Bereich diesseits von Worten und Begriffen, diesseits der gliedernden und ordnenden Vernunft. Davon gibt bereits die Sprache dieser Aufzeichnungen Zeugnis: »Finsternis« und »Nichts«, das »Fächelnde« und das »Schwimmen«, schon dies unpersönliche »Es« sind Versuche, das Begriffslose in den ersten Lebenserfahrungen, das Gestaltlose, Wortlose frühester Eindrücke mit dem einzigen festzuhalten, was dem Erwachsenen zur Verfügung steht – mit Worten.

Stifters Sätze sind Umkreisungen, sind suchender Zugriff auf etwas, was sich niemals erfassen lässt, weil Worte die Wortlosigkeit dieser »Urerinnerungen« zwangsläufig aufheben. Unglaubhaft mag scheinen, dass diese verschwimmenden Bilder, die bis in die ersten Lebenswochen und -monate des Kindes zurückreichen müssen, auf einer tatsächlichen Erinnerung des alten Mannes beruhen; noch unwahrscheinlicher jedoch, Stifter könnte in diesen Blättern, an deren Veröffentlichung er nicht gedacht hat, seiner Phantasie freien Lauf gelassen haben. Zu ernst war die existentielle Situation; zu deutlich und drängend stand ihm das Ende vor Augen: Erschöpft von Krankheiten und Depression, ankämpfend gegen den immer stärker werdenden Sog in den Selbstmord, von einem Ort zum anderen eilend, ruhlos und durch wiederkehrende Panikzustände getrieben, versuchte er sein Äußerstes, sich Klarheit zu schaffen und Rechenschaft abzulegen über das eigene Leben. Für literarische Posen war da kein Raum.

Es war nicht wenig, was er in den Tiefen seines Gedächtnisses fand. Die erste Prägung hat Stifters Leben tatsächlich so bestimmt, wie er geschrieben hatte: »der erste Druck in das weiche Herz giebt ihm meist seine Gestalt für Lebenlang«, und bereits in der Morgenfrühe seiner Charakterbildung findet sich als formgebende Gestalt derselbe grundlegende, sein ganzes Wesen durchdringende Gegensatz. Hier ist das Kind »Wonne und Entzücken« unterworfen, dort »Entsetzlichem und Zugrunderichtendem«, und auch das Glück erlebt es als überlegene Macht, »gewaltig fassend, fast vernichtend«. Hier »Jammervolles, Unleidliches«, dort »Süßes, Stillendes«. Das Bewusstsein von einer immerfort drohenden »fürchterlichen Wendung der Dinge«, wie es später in einer der frühen Erzählungen heißen wird, durchdringt sein Leben und Werk ebenso, wie Trost und Geborgenheit zumindest in der Sehnsucht erhalten bleiben. Der Drang zur Ausgeglichenheit, zur versöhnenden Lösung der Widersprüche ist da – stärker und stärker jedoch zeigt sich die Macht des Dunklen, des Bedrohlichen und Schweren. Die Wirklichkeit der Welt wird bereits in diesen frühesten Momenten als elementare Gewalt der Dinge erfahren, als Widerstand und hinabziehende Schwerkraft: »Merkwürdig ist es, daß in der allerersten Empfindung meines Lebens etwas Äußerliches war, und zwar etwas, das meist schwierig und sehr spät in das Vorstellungsvermögen gelangt, etwas Räumliches, ein Unten. Das ist ein Zeichen, wie gewaltig die Einwirkung gewesen sein muß, die jene Empfindung hervorgebracht hat.«

Eindringlicher lässt sich in Worten das Erwachen eines Bewusstseins von der äußeren, der materiellen Welt kaum nachzeichnen – eine Außenwelt, die vor allem als Grenze erlebt wird, als Macht, als eine dem Individuum widerstehende Kraft. Und etwas von dieser Haltung hat sich Stifter ein Leben lang bewahrt: Es ist Naivität im engsten Sinne – ein Blick auf die Welt immer wieder so, als wäre es der erste, als wäre das Äußere immer wieder neu, immer wieder das Niegesehene. »Ich bin oft vor den Erscheinungen meines Lebens, das einfach war, wie ein Halm wächst, in Verwunderung geraten. Dies ist der Grund und die Entschuldigung, daß ich die folgenden Worte aufschreibe. Sie sind zunächst für mich allein.«

Diese Naivität aber hat etwas Doppelbödiges. Zum einen erblickt man hier das Bildnis eines alten Mannes, der, angelangt am Ende seiner Tage, sich selbst gegenüber zugibt, vor dem eigenen Leben als vor dem Fremdesten zu stehen, vor dem Unbegreiflichsten überhaupt. Zum anderen aber will er diesem unbegreiflichen Leben die Einfachheit des Kornhalms zusprechen. Das Einfache ist nicht weniger unbegreiflich als das Komplizierte, und die einzige Haltung, die Stifter dieser unbegreiflichen Einfachheit angemessen erscheint, ist die reglose Kontemplation. Damit schließt er die Augen vor der Erkenntnis, dass man sich dem eigenen Leben gegenüber nicht als unbeteiligter Betrachter verhalten kann. Und Stifters Leben wuchs ganz und gar nicht einfach und gerade, in der organischen Einheit einer Pflanze; es war das Leben eines Menschen, der in seinem Geist die ganze Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz erfuhr und sich in dem vergeblichen Bemühen aufrieb, die dunklen Gewalten im eigenen Inneren zu beherrschen. An keiner anderen Stelle, weder im Werk noch in den Briefen, hat Stifter sich so eindringlich klargemacht, dass jenes »Entsetzliche und Zugrunderichtende« in seinem Leben nicht einfach Folge eines äußerlichen Zufalls war, sondern angelegt in den Grundzügen seines Charakters. Was das Kind in der Morgendämmerung seines Daseins erfuhr, hat es geprägt für ein ganzes Leben.

Der naive, kindliche Zug in Stifters Wesen ist unverkennbar; um den unerfüllten Kinderwunsch kreisen ein Leben lang seine Gedanken, und nur wenige Autoren gibt es, in deren Bilderwelt das Kind eine so herausgehobene Stellung einnimmt. Viele seiner Erzählungen haben Kinder zu Hauptfiguren; eine seiner bekanntesten Sammlungen, Bunte Steine, ist ausdrücklich Kindern zugedacht, und Kindheitserinnerungen bestimmen häufig auch die Charakterzüge seiner erwachsenen Gestalten. In dem Menschen Adalbert Stifter offenbarte sich diese Naivität immer wieder als die Unfähigkeit, mit den Wechselfällen des eigenen Daseins umzugehen, als mangelndes Realitätsbewusstsein, am Ende vielleicht gar als die Weigerung, selber ins Erwachsenenalter einzutreten. Zeitlebens behielt er gegenüber den eigenen Lebensumständen die Haltung des Heranwachsenden, der außerstande ist, sich Rechenschaft abzulegen über Wünsche, Ziele, innere und äußere Widerstände und aus solchen Erkenntnissen womöglich auch praktische Konsequenzen zu ziehen. Der Autor Stifter hingegen wendete diese Wesenszüge ins Produktive. Die bewahrte Kindlichkeit wird für den Autor zur Offenheit gegenüber den Phänomenen der Welt. Verweigertes Erwachsenwerden begründet seine Fähigkeit zum immer wieder erneuerten Staunen angesichts eines jeden Dinges, das er vor seinen Augen findet. Noch der alte Mann steht fassungslos vor dem Grashalm wie nur einst das kleine Kind.

Stifters ganze Schaffenskraft beruht auf dieser Offenheit und auch Verletzbarkeit seiner schutzlosen Naivität. Ein Text wie jene späteste Kindheitsvision konnte nur von einem geschrieben werden, der das Realitätsprinzip der Erwachsenenwelt niemals ganz und gar angenommen hatte. Der Satz eines nur wenige Jahre später geborenen Zeitgenossen berührt genau diesen Punkt der künstlerischen Produktivität: »Doch Genie ist nichts anderes als die bewusst wiedergefundene Kindheit«, schrieb Charles Baudelaire im Jahre 1863, »eine Kindheit, die, um sich auszudrücken, jetzt mit erwachsenen Organen begabt ist und mit einem analytischen Verstand, der es ihr erlaubt, die Summe der unbewusst angehäuften Materialien zu ordnen.« Im Falle des Schriftstellers bedeutet die »wiedergefundene Kindheit« jedoch mehr als nur eine Wiedererweckung von persönlichen Erinnerungen im Wort; sie ist vor allem anderen die Umwandlung dieser einen, individuellen Weltsicht dieses einen Kindes in ein dichterisches Bild von der Welt. Die verstörende Erfahrung von Schrecken und Angst, zugleich aber von der Schönheit der sinnlichen Wirklichkeit, die schon der kleine Junge durchmacht, kehrt im literarischen Werk zurück als jene Ansicht einer im Tiefsten gespaltenen Natur, die das Eigentümlichste ist im Werk des Autors Adalbert Stifter. Jeder Satz, den er schreibt, wird so auch zu einer Beschwörung frühester Schrecken; jede Lösung, die er im Werk entwirft, zu dem »Süßen, Stillenden«, nach dem der Neugeborene schrie.

Ein alter Mann sitzt am Tisch und schreibt. Er ahnt, dies Leben wird nicht mehr lange dauern. Noch einmal, bevor der Abend fällt, ist er an den Ort zurückgekehrt, wo er in der Frühe seinen Weg begann. Nicht Sentimentalität hat ihn hierhergeführt, sondern die Suche nach sich selbst, jetzt, in einem Augenblick, da der alte Mann spürt, wie er sich langsam abhandenkommt. Wie schnell ist der Tag vergangen. Eine Unendlichkeit scheint der Aufbruch zurückzuliegen, doch nun, in der Rückschau, versinkt der lange Weg im Dunkel all des Vergangenen, und das Bild des Anfangs tritt immer stärker hervor. Es ist ein inneres Bild, ein Bild der Erinnerung und des Schreibens. Was draußen noch folgt, ist noch einmal das Entsetzliche, Zugrunderichtende des ersten Tages, ist die Schwärze der letzten Nacht, ist das Nichts und seine weiße Finsternis.

ERSTER TEIL

Auf dem Weg

1805 – 1837

ERSTES KAPITEL

Kindheit im böhmischen Dorf

Adalbert Stifter wurde am 23. Oktober 1805 geboren, in dem Marktflecken Oberplan, der damals Teil des habsburgischen Kaiserreichs war, heute als Horni Planá zur Tschechischen Republik gehört. Seine Eltern, Magdalena Friepes und Johann Stifter, einundzwanzig und vierundzwanzig Jahre alt, hatten am 13. August 1805 geheiratet; der geringe, allzu geringe Abstand zwischen Hochzeit und Geburt des ältesten Kindes passte später nicht mehr ins Weltbild des Dichters, der so viel Wert legte auf Sitte und Ordnung, und so datierte er in Lebensläufen seinen Geburtstag kurzerhand ein Jahr voraus. Geboren am 23. Oktober 1806. So kam wenigstens im Schriftlichen die Welt wieder zu ihrer angemessenen Ordnung.

Ordnung – dies ist das Leitwort für Stifters Bild von seiner Heimat. Auch wenn man die späteren Stilisierungen der ländlichen Gesellschaft zu einer heilen und geschlossenen Welt, in der jeder und jedes seine angestammte, unbezweifelbare Stelle fand, nicht umstandslos als Wirklichkeit nehmen darf, so bildete das Dorf zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts – Oberplan zählte damals kaum einhundert Häuser – dennoch einen von Stabilität und Tradition geprägten Raum. Das slawische Planá bedeutet Fläche; die »obere Plan«, wie die deutschen Einwanderer das Wort aufgenommen hatten, war eine Rodung in der unendlichen Weite des Böhmerwaldes. Slawische und bayerische Siedler hatten sich hier niedergelassen, und am 11. Juli 1349 erhielt der Ort von Kaiser Karl IV. das Privileg, einen Markt abzuhalten, dazu kam »Stock und Galgen«, also die hohe Gerichtsbarkeit. Dies Vorrecht machte aus der Gemeinde, die es genoss, ein Mittelding zwischen Dorf und kleiner Stadt; es bot mancherlei wirtschaftlichen Vorteil, und seit 1478 gab es auch Wochenmarkt und Salzdepot. Im ganzen aber war das nicht genug, um wirklichen Reichtum entstehen zu lassen und damit eine wirkliche Stadt. Der Markt fiel 1744 einem Brand zum Opfer. Seit 1568 besitzt Oberplan ein eigenes Wappen: Ein stolzer Bär mit einer Rose in der Hand. Es ist die fünfblättrige Rose der Rosenberger, und sie sollte Stifter und sein Werk ein ganzes Leben lang begleiten.

Zu Stifters Zeiten war Oberplan gewiss nicht mehr jenes bäurische, ganz und gar von Wald- und Feldarbeit geprägte Dorf der dichterischen Legende, und neben Bauern und Holzfällern lebten hier Händler und Handwerker der verschiedensten Zünfte: Seit 1563 gab es die Zunftordnung der Schuhmacher, 1568 der Leineweber, 1583 der Schmiede und Wagner, 1678 der Bäcker und Metzger, also etwas wie ein kleinstädtisches Bürgertum mit dem ganzen dazugehörigen Honoratiorenwesen. Nicht wenige der Höfe wurden nur noch als Nebenerwerbsquelle betrieben, zusätzlich zu einem Handwerk. Der wichtigste Rohstoff der Gegend war Flachs, und die Textilproduktion das am weitesten verbreitete Gewerbe. Die Frauen arbeiteten zu Hause am Spinnrad, die Männer am Webstuhl. Es handelte sich aber um ein Handwerk ohne Zukunft, denn in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts geriet die Textilherstellung durch die modernen Verfahren der Industrialisierung mehr als andere Produktionszweige in eine existenzbedrohende Krise.

Stifters Eltern gehörten zu dem fest eingesessenen Bürgertum des kleinen Ortes. Seine Mutter war die Tochter des Metzgermeisters Franz Friepes, die Familie seines Vaters bestand aus Leinewebern, die das Handwerk weitervererbt hatten von Generation zu Generation. Dass die ländlichen Verhältnisse längst nicht mehr so stabil und unerschütterlich waren, wie es die Darstellung in den späteren Erzählungen vom Haidedorf oder dem Heiligen Abend will, dass die wirtschaftlichen und damit auch beruflichen Grundlagen dieser Welt langsam in eine Bewegung hin zur Modernisierung geraten waren, lässt sich bereits am Werdegang von Stifters Vater ablesen. Johann Stifter hatte den Handwerksbetrieb von seinen Eltern Augustin und Ursula übernommen, die weiterhin im Hause lebten, aber sei’s dass er über den ererbten Stand hinauswollte, sei’s dass er den Niedergang seiner Zunft schon verstanden hatte: Er sattelte um von der Produktion zum Handel. Zweifellos hatte er mit dieser Entscheidung die Zeichen der Zeit erkannt, denn die handwerkliche Flachsverarbeitung konnte sich nicht behaupten gegenüber der wachsenden Konkurrenz der Industrie, vor allem der englischen; im Handel dagegen lag die Zukunft der neuen Epoche. Johann Stifter also wurde Textilhändler, und in dieser Funktion war er naturgemäß viel unterwegs; vorwiegend in Richtung Oberösterreich mit seiner Hauptstadt Linz, das sich als der wirtschaftliche Raum, von dem der Böhmerwald abhängig war, im Süden erstreckte.

Am Südostrand der Ortschaft, unmittelbar an der Landstraße, liegt noch heute das »Mothslhaus«, ein karges, schindelgedecktes, eingeschossiges Gebäude mit Brunnen und Hof, das etwas von der einfachen Lebenshaltung der Familie verrät. Die Stifters – Stiffter oder Stüffter, wie man noch früher geschrieben hatte – lebten hier seit dem siebzehnten Jahrhundert, und im Jahre 1806 hatte Johann dieses »bürgerliche Häußl« kurz nach der Geburt seines ersten Sohnes einschließlich des weder ausgedehnten noch sehr fruchtbaren Bodens um achthundert Gulden übernommen. Hier wuchs Adalbert heran, gefolgt von mehreren Geschwistern: Zwei Schwestern und drei Brüder wurden zwischen 1808 und 1816 geboren, und 1829 kam mit Jakob Mayer noch ein später Nachkömmling aus der zweiten Ehe der Mutter zur Welt, und er ist als letzter der Kinderschar erst 1916 in Wien gestorben. Noch galt die aus mehreren Generationen bestehende Großfamilie als Regel, und die väterlichen Großeltern Augustin und Ursula waren wichtige Mitglieder des Hauswesens. Für Adalbert verkörperten sie die lebendige Überlieferung aus längst vergangenen Zeiten, und vor allem die Großmutter war voll von sonderbaren Weisheiten und alten Geschichten, die kein anderer mehr zu erzählen verstand. Die Erziehung der Kinder gehörte von alters her zum Bereich der Frauen, umso mehr in einer Familie, da der Vater häufig in Geschäften unterwegs war.

Die Quellen über jene frühe Zeit sind spärlich, es gibt kaum Dokumente – wer hätte sich damals die Mühe gemacht, etwas aufzuzeichnen über diese unbedeutenden, namenlosen Menschen und ihren Sohn irgendwo im böhmischen Wald? Das schriftlich festgehaltene Gedächtnis war ein Vorrecht des Adels oder des wohlhabenden, gebildeten Bürgertums in der Stadt; für die einfachen Leute blieb wenig mehr als ein paar dürre Daten von Geburt und Tod. Was man damals von Familiengeschichte, von Herkunft und Vorfahren wusste, beruhte auf Kirchenbüchern und der unmittelbaren, mündlichen Überlieferung; diese aber verläuft sich mit den Jahrzehnten im Dunkel der Vergangenheit. Genau wie er es in trostlosen Stunden kommen sah, hatte Adalbert Stifter keine Nachkommen mehr, und so ist irgendwann auch dieser schwache Strom endgültig versiegt. Umso wertvoller sind die wenigen autobiographischen Aufzeichnungen des Schriftstellers, denn sie sind neben Berichten, die sich auf seine mündlichen Mitteilungen berufen, die einzigen Zeugnisse für diese Kindheit auf dem Dorf.

»Mam, was ich jetzt Mutter nannte, stand nun als Gestalt vor mir auf und ich unterschied ihre Bewegungen, dann der Vater, der Großvater, die Großmutter, die Tante. Ich hieß sie mit diesen Namen, empfand Holdes von ihnen, erinnere mich aber keines Unterschiedes ihrer Gestalten. Selbst andere Dinge mußte ich schon haben unterscheiden können, ohne daß ich mich später einer Gestalt oder eines Unterschiedes erinnern konnte. Dies beweist eine Begebenheit, die in jene Zeit gefallen sein mußte. Ich fand mich einmal wieder in dem Entsetzlichen, Zugrunderichtenden, von dem ich oben gesagt habe. Dann war Klingen, Verwirrung, Schmerz in meinen Händen und Blut daran, die Mutter verband mich, und dann war ein Bild, das so klar vor mir jetzt dasteht, als wäre es in reinlichen Farben auf Porzellan gemalt. Ich stand in dem Garten, der von damals zuerst in meiner Einbildungskraft ist, die Mutter war da, dann die andere Großmutter, deren Gestalt in jenem Augenblicke auch zum ersten Mal in mein Gedächtnis kam, in mir war die Erleichterung, die alle Male auf das Weichen des Entsetzlichen und Zugrunderichtenden folgte, und ich sagte: ›Mutter, da wächst ein Kornhalm.‹ Die Großmutter antwortete darauf: ›Mit einem Knaben, der die Fenster zerschlagen hat, redet man nicht.‹ Ich verstand zwar den Zusammenhang nicht, aber das Außerordentliche, das eben von mir gewichen war, kam sogleich wieder; die Mutter sprach wirklich kein Wort, und ich erinnere mich, daß ein ganz Ungeheures auf meiner Seele lag. Das mag der Grund sein, daß jener Vorgang noch jetzt in meinem Innern lebt. Ich sehe den hohen schlanken Kornhalm so deutlich, als ob er neben meinem Schreibtische stünde; ich sehe die Gestalten der Großmutter und Mutter, wie sie in dem Garten herumarbeiten, die Gewächse des Gartens sehe ich nur als unbestimmten grünen Schmelz vor mir; aber der Sonnenschein, der uns umfloß, ist jetzt ganz klar da.

Nach dieser Begebenheit ist abermals Dunkel.

Dann aber zeichnet sich vornehmlich und bleibend die Stube ab, in der ich mich befand. Ganz vorzüglich sind es die großen, dunkelbraunen Tragebalken der Diele, die vor meinen Augen sind und an denen allerlei Dinge hingen. Dann war der große, grüne Ofen, der hervorspringt, und um den eine Bank ist. Dann sagte die Mutter, der Zimmersepp wird uns einen Tisch machen, auf dem das Osterlämmlein ist. Der Tisch wurde fertig und bildete meine große Freude. Dessen, der früher gewesen war, erinnere ich mich nicht mehr. Der Tisch war genau viereckig, weiß und groß, und hatte in der Mitte das rötliche Osterlämmlein mit einem Fähnchen, was meine außerordentlichste Bewunderung erregte. An der Dickseite des Tisches waren die Fugen der Bohlen, aus denen er gefugt war, damit sie nicht klaffend werden konnten, mit Doppelkeilen gehalten, deren Spitzen gegeneinander gingen. Jeder Doppelkeil war aus einem Stück Holz, und das Holz war rötlich wie das Osterlamm. Mir gefielen diese roten Gestalten in der lichten Decke des Tisches gar sehr. Als dazumal sehr oft das Wort ›Konskription‹ ausgesprochen wurde, dachte ich, diese roten Gestalten seien die Konskription. Noch ein anderes Ding der Stube war mir äußerst anmutig und schwebet lieblich und fast leuchtend in meiner Erinnerung. Es war das erste Fenster an der Eingangstür. Die Fenster der Stube hatten sehr breite Fensterbretter und auf dem Brette dieses Fensters saß ich sehr oft und fühlte den Sonnenschein und daher mag das Leuchtende der Erinnerung rühren. Auf diesem Fensterbrette war es auch allein, wenn ich zu lesen anhob. Ich nahm ein Buch, machte es auf, hielt es vor mir und las: ›Burgen, Nagelein, böhmisch Haidel.‹ Diese Worte las ich jedesmal, ich weiß es; ob zuweilen noch andere dabei waren, dessen erinnere ich mich nicht mehr. Auf diesem Fensterbrette sah ich auch, was draußen vorging, und ich sagte sehr oft: ›Da geht ein Mann nach Schwarzbach, da fährt ein Mann nach Schwarzbach, da geht ein Weib nach Schwarzbach, da geht ein Hund nach Schwarzbach, da geht eine Gans nach Schwarzbach.‹ Auf diesem Fensterbrette legte ich auch Kienspäne ihrer Länge nach aneinander hin, verband sie wohl auch durch Querspäne und sagte: ›Ich mache Schwarzbach.‹ In meiner Erinnerung ist lauter Sommer, den ich durch das Fenster sah, von einem Winter ist von damals gar nichts in meiner Einbildungskraft.«

Die früheste Begebenheit in Adalbert Stifters Leben, von der berichtet wird, muss in seinen ersten zwei Lebensjahren liegen. Der kleine Junge wurde zur Ostermesse in die Margarethenkirche mitgenommen, und hier konnte er von der Empore aus ins festliche Kirchenschiff hinunterschauen, mitten in den Glanz von Kerzen und funkelndem Schmuck. Denkbar ist, dass darin der Ursprung jenes noch gestaltlosen Eindrucks liegt, den der alte Dichter in die Worte kleidete »es war Glanz, es war Gewühl, es war unten«. Diese erstaunlichen Erinnerungsbilder entsprechen der tiefen Erlebnisfähigkeit des Jungen. So wie er alles mit wachen, aufnahmebereiten Sinnen erfasste, so blieb es ihm als immer neues Bild im Gedächtnis. Das Erlebnis der Natur, der Landschaft und der Pflanzenwelt gehörte ganz offensichtlich zu den prägenden, lebensbestimmenden Eindrücken des Kindes, das hier schon früh seinen Hang zur Beobachtung schärfte. Auf dem Fensterbrett sitzend, die Straße mit ihrem Kommen und Gehen vor Augen, verfolgte es auch das Treiben der Menschen. Diese aber, die Menschen und ihre Verhältnisse, waren schwieriger zu verstehen, waren um so vieles dunkler als die einfachen und klaren Dinge in der Natur. Die Geschichte vom kleinen Adalbert, der eine Fensterscheibe zerschlagen hatte, beschreibt genau dies: ein Bewusstsein vom Ungeheuerlichen, vom Niederschmetternden des Geschehens, aber zugleich die Unmöglichkeit für das Kind, den Zusammenhang von Schuld und Strafe nachvollziehen zu können.

In der Erzählung Die Pechbrenner, noch erweitert in der späteren Fassung Granit, berichtet Stifter ziemlich unverhüllt von einer anderen Begebenheit aus seiner frühesten Zeit. »Vor meinem väterlichen Geburtshause dicht neben der Eingangstür in dasselbe liegt ein großer achteckiger Stein von der Gestalt eines sehr in die Länge gezogenen Würfels. Seine Seitenflächen sind roh ausgehauen, seine obere Fläche aber ist von dem vielen Sitzen so fein und glatt geworden, als wäre sie mit der kunstreichsten Glasur überzogen. Der Stein ist sehr alt, und niemand erinnert sich, von einer Zeit gehört zu haben, wann er gelegt worden sei. Die urältesten Greise unseres Hauses waren auf dem Steine gesessen, so wie jene, welche in zarter Jugend hinweggestorben waren, und nebst all den andern in dem Kirchhofe schlummern.« Nach langen Generationen von Vorfahren war es jetzt der kleine Adalbert, der auf dem Stein saß, um das geschäftige Treiben auf der Straße zu verfolgen. Eines Tages nun kam, wie schon so oft, der alte Andreas vorüber, ein »Mann von seltsamer Art«, der mit Wagenschmiere handelte. Wahrscheinlich wird es der Anblick des neugierigen, mit den nackten Füßen baumelnden Knirpses auf seinem Ausguckposten gewesen sein, was den Alten zu einem Streich verführte – jedenfalls bot er ihm einen Löffel der schwarzen, klebrigen Schmiere an. »Ich hatte den Mann stets für eine große Merkwürdigkeit gehalten, fühlte mich durch seine Vertraulichkeit geehrt, und hielt beide Füße hin.«

Was als etwas grober Scherz begann, endete in einer kindlichen Tragödie. Die Mutter nämlich konnte den Spaß naturgemäß nicht teilen, als ihr Sprössling mit hochgezogener Hose schwarzfüßig in ihrer guten, gescheuerten Stube über den Holzboden marschierte; ein Zornanfall und Schläge kamen als unausbleibliche Folge. »Ich war, obwohl es mir schon von Anfange bei der Sache immer nicht so ganz vollkommen geheuer gewesen war, doch über diese fürchterliche Wendung der Dinge, und weil ich mit meiner teuersten Verwandten dieser Erde in dieses Zerwürfnis geraten war, gleichsam vernichtet.« Das Erwartete, zumindest Erhoffte tritt nicht ein, und hinter der Oberfläche der Dinge verbirgt sich immer schon ihr anderes, schreckliches und unheilvolles Gesicht. Erst der Großvater brachte die Angelegenheit mit Ruhe und Gelassenheit wieder ins Lot. Für ihn war sogar aus dieser Katastrophe ein Ausweg denkbar. Er wusch den Knaben, zog ihm saubere Kleider an, und dann nahm er ihn mit auf einen langen Weg ins Nachbardorf. Hier nun erzählte er ihm zu Ablenkung und Trost jene Geschichte von der Pest im Hochwald, der die autobiographische Erinnerung nur als Rahmenerzählung vorangeht. Der Junge aber, den jedes Erlebnis bis ins Innerste aufwühlte, fand seine Ruhe noch lange nicht zurück.

Viel von den Erinnerungen an die Heimat ist später in das literarische Werk eingegangen, und in mancher Erzählung finden sich auch Ereignisse berichtet, die ganz gewiss Stifters eigener Kindheit entstammen. Trotzdem sind diese autobiographischen Elemente nur mit Vorsicht zu interpretieren, unterliegen solche doch generell einer doppelten Umwandlung: nicht nur den unwillkürlichen Verschiebungen durch die Erinnerung, sondern auch den bewussten durch die künstlerische Gestaltung. Was aber aus allen Erzählungen hervorleuchtet, ist das Bild eines Kindes, das seine ländliche Umgebung mit wachen Sinnen und wachem Verstand erlebt, das seine Tage, soweit nur möglich, im Freien verbringt, im Hof, am Straßenrand und in der Umgebung von Wald und Feld. Andere Kinder waren mit ihm, die immer zahlreicher werdenden Geschwister schlossen sich in späteren Jahren dem großen Bruder an. Nichts war ihm zu klein, alles fand sein aufmerksames Interesse. In der Einleitung zu den Bunten Steinen erinnert er sich noch einmal an das Kind, das er gewesen war.

»Als Knabe trug ich außer Ruten Gesträuchen und Blüten, die mich ergötzten, auch noch andere Dinge nach Hause, die mich fast noch mehr freuten, weil sie nicht so schnell Farbe und Bestand verloren wie die Pflanzen, nämlich allerlei Steine und Erddinge. Auf Feldern an Rainen auf Haiden und Hutweiden ja sogar auf Wiesen, auf denen doch nur das hohe Gras steht, liegen die mannigfaltigsten dieser Dinge herum. Da ich nun viel im Freien herum schweifen durfte, konnte es nicht fehlen, daß ich bald die Plätze entdeckte, auf denen die Dinge zu treffen waren, und daß ich die, welche ich fand, mit nach Hause nahm. […] Wenn ich Zeit hatte, legte ich meine Schätze in eine Reihe, betrachtete sie, und hatte mein Vergnügen an ihnen. Besonders hatte die Verwunderung kein Ende, wenn es auf einem Steine so geheimnisvoll glänzte und leuchtete und äugelte, daß man es gar nicht ergründen konnte, woher denn das käme. Freilich war manchmal auch ein Stück Glas darunter, das ich auf den Feldern gefunden hatte, und das in allerlei Regenbogenfarben schimmerte. Wenn sie dann sagten, das sei ja nur ein Glas, und noch dazu ein verwitterndes, wodurch es eben diese schimmernden Farben erhalten habe, so dachte ich: Ei, wenn es auch nur ein Glas ist, so hat es doch die schönen Farben, und es ist zum Staunen, wie es in der kühlen feuchten Erde diese Farben empfangen konnte, und ich ließ es unter den Steinen liegen.«

Die Freude an Farben und Formen fand neue Nahrung, als der Vater eines Tages von seinen Fahrten einen Malkasten mitbrachte und Adalbert im Gebrauch der bunten Farben unterwies. Der begann, Männchen und Tiere zu malen, Gestalten, die entweder seiner Phantasie entsprangen oder den zahlreichen, ihn so in Bann ziehenden Geschichten der Großmutter. Aber noch andere Eindrücke kamen hinzu. Der Biograph Heinrich Reitzenbeck, dem der alte Dichter später viel aus seinem Leben erzählte, berichtet von der großen Wirkung, die »der Krummhändige«, ein fahrender Marionettenspieler, beim »Stifter-Bertl«, wie man ihn in Oberplan nannte, mit seinen Figuren hervorrief. Keine Vorstellung durfte versäumt werden. Ganz besonders angetan hatte es ihm der Hanswurst: Über ihn vermochte er endlos zu lachen, »ja so köstlich waren die Witze des letzteren, daß Adalbert schon lachte, wenn er aus dem Klappern merkte, daß innerhalb der Coulissen der Hannswurst von seinem Nagel genommen wurde, und nun auftreten werde; aber er weinte sich auch halb tot, wenn die Genoveva mit dem kleinen Schmerzenreich gespielt wurde.«

Die große Aufnahmebereitschaft des Jungen, seine lebhafte Phantasie und Einbildungskraft ließen ihn über die Unzulänglichkeiten der Aufführung, die primitiven Kulissen und klappernden Holzfiguren einfach hinwegsehen, ganz Auge und Ohr für die unerhörten Begebenheiten: »Es habe ihm gar nichts angefochten, wenn der König indessen an die Theaterwand gelehnt werden mußte, während zwei Höflinge sprachen und agierten (denn der Krummhändige hatte nur zwei Hände, spielte allein und sprach sehr hoch, wenn Frauen auftraten)«. Schon hier vollzog sich die wahre Handlung nicht auf der wirklichen, schlicht gezimmerten Bühne, sondern in der Phantasie, vor dem inneren Auge des faszinierten Beobachters. Schnell wusste er halbe Stücke auswendig, spielte sie zu Hause vor Mutter und Großmutter nach, ersetzte dabei das Vergessene gewiss großzügig durch Eigenes.

Doch Adalbert war nicht nur dieses aufgeweckte, allem Lebendigen und Neuen zugewandte Kind. Früh wurde auch eine andere Seite sichtbar: schwankende Gefühlsstimmungen, ein Hang zur Unausgeglichenheit, zu Destruktivität und sogar Grausamkeit. Die Geschichte von der zerbrochenen Fensterscheibe ist ein Beispiel; in einem anderen Fall, berichtete der Autor, habe er beim Spiel einem der kleinen Brüder ein Messer in die Seite gestoßen, und beim Anblick des fließenden Blutes sei ihm das Herz stillgestanden und der mit einem Schlage verdüsterte Himmel habe ihn gleichsam zerdrücken wollen. Auch seine Liebe zu den Tieren konnte plötzlich umschlagen: Als in der Küche eingeheizt wurde, sperrte er einmal die Katze ins heiße Rohr – erst die Frauen befreiten das in Todesangst schreiende Tier. Vor der empörten Mutter rettete sich der Übeltäter auf den Heuboden, sprang von dort oben in den Garten hinab, und jetzt war es der Sohn, um den die Mutter sich ängstigen musste. Im Schreck des gewagten Sprunges wurde alles verziehen. Gewiss dürfen diese kindlichen Dinge nicht überbewertet werden, doch sind sie beim jungen Adalbert umso auffälliger, als die destruktiven Charakterzüge ein Leben lang anhalten werden. Auch das Schwanken zwischen den Extremen macht sich bereits bemerkbar: einerseits die Versuchung, die gleichsam experimentelle, bewusste Annäherung an das Böse; andererseits die exzessiven Ausbrüche von Reue, von überwältigenden, vernichtenden Schuldgefühlen.

Es war eindeutig: Der Knabe bedurfte einer geregelteren Erziehung. Auch seinen Wissensdurst konnten Mutter und Vater nicht mehr befriedigen, am ehesten gelang das noch der lebenserfahrenen und geschichtenkundigen Großmutter. »Als Knabe quälte ich alle Leute, besonders Vater und Mutter um den Grund aller Dinge, die uns umgaben, besonders der Himmelserscheinungen und der Pflanzenwelt, was besonders die Mutter oft in arge Verlegenheit brachte, weshalb sie mich Grundschuhhiesel hieß. Daraus floß wohl meine späte Liebe für die Naturwissenschaften.« Im sechsten Lebensjahr tritt Adalbert in die Oberplaner Volksschule ein. Josef Jenne war der Lehrer des kleinen Ortes. Nur Gutes wird von ihm berichtet; trotzdem bleibt sein Bild unscharf, und nur wenige Züge sind darauf zu erkennen, beruht doch alles, was man von ihm weiß, auf den späteren, die ganze Kindheit mit warmen Farben der Erinnerung malenden Erzählungen des erwachsenen Stifter. So wird niemals zu entscheiden sein, was Wirklichkeit und was Verklärung ist an der Gestalt des lebensklugen Schulmanns mit seiner ebenso bodenständigen wie einfühlsamen Weisheit.

Wie dem auch sei – Jenne schuf die ersten Grundlagen zu Adalbert Stifters Bildung. Er war gewiss kein beschränkter Dorfschullehrer, der es mit Grundkenntnissen von Lesen, Schreiben und Rechnen bewenden ließ. Stifter selbst berichtet, Jenne habe »seine Schüler besonders in Abfassen von Briefen und Aufsätzen« geübt. Aber auch sonst ließ er es an einer Förderung nicht fehlen, die über das Maß des Gewöhnlichen hinausging. Selbst Organist, legte er großen Wert auf eine musikalische Erziehung und drängte diejenigen seiner Schüler, von denen er mehr erhoffte, zum Erlernen eines Instruments. Adalbert versuchte sich ohne allzu großen Erfolg auf der Geige.

Als Stifter etwa zehn Jahre alt war, machte sich Jenne mit seinen Zöglingen an eine Aufführung von Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung. Aus dem Abstand eines späteren Jahrhunderts mag man sich kaum vorstellen, wie die Einstudierung eines solchen, nicht eben einfachen Werkes unter Bedingungen vor sich gegangen sein soll, die in einer ländlichen Volksschule zwangsläufig herrschten. Doch damals, lange vor dem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit durch Schallplatte und Radio, war die Aufführung eines Werkes wichtiger als das abstrakte Ideal der Perfektion, und man kann noch heute ahnen, um wie vieles nachhaltiger ein Eindruck gewesen sein muss, der nicht nach Belieben wiederholbar war, sondern einmalig blieb. Adalbert sang im Alt. Bei dieser ersten Begegnung mit einem großen Werk der Musik, so berichtet Heinrich Reitzenbeck nach den Erinnerungen Stifters, »ergriffen ihn die seltsamen Dinge, die in diesen Noten standen, wunderlich, und als er der Aufführung endlich beiwohnte, war er außer sich vor Entzücken, ja der Lehrer Jenne kam ihm vollkommen wie die Propheten des alten Bundes vor.« Der überwältigte Sänger und Zuhörer nutzte die Gelegenheit, sich einiges aus dem Werk zu eigenem Gebrauch zu merken, und so konnte man in der folgenden Zeit den Stifter-Bertl auf dem nahen Roßberg, wohin er den Ochsenhirten mit seiner Herde begleitete, Arien singen hören: »Holde Gattin, dir zur Seite fließen sanft die Stunden hin …«

Zu dieser Zeit auch begann Adalbert mit dem Lesen. Im Hause der Stifters waren wohl kaum allzu viele Bücher zu finden, denn auch im Jahrhundert des humanistischen Bildungsideals war Bildung selbstverständlich weiter ein Privileg. Doch was er in die Hände bekam, gab er nicht wieder heraus, bevor er es nicht ganz und gar verschlungen hatte; ein Roman, an dessen Titel Das Brustbild er sich noch im Alter erinnerte, schlug ihn derart in Bann, dass er die ganze lange Geschichte seiner Tante Marianne wiedererzählte. Für Kinder indessen war das Opus gewiss nicht gedacht, und der Vater hielt es für angezeigt, streng in die Erziehung seines Knaben einzugreifen: Das Bücherlesen wurde verboten. Der Sohn aber, nicht gewillt, den Anordnungen des Familienoberhaupts umstandslos Folge zu leisten, verkroch sich mit dem Ritterepos Ludwig der Strenge heimlich im leeren und durchaus nicht reinlichen Taubenschlag. Schrecklich endet die Tragödie, und als der mitleidlose Herzog seine unschuldige, so grausam verleumdete Gattin unbarmherzig hinrichten ließ, da stieg der Stifter-Bertl schmutzig und mit rotgeweinten Augen zurück auf den Boden der Tatsachen. In Anbetracht seines ramponierten Äußeren drängte sich der Verdacht auf, der Junge habe wieder einmal mit Nachbarburschen gerauft, und der Vater verhängte die unvermeidliche Strafe. Adalbert schwieg. Lieber verbrachte er einige Stunden kniend am Schrank – das war die fürs Raufen vorgesehene Buße –, als dass er seine heimliche Lektüre verriet.

Und bei der Lektüre allein war es nicht geblieben: »Meine ersten Schriftstellerversuche liegen in meiner Kindheit, wo ich stets Donnerwetter beschrieb. Diese Blätter sind verloren gegangen.« Dieser »erste Schriftstellerversuch« verrät aber noch mehr, als Stifter in seiner kurzen Erwähnung erkennen lassen will. Der leicht zu erschütternde, allen Eindrücken offene Adalbert fürchtete sich sehr vor dem überwältigenden Schauspiel von Donner und Blitz, und sein Versuch, ein Gewitter in Worten schriftlich festzuhalten, ist bereits das Bemühen, mit der Arbeit des erfassenden, ordnenden Verstandes der bedrohlichen Natur beizukommen. Ein Reflex dieser Erfahrung findet sich noch in der Erzählung Kalkstein, da der arme Pfarrer im Kar dem furchtbaren Unwetter mit einer gleichsam rituellen Wache am leeren Tisch entgegentritt; der erste Schreibversuch des jungen Stifter gleicht bereits der magischen Beschwörung einer als übermächtig erlebten Natur.

Auch hierin erkennt man eine häufig wiederkehrende Situation. In der Oberplaner Schule war das abendliche Läuten zum Gebet Sache der größeren Schüler. Als es Adalbert traf, er mit dem Schlüssel in die dunkle Kirche und dann zum Turm hinüberging, da packte ihn beim dröhnenden Glockenklang im hallenden Kirchenschiff ein solches Entsetzen, dass er es kaum zu ertragen vermochte. Doch er hielt aus, vollbrachte die Pflicht und trug »triumphierend« den Schlüssel zurück. Auch hier schon ist das Erlebnis des Unheimlichen fast ebenso faszinierend wie schreckenerregend und zurückstoßend.

Das Unausgeglichene des Jungen verschwand auch in der Schulzeit nicht. Er war ein guter, ja ein sehr guter Schüler, doch unbeherrscht und zuweilen geradezu gewalttätig in seinem Zorn. Einmal schlug er einem jüngeren Mädchen das Butterbrot aus der Hand. Vom Lehrer zur Rede gestellt, leugnete der Delinquent das Offensichtliche, das nicht zu leugnen war. »Das hätte ich nie von dir geglaubt, daß du lügst«, dieser Vorwurf Jennes aber stieß Adalbert nun wiederum in einen solchen Abgrund von Verzweiflung, dass er seine eben noch geleugnete Schuld plötzlich ins Unermessliche gesteigert sah. »Wie der Lehrer so vor ihm stand, fast allwissend, und streng aber doch ruhig sein Urteil sprechend, da fiel es dem Knaben auf, ›wie schön und herrlich doch der Mann sei‹.« Unbeherrschte Auflehnung und bewundernde Unterwerfung – zwischen diesen Extremen ist der Heranwachsende hin- und hergerissen.

Adalbert Stifters Kindheit endete am 21. November 1817. An diesem Tage wurde sein Vater in der Frühe vor dem oberösterreichischen Gasthaus »Zum Wirt am Berg«, auf dem Weg von Wels nach Lambach, tot aufgefunden. Sein eigener Wagen, mit dem er den Flachs zu transportieren pflegte, war umgestürzt und hatte Johann Stifter erschlagen. Als die Nachricht in Oberplan eintraf, trat die verzweifelte Mutter mit Worten vor ihre Kinder, an die sich Stifter noch lange danach erinnerte: »Kinder, euer Vater ist tot, jetzt habt ihr niemand, der für euch sorgt!« Die Antwort des Großvaters Augustin, der seinen Sohn verloren hatte, war wohl nur ein schwacher Trost, zeugte aber doch von einem Gottvertrauen, wie es Adalbert selber immer nur suchen sollte: »Versündige dich nicht, der Vater im Himmel stirbt nicht, und der wird sorgen!« Sorge aber tat damals wirklich not für eine Witwe mit fünf Kindern, von denen das älteste gerade zwölf Jahre zählte! Für die Stifters ging es aber noch eher gut. Der Großvater begann wieder im Hause zu arbeiten; der andere, Magdalenas Vater Franz Friepes, kümmerte sich um das Geschäftliche.

Für Adalbert jedoch ging überhaupt nichts gut. Jetzt war das »Entsetzliche und Zugrunderichtende« mit ganzer Gewalt in sein Leben eingebrochen. Die Erfahrung des Todes, der Brutalität, mit welcher ein junger, kräftiger Mensch aus dem Dasein gerissen wird und ins Nichts verschwindet, diese Erfahrung beendete die Kindheit. Der Zwölfjährige fand keinen Ausweg aus seiner Verzweiflung: Adalbert beschloss zu sterben. Er hörte auf zu essen, er wollte verhungern. Im Laufe der Zeit milderten sich Schmerz und Auflehnung gegen das Unbegreifliche, die Zeit der Kindheit aber war unwiederbringlich dahin. Der Tod hatte zum ersten Mal seinen Schatten geworfen.

ZWEITES KAPITEL

Ein Zögling in Kremsmünster

Mit dem Tod des Vaters hatte sich bei den Stifters alles verändert. In der Familie des neunzehnten Jahrhunderts hatte der Mann die Rolle des unanfechtbaren Oberhauptes; durch seine Berufstätigkeit galt er als ihr »Ernährer«, obwohl gerade damals, wo die aus mehreren Generationen bestehende Großfamilie noch die Regel war, nicht nur das Hauswesen, sondern auch Betrieb und Wirtschaft ganz wesentlich auf der Arbeit der Frauen und Großeltern beruhten. Eine Familie ohne dieses Oberhaupt aber war unvollständig, etwas fehlte, was auch die härteste Arbeit nicht ersetzen konnte. Johannes Aprent gibt hier gewiss Stifters eigene Sicht wieder, wenn er schreibt: »Indes war die Lage der Mutter traurig genug; nebst Adalbert waren noch vier Kinder da, die essen wollten, mancher Gulden, der im Geschäfte ausstand, mußte verloren gegeben werden, weil nichts Schriftliches da war, und manche Forderung, die man bereits beglichen glaubte, wurde erhoben, so daß die arme Frau gar oft nicht aus und ein wußte.«

So war dem jungen Adalbert die Kindheit nicht nur für sein Gefühl, durch die schockhafte Erfahrung des Todes, zu Ende gegangen, sondern auch in einem viel handfesteren Zusammenhang. Die Mitarbeit des Ältesten war jetzt eine Frage der reinen Notwendigkeit, ein Zwölfjähriger hatte im vaterlosen Hause nicht mehr das Recht, sich als Kind zu betrachten. In einem Brief vom 16. November 1846 erzählte Stifter später aus dieser Zeit: »Von diesem Herbste an bis zum Herbste 1819 [richtig: 1818] besorgte ich mit dem Großvater Augustin, dem Vater des Vaters, die Feldwirtschaft. Wir pflügten, eggten, fuhren, hüteten unsere Rinder und dergleichen. Ich erinnere mich, daß ich in jenen zwei Jahren eine unendliche Liebe zur landwirtschaftlichen Natur und Einsamkeit faßte, da ich schier immer im Freien und von einer zwar nicht reizenden, aber ruhevollen, schweigsamen und fast epischen Gegend umfangen war.« Durch diese gemeinsam verbrachte Zeit kam ihm der Großvater Stifter immer näher, der Einfluss des ruhigen und tatkräftigen Mannes trug sicher ganz wesentlich bei, dass Adalbert den Schicksalsschlag langsam überwand. Später hat der Dichter dem Alten in mancher Erzählung, so etwa in Die Pechbrenner / Granit oder in der Mappe meines Urgroßvaters, ein dauerhaftes Denkmal gesetzt.