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Armin T. Wegner

Der Knabe Hüssein

und andere Erzählungen

Armin T. Wegner
Ausgewählte Werke
in Einzelbänden

Herausgegeben von Ulrich Klan
im Auftrag der
Armin T. Wegner Gesellschaft

Armin T. Wegner

Der Knabe Hüssein

und andere Erzählungen

Herausgegeben von
Volker Weidermann

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Inhalt

Gedichte in Prosa
Ein Skizzenbuch
aus Heimat und Wanderschaft

Skizzen und Aquarelle

Die Orange

In der Campagna

Die Großmutter

Muscheln

Lehrgedichte in Prosa

Der Dichter

Die Rose

Das Fenster

Es ist eine weite Kluft

Aus der Schulzeit

Die Königin der Nacht

Heimkehr

Der Künstler

Der Turm

Märchen und Satyren

Ein Philister

Der Apfelbaum

Der Mühlenstein

Die Seeigel-Grotte

Das Bett

Balladen in Prosa

Das Herz

Historie

Der Bahnwärter

Der Schiffbrüchige

Ein Prophet

Grotesken und Allegorien

Pest

Die Kirche

Schicksal

Die Greisin

Die drei Träume

Im Hause der Glückseligkeit

Die Verführung des Frühlings

Ewige Heimkehr

Den Eseln Stambuls

Das Sterben der Steine

Reise nach den Dardanellen

Tekir-Dagh

Die Steppe

An meinen Bruder im Tode

Meine Straße segelt

Die Katzen von Tschanak-Kale

Der Weg nach Keschan

Ich fahre über die Weintraubenbrücke

Der Scheiterhaufen der Armut

Einer armenischen Mutter

Der Teppich

Der Erhängte

Der Knabe Hüssein
Türkische Novellen

Der Knabe Hüssein

Der Bankier

Osman

Der Sturm auf das Frauenbad

Einzelne Erzählungen

Bildnis einer Stimme

Das Licht über dem Tal

Der Knabe Atam

Die Schiene

Die gestohlene Stimme

Stromboli oder Die Erde Gottes

Zwiegespräch mit einem Toten

Der Stern. Armin T. Wegners Erzählungen Volker Weidermann

Zu dieser Ausgabe. Ulrich Klan

Lebenslauf Armin T. Wegners (1886-1978)

Nachweise

Dank

Gedichte in Prosa

Ein Skizzenbuch
aus Heimat und Wanderschaft

Skizzen und Aquarelle

Die Orange

Es war am Golf von Neapel. Die Sonne brannte, das Meer lag blau, unbeweglich, in wunderbaren Glanz gehüllt. Ich hatte mich am Ufer auf einen Stein gesetzt und schaute nach Capri hinüber.

Da sah ich nicht weit im Staub eine Orange liegen, eine ganz kleine, rotbraune und leuchtende Orange. Weil es heiß war, hatte ich das Haupt gesenkt und blickte sie an, und mir war gleich, als müßte ich ihre Geschichte kennen …

Vor ein paar Tagen noch hatte sie oben in den Orangengärten, dicht unterhalb von San Elmo an einem Baume gehangen. Da war in der Frühe Enriko, der kleine Zeitungsjunge gekommen, bei dem ich mir jeden Mittag an der Straßenecke die Gazetta holte, hatte mit seinen großen, schwarzen Augen über den Zaun gelugt, sich umgesehen, ob niemand in der Nähe wäre, und war hinübergeklettert, um mit ein paar größeren Apfelsinen auch die kleine rotbraune Orange von den Zweigen zu pflücken. Er hatte sie alle in den Taschen seiner viel zu langen Hose versenkt, welche nur die nackten Füße frei ließ, die von der Sonne ganz verbrannt waren und eine tiefbraune bronzene Farbe hatten. Dann war er in die Stadt hinunter geeilt.

Am Nachmittag aber war Sylvio zu ihm gekommen; das war ein großer stämmiger Bursche, der jeden Morgen seine Ziegenherde an meinem Hause vorüber trieb. Dort wurden sie gemolken, gleich vor der Tür … und man denke, das mitten in einer großen Stadt. Es sah nicht sehr sauber aus, und die Ziegen machten die Straßen auch nicht reinlicher, nein wirklich, das konnte niemand behaupten.

Also Sylvio war gekommen und hatte mit ihm Boccia spielen wollen. Da nahm Enriko seine Apfelsinen heraus, um sie als Kugeln zu verwenden; die dunkelbraune Orange aber hatten sie als Zielkugel ausgeworfen. Sylvio war um einen ganzen Kopf größer als Enriko, seine zerschundene Bluse verbarg viel stärkere Arme und Muskeln, und er nahm dem kleinen Zeitungsjungen die einzigen drei Soldi fort, die er mittags für seine Blätter bekommen hatte. Enriko wehrte sich gegen den großen Kameraden; denn er sah es ganz gut, daß Sylvio ihn im Spiel betrog, seine Orange, die er geworfen hatte, lag näher am Ziel. Sylvio aber war der Stärkere, und als Enriko ihn am Rock zog, versetzte er ihm einen Schlag ins Gesicht, daß er beinahe zur Erde taumelte. Da hatte er seine Orangen genommen und war scheltend davongelaufen. Man hörte seine kleine knurrende Stimme noch, als er schon in der nächsten Straße verschwunden war …

Nur die kleine rotbraune Apfelsine, die vergaß er. Da lag sie nun verlassen am Ufer und leuchtete hell aus dem grauen Staub hervor. Ich wollte sie an mich nehmen, aber da sah ich, daß die Frucht schlecht geworden war; als ich sie aufhob, zerfiel sie mir in den Händen.

In der Campagna

Idyllen
I

Hast du schon einmal auf den Hügeln der Campagna gesessen?

Wie eine schmale Linie liegt die alte Römerstraße neben dir, weit in das Endlose hinausgezogen. Dahinter die roten Mauerreste der alten Gräber, auf denen die Sonne brennt, und der dunkle, ausgespannte Fächer der Pinien.

Die flachen Hügel sind um dich gebreitet wie die erstarrten Wogen eines Meeres, und überall leuchtet dieses Grün … so weit du schaust.

Von Zeit zu Zeit nur taucht eine Strohhütte der Hirten auf, mit dem schmalen Giebel, dem Kreuz auf der Spitze, und daneben die Hürden für die Schafe. Oder du siehst in der Ferne die Lämmer grasen und dahinter auf einem Abhang, am Stabe ragend den Hirten: einsam, unbeweglich.

Und du läufst an den hohen Mauern entlang, die einst das Wasser über diese Felder führten, und die Bogen verschlingen sich über dir, als liefen sie mit.

Zu deinen Füßen leuchten die kleinen Hungerblümchen, hunderte und aberhunderte; du möchtest dich niederlegen in dieses weiße Lager und hast doch Angst, nur die Füße darauf zu setzen. Immer weiter gehst du. Neue Mauern tauchen auf hinter der endlos überwachsenen Fläche, alte zerfallene Tore, durch die du den Himmel schaust.

Und du steigst auf einen Hügel und läßt dich auf den warmen Boden nieder, das Haupt in den Gräsern, und starrst einer weißen Frühlingswolke nach, die in die Ferne zieht, immer weiter und weiter …

Wer einmal auf den Hügeln der Campagna gesessen hat, der vergißt sie nicht mehr.

II

Und du stehst am Gotengrab. Und es ist Mittag.

Über dir im Himmel verloren singt einsam eine Lerche. Fern, wo die Häuser der Stadt liegen, glänzt die Kuppel von St. Peter in der Sonne, weit wie ein Hügel über der Ebene erhoben; zu deiner Rechten aber ragen die Albanerberge, in Licht zerflossen.

Die heiße Luft zittert über der Wiese, und hinter den Pinien, wo die Schafe weiden, hat sich der Hirte in das Gras gestreckt. Ein Karren kommt die alte Römerstraße herabgerollt; der Knabe auf dem Bock ist eingeschlafen. Langsam, Schritt für Schritt, zieht der Maulesel den Karren weiter, einen Halm nach dem andern aus dem Heubündel ziehend, das neben ihm an die Deichselstange gebunden ist.

Und es wird immer stiller. Und du läßt dich von neuem in das heiße Licht nieder, dicht neben der alten Grabmauer. Ein paar Eidechsen schrecken vor deinen Schritten auf und verkriechen sich in die Erdlöcher. Du träumst von irgend einem Lieben, das dir in der Ferne blieb, und fühlst, wie die heiße Sonne dir durch die Glieder rinnt.

Ganz still ist es geworden. Nur über dir die Lerche singt immer noch.

III

Wenn aber die Dämmerung kommt, werden die alten Gräber um dich lebendig. Schatten kriechen durch die Trümmer der hohen Mauerbogen, die finsteren Wesen gleich an der Erde kauern.

Ein paar Büffel, mit ihren breiten, hochgeschwungenen Hörnern kommen die Straße herab. Der Führer ruft dir durch die Dämmerung einen Gruß zu; halblaut fliegt der Schall zu dir herüber.

Hinter den Hügeln in der Ferne ruht der letzte Schein des verblassenden Tages wie ein verglimmendes Osterfeuer. Noch siehst du im Zwielicht das schwarze Kreuz am Giebel des Hirtenhauses ragen und, die Schafe heimtreibend, den Hirten, der sich wie ein dunkler Schattenriß vom Abendhimmel hebt.

Immer höher wachsen die alten Mauerbogen in die Finsternis hinauf; riesenhaften Gestalten gleich, mit trotzigen Häuptern, recken sich die Gräbersteine über den Weg. Wolken sind über die Sonne gestiegen und haben alle Farben von den Hügeln genommen. Die Pinien mit ihren dunklen Kronen rauschen zu dir herüber, düster, als hätten sie dir ein Geheimnisvolles zu sagen.

Ernst und schweigsam wird die Campagna. Es liegt etwas von der Schwermut deiner nordischen Heimat darin … vielleicht, daß sie dir darum so lieb ist.

IV

Und immer später wird es. Von den Albanerbergen kommt die Nacht gestiegen und fällt wie ein kühler Regen auf dich herab.

Der Hirte hat seine Schafe eingepfercht, und ein Feuerschein steigt aus dem Tor seiner Hütte.

Nun sind auch die hohen Mauerbogen in Finsternis versunken, und nur einmal noch bleibst du stehen, um nach dem Monde zu schauen, der hinter ein paar blauen Regenwolken aufsteigt, wie ein blasses, verweintes Auge.

Bis es dann immer später und später geworden, bis auch der letzte Abendschein erlischt, der so lange über den fernen Häusern ruhte, bis auch die Kuppel von St. Peter ihren Glanz verloren, um in das Dunkel zu tauchen … und du müde heimkehrst in die Straßen der ewigen Stadt.

Die Großmutter

Von meiner Großmutter will ich erzählen. Ganz oben in den Bergen, wo die Tannen rauschen und wo die Straße sich in den Wäldern verliert, da steht ihr Haus.

Es ist ein kleines, stilles Haus, fern über allen Abgründen der Welt. Da wohnt die Alte, ganz einsam. Da gießt sie die Blumen in ihrem Garten, wenn es Sommer ist, und horcht auf das Röhren der Hirsche in den schwarzen Tannen, wenn der Herbst kommt. Ihr Gesicht ist wie ein altes Buch, und es steht viel darin geschrieben von Mühe und Bitternis; aber ihre Stimme ist weich und voll Güte, denn sie kommt aus einer Seele, die schon abgerechnet hat mit einem Leben, und die allen vergeben hat.

Dort oben ist auch das Zimmer, wo die alten Bilder hängen, von denen mir meine Mutter schon erzählt hat, da ich noch klein war, und die sie auch lieb hatte, da sie selber noch klein war, denn es wohnt mehr als eine Kindheit in diesem Hause.

Und noch ein anderes Zimmer liegt dort oben; aber das ist ganz verlassen. Nur manchmal, in stillen Stunden, geht meine Großmutter hinein und liest wieder in den alten, tränenschweren Briefen und denkt an die Zeit zurück, da der Großvater noch lebte, und segnet in Gedanken ihre Kinder, die nun fern über der See sind, in einem fremden Lande.

Manchmal fahr ich zu der Alten hinauf.

Wenn es Abend ist, komme ich über die Höhen gestiegen und sehe das Licht ihres Hauses schon von fern durch die Dämmerung leuchten. Wenn ich dann den blinden Türklopfer gegen das Tor schlage, kommt auch schon die alte Magd und lächelt und läßt mich herein. Ich trete in das Wohnzimmer, und eine brennende Lampe steht auf dem Tisch, und ein aufgeschlagenes Buch liegt daneben. Und es steht jemand am Fenster und sieht den Weg hinunter. Und wie er sich umschaut, sehe ich, daß es meine Großmutter ist, und ich gebe ihr die Hand und sage: »Guten Abend, Großmutter!«

Sie aber küßt mich auf die Stirn und erwidert: »Guten Abend, … mein Junge!«

Und wenn sie das gesagt hat, weiß ich, daß ich nun fern bin von aller Welt und für ein paar Tage Ruhe und Frieden habe.

Muscheln

Ehe ich Abschied nahm von der See, lief ich noch einmal an den Strand hinunter und sammelte mir ein paar von den bunten Muscheln, die mir die Wellen vor die Füße spülten: braune, gelbe, schwarze, blauschimmernde, weiße und rötliche Muscheln. Immer wieder fand ich eine neue, die in einer anderen Farbe leuchtete, und dann stieg ich zu dem alten Fischer in seine Hütte hinauf und ließ mir ein paar von den ganz großen Muscheln schenken, die mit langen Schleppnetzen aus der Tiefe geholt werden, und wie man sie nur unten am Grunde des Meeres findet, breite Tigermuscheln mit gezähnten Lippen und glänzend weiße mit rotem Munde, mit Stacheln besetzt und seltsam geschwungenen Hörnern. Ich spülte sie alle im Seewasser vom Sande rein und ließ sie am Strand in der Sonne trocknen, ehe ich sie mit nach Hause nahm, weit in das Land hinein.

Nun liegen sie alle in meinem Zimmer oben auf dem Schrank, kleine und große Muscheln, braune und gelbe, schwarze und blaue und rosa schimmernde, große getigerte und glänzend weiße mit geschwungenen Hörnern. Zuweilen nehme ich sie in die Hand und spiele mit ihnen, oder ich halte sie mir an das Ohr und lausche auf ihre Stimme. Sie wissen mir immer etwas zu erzählen, die einen laut, die andern leise, vom Strand und von den Dünen, von den spielenden Kindern am Ufer und von den tausend Wegen, die ich täglich gegangen. Am liebsten aber ist mir eine große, weiße Muschel, die einen ganzen Kranz von stachligen Zähnen auf dem Rücken trägt. Wenn ich sie mir an das Ohr halte, kann ich deutlich das Rauschen des Meeres hören und das Wehen des Hafers auf der Düne, und wenn ich die Augen dabei schließe, sehe ich den Strand wieder vor mir, die schmale, weiße Sandfläche und wie dunkle Flecken am Rand das angespülte Seegras. Oben auf der Düne aber sehe ich mich selber liegen und träumen, während die Möwen mit leisem Schrei an mir vorüber fliegen, hinaus auf das Wasser, und ich ihnen nachschaue über die glitzernden Wellen, auf denen ganz in der Ferne mit leuchtendem Segel die Schifferboote schaukeln, die schon in der Frühe hinausfuhren auf das Meer … und auf einmal ist es mir, als hörte ich eine Mädchenstimme singen, leise, leise aus dem Innern der Muschel durch Wellenrauschen und Kinderlachen:

Kehrt die Möwe heim vom Meer,

Taucht zur Flut die Sonne nieder,

Weht der Wind von Süden her,

Weht der Wind von Süden her,

Kommt mein brauner Fischer wieder.

Lehrgedichte in Prosa

Der Dichter

Eines Tages besuchte ich einen jungen Dichter. Ich mußte fünf schmale, sandbestreute Treppen hinaufsteigen, ehe ich an seine Tür klopfen konnte.

Es war ein Dachstübchen, in dem er wohnte, mit dem Blick über die Häuser der Stadt. An der einen Seite stand ein Schrank mit einem wilden Durcheinander von alten Büchern und Schriften, Brauchbares und Unbrauchbares. Ein Tisch und ein Sofa waren noch da, aus dessen fadenscheinig gewordenem Tuch die Sägespreu auf den Boden fiel, und einige bunte, verwaschene Bilder an den Wänden, aus irgend einer Zeitschrift herausgeschnitten.

Da saß ich nun im Winkel, auf einem Haufen alter, schon gebrauchter Wäsche, und er mir gegenüber auf dem Rand seines Bettes, mir seine Verse vorlesend.

Ich achtete nicht auf ihren Inhalt, ich sah nur sein gelbes, verhungertes Gesicht, das glänzend gewordene Tuch seines Kleides und seinen alten, ausgefransten Kragen.

Ich wollte ihm Vorstellungen machen, wollte ihn trösten und ihm meine Hilfe anbieten, damit er ein neues Leben beginnen könnte, einen Erwerb, der ihm Brot brachte … er aber ging still zum Fenster, zog die Vorhänge beiseite und sagte:

»Wie schön ist heute die Nacht!«

Die Rose

Einmal, als ich unser Haus verließ, traf ich auf der Straße einen großen Auflauf von Menschen. Ich wollte seitwärts vorübergehen, unbekümmert um jenen Gegenstand, der die Neugier des Volkes erregt hatte, als ein entfernter Bekannter aus der Menge heraus mir zuwinkte.

Ich trat heran in dem Glauben, irgend etwas zu finden, das meine Augen erfreuen würde, vielleicht ein Denkmal, das errichtet wurde, oder wenigstens einen unbekannten Gegenstand, den Vertreter eines fremden Volkes, oder sonst etwas, das die Neugier der Menge erregen konnte.

Aber ich fand nichts, als eine arme mit dem Kot der Straße bedeckte Frau, die besinnungslos am Boden lag, weil ein Wagen ihr über den Fuß gefahren war; eine graue Schwester hatte sich helfend über sie gebeugt. Die Menge stand untätig daneben, voll Neugier und Erwartung; die Kinder baten ihre Mütter, sie in die Höhe zu heben, damit sie auch etwas sehen konnten, und aller Blicke hingen begierig an der breiten Blutlache, die aus dem zerbrochenen Glied auf die Steine tropfte.

Mir ekelte; ich knöpfte mich fester in den Mantel und ging fort.

Nach einigen Schritten aber blieb ich überrascht stehen. Vor mir lag eine weite, grüne Rasenfläche und in der Mitte, ganz allein, stand eine große, dunkelrote Rose.

Seltsam: die Rose stand ganz allein.

Das Fenster

Dicht an der Straße, die ich täglich durchwandern muß, in einem niedrigen Hause liegt ein Fenster, hinter dem man das sanfte und stille Gesicht eines Greises erblickt.

Jeden Morgen und Abend, wenn ich vorüberkomme, ob es regnet, oder der Himmel voll Sonne ist, sehe ich ihn dort sitzen und über die volkbelebte Straße schauen. Das stille, alte Gesicht, mit den weißen Haaren, den tiefen Falten in der Stirn, diesen sanften Augen, aus denen eine Güte spricht, von der ich als Kind immer glaubte, daß sie aus den Augen Gott-Vaters schauen müßte, das alles hat etwas so Stolzes, Königliches, daß ich immer beschämt die Blicke niederschlage, wenn ich vorüberkomme. Dieser fremde alte Mann, dessen Namen ich nicht einmal kenne, und der noch viel weniger von mir gehört haben kann, kommt mir vor wie auf einem Thron, wie auf einer Insel, fernab von allem Drange und aller lärmenden Unruhe unseres Lebens, an einem Strand, den die Wogen des Alltags nur noch leise, wie zum Abschied berühren.

Immer wenn ich unzufrieden mit meinem Leben und meinem Schicksal bin, dann denke ich an dieses friedliche Gesicht, das hilft mir die schwere Last leichter tragen.

Und ihr alle, die ihr klagt und murrt gegen euer Geschick, die ihr müde und verbittert seid, die ihr euren Vätern zürnt und eure Kinder scheltet, die ihr verlassen an den Gräbern weint und frierend vor den Türen bettelt, euch alle möchte ich um dieses stille Fenster versammeln, euch allen möchte ich dieses friedliche Antlitz eines Greises zeigen … es würde euch erzählen von einem ganzen der Arbeit gewidmeten Menschenleben, von einem Leben, klaglos zugebracht unter Mühe und Drangsal.

Es ist eine weite Kluft

Wenn ihr unseren Staat lobt, seinen Kaiser und seine guten Gesetze, so muß ich euch recht geben, und doch kann ich nicht umhin, dabei immer meiner Mutter zu gedenken.

Sie stand einmal am Fenster … es ist lange her, zu der Zeit, da wir noch ein eigenes Haus besaßen, das auf einem Hügel der Vorstadt lag, einen Hof und einen Garten.

»Siehst du den greisen Mann da drüben?« sagte sie und wies auf einen krüppligen Alten mit einem Stelzfuß, der unten, jenseits der Straße die Wege kehrte. »Er kam einmal mit einer Bitte zu mir. Er hatte ein Haus geerbt, und froh darüber, im guten Glauben, daß er nun das Glück in Händen hielte, hatte er die Erbschaft angenommen. Doch da er die Hütte betrat, war sie alt und eingefallen, und es lagen Schulden darauf, mehr denn das Haus wert war. Und wenn es ihm vorher auch schlecht gegangen, so war er jetzt so arm und elend, daß er nicht mehr zu leben wußte.

Ich habe ihm damals aus der Not geholfen. Ich bin für ihn zum Richter gegangen und habe die Papiere für ihn geordnet, denn er war so arm und elend, daß er nicht einmal seinen Namen schreiben konnte. Kaum daß er mit seiner zitternden, rauhen Hand, mißtrauisch von der Seite auf mich blickend, die drei Kreuze unter das Schriftstücke setzte.

Und heute, siehst du … heute ist Wahltag. Heute wird er sein Recht ausüben wie jeder andere, darf seine Stimme abgeben, wie es ihm gut dünkt, und ich …« Sie schwieg.

Ich wußte, was sie sagen wollte: sie war ein Weib.

Da stand sie, auf den Höhen des Lebens, den Blick über die Häuser frei und doch gebunden. Unten am Rande der Mauern aber, jenseits der Straße, nahm der alte Mann im Bewußtsein seiner Pflicht den Besen und machte sich auf den Weg.

Da ging er, ein Greis, der nicht einmal seinen Namen schreiben konnte, der jeden Abend vor der Schenke stand und seinen Schnaps trank, mit seinem braunen, abgeschabten Rock und seinen groben, abgetragenen Schuhen, klein, krüpplig und verwachsen; aber frei.

Es ist eine weite Kluft: diesseits und jenseits der Straße.

Aus der Schulzeit

Ich erinnere mich an einen Tag aus meiner Schulzeit. Wir hatten im Klassenzimmer von den Sagen der alten Griechen gehört, von Perseus und Theseus, von Achill und Odysseus und Herakles, und wie ihre Namen alle lauten.

Nun standen wir in der Zwischenstunde unten auf der Straße, in ein Gespräch vertieft, voll stiller Ehrfurcht und Bewunderung für die Helden der alten Welt.

Währenddessen kam ein Weib über den Weg gegangen, das die Frucht ihrer Mutterschaft unter der Schürze trug. Es mochte wohl die Frau eines Arbeiters sein; denn sie ging unbedeckt und trug einen Tonkrug am Arm. Sie sah bleich und elend aus, und ein sich sträubendes Kind hatte sich hinter ihr an das Kleid geklammert. Als meine Kameraden sie erblickten, lachten sie und stießen sich in die Seite und spotteten laut über das arme Weib.

Ich sehe noch: wie sie rot wurde und das Kind am Arme nehmend sich mühsam über die Straße schleppte, um ihrem Manne das Essen zu bringen, bis auf die andere Seite des Weges, wo die Arbeiter das Pflaster aufgerissen hatten.

Ich weiß noch, wie ich mitlachte; was sollte ich auch anderes tun?

Heute schäme ich mich dessen; aber ich bin alt geworden darüber. Jahre habe ich gebraucht, um begreifen zu lernen, daß jenes Weib eine tapfrere Kriegerin war, als alle Sagengestalten unserer Kindheit.

Die Königin der Nacht

In einem Treibhause blühte die Königin der Nacht.

In zwei Reihen standen die Pagen den dunklen Lorbeergang entlang, mit erhobenen Fackeln und erleuchteten die weite Halle. Vor der Marmorgrotte, in der die fremdländische Blume aufgestellt war, stand der Fürst, der Besitzer dieser märchenhaften Gärten, hinter ihm drängte sich sein Gefolge, die Hofleute und Kammerfrauen, und aller Blicke hingen voll Erwartung an der noch halbgeschlossenen Blüte, deren weiße Blätter sich in dem unruhigen Licht der Fackeln zitternd emporhoben.

Die anderen Pflanzen des Hauses aber, durch die Helle und die Tritte der Menschen aus dem Schlaf geweckt, begannen sich gleichfalls zu regen und bewegten die Blätter. »Ich weiß gar nicht«, flüsterte eine kleine Monatsrose, noch trunken von Schlaf, »was eigentlich diese vielen Menschen wollen. Seltsam« – und hier wandte sie ihre taufeuchte Blüte der Königin der Nacht entgegen – »du bist eine so teure, nutzlose Pflanze, nur in fernen entlegenen Ländern kann man dich finden, du bedarfst einer so großen Pflege, jahrelang stehst du in deinem unscheinbaren Kleid, du kostest so viel Mühe und Arbeit und blühst doch kaum einmal in deinem Leben. … Sieh mich an, ich bedarf keiner Sorge, ich bin mit einer Hand voll Erde und ein wenig Wasser zufrieden und blühe doch jeden Monat von neuem, so oft auch der Gärtner kommt, um meine Zweige zu beschneiden.«

»Du hast recht«, erwiderte mit einem leisen Hauch die Königin der Nacht, und ihre Staubgefäße traten wie eine goldene Krone aus dem offenen Kelch hervor. »Ich blühe nur einmal, wenige Stunden hindurch, vielleicht nur eine einzige Nacht in meinem Leben – aber wenn ich blühe, so rauben selbst Fürsten sich den Schlaf, mich zu bewundern, und die Dichter besingen mich in ihrem Lied!«

Heimkehr

Ich hatte Jahre im Auslande verbracht, jenseits der Grenze … Jahre voll Freiheit, voll köstlicher, kettenloser und wegfremder Freiheit.

Nun kehre ich zurück an die Stätte meiner Jugend, ich wollte heim. Mich zog es zu dieser Scholle, der ich geflucht, da ich sie verließ, zu diesem Lande, das ich verachtet, weil es mich an meinen Zielen gehindert, mir Schranken in den Weg gelegt hatte. Ich lächelte über den Schwur, den ich einst im Aufbrausen der Stunde getan, nie mehr diese Erde zu betreten. Ich wollte heim; es war ja das Land meiner Väter.

Ich kam zu Fuß. Der Weg führte mich über das Gebirge. Ich wußte: über diese Schluchten sollte die Grenze gehen; aber die wachsende Dunkelheit hüllte das Gebirge in Schleier.

Da suchte ich nach einem Licht, nach dem Schein eines Hauses, nach irgend einem Zeichen am Wege, das mich die alte Heimat wiedererkennen ließe.

Endlich fand ich ein Schild, das an einen Baum geschlagen war; im scheidenden Lichte entzifferte ich die Worte: »Verbotener Weg«.

Und ich lächelte in trüber Erkenntnis; nun wußte ich, daß ich wieder in Deutschland war!

Der Künstler

In einem Garten summte ein Schwarm Alltagsfliegen. Immer von einem Ende des Zaunes flogen sie bis zum andern; täglich war es dasselbe Spiel.

Ein Knabe, der im Garten stand, schaute ihnen zu, lüstern nach hohen Zielen und sagte: »Ihr Leben ist so eintönig und leer an Schönheit; ich will ihren Tagen einen Inhalt geben.«

Und er begann ein Lied zu singen von der Bitternis und der Lust des Lebens, und seine Stimme war von so wunderbarer Macht, daß selbst die Vögel, die auf dem Eisendraht über der Zaunkante saßen, still wurden und ihm lauschten.

Die Alltagsfliegen aber summten weiter, und ihre kleinen, aschgrauen Flügel zitterten und verdunkelten das Licht.

Da pflückte der Knabe ihnen die schönsten Blüten von den Beeten und brach die reifsten Früchte von den Bäumen und hielt sie ihnen empor … Sie aber achteten nicht auf seine Worte und schwirrten ihm um das Haupt, und ihre eintönige, sinnlose Melodie drang ihm zu Ohren. Da glaubte er ihre Stimme zu verstehen. »Uns dürstet«, summten sie, »uns dürstet!« und er lief an den Brunnen des Gartens, um Wasser zu holen; aber er war leer bis auf den Grund. Und er schaute sich um voll Verzweiflung, und als er wieder das Summen über seinem Haupte hörte, brachte er ihnen das letzte Opfer, denn er wollte ja ihr Leben mit Schönheit füllen. Und er nahm ein Messer und durchschnitt sich eine Ader; aber es schmerzte ihn so, daß er laut aufschrie. Und er nahm eine Schale und ließ sein Herzblut hineinfließen und reichte sie ihnen.

Die Alltagsfliegen aber summten weiter … weiter von einem Ende des Zaunes bis zum andern; ohne Aufhören taumelten sie in ihrem trunkenen Tanz durch das gelbe Sonnenlicht.

Und während der Knabe auf den Boden sank, entkräftet durch den Blutverlust und zum Sterben matt, kam der Hund des Nachbars in den Garten gelaufen. Unter einer Latte des Zaunes zwängte er sich hindurch, und sein Fell war grau vom Staub der Straße. Schaum stand ihm vor den Lippen, während er mit bebender Nüster den Fuß einer alten Eiche bewitterte und niederhockte zwischen ihren Wurzeln, die halb verdorrt weit aus dem Erdboden emportraten.

In diesem Augenblick verließ den Knaben das Leben; aber sein brechendes Auge konnte doch noch sehen, wie die Alltagsfliegen inne hielten in ihrem Tanz und vor Freude summend sich niederließen auf den bläßlichen Unrat des Tieres.

Der Turm

»Ewig sind wir«, rauschten die alten Tannen auf der Höhe des Berges, »ewig«.

Und der steile Festungsturm, der ihnen gegenüber auf einem schroffen Felsen stand, heulte zurück durch das Wehen des Sturmes: »Ich werde noch ewiger sein! Seht meine starken Mauern an, meine Brustwehr und meine Zinnen; wo ist der Feind, der mir schaden könnte? …«

Und die Tannen rauschten fort, und der Turm reckte sich noch stolzer in die Höhe. –

So vergingen einhundert Jahre.

Da war der Turm alt und grau geworden, und eine tiefe Runzel klaffte durch seine Stirn.

Die Tannen auf der Höhe aber rauschten noch immer: »Ewig sind wir, ewig.«

Der Wind trug ihr Rauschen zu dem alten Bergriesen hinüber und sie fragten ihn: »Nun, glaubst du noch immer, daß du uns überdauern wirst?«

»Was wollt ihr?« heulte der Turm zur Antwort und versuchte noch einmal den gebeugten Rücken zu strecken. »Habe ich nicht allen Feinden Trotz geboten? Ist nicht das Kriegsvolk vergebens gegen meine Zinne gezogen mit Schwert und Donner? Ist nicht der Blitz des Himmels in meinen First herabgeschlagen, und ich blieb stehen aufrecht und unbeweglich? … Aber andere kamen« – so setzte er nach einer Weile mit leisem Stöhnen hinzu – »andere, die ich nicht erwartet hatte. Gras hat sich zwischen die Fugen meiner Zinnen gesetzt. Heimliche, lichtscheue Wesen, Mäuse und Maulwürfe, unterirdisches Getier hat meine Mauern unterwühlt und untergraben.«

»Die also sind es, die dich so alt gemacht haben?« rauschten die Tannen.

Der Turm erwiderte nichts mehr; die tiefe Runzel in seiner Stirn war noch breiter geworden.

Märchen und Satyren

Ein Philister

Auf dem Platz vor dem Gartentisch nahm ein alter Spatz sein Sandbad. »Piep«, sagte er und lüftete den einen Flügel. »Piep«, sagte er und lüftete den andern.

Dann schaute er sich um und brummte: »Merkwürdig … ich bin ganz allein. Die jungen Sperlinge sind alle in den Nachbarhof geflogen; da soll ein großer, weißer Sandhaufen liegen, auf dem nehmen sie ihr Morgenbad. Welch eine Kühnheit ist das, welch eine unbegreifliche Verirrung! Dieses Sandbad hier ist gut; zwar ist der Sand etwas schwarz und rußig, aber er ist fein und glatt, er bleibt nicht zwischen den Federn hängen. Es ist Wahnsinn in einen anderen Hof zu gehen. Ich habe dieses Sandbad hier als gut erfunden, und das genügt! … Schrecklich diese modernen Ideen!«

»Piep«, sagte er und lüftete den einen Flügel. »Piep«, sagte er und lüftete den andern. Dann pustete er sich auf, rund und voll, und rief noch einmal zornig:

»Piep! Ich bleibe beim alten!«

Der Apfelbaum

In unserem Garten der Apfelbaum schüttelte seine Zweige und warf mir eine Handvoll seiner weißen Blüten auf den Tisch. Dann erzählte er mir eine Geschichte aus seinem Leben.

»Als ich noch jung und klein war«, sagte er, »hatte mich dein Großvater sehr lieb. Er hatte mich ja auch selbst beim Obstgärtner für vieles Geld erstanden. Jeden Abend kam er und putzte meine Blätter, und als ich etwas größer geworden war, band er mich an einen festen Stab, damit mich der Wind nicht umwerfen sollte.

Ein Jahr später trug ich meine ersten Blüten, kleine, rosaschimmernde Blüten, von denen sechs zu Früchten ansetzten. Als es noch unscheinbare, grüne Äpfel waren, kroch der Wurm in die eine Frucht, und sie wurde faul und fiel zu Boden. So blieben nur noch fünf kleine Äpfel übrig, aber sie wurden größer von Tag zu Tag, und die Sonne wärmte sie mit ihren Strahlen. Jeden Abend kam dein Großvater und betrachtete sie mit leuchtenden Augen. Er lächelte, wenn er sah, wie sie sich röteten, und freute sich auf die Stunde, wo er die ersten Früchte pflücken würde.

Zu jener Zeit war dein Vater noch ein kleiner Bube, der den ganzen Tag im Garten herumtollte und deiner Großmutter viel Mühe machte. Der sah eines Tages die fünf kleinen, runden Äpfel hängen, und weil sie so schön rot waren, stürzte er gleich darauf zu und riß sie herunter, alle fünf.

Als dann dein Großvater in den Garten kam, lief ihm sein Junge freudestrahlend entgegen und rief: ›Sieh mal, was ich habe Vater! …‹ Dabei zeigte er ihm die Äpfel.

Als das dein Großvater sah, wurde er so böse, daß er seinem Kinde einen heftigen Streich auf die Backe gab. Dann schalt er es aus und verbot ihm streng, je wieder das Bäumchen zu berühren. Seine Freude war nun zerstört. Dein Vater aber blieb ganz erschrocken stehen und ließ die Äpfel alle auf die Erde fallen, denn er wußte gar nicht, was er eigentlich getan hatte.

Am Abend desselben Tages, als dein Großvater die Kinder zu Bett geschickt hatte, ging er noch einmal in den Garten. Da sah er, wie eine kleine, weiße Gestalt, schon halb im Nachtkleid mit meinen Zweigen sich zu schaffen machte. Es war dein Vater. ›Georg!‹ rief der erstaunte Mann, als er ihn erkannte, ›habe ich dir nicht verboten an den Apfelbaum zu gehen!‹ – ›Ja‹ sagte dein Vater und war dem Weinen nahe, ›aber weil du so böse warst, wollte ich es wieder gut machen und habe die Äpfel alle wieder angebunden …‹ Und als dein Großvater auf sein Bäumchen blickte, sah er, daß die Äpfel alle mit rotem Zwirn an einen Ast gebunden waren, einer neben dem andern, in einer Reihe, alle fünf.

Da beugte er sich zu seinem kleinen unschuldigen Buben herab und küßte ihn. ›Geh schlafen‹, sagte er, und es war ein Klang in seiner Stimme, als wollte er ihn um Verzeihung bitten, dafür, daß er ihn vorher geschlagen hatte …

Das ist nun lange her«, fügte der Apfelbaum noch mit einem wehmütigen Rauschen hinzu, und dann schüttelte er mir wieder eine Handvoll seiner weißen Blüten auf den Tisch.

Der Mühlenstein

Den Buben von Barzdorf zu eigen

Es war in Schlesien auf einem einsamen Landschloß. Im Bücherzimmer saß der alte Freiherr und legte Karten; allein saß er da, sein Weib war auf den Friedhof gefahren. Draußen dämmerte der Abend. Er hatte das Höhrrohr fortgelegt und war ganz in sein Spiel vertieft. Karo legte er an Karo, Herz an Herz; fast den halben Tisch hatte er schon bedeckt.

Währenddessen wurde es neben ihm in dem alten Spielschrank unruhig. Hinter der schweren Eichentür mit dem eingeschnitzten Familienwappen stand auf dem Brett mit aufgeklapptem Deckel ein Mühlenspiel, dessen Steine anfingen sich zu bewegen. »Was wollt ihr?« klapperten sie. Dabei wandten sich ihre Blicke nach drei Billardkugeln, die mit ihnen auf demselben Fache lagen. Diese waren aus schwerem Elfenbein und ganz neu; der Freiherr hatte sie erst kürzlich aus der Stadt mitgebracht, die eine Kugel war weiß, die andere trug einen schwarzen Ring, die dritte zwei schwarze Ringe um ihre Mitte, und immer, wenn der Landrat zu Besuch kam, wurden sie herausgenommen, und die beiden Herren spielten damit bis tief in die Nacht. Die Mühlensteine aber, die seit langem unberührt im Fache lagen, waren neidisch darauf. »Eindringlinge«, zischten sie.

»Seid nicht so laut«, erwiderten ruhig die Billardkugeln und blickten durch einen Spalt in der Schranktür. »Es ist jemand im Zimmer.«

»Ach was!« klapperten die Mühlensteine von neuem, »da sitzt nur der Freiherr, und der ist ja schwerhörig.« Dann fingen sie wieder an zu schelten: »Macht, daß ihr fortkommt!«

Ein einziger Mühlenstein war unter ihnen, der sich ruhig verhielt. Es war ein ganz besonderer Stein; das Holz aus dem er gedrechselt wurde, hatte eine so merkwürdige Maserung gehabt, daß seine Oberseite aussah wie ein richtiges, kleines Gesicht, so wie es die Schulbuben mit Tinte auf die Löschblätter zu malen pflegen; indem sie das Verschen dazu sprechen: »Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Mondgesicht!« … Und man konnte wirklich zwei Punkte auf dem Mühlenstein unterscheiden, die wie zwei Augen aussahen, und zwei dunkle Stellen, die den Mund und die Nase bildeten. Dieser Stein nun war der einzige, der nicht mitzankte, vielleicht weil er zu ernste Dinge im Leben erfahren hatte, um närrisch zu sein, vielleicht auch, weil ihm das Sprechen schwer fiel, denn in der Mitte hatte das Holz einen kleinen Sprung.

Unterdessen wurde der Lärm immer größer. Selbst die Bücher auf den Borten, die doch in der Tat viel Weisheit in sich trugen, selbst die fingen an zu reden, und die Billardstäbe klapperten laut in ihrem Gestell, obwohl ihnen das schwer fallen mußte, weil sie Gummisohlen trugen, Schutzscheiben, die der Freiherr ausdrücklich an ihrem Ende hatte anbringen lassen. Zuletzt begann auch der Fernsprecher über dem Schreibtisch zu reden. »Frieden, Frieden!« rief er, »den ganzen Tag muß ich sprechen, zuweilen auch in der Nacht, nun zwingt ihr mich selbst in der Dämmerstunde den Mund aufzutun. Herrgott! einem tut ja die Lunge weh.« – Dabei war seine Lunge von Eisen und konnte doch wirklich viel aushalten.

Als es gar nicht ruhig werden wollte, legte sich schließlich der Mühlenstein, der das Mondgesicht auf der Oberseite trug, ins Mittel. Kaum hatte er zu sprechen angefangen, da wurde es still im Zimmer; denn alle wußten, daß er ein guter Redner war.

»Ihr müßt euch vertragen«, sagte er zu seinen acht braunen und neun schwarzen Brüdern. »Ihr dürft nicht neidisch sein. Die Billardkugeln haben ebenso gut ein Recht darauf zu leben, wie ihr. Wir sind auch einmal neu in diesem Schranke gewesen, und man hat uns nicht vertrieben; warum sollen wir an unsern Nachfolgern anders handeln? Wir haben Freuden und Leiden dieses Hauses miterlebt, und ich meine, wir sollten zufrieden und dankbar sein, wenn man nicht mehr mit uns spielt, seit das kleine Heinerle gestorben ist.«

»Wer war das?« riefen die Billardkugeln wie in einem Atem.

»Hört!« fuhr der Mühlenstein fort, »ich will es euch erzählen: Heinerle war der jüngste von den drei Buben des Freiherrn. Es war ein kleiner, süßer Knabe. Seine Brüder kennt ihr: der eine sitzt jeden Mittag hier am Schreibtisch, um mit seiner Mutter zu arbeiten, und ihr wißt alle, wie faul er ist. Mehrere Jahre geht er schon in die Schule und schreibt immer noch Vater mit einem F und Sehnsucht ohne h. Der andere Bruder ist auch nicht viel besser. In den letzten Ferien hat ihm sein Vater eine Maulschelle gegeben, weil er nicht einmal wußte, das ›Hoppos‹ das Pferd heißt.«

»›Hippos‹ heißt es überhaupt«, schrie entrüstet das uralte griechische Wörterbuch dazwischen. »Furchtbar, wie ungebildet heutzutage die Leute sind!«

Der Mühlenstein ließ sich dadurch nicht stören. »Seine Brüder kennt ihr«, sagte er wieder, »hätten sie sich nicht in den letzten Ostertagen im Streit beinahe mit euch geworfen?«

»Freilich«, seufzte die eine Billardkugel, »ich bin dabei auf die Steinfliesen gefallen und habe noch Leibweh davon.«

»Ja, so sind sie«, nahm der Mühlenstein wieder das Wort »… und seht ihr: Heinerle war ganz anders als seine Brüder. Ein kleiner, stiller Knabe war er, fünf Jahre alt, mit langen hellblonden Locken, und so groß, daß er gerade mit dem Kopf über Vaters Schreibtisch reichte. Seine größten Freuden bestanden in dem Tragen einer Kürassieruniform und in der Erlaubnis ›barbs‹ durch den Park zu laufen, womit wir auf dem Lande barfuß meinen, und was ihr als Städter natürlich nicht wissen könnt.«

Da die Billardkugeln dies ruhig hinnahmen, erzählte der Mühlenstein weiter: »Zwei Lieblingsdinge gab es noch für Heinerle, das eine waren die Blumen im Garten, und das andere war das Mühlenspiel. Ihr wundert euch gewiß, woher ich das alles weiß, aber das ist nicht schwer zu erraten. Heinerle trug mich oft tagelang in seiner Hosentasche, denn er hatte mich sehr in sein Herz geschlossen, und so konnte ich alles genau beobachten. Früh, wenn das Mädchen ihn angekleidet hatte, war gleich sein erster Gang in den Garten, und hier pflückte er alles, was er nur an Blumen auffinden konnte. Dann lief er zu seiner Mutter ins Zimmer, versteckte die Blumen hinter seinem Rücken und rief: ›Mutti, rat mal, was ich dir mitgebracht habe?‹ – Die Freiin, die sonst eine hohe, stolze Frau war, die aber ihren kleinen Buben über alles liebte, legte die Stirn in Falten, als ob sie sehr schwer nachdächte, und nannte irgend eine Pflanze, von der ihr ganz genau bekannt war, daß sie um diese Zeit nicht blüht: ›Na, sagen wir mal Holunder.‹ Dann meinte Heinerle ganz verächtlich: ›Och! Holunder …‹ Schließlich, wenn seine Mutter sagte, daß sie doch nicht raten könne, was er ihr mitgebracht habe, hielt er ihr triumphierend die Hände entgegen und rief: ›Weidenkätzchen!‹ … Und dann küßten sie sich, bis beiden der Atem ausging.

Hierauf wanderte Heinerle erst in den Kuhstall, Milch trinken, und darauf mußte er bis Mittag schlafen. Vorm Essen, wenn er seinen Kittel mit dem rotgestickten Muster angezogen hatte, der die kleinen weißen Arme ganz frei ließ, wurde er dann in den Speisesaal geführt. Dort stand er hinter dem großen Eichenstuhl, der ihn fast verdeckte, und sprach das Tischgebet, während Vater und Mutter ganz ernst zuhörten. Sie waren so glücklich, und Heinerle war es auch, besonders wenn der Freiherr noch einen Tropfen Wein in seinen Silberbecher tat. Nach Tisch lief er dann ›reifeln‹ auf den Mühlberg, oder die Mutter nahm ihn im Wagen mit, wenn sie nach der Stadt fuhr. So verging ihm der Tag.

Gegen Abend, wenn die Lampen angezündet wurden, kam der wichtige Augenblick, den Heinerle meiner Meinung nach mit Recht als den Hauptzweck des Lebens betrachtete; dann spielten die Eltern nämlich Mühle mit ihm. Heinerle baute seine neun Steine neben dem Spielbrett auf, immer drei übereinander, und oben auf das mittelste Päckchen legte er mich; denn das muß gesagt werden, daß er mich sehr lieb hatte und immer nur mit den braunen Steinen spielte, weil auf meiner Oberseite ein richtiges Antlitz ausgeprägt ist. Er nannte mich überhaupt immer nur das ›Mondgesicht‹. Erst wenn Vater und Mutter eine Partie Mühle mit ihm gespielt hatten, erst dann ging Heinerle ohne Murren zu Bett, besonders, wenn der Freiherr einmal müde war und es ihm gelang eine Doppelmühle zu bekommen. Dann lachte er noch, wenn die Mutter an sein Bett kam, um ihm die Geschichte von der ›Prinzessin auf der Erbse‹ vorzulesen, oder das Märchen vom ›Schneider Siebentot auf einen Schlag‹. Wenn die Freiin dann genug gelesen hatte und Heinerle anfing, leise zu gähnen, küßte sie ihn noch einmal, und er kroch unter die Bettdecke, so daß man nur noch seine Nasenspitze sehen konnte, die ganz rosig vor Gesundheit war. Während sie die Lampe löschte, sprach er sein Nachtgebet: ›Breit aus die Flügel beide …‹, und indem er das sagte, war er auch schon eingeschlafen. –

Einmal reiste der Freiherr mit seiner Gemahlin an den kaiserlichen Hof. Erst herrschte große Aufregung im ganzen Schloß, und alle Diener waren in Bewegung; denn Heinerles Mutter hatte das Crepe de Chine-Kleid nicht finden können, und das hatte sie doch unbedingt nötig, wenn sie bei Kaisers Besuch machte. Nun waren sie abgereist. Heinerle schien zwar sehr stolz auf die Ehre zu sein, die seinen Eltern widerfuhr, denn Kaiser sollte noch mehr sein als König, und der hatte die Krone, und das war ja überhaupt das Höchste; aber es war doch furchtbar einsam so allein. Mit wem sollte er denn Mühle spielen! Er war schon bei allen Dienern und Kammerjungfern herumgelaufen und hatte gefragt, ob sie nicht Mühle spielen könnten, selbst im Stall bei den Kutschern und Pferdeknechten war er gewesen, aber alle hatten den Kopf geschüttelt. Heinerle war ganz ärgerlich. Schließlich ging er an den Spielschrank, und weil er mich gerade nicht bei sich trug, öffnete er den Mühlenkasten und nahm mich heraus. Er betrachtete mein Mondgesicht und ließ mich dann in seine Hosentasche gleiten. Anfangs führte ich da mit einem Zweipfennig zusammen ein behagliches Leben. Doch wir blieben nicht allein; im Laufe des Tages vermehrte sich unser Hausbestand. Zuerst kam ein angebissenes Stück Zwieback dazu, das furchtbar krümelte, dann zwei Kieselsteine, ein Stück Blaustift, das er aus der Werkstatt des Zimmermanns holte, und schließlich ein alter Krähenfuß. Da wurde es mir doch ungemütlich, namentlich die Krähenpfote, die noch nicht ganz eingetrocknet war, verbreitete einen unangenehmen Geruch. Aber es war ja in Heinerles Hosentasche, und so verzieh ich es ihm schließlich.

Als er eingesehen hatte, daß er mit dem Mühlespielen bis zur Rückkehr seiner Eltern warten müßte, begnügte er sich, unendlich viele Blumen für ihren Empfang zu pflücken. Es gab kaum eine Vase mehr im Schloß, die er nicht mit seinen Blumen gefüllt hatte, und da er meistens vergaß, Wasser hineinzugießen, so welkten sie schnell. Selbst in Tassen und Gläsern konnte man sie finden, überall lagen sie zerdrückt und zertreten auf Tisch und Fußboden umher, und wenn der alte Diener mit dem weißen Haupthaar ihn fragte, warum er denn immer noch mehr pflücken wollte, so erwiderte er stets nur: ›Mutti kehrt bald zurück‹ oder ›Väterchen kommt doch‹ … und dann war er schon wieder im Park, um neue Blumen zu holen.

Endlich kamen die Eltern. Der Freiherr traf schon einen Tag eher ein, und als er noch auf der Treppe stand, die schwere Reisetasche in Händen, kam ihm Heinerle schon entgegengelaufen: ›Väterchen, wollen wir mal Mühle spielen? …‹ Aber der Freiherr hatte infolge seiner Abwesenheit so viele Geschäfte zu erledigen, daß Heinerle zu seiner großen Enttäuschung noch einen Tag warten mußte, bis auch seine Mutter zurückkehrte. Schon zwei Stunden vor ihrer Ankunft begann er, die Mühlensteine aufzubauen. Da bemerkte er zu seinem Schrecken, daß sein liebster Stein, das ›Mondgesicht‹ ihm fehlte. Im Garten hatte er mich beim Spielen verloren und zwar auf dem Blumenbeet, das seinem Bruder gehörte, und das ganz mit Unkraut verwachsen war, weil er nie jäten wollte. Dort war ich ihm auf die Erde gefallen, gerade in ein Stiefmütterchen hinein. Als seine Mutter von der Reise zurückkam, hatte er mich trotz angestrengten Suchens noch nicht wiedergefunden, und weil Heinerle so gerne Mühle spielen wollte, schnitt seine Mutter aus Pappe einen Ersatzmann für mich aus, wie ich nachher durch meine Brüder erfuhr. An diesem Abend verlor Heinerle begreiflicherweise das Spiel, weil ich nicht dabei war, doch fand er mich am nächsten Tage, als er Stiefmütterchen pflücken wollte, schon wieder. Das Schlimme blieb nur, daß in der Nacht ein Regen gefallen war, und ich einen Sprung in mein schönes, braunes Holz bekommen hatte.«

Hier schwieg der Mühlenstein eine Weile, und seine Stimme wurde ernst, als er sagte: »Nun komme ich zum Ende. Eines Tages im Frühjahr, als die Rachenbräune im Dorf herrschte, ging Heinerle ohne Erlaubnis und ohne Mantel in den Garten, um seiner Mutter Schneeglöckchen zu holen. Die Schneeglöckchen liebte er besonders, er achtete gar nicht darauf, als er beim Suchen mit seinen kleinen Füßen in eine Lache von geschmolzenem Schnee trat, und es war ein Werk der Liebe, das ihn zum Ungehorsam verleitete. Das arme Heinerle, es sollte seine Liebe teuer bezahlen!«

Hier schluchzte der Mühlenstein wie ein Mensch, dem die Tränen aufsteigen, und mußte einen Augenblick innehalten. Dann fuhr er fort: »Heinerle hatte sich zunächst nur erkältet; aber zwei Tage später wurde er plötzlich von starkem Frost befallen und litt unter heftigem Fieber. Sein Puls ging schnell, er klagte über Schmerzen in Kopf und Nacken, und alle Anzeichen der Rachenbräune machten sich bei ihm bemerkbar. Als der Arzt kam, war sein Gaumen schon ganz mit kleinen weißen Flecken bedeckt. Man hüllte ihn in feuchte Tücher und ließ ihn eine halbe Stunde in kaltem Wasser; aber es war alles vergeblich. Das ganze Schloß war um ihn bemüht, es herrschte eine unheimliche Stille in den Räumen, und der Schritt des greisen Dieners war noch leiser als früher. Die Freiin saß ohne Aufhören am Bett ihres kleinen Buben, und wenn sie einmal abgelöst wurde, um selbst ein wenig zu ruhen, sah man die hohe, stolze Frau wie eine Erscheinung voll Unruhe durch die Gänge des Schlosses wandern.

Dann kam der Tag, an dem das kleine Heinerle ausgelitten hatte. Die Flecken auf seinem Gaumen waren erst braun und dann grau wie Asche geworden, er konnte keinen Atem mehr bekommen und war ganz blau im Gesicht. Noch einmal verlangte er nach seinem Mühlenspiel. Man brachte ihm die Steine, aber er konnte nicht mehr damit spielen. Nur einen Stein suchte er sich heraus, das bin ich gewesen, und er hielt mich fest in seiner kleinen weichen Hand, bis er starb.«

Hier brach der Mühlenstein ab, und seine Stimme war von Schluchzen erstickt. Es war ganz still im Zimmer, der Freiherr legte noch immer Karten, die Bücher auf den Borten standen schnurgerade in einer Reihe, als würde Parade gehalten, die Billardstäbe lehnten lautlos auf ihren Gummisohlen, der Fernsprecher hielt seine Lunge an, und auch die braunen und schwarzen Brüder des Mondgesichtes wagten sich nicht zu bewegen. Sie mochten einsehen, daß sie viel zu ernste Dinge erlebt hatten und nicht mehr wünschen durften, daß man mit ihnen spielte.

Draußen fuhr ein Wagen vor: es war die Freiin, die vom Grab ihres Kindes heimkehrte.

»Das arme Heinerle«, sagte der Mühlenstein noch einmal und schluchzte. Dann hörten die Billardkugeln auf ihrem Fach einen leisen, knackenden Laut, worauf es ganz still wurde. Sie glaubten, ihm wäre das Herz gebrochen.

Einige Tage später, beim Aufräumen des Spielschrankes, fand die Freiin den offenen Mühlenkasten und sah, daß der eine Stein zersprungen war. »Hier ist ein Stein zerbrochen«, sagte sie zum Freiherrn, der im Zimmer stand. Dann wie in plötzlicher Erkenntnis schrie sie laut auf: »Sieh nur, das ist ja der Stein, den Heinerle immer so gern hatte!«

Und da übermannte sie der Schmerz wieder, und sie warf sich in den Sessel und weinte.

Die Seeigel-Grotte

Es regte sich dort unten … tief am Grunde des Mittelländischen Meeres in einer einsamen Bucht; Seespinnen und Krabben liefen durcheinander in Hast und geheimer Aufregung. Ein Taschenkrebs, ein ganz gewöhnlicher Taschenkrebs, hatte die ungeheure Kühnheit besessen, in die Seeigel-Grotte einzudringen, die in dem Rufe stand, ein finsterer und verabscheuungswürdiger Ort zu sein; ja es ging die Sage, schon von Urzeiten her, daß dort ein riesenhafter Seeigel sein Unwesen treibe, der größer sei als ein ausgewachsener Krebs und ganze Seespinnen auf einmal verzehren könne.

Nun suchten die Bewohner jener Meeresgegend, deren Bucht eine etwas stürmische Lage hatte, schon seit langem nach einem neuen Wohnort, und nicht ohne Grund war die Vermutung aufgetaucht, daß vielleicht in der Seeigel-Grotte die für einen ruhigen Lebenswandel erwünschte, friedliche und gleichmäßige Strömung des Wassers herrschen könnte. Nie aber hätten sie es je gewagt, diese Grotte zu betreten, das galt als ein heiliges Gesetz, von alters her und unantastbar.

Da kam nun dieser Taschenkrebs, dieser ganz gemeine Taschenkrebs, der aber doch ein wenig mehr Mut und Einsicht besaß als seine Genossen, um auf Lebensgefahr hin das Wagnis zu unternehmen, die Seeigel-Grotte zu betreten.