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Hirschfeld-Lectures

Herausgegeben von der

Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

 

Band 9

Elisabeth Tuider
Martin Dannecker

Das Recht auf Vielfalt

Aufgaben und Herausforderungen
sexueller Bildung

 

 

 

 

 

 

 

 

WALLSTEIN VERLAG

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2016

www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond und der Myriad

Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, Friedland

Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen

ISBN (Print) 978-3-8353-1836-6

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2948-5

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2949-2

Inhalt

Geleitwort der Reihenherausgeberin

Vorwort

Elisabeth Tuider: #hatespeech: Wenn antifeministisches und rassistisches Sprechen zur Norm(alität) wird

Martin Dannecker: Was heißt Sexualisierung? Aufgaben der Sexualpädagogik in Zeiten des Internets

Anmerkungen

Geleitwort
der Reihenherausgeberin

In den Anfang 2014 begonnenen Debatten um den Bildungsplan in Baden-Württemberg wurde der Versuch der rot-grünen Landesregierung, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Querschnittsthema im Schulunterricht zu etablieren, zum Ausgangspunkt von homophoben und antifeministischen Angriffen in den Medien und aus der Zivilgesellschaft. Diese Anfeindungen erscheinen insbesondere deshalb weit hergeholt, da das Thema der sexuellen Vielfalt bereits allgegenwärtig ist und damit auch in der Alltagswelt von Jugendlichen vorkommt – sei es über soziale Medien, das Internet oder in der Schule.

Die 9. Hirschfeld-Lectures am 17. September 2015 in Düsseldorf wollten genau diese Diskrepanz aufgreifen. Ein breit angelegtes Podium mit Vertreter_innen aus Wissenschaft, Politik und Bildungsarbeit diskutierte über die Frage, wie Sexualerziehung bzw. allgemein der Unterricht an Schulen die existierende Vielfalt der Geschlechter, Sexualitäten und Lebensformen aufgreifen kann. Welche Herausforderungen stellen sich, aber auch welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch? Wie könnte eine – als Querschnittsthema angelegte – Sexualpädagogik der Vielfalt funktionieren? Was wären ihre theoretischen Prämissen und methodischen Ansätze?

Der vorliegende Band fragt nach den Mechanismen und Mustern der homophoben und antifeministischen Angriffe und danach, wie die häufig heraufbeschworene Bedrohung durch eine vermeintliche Sexualisierung einzuordnen ist. Sexualerziehung scheint heute zu einer Streitfrage geworden zu sein, einem Feld, auf dem verschiedene politische Interessen ebenso verhandelt werden wie Fragen gesellschaftlicher Anerkennung gegenüber geschlechtlicher und sexueller Diversität.

Nach einer thematischen Einleitung durch Burkhard Jellonnek analysiert Elisabeth Tuider die neue Salonfähigkeit von Homophobie und Antifeminismus am Beispiel der medialen und öffentlichen Debatten über die Sexualpädagogik der Vielfalt. Martin Dannecker erörtert die Frage, was theoretisch mit dem Begriff ›Sexualisierung‹ gemeint ist und welche Aufgaben für die Sexualpädagogik durch die Sexualisierung unserer Kultur entstehen.

Unser Dank gilt allen, die am Gelingen der Veranstaltung und dieses Bandes beteiligt waren; insbesondere den Referent_innen Elisabeth Tuider und Martin Dannecker sowie den Diskutant_innen auf dem Podium – Sylvia Löhrmann (Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen), Davina Höblich (pro familia), Laura Becker (Queere Bildung e. V.) – und der Moderation, Burkhard Jellonnek.

 

Carolin Küppers

Referentin für Bildung und Antidiskriminierung,

Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

Vorwort

Ein Kulturkampf ist ausgebrochen. Leider nicht allein in Baden-Württemberg. Referentenentwürfe aus dem dortigen Bildungsministerium spalteten die Gesellschaft ausgerechnet in jenem Land, das nach eigenem Bekunden alles kann – »außer Hochdeutsch«. Über 200.000 Menschen haben im Frühjahr 2014 die Online-Petition eines Realschullehrers angeklickt und geliked, die die »pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung« von Kindern und Jugendlichen im Schulbetrieb heraufbeschwor. Die »Akzeptanz sexueller Vielfalt« stieß auf Diskreditierungen der Initiative »Besorgter Eltern«, aber auch pietistischer Kirchenkreise aus dem evangelikalen Milieu. Die Warnungen vor befürchteter »Frühsexualisierung unserer Kinder« waren auch durch den engagierten Hinweis des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann nicht zu entkräften. Solange das Schimpfwort »Schwule Sau« immer wieder auf den Schulhöfen des Landes zu hören sei, bestehe für ihn als Politiker Handlungsbedarf, erläuterte Kretschmann.

Auf dem Höhepunkt der aufgeheizten Debatte versuchte Kultusminister Andreas Stoch mit einem Bildungsplan-Prozess die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. Statt für »Akzeptanz sexueller Vielfalt« warb man nun aus seinem Hause deutlich zurückhaltender formuliert für eine Leitperspektive unter der Überschrift »Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt«. Versteckter ist nun das, was ab dem Schuljahr 2016/17 in Baden-Württemberg die Curricula bestimmen soll. Ein Beispiel: Im Biologie-Unterricht in den Klassen 7 bis 9 gilt es, die unterschiedlichen Formen der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität wertfrei zu beschreiben und die Bedeutung der Sexualität auch für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft zu erklären.

Baden-Württemberg ist aktuell sicher die Spitze des Eisbergs, doch in der Bundesrepublik Deutschland hat sich inzwischen ein Kartell zur Bekämpfung der Idee sexueller Vielfalt gebildet. Sexismus und Homophobie sind die Triebfedern, die in vielen Bundesländern Menschen mit Vorurteilen aus dem Arsenal von Wilhelm Heitmeyers Langzeit-Studie der »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« zusammenrücken lassen. Eine seltsame Allianz hat sich gefunden, das Spektrum reicht von rechtsradikalen Kameradschaftler_innen über Pegida-Anhänger_innen bis weit in die politische Wählerschaft der »Alternative für Deutschland« hinein. Zum Markenkern gehört neben Fremdenfeindlichkeit, antimuslimischem Rassismus und Antisemitismus auch die Ablehnung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt.

Publizist_innen – zuletzt etwa Birgit Kelle mit ihrem Buch Gendergaga – vergiften zusätzlich das Klima mit Zitaten wie »Gender Mainstreaming will letztlich an unsere Kinder heran« und lassen sich mit ihren Rundumschlägen von dem Sprachrohr der Neuen Rechten, der Jungen Freiheit ebenso wie von der Talk-Show-Moderatorin Sandra Maischberger im ZDF befragen.

 

Die an der Universität Kassel lehrende Sozialwissenschaftlerin Elisabeth Tuider belegt in ihrem hier publizierten Beitrag die neue Salonfähigkeit von Homophobie und Antifeminismus am Beispiel der derzeitigen Diskursivierung und Politisierung einer Sexualpädagogik der Vielfalt. Tuider analysiert, wie rechtspopulistische Argumente über die Artikulation von Sorge hoffähig gemacht wurden.