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Im Bergwerk der Sprache

Eine Geschichte des Deutschen in Episoden

Im Bergwerk der Sprache

Eine Geschichte des Deutschen
in Episoden

Herausgegeben von
Gabriele Leupold und
Eveline Passet

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Herausgeberinnen und Verlag danken dem Literarischen Colloquium Berlin, dem Deutschen Übersetzerfonds, der Robert Bosch Stiftung GmbH und dem Centre de Traduction Littéraire der Universität Lausanne für die freundliche Unterstützung.

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Centre de traduction littéraire de Lausanne (CTL)

Bibliografische Information der

© Wallstein Verlag, Göttingen 2012

Inhalt

Im Bergwerk der Sprache

Vorwort

ANNE BETTEN

Direkte Rede und episches Erzählen im Vergleich

Eine syntaktische Reise durch fünf Jahrhunderte (1500 – 2000)

PAUL RÖSSLER

Auf den Punkt gebracht

Zeichensetzung in literarischen Texten zwischen Tradition und Innovation

BRITT-MARIE SCHUSTER

Akzeptierte grammatische Abweichung und stilistischer Kunstgriff

Eine kleine Kommunikationsgeschichte der Ausklammerung

SIBYLLE KURT

Morgen begann der Krieg

Erlebte Rede und ihre Übersetzung

JÖRG KILIAN

»Man spricht hier in Meißen oft: Je nu!«

Historische Gesprächswörter vom 17. – 21. Jahrhundert

ELKE HENTSCHEL

Abtönungspartikeln – die Läuse im Pelz der Sprache

HANS-JOACHIM BOPST

Sehnsucht aufeinander

»Falsche« Präpositionen zwischen Sprachkritik, Sprachsystem und Sprachgeschichte

KLAAS-HINRICH EHLERS

Von Hochachtungsvoll über Heil Hitler bis Herzliche Grüße

Zur Geschichte kommunikativer Routinen am Beispiel von Briefen

ANJA VOESTE

Um Anerkennung schreiben

Fünf historische Versuche, sich mit den rechten Worten ins rechte Licht zu rücken

ANDRÁS F. BALOGH

Der Schneeonkel

Mehr- und Erstsprachigkeit deutscher Autoren aus Ostmittel- und Südosteuropa

KATHARINA MAYR, KERSTIN PAUL, KATHLEEN SCHUMANN

Von gedrehten Zungen, Ghetto-Kanaken und einem Sultan der Gedanken

Gastarbeiterdeutsch und Kiezdeutsch in literarischer Verarbeitung

RENATE BIRKENHAUER

NS-Deutsch

Vier Lesarten des Deutschen zwischen 1933 und 1945

MANFRED MICHAEL GLAUNINGER

Essekerisch und Budapester Josefstädterisch

»Kakanischer« Slang im habsburgischen Transleithanien

HERMANN SCHEURINGER

Zwischen Böhmen, Banat und Bukowina

Deutsch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa

HORST J. SIMON

Wie ma nText Platt macht

Überregionale Dialektindikatoren

DIETER CHERUBIM

Sprachliche Patinierung

Was lässt einen Text »alt« aussehen?

Kleine Bibliographie

Die Autorinnen und Autoren

Im Bergwerk der Sprache

Vorwort

Kann man sagen »Wowereit bekundet Trauer für Juhnke«? Warum zuckt ein in der Nazi-Zeit aufgewachsener Mensch womöglich vor dem Wort »schlagartig« zurück? Wie erkläre ich meinem ausländischen Chat-Partner das deutsche »tja«? Nach welchen Regeln erfolgt denn nun die Kommasetzung? Ist »der Mann, wo da geht« tatsächlich nur in Süddeutschland gebräuchlich? Warum sind die Schachtelsätze des Barock heute so schwer zu lesen? Und was erzeugt den Stakkato-Sound in manchen zeitgenössischen Texten? Solche Fragen stellt sich jeder, ob er Belletristik liest oder Blogs, ob er die Sprache eher über das Ohr aufnimmt oder in schriftlicher Form, und natürlich drängen sie sich geradezu auf, sobald man anfängt zu schreiben.

Unter den Schreibenden stehen die Literaturübersetzer und -übersetzerinnen vor einer ganz besonderen Herausforderung. Sie müssen die Sprache, die andere in unterschiedlichen Epochen geschaffen und in verschiedenste Formen gegossen haben, nachschaffen: vom Roman bis zum mundartlichen Theaterstück, vom wissenschaftlichen Traktat bis zu Briefwechseln und Lebenserinnerungen. Die Schichten und Lagen der Sprache, aus der und besonders in die sie übersetzen, müssen sie sich gezielt zu erschließen wissen. Das beginnt bei den Raffinessen syntaktischer Gefüge und endet bei der Partikelverwendung in gesprochener Sprache. Und so gaben einige der in der übersetzerischen Praxis unablässig wiederkehrenden Fragen, die weit mehr Sprachinteressierte umtreiben als nur Übersetzer, den Anstoß zu einer Veranstaltungsreihe im Literarischen Colloquium Berlin, die sich den Aspekten der deutschen Sprachgeschichte widmet. Im Bergwerk der Sprache versammelt einen größeren Teil der bislang gehaltenen Vorträge, die für die vorliegende Publikation überarbeitet wurden.

So disparat die einzelnen Beiträge beim ersten Blick ins Inhaltsver-zeichnis erscheinen mögen, es verbindet sie doch unterirdisch ein mächtiges Flöz, eine Art Haupt- oder Grundthema: die Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In seinen Ausläufern führt es zu einer Reihe weiterer wiederkehrender Oppositionen: Norm und Abweichung, Slang und Standardsprache, Dialekt und »Hochdeutsch«, prestigeträchtige und verpönte Varietäten und Formen, Migration und Mischsprachen, Modernisierung und Konservierung, aber auch: Hör- und Leserezeption, rezeptionserleichternde und rezeptionserschwerende Stilmittel, narrativer Text und simulierte Sprechsprache, Erzähler- und Personenrede, und immer wieder: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Überblicksdarstellungen stehen neben punktuellen Tiefbohrungen und fügen sich, bei aller Vorläufigkeit und notwendigen Lückenhaftigkeit, zu einer exemplarischen Geschichte der deutschen Sprache in Episoden.

Gänge und Stöcke

Anne Bettens syntaktische Reise durch fünf Jahrhunderte folgt den wichtigsten Entwicklungsetappen des deutschen Satzes und begleitet seine Entfaltung vom lockeren Gefüge im Prosa-Lancelot aus dem 13. Jahrhundert über die langen Perioden des Barock bis hin zu den vielfältigen Bestrebungen von Autoren, gegen die zuletzt gewonnene Perfektion zu revoltieren – sei es durch die Wiederhineinnahme regionaler, mündlicher oder archaischer Ausdrucksmittel, sei es durch das Spiel mit dem Satz selbst. Deutlich wird, dass sprach- und stilgeschichtliche Entwicklungen eng verzahnt sind mit technischen Neuerungen und gesellschaftlichem Wandel. So führte die Erfindung und Verbreitung des Buchdrucks und der Übergang zur stillen Leserezeption zum kompletten Umbau im Verhältnis von Erzähl- und Redepassagen: Um die Eleganz der Rede zu bezeugen, waren gerade diese in der zum Vortrag gedachten Literatur komplex gebaut, während die Satzstrukturen in den narrativen Passagen schlichter gehalten waren.

Mit der stillen Leserezeption, so Paul Rössler in seinem Beitrag »Auf den Punkt gebracht«, bildete sich auch eine immer stärker syntaktisch geprägte Zeichensetzung heraus gegenüber der älteren »rhetorischen«, die in erster Linie Sprechpausen anzeigen sollte. Durch die zunehmende Kodifizierung der Interpunktion, die beim Schreibenden Grammatikkenntnisse erfordert, werden auch Regeln geschaffen, gegen die zu verstoßen falsch, aber ebenso Stilwille sein kann.

Stilwille zeigt sich auch im Umgang mit einem Phänomen des Deutschen, das es von anderen, auch anderen germanischen Sprachen unterscheidet, der sogenannten Satzklammer. Ihre Voraussetzung ist die Herausbildung mehrteiliger Verbformen; seit dem 17. Jahrhundert durchlief sie einen langen Standardisierungsprozess. Britt-Marie Schuster zeichnet diese Geschichte nach und untersucht insbesondere die Ausklammerung, jenes Stilmittel, das Satzsegmente hinter die Verbklammer verlegt: Von den Predigten und (reformatorischen) Flugschriften des 16. Jahrhunderts bis zu Politikerreden im ausgehenden 20. Jahrhundert je nach Textsorte und Situation genutzt, um die Aufnahme eines Gedankens zu erleichtern oder den Zuhörer bzw. Leser zu fesseln und mitzureißen, ist sie seit langem ein Merkmal kommunikativen Schreibens.

Je mehr sich die syntaktischen Möglichkeiten des Deutschen ausdifferenzieren, desto vielfältiger wird in Texten auch die Wiedergabe von Rede. Am Beispiel von Übersetzungen ins Deutsche beschäftigt sich Sibylle Kurt in ihrem Beitrag »Morgen begann der Krieg« mit erlebter Rede, einer Technik, Elemente der Figurenrede und -wahrnehmung bis in die erzählenden Passagen hineinzutragen. Zu ihrer Ausgestaltung tragen etliche sprachliche Ausdrucksmittel bei, darunter zahlreiche typisch »mündliche«, wie Ellipse, Satzbruch, Dialektales, Slang oder auch Abtönungspartikeln.

Diese »Läuse im Pelz der Sprache« finden vor allem im Alltag Verwendung, sie dienen den Gesprächspartnern zur gegenseitigen kommunikativen Vergewisserung, haben oftmals gestische und expressive Funktion, nuancieren, schwächen ab, geben Farbe und Lebendigkeit. Ihre Verwendung auch in literarischer Sprache untersucht Elke Hentschel an Dramen von Goethe bis Dürrenmatt.

Den Abtönungspartikeln in ihrer kommunikativen Funktion eng verwandt sind die »Beweg-«, »Trieb-« oder »Würzwörter«, heute Gesprächswörter oder Dialogstrukturpartikeln genannt. Ihnen geht Jörg Kilian in seinem Überblick nach – vom »ey« des 17. Jahrhunderts bis zum jugendsprachlichen »ey« der Gegenwart.

Kilian zitiert ausführlich die Grammatiker, die anfangs die deutsche Sprache nur beschrieben, seit dem 17. Jahrhundert aber in wachsendem Maße dazu übergingen, Verwendungen auch zu bewerten. Damit avancierte die Schriftsprache allmählich zur Leitvarietät und etablierte sich im 18. Jahrhundert die Dichotomie von richtig und falsch, mit einer Reihe von Nebeneffekten: Erst Regeln gebären ihr Gegenteil, den fehlerhaften Gebrauch. Die Spannung von Regel und »Alternanz, Variation, Verschiebung« untersucht Hans-Joachim Bopst am Beispiel der Präpositionen und geht nebenbei der Frage nach, was Sprachkritik heute bedeutet.

Mit der normsetzenden Grammatikschreibung wurden gewisse Ausdrucksformen stigmatisiert, andere avancierten zum Bildungssymbol. So wurde Sprache zum Instrument sozialer Diskriminierung – oder zum Mittel, den eigenen Status zu markieren. Anja Voeste zeigt an Textbeispielen aus dem 16. bis 19. Jahrhundert, wie sich »kleine Leute« oder auch eine gebildete Frau gesellschaftlich zu positionieren versuchen, indem sie sich an schriftsprachlichen Vorbildern orientieren. Sie verwenden prestigeträchtige grammatische Formen, die »historisch beglaubigt«, aber unter Umständen bereits anachronistisch sind. Dass dabei sprachliche Elemente, die wir heute als Zeichen von Mündlichkeit interpretieren, im 16. und 17. Jahrhundert gerade Schriftsprachlichkeit suggerierten, gehört zu den überraschenden Einsichten aus dieser Lektüre.

Die Steuerung kommunikativer Routinen ist auch Thema bei Klaas-Hinrich Ehlers. Am Beispiel von Behördenkorrespondenz rund um die NS-Zeit sowie von Musterbriefen aus der jahrhundertelang (und bis heute) florierenden Gattung der Briefsteller zeigt er, wie Gruß-, Anrede- und Raumverhalten, in der Ständegesellschaft Ausdruck des hierarchischen Abstands zwischen Sender und Empfänger, sich auf lange Sicht wandeln. Heute kommen in unserem Umgang horizontale Distanzen (Nähe und Privatheit oder größerer Abstand und Fremdheit) zum Tragen, eine Modernisierung, der die Nazi-Zeit Vorschub leistete, etwa mit dem staatlich verordneten Deutschen Gruß, der »in seiner gewollten Respektlosigkeit und Gleichförmigkeit der egalitären Utopie der Volksgemeinschaft entsprach«.

Mergel

Sprachmischung tritt überall dort auf, wo verschiedene Idiome in engen Kontakt treten, zum Beispiel Fremdsprachen oder Dialekte. In einem Überblicksbeitrag über jenen großen, »sprachlich buntscheckigen« mittel-, ost- und südosteuropäischen Raum, der sich ungefähr mit dem historischen Österreich-Ungarn deckt, kartographiert Hermann Scheuringer die vielfältigen dort stattgehabten Sprach- und Dialektkontakte und -vermischungen. Nebenbei verweist der Autor auf einen anderen sprachgeschichtlichen Umstand: Dass so unterschiedliche Mundarten wie jene des deutschen Sprachraums heute als Teil einer Sprache gelten, ist lediglich einer Reihe von – auch politischen – Zufällen geschuldet, wie am Luxemburgischen ersichtlich, das, kürzlich noch deutscher Dialekt, inzwischen zur Staatssprache erhoben ist.

Stärker ins Detail geht András F. Balogh: Am Beispiel mehrsprachiger Autoren aus Ostmittel- und Südosteuropa zeichnet er die Präsenz des Deutschen in einer anderssprachigen, in der Regel multilingualen Umgebung vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach. Das Vermögen, sich vom Anderen durchdringen zu lassen und mit eigenen und fremden Ausdrucksformen zu spielen, war den deutschsprachigen Schriftstellern dieser Region stets eigen. Nur das 19. Jahrhundert, als Sprache »zur bedeutendsten Komponente nationaler Identität« wurde und die Autoren genötigt waren, »sich zu einer Sprache zu bekennen«, fällt hier heraus. Für den ungarischen Literaturwissenschaftler, der im rumänischen Cluj-Napoca, dem siebenbürgischen Klausenburg, lehrt, ist Mehrsprachigkeit nachgerade »ein Prüfstein der Offenheit, des freundschaftlichen Zusammenlebens und schließlich der Demokratie überhaupt«.

Von einer weiteren Ausprägung von Sprachmischung im »Kakanien« des 19. Jahrhunderts berichtet Manfred Michael Glauninger: In zwei Mundartstücken, die im urbanen vielsprachigen Milieu der »kleinen Leute« in Essek (dem heutigen kroatischen Osijek) und der Budapester Josefstadt entstanden, erkennen wir einen eigenen »k. k.-Migrantenslang«, basierend auf deutschem Dialekt bzw. Umgangssprache, in die spezifische Erscheinungsformen der umgebenden Sprachen einflossen.

Ähnliches lässt sich an einer Varietät des Deutschen beobachten, die im Zuge der Migration nach Deutschland (und auch Österreich) in jüngster Zeit entstand. Katharina Mayr, Kerstin Paul und Kathleen Schumann erforschen »Kiezdeutsch«, das in großstädtischen Bezirken mit hohem Migrantenanteil von (nicht nur zugewanderten) Jugendlichen gesprochen wird und eine eigene Grammatik ausbildet – anders als Gastarbeiterdeutsch, dessen Sprecher keine deutschen Muttersprachler sind.

In einigen Wortbildungs- und Satzbauspezifika dem Kiezdeutschen und dem kakanischen Slang vergleichbar ist die in den deutschen KZs entstandene »Lagersprache«, die Renate Birkenhauer neben anderen NS-Deutsch-Phänomenen beschreibt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Häftlings-lingua-franca in deutschsprachigen Publikationen meist geglättet – ein Schicksal, das sie mit anderen ursprünglich rein mündlichen dialektalen oder kreol- und pidginsprachlichen Ausdrucksformen teilt(e). Mit zurückgedrängt wird dadurch aber auch die in diese Varietäten eingelagerte Lebenserfahrung.

Von der Disparatheit der deutschen Dialekte und ihrem jeweiligen historischen Hintergrund schreibt Horst J. Simon, um dann der Frage nachzugehen, welche Dialektmerkmale regionenübergreifend sind – eine Frage, die besonders jene Übersetzerinnen und Übersetzer interessieren dürfte, die regionalsprachlich eingefärbte Literatur übersetzen, die aber für Blogger und Chatter ebenso einschlägig ist, formt sich doch im Medium Internet eine spezifische simulierte Mündlichkeit aus.

Dort, wo das Internet Ort für Fantasy-Rollenspiele ist, benutzen die Teilnehmer für die Inszenierung fiktionaler »gotischer« Welten nicht selten altertümliche Ausdrucksformen. Von diesem Verfahren, der sprachlichen Patinierung von Texten, handelt der letzte Beitrag des Bandes von Dieter Cherubim. An Beispielen der Gegenwart (Mittelaltermärkte, Ritterspiele, Erlebnisführungen) und des 19. Jahrhunderts (der »Chronik« eines Hexenprozesses) arbeitet er die charakteristischen Mittel des Archaisierens heraus, die sich eignen, um einen Text »alt« aussehen zu lassen.

Natürliche Sprachen sind prinzipiell vielgestaltig. In ihnen überlagern sich unterschiedlichste historische – grammatische wie stilistische – Erscheinungen, die in Kontakt geraten (auch mit anderen Sprachen), sich verschieben, vermischen und miteinander reagieren, sich neu und anders ablagern, unter Deckgestein verschwinden und womöglich wieder aufgeschlossen werden. Vielleicht bietet dieser Schichten und Gemenge sichtbar machende Band die Gelegenheit zu einer Grubenfahrt in die deutsche Sprachgeschichte. Wer sich für diese interessiert, wird mit gefülltem Förderkorb wieder ans Tageslicht kommen.

Gabriele Leupold, Eveline Passet

ANNE BETTEN

Direkte Rede und episches Erzählen im Vergleich

Eine syntaktische Reise
durch fünf Jahrhunderte (1500 – 2000)

In der Literatur der Gegenwart haben sich die Möglichkeiten, die Stimmen der literarischen Figuren und des Autors bzw. einer von ihm erfundenen Erzählinstanz darzustellen, immer weiter verfeinert und diversifiziert, und es wurde zu einem Kennzeichen der modernen sowie der postmodernen Literatur, dass sie sich oft schwer voneinander abgrenzen lassen. Die Narratologie, aber auch die Text- und Dialoglinguistik beschäftigen sich daher intensiv mit auktorialem und personalem Erzählstil, Erzählperspektiven und den Formen der Rede- und Gedankendarstellung der Figuren. Die »klassischen« Unterscheidungen von direkter, indirekter, erlebter Rede, innerem Monolog etc. reichen für die Experimente moderner Autoren und Autorinnen seit langem nicht mehr aus, sie lassen oft bewusst die Grenzen zwischen diesen Darstellungsformen und den verschiedenen Perspektiven verschwimmen.1

Eine solche Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten steht jedoch nicht plötzlich zur Verfügung; sie entwickelt sich vielmehr kontinuierlich und ist an die historischen Entwicklungsprozesse des Sprachsystems selbst und den (stilistischen) Gebrauch der zur Verfügung stehenden sprachlichen Formen in den unterschiedlichen, sich ebenfalls schrittweise entwickelnden und modifizierenden Textformen (Textsorten bzw. Gattungen) gebunden.2

Einige der wichtigsten Entwicklungsetappen werden wir im Folgenden auf einer Reise durch die verschiedenen Perioden der Sprach- und Stilgeschichte des Deutschen ins Visier nehmen. Ich lege diese »Reise« so an, dass bei der Gegenüberstellung von literarischem Erzählstil und simulierter Mündlichkeit in den Redegestaltungen auch allgemeine Entwicklungsprozesse der Syntax sichtbar werden und sich Blicke auf historische (oft eher textsorten- und stilgeschichtlich bedingte) Variationsmöglichkeiten öffnen. Bei dieser Betrachtungsweise werden manchmal traditionelle Bewertungen der syntaktischen »Fähigkeiten« des Deutschen in den verschiedenen Perioden in ein anderes Licht gerückt.

Die Entwicklung der Syntax zwischen fortschreitender Entfaltung und textsortenbedingter Variation

Ich skizziere im Folgenden zunächst kurz, welche Auffassung die aus heutiger Perspektive etwas ältere Generation der historischen Sprachwissenschaftler, deren Arbeiten in den 1960er und 1970er Jahren entstanden und bis zu Beginn der 1990er Jahre viel benützt und geschätzt wurden, von der Entwicklung des deutschen Satzbaus hatte, was sich im Wesentlichen auch mit den Ansichten der Literaturwissenschaftler von den 1930er bis in die 1980er Jahre deckt. Besonders aus der Sicht der heutigen historischen Textsortenforschung und der neueren Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung ergeben sich hier in den letzten Jahrzehnten öfters andere Interpretationen.

Ich gehe zunächst über die angekündigten fünfhundert Jahre hinaus noch weiter zurück, um zu zeigen, dass lange die Idee einer ständigen Weiterentwicklung vorherrschte, von primitiven Anfängen zu Beginn der Schriftlichkeit im Althochdeutschen, über verschiedenste Ausbauphasen in den folgenden Epochen bis hin zur virtuosen Meisterung aller Konstruktionsalternativen gegen Ende des 18. Jahrhunderts.3 Nach der Darstellung von Fritz Tschirch zum Beispiel finden sich im Althochdeutschen, das ja überwiegend aus Übersetzungsliteratur besteht, hauptsächlich Nachahmungen der lateinischen Vorlagen; das Deutsche gelange dabei entweder kaum über ein einfaches Gefüge aus einem Haupt- und einem Nebensatz hinaus oder aber es kleide die lateinische Diktion nur äußerlich in ein deutsches Sprachgewand. In autochthonen Texten jedoch sei die Zeit für »kompliziert geschichtete syntaktische Gefüge noch lange nicht reif«.4 Im Mittelhochdeutschen würden sich die Schriftsteller dann »zunehmend an tiefer gestaffelte Gebilde« wagen. Fast poetisch formuliert Tschirch, dass es »zuvörderst dem wortmächtigen Dichter« gelinge, »den Bogen des Satzes immer weiter und höher zu schwingen, den Jahrhunderte hindurch so kurzen Atem immer länger an- und auszuhalten«.5 Die »Fähigkeit, einen komplizierten Denkinhalt in einem Satz syntaktisch zusammenzufassen«, steigere sich dann in der frühneuhochdeutschen Periode, so Joachim Schildt,6 Leiter der sprachhistorischen Abteilung an der Akademie der Wissenschaften der DDR, wo seit 1976 – zeitgleich zum westdeutschen Interesse gerade an der Umbruchsperiode des Frühneuhochdeutschen – eine Schriftenreihe »Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache auf der syntaktischen Ebene von 1470 bis 1730« erschien. In diesen Publikationen wird u. a. herausgearbeitet, wie zwischen 1470 und 1650 der Ausbauprozess des Satzgefüges voranschreitet. Vor allem durch das Aufkommen neuer Konjunktionen und Subjunktionen (wie die früher als ›unterordnende Konjunktionen‹ bezeichneten Nebensatzeinleitungen heute zutreffender benannt werden), aber auch durch die Verfestigung der tendenziell von Anfang an beobachtbaren unterschiedlichen Verbstellung in Haupt- und Nebensätzen wird allmählich eine klare Differenzierung dieser Satztypen erreicht, was im Mittelhochdeutschen und noch im frühen Frühneuhochdeutschen nicht immer der Fall war.

Zusammen mit der Verfestigung der Verbzweitstellung im Hauptsatz und der End- oder zumindest Spätstellung des Verbs im Nebensatz entwickelt sich die Satzklammer in beiden Satztypen weiter, und diese wiederum gewinnt sozusagen an Gewicht durch die gleichzeitige Zunahme analytischer Verbformen, also mehrteiliger, komplexer Prädikate: Letzteres geschieht durch den Ausbau der Tempora Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und zuletzt Futur II und die zunehmende Möglichkeit, diese zwei- bis dreigliedrigen Verbformen auch noch ins Passiv zu setzen und dadurch um eine weitere Wortform zu vermehren. In der Barockzeit erlebten die dadurch häufig entstehenden Verschachtelungen, die im Allgemeinen als besondere Eigenart der Kanzleisprache angesehen werden, auch literarisch einen ersten, berühmt-berüchtigten Höhepunkt.7

Wladimir Admoni, begnadeter Grammatiker, Sprachhistoriker, Literaturwissenschaftler und Literat, hat in seinen Forschungen zur historischen Syntax des Deutschen stets hervorgehoben, dass zwischen 1550 und 1700 die vorher schon zu beobachtenden »Tendenzen zur strukturellen Zementierung des deutschen Satzes durch den verbalprädikativen Rahmen« zur Vollendung gebracht wurden und als Norm der geschriebenen Sprache zu gelten begannen.8 Das umfangreichste Satzgefüge seines Datenmaterials stammt allerdings nicht etwa aus der Barockzeit, sondern aus dem frühen 15. Jahrhundert. Dieser Satz besteht aus einem Hauptsatz und 43 Nebensätzen, die Unterordnungen bis zum 15. Grad aufweisen. Es gehörte zu den Charakteristika der Urkundensprache dieser Zeit, dass ganze Urkunden aus nur einem großen Satzgefüge bestehen konnten, was die logische Verzahnung und Bedingtheit der einzelnen Argumente sinnfällig machte. Intern sind diese Satzgefüge noch nach ganz anderen Kriterien und mit anderen Interpunktionszeichen gegliedert als heute: nämlich meist mit der nach rhythmischen Gesichtspunkten gesetzten Virgel (Schrägstrich), gelegentlich aber auch durch Punkte, die jedoch meist keine grammatischen Satzeinheiten abgrenzen, sondern allenfalls thematische Gliederungen anzeigten. Die genaue Ermittlung der Satzgrenzen ist daher nicht ganz einfach, da weder die Interpunktion noch die Wahl der Konjunktion (gerade die am häufigsten verwendeten wurden oft noch sowohl nebenordnend als auch unterordnend gebraucht) und nur ansatzweise die Verbstellung eindeutige Kriterien liefern. Daher bleibt der Status mancher dieser sogenannten Elementarsätze in einer gewissen Schwebe zwischen Abhängigkeit und Selbstständigkeit, die Zusammenbindung der Elementarsätze zu einem Gesamtsatz weist eine größere Lockerheit auf, als wir es seit der strengen Normierung der Haupt- und Nebensatzstrukturen (von Admoni anschaulich »Zementierung« genannt) gewöhnt sind. Solche Beobachtungen sind in den letzten Jahrzehnten schon an verschiedenartigen umfangreichen mittelalterlichen Texten gemacht worden, und zwar nicht nur an den im 12. Jahrhundert quantitativ bedeutsam einsetzenden deutschsprachigen Urkunden, sondern – entgegen Tschirchs Darstellung – schon früher: für das Althochdeutsche z. B. an der komplexen Syntax des autochthonen Evangelienwerks von Otfrid von Weißenburg oder für das 13. Jahrhundert an dem einzigen bedeutenden Prosaroman der mittelhochdeutschen Periode, dem Prosa-Lancelot. Das folgende kleine Textbeispiel soll die lockere Struktur des Gefügesatzes demonstrieren, was u. a. auch beim Vergleich mit der altfranzösischen Vorlage deutlich wird (Kursivsetzungen A. B.):

Der konig Ban sah syn burg brinnen, die er lieb hett fur alle syn búrgk, wann die burg was syn trost, das er alles syn lant da mit solt erkobern; und er sah das sie verlorn was die syn trost was. Da enkund er nit gedencken was yn möcht getrösten, wann er wúst sichselben alt und zurbrochen […]9

Li rois bans voit son chastel ardoir quil amoit plus que nul chastel quil eust. Car par cestui seul castel estoit sesperance de recourer toute sa terre & si estoit tous ses comfors. Et quant il voit quil a che perdu ou toute sa fianche estoit nest nule rien el siecle ou il satende mais de nule rien. Car il se sent vains & debrisies.10

Der deutsche Text weist gegenüber dem französischen eine weitgehende Eigenständigkeit in der Nebensatzgestaltung auf. So finden sich etwa im vorliegenden Beispiel im Deutschen, anders als im Französischen, zwei selbstständige kurze Sätze (»und er sah das sie verlorn was […]. Da enkund er nit gedencken […]«). Überdies zeigt sich an den beiden Kausalkonstruktionen, wo frz. »car« mit mhd. »wann« wiedergegeben wird, dass im Französischen durch Punktsetzung und Großschreibung die Konjunktion eindeutig als beiordnend aufzufassen ist, während es im Mittelhochdeutschen unklar bleibt, ob mit wann nebengeordnete oder untergeordnete Sätze angeschlossen werden: Da die Verbstellung noch nicht eindeutig distinkt ist, kann in beiden Fällen sowohl eine unabhängige neue Satzstruktur wie mit nhd. denn angeschlossen sein (›denn die Burg war sein Trost‹, ›denn er wusste/spürte, dass er alt und gebrechlich war‹) – oder aber eine unterordnende, nhd. weil. Diese prinzipielle Undeutlichkeit gilt nicht nur für die Kausalsätze mit wann. Den zeitgenössischen Rezipienten wird sie ebenso wenig gestört haben wie den Textproduzenten. Richtiger gesagt: Die Frage stellte sich gar nicht, weil es die grammatischen Vorstellungen von klarer Parataxe versus Hypotaxe im älteren Deutschen in der heutigen Form nicht gegeben hat.11

Eine derartige Ambivalenz lässt sich schon für kausale wanta-Sätze im Althochdeutschen,12 z. B. bei Otfrid nachweisen; sie sind daher auch als »Kommentarsätze« bezeichnet worden.13 Ähnlich (wenn auch natürlich nicht mehr ganz gleich) findet sich dieser Satztyp noch in elaborierten Hypotaxen des 16. Jahrhunderts, z. B. in den umfangreichen Kausalperioden der Lutherschen Briefe, in denen Luther – ganz im Gegensatz zu seinem mehr an der Hörrezeption orientierten, eher parataktischen Stil seiner Bibelübersetzung wie auch anderer Schriften – sehr tief gestaffelte Nebensatzfolgen mit Abhängigkeiten bis zum 7. Grad und mehr benutzt, und dies bevorzugt schon im Vorfeld, was auch eine Eigentümlichkeit des Kanzleistils ist: Bei dem schon erwähnten Gefügesatz aus der Urkunde von 1411 mit 43 Nebensätzen stehen 39 präpositiv, das heißt vor dem Hauptsatz, und nur 3 postpositiv, also danach (der 43. hat Innenposition). Speziell die amtlichen Briefe Luthers weisen eine sehr ähnliche Binnenstrukturierung des Satzgefüges auf: Im Vorfeld wird bevorzugt »ein tadelnswerter Tatbestand oder Sachverhalt dargestellt«, »während im Hauptsatz und Nachfeld die Notwendigkeit, gegen ihn einzuschreiten, behandelt wird«.14 Ähnliches konnte im Kanzleistil schon seit dem Sachsenspiegel (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) und dem Schwabenspiegel (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) nachgewiesen werden, ist also eine weitgehend textsortenspezifische Eigenheit.15

Aber obgleich diese komplexen Satzgefüge Luthers auch intern sehr logisch durchkomponiert sind, weisen sie doch neben klaren Unter- und Nebenordnungen auch Phänomene auf, die u. U. als »Unterbrechung durch Einschub« (also Parenthese) oder als »lockere Anfügung« oder auch als Nachtrag charakterisiert werden können, also syntaktisch nicht eindeutig zu klassifizieren sind. Das bedeutet, dass noch im 16. Jahrhundert auch bei stilistischen Meistern trotz einer deutlich wahrnehmbaren Tendenz zu stärker gestraffter Unterordnung noch eine Reihe von syntaktischen Strukturen erhalten ist, die – wie im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen – wegen ihrer formalen Selbstständigkeit nach unseren heutigen streng logischen Vorstellungen von Syntax schwer kategorisierbar sind. Systematisch durchkomponierte Rahmenkonstruktionen finden sich hingegen erst ein Jahrhundert nach Luther. Tschirch hat diese einschneidende Veränderung der Barockzeit, dass nicht mehr in sich abgeschlossene Teilsätze aufeinanderfolgen, sondern abhängige Gliedsätze sich auch in den übergeordneten Satz einschieben, folgendermaßen beschrieben:

Weil auf diese Weise die inhaltlich wichtigste Aussage, die für gewöhnlich im Hauptsatz untergebracht ist, oder eine im Nebensatz 1. Grades mitgeteilte verhältnismäßig wichtige Aussage bis an den Schluß hinausgezögert wird, erhält der Satz eine Spannung, die sich erst am Ende des ganzen Gebildes löst. Anders gesagt: Aus der Linie, die stetig gleichsam bis ins Unendliche abfällt, ist der Kreis geworden, der sich im Augenblick seiner Rundung vollendet.16

Nachdem in der Literatur des Hochbarock der Schachtelsatzstil die verdrechseltsten Formen angenommen hatte, wurden diese Auswüchse zum Angriffsziel der folgenden Epoche. Anstelle der »affektierten Verschrobenheit« des Barockstils (der auf den Ebenen von Wortschatz und Rhetorik entweder mit schwerem Schmuck der Redefiguren oder aber mit »roher Derbheit« einherging) wurden in der Aufklärung nun Natürlichkeit, Vernunft, Verständigkeit, Wohlerzogenheit zum Bildungsziel, was sich im Stilideal des natürlichen, verständlichen Schreibens niederschlug. Knappheit und Nüchternheit galten nun als Vorzug, Nebensätze wurden seltener und Verschachtelungen gemieden.17 Dazu ein Zitat aus Gottscheds Ausführlicher Redekunst von 1728:

Es ist nichts lächerlicher, als wenn sich einfältige Stilisten immer mit ihrem obwohl, jedoch; gleichwie, also; nachdem, als; alldieweil, daher; sintemal und allermaßen behelfen: gerade als ob man nicht ohne diese Umschweife seine Gedanken ausdrücken könnte. Doch wenn man ja diese Schulkünste … noch wissen und brauchen will: so bemühe man sich doch, mehr einfache als zusammengesetzte Perioden zu machen. Man rede und schreibe nur, wie man im gemeinen Leben unter wohlgesitteten Leuten spricht: als woselbst man solche Verbindungsformeln gar nicht braucht. Man wird auch dergestalt viel deutlicher reden und schreiben, als wenn man immer eine ganze Menge Gedanken in einen weitläufigen Satz zusammenbindet.18

Schon Philipp von Zesen, bedeutender Autor des 17. Jahrhunderts, nahm sich in seinen späteren Werken den lakonischen Stil des Tacitus als Vorbild und gebrauchte nur kurze Ganzsätze mit wenigen Nebensätzen. Hierzu ein Beispiel aus seinem Roman Assenat von 1670:

Sefira brante noch. Das feuer, das vor etlichen tagen der schimagene Leibeigne in ihrem hertzen angezimagendet, war noch nicht erloschen. Darimagem trug sie verlangen zu wissen / wo er were. Darimagem bemimagehte sie sich / ihn auszukundschaffen. In alle wimagertshimageuser schickte sie ihre diener. An allen orten vernahm sie / wo er geblieben. Etliche wochen lang lies sie ihn suchen. Endlich erfuhr sie / daß ein Memfischer Kaufman ihn bewahrete. Nicht lange konte sie ruhen. Straks muste sie fort. Sie setzte sich auf ihre primagechtige kutsche.19

Obgleich nicht alle Aufklärer in ihren eigenen Texten die neuen Stilideale auch wirklich befolgten und, wie Hans Eggers20 zeigt, besonders im Pietismus der herkömmliche verschachtelte »Stil der Barock-Gelehrten« – modifiziert durch Einflüsse Luthers und Taulers – wieder durchschlug, so kam es im 18. Jahrhundert doch im Allgemeinen zu einer Straffung der Gefügesatzkonstruktionen. Nach Admonis Zählung bestanden selbst bei Kant Ganzsätze durchschnittlich aus nicht mehr als 3½ Elementarsätzen, was sich von den Traktaten des 17. Jahrhunderts krass unterscheide – andererseits aber nicht bedeute, dass nicht einzelne Satzgefüge einen viel komplexeren Bau aufweisen. Noch geringer ist nach Admoni die durchschnittliche Zahl der Elementarsätze in einem Ganzsatz: z. B. bei Winckelmann 3, in Lessings Laokoon 2,6, in den Romanen Gellerts gar nur 1,8. Und was die Tiefenstaffelung der Nebensätze nach Graden der Unterordnung anbelangt, so machen die Nebensätze 1. Grades in Admonis Material den allergrößten Teil aus: bei Winckelmann 85%, in Lessings Laokoon 74%, in Gellerts Romanen 81% – und zum Vergleich in Goethes Wilhelm Meister 73%.21 Das aber bedeutet letztlich, dass sich am Ende des 18. Jahrhunderts alle bis dahin ausgeprägten Konstruktionsmöglichkeiten als stilistische Alternativen nebeneinander finden. Dazu nochmals Tschirch:

Dieses heftig divergierende […] Erbe wird im Sturm und Drang und in der deutschen Klassik um 1800 mit wachsender Souveränität gehandhabt. Ein und derselbe Autor beherrscht innerhalb der weit auseinandergerückten Pole alle Spielarten [der verschiedenartigen Grundformen] des Satzbaus und weiß sie aufs feinste dem anzupassen, was er jeweils dem Hörer oder Leser vermitteln will.22

Nicht zufällig zur gleichen Zeit hat übrigens auch das System der Konjunktionen und Subjunktionen, das besonders in der frühneuhochdeutschen Periode mit der Zunahme deutschsprachiger Texte in immer mehr Textsorten einen starken Um- und Ausbau erlebte, ungefähr den heutigen Stand erreicht.

Aber: Der Augenblick der Erreichung stilistischer Perfektion und, parallel dazu, auch der Erreichung allgemein anerkannter schriftsprachlicher Normen war zugleich auch der Beginn der Revolte der Schriftsteller gegen die nun erreichte Norm und Perfektion. Ihre Aufgabe war hinfort eine andere, als nur an der Sprachkultivierung mitzuwirken. Unter den vielen Spielarten des sprachlichen Experiments, das bewusst die gesetzten Grenzen überschreitet, gibt es – im heutigen Rückblick – zwei grundlegende Möglichkeiten: Die eine ist das Spiel mit den sprachlichen Mitteln selbst, ihre Dekonstruktion und Neukombination nach nicht konventionalisierten Mustern; diese Möglichkeiten wurden vor allem im 20. Jahrhundert vielfach genutzt. Es ist aber wohl nicht von ungefähr, dass in der ersten Literaturrevolte, dem Sturm und Drang, und kurz davor schon bei Herder und Lessing, die andere Möglichkeit zuerst erprobt wurde: nämlich das Wieder-Hereinholen inzwischen sanktionierter mündlicher Ausdrucksformen in die Schriftsprache, das heißt von Formen aus den regionalen mündlichen Varietäten, die seit dem beschleunigten Ausbau der deutschen Schriftsprache im 16. Jahrhundert von dieser zunehmend ausgeschlossen waren. Vom Ende des 18. Jahrhunderts an wird die bewusste Verwendung von Umgangssprache – bzw. dessen, was man für lebendig gesprochene Sprache hielt, solange man ihre Charakteristika nur durch Beobachtung, nicht aber durch exakte Aufzeichnung ermitteln konnte –, vor allem in den von nun an immer wiederkehrenden Realismuswellen ein beliebtes Mittel, um die Sprachwirklichkeit in die Literatursprache zurückzuholen, nicht zuletzt in der Absicht, sie vor der durch ein Regelkorsett stets drohenden Versteinerung zu bewahren und die rasch immer wieder konventionell werdenden Stilmittel zu erneuern.23

Die syntaktischen Mittel, durch die im schriftlich konzipierten Text Mündlichkeit signalisiert bzw. simuliert wird, sind bevorzugt Parenthesen, Satzabbrüche, Ellipsen, Nachträge – neben Interjektionen, Anreden, Ausrufen u. a. m. Dass ihre Funktion in der Literatursprache nie dieselbe ist wie in authentischer Sprechsprache, ist ein eigenes Thema. Nur erwähnt werden soll noch – da Schriftsprache ja nicht nur und auch nicht überwiegend identisch mit Literatursprache ist –, dass am Ende des 19. Jahrhunderts noch eine andere Beeinflussung der Schriftsprache durch die Umgangssprache zu beobachten ist:24 Mit den sozialen Veränderungen, der Ausbildung einer neuen Intelligenzschicht, die in den expandierenden Großstädten nicht mehr nur in humanistischen Gymnasien ausgebildet wird, sondern in wachsender Zahl auch in den neu gegründeten Realgymnasien und Oberrealschulen, erfolgt eine Abkehr von der Sprache des Bürgertums, das die Entwicklung der Schriftsprache bis dahin maßgeblich beeinflusst hatte, bis schließlich diese Sprachtradition mit dem Aussterben der Schicht des sogenannten Bildungsbürgertums im Kontext des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs als aktive sprachliche Kraft ganz zurücktritt und stattdessen eine Fülle unterschiedlicher Varietäten das heutige Deutsch repräsentieren. Eine Folge dieser Entwicklung auf dem Gebiet des Satzbaus wird darin gesehen, dass sich die vom Ende des 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts gleichberechtigt nebeneinander gepflegten Traditionen des parataktischen wie des hypotaktischen Satzbaus in den letzten Jahrzehnten deutlicher als zuvor zugunsten parataktischer Konstruktionen verschieben. An die Stelle des Satzgefüges tritt oft der einfache Satz, der jedoch nun häufig sehr umfangreich ausgebaute Nominalgruppen enthält, die recht unterschiedliche Binnenstrukturen aufweisen können.25 Als weitere Erscheinung des syntaktischen Wandels im 20. Jahrhundert wird die wieder verstärkte Neigung zur Ausklammerung bzw. zu Nachträgen betrachtet. Diese neuen Ansätze entstanden, als der strenge Stilzwang zur absoluten Satzklammer zunächst unter dem Einfluss der gesprochenen Sprache aufgelockert wurde. Mittlerweile gelten gewisse Ausklammerungen auch in der Schriftsprache als Mittel, einen Satz verständlicher und klarer aufzubauen. Diese Entwicklung führt gewiss nicht zur Beseitigung des verbalen Rahmens, die Anwendung der Satzklammer wird jedoch variabler und differenzierter.

Man könnte nun natürlich fragen, ob durch die heutige Lockerung mancher Normen wieder mehr Ähnlichkeiten mit der Syntax früherer Epochen, vor der Normierung, entstehen. Dies sicher nicht in direkt vergleichbarer Weise – auch wenn die heutigen Sprachhistoriker die Entwicklung vor allem in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine eher polyzentrische sehen, als eine »Öffnung in sozialer, sprechsprachlicher und regionaler Hinsicht«.26

Gestaltung und Syntax der direkten Rede im historischen Wandel

Wir haben unsere sprachhistorische Reise bislang im Eiltempo zurückgelegt, mit nur wenigen Aufenthalten. Wenn wir sie jetzt, zur Vertiefung einiger Gesichtspunkte, noch einmal wiederholen, in nicht weniger rasanter Fahrt, aber mit einigen Stationen, die einen etwas detaillierteren Ausblick erlauben, so möchte ich diese so wählen, dass dabei die immer wieder angesprochenen Wechselbezüge von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in den einzelnen Epochen, die ja doch ganz verschiedener Art sind, in kurzen Momentaufnahmen besser verdeutlicht werden.

Beim ersten Durchgang wurde schon gelegentlich angedeutet, dass der Gedanke einer permanenten Weiterentwicklung von einfachen oder gar »primitiven« Strukturen27 hin zu immer komplexeren so nicht haltbar ist bzw. der modernen Forschung nicht adäquat erscheint. Ich will das im Folgenden überwiegend am Beispiel des Vorkommens von Parataxe und Hypotaxe erläutern.

Es wurde bereits gesagt, dass die Fähigkeit zur Hypotaxe an bestimmten Textsorten schon im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen belegt werden kann, so in den Urkunden, aber auch im großen narrativen Prosawerk des Lancelot. Es ist kein Zufall, dass sich in diesem literarischen Werk besonders komplexe Satzstrukturen gerade in den Redepassagen finden. Auf dieses Verhältnis von der Gestaltung direkter Reden im Vergleich zum epischen, narrativen Text sei im Weiteren noch eingegangen.

Dem Prosa-Lancelot war im 13. Jahrhundert noch kein großer Erfolg in deutschen Landen beschieden, offenbar entsprach er dort noch nicht dem Publikumsgeschmack. Als im 15. Jahrhundert der Prosaroman für einen nun bürgerlichen Interessentenkreis wieder, wie neu erfunden, einsetzt, beginnt dies mit syntaktisch simplen Übersetzungsarbeiten zweier ausländischer Aristokratinnen, Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken und Herzogin Eleonore von Österreich, die den kulturell altmodischen Höfen ihrer Gatten in Nassau-Saarbrücken bzw. Innsbruck etwas von der modernen Literatur ihrer Herkunftsländer Frankreich bzw. England vermitteln wollten. Rasch floriert die neue Gattung, unterstützt durch die neue Vertriebsmöglichkeit des Buchdrucks, und man greift zu allen möglichen Vorlagen, um den Markt zu bedienen: Alte lateinische Texte werden übersetzt ebenso wie moderne ausländische, vor allem französische; aber auch mittelhochdeutsche Versromane werden in Prosa »aufgelöst« und dem Zeitgeschmack und dem aktuellen Sprachstand gemäß umgearbeitet; daneben entstehen erste autochthone deutsche Texte.28

Manche dieser frühen Romane sind sprachlich durchaus anspruchsvoll (im Rahmen ihrer Zeit) und vor allem abwechslungsreich. Roloff z. B. hat zur Melusine des Thüring von Ringoltingen (einer Übertragung eines französischen Versepos von 1456) herausgearbeitet, dass in den Erzählpartien, wo lineare Aufzählung in chronologischem Nebeneinander vorherrscht, die syndetische Parataxe mit und und do (›da‹) überwiegt; beide sind das ganze Mittelalter hindurch die dominierenden Konnektoren der narrativen Textsorten, im Schriftlichen später vor allem weitertradiert im Märchenstil – und bis heute Charakteristika des mündlichen Erzählstils. Wenn hingegen in der Melusine das Erzähltempo beschleunigt werde, so Roloff, oder Einzeltatsachen isoliert hervorgehoben werden, fehle das Syndeton. Im Vergleich dazu sind jedoch die Redepassagen wesentlich komplexer gebaut; Roloff betont ihren rhetorisch-künstlichen Zug: die reiche hypotaktische Stufung solle die Eleganz der Rede (elegantia orationis) bezeugen.29

Die Herren antworten / und sprachen: »Gnimagediger Herr / die sach stehet zu ewer frimagemmkeit / daß ihr uns behimagelfflich seyt / daß wir mit einem frommen Herrn versehen werden / denn wir bekennen / ob unser G. Fraw auch abstimagerb / daß ir denn selbs weret / der uns versehen solt / darumb bitten wir euwere Gnade demimagetiglich / seyd nun die Tochter / die Kimagenigin Eßglantina genannt / zu ihren Jaren und Tagen kommen / und nun Mannbar worden ist / daß ir denn helffet einen erkiesen / der ir Genoß / und darzu dem Kimagenigreich nimagetzlich und ehrlich sey / unnd daß die genannte Hochgeborne Fimagerstin unnd Kimagenigin / ohne verziehen / versorget werde / deß wir ihren Gnaden gar gern helffen wimagellen / so fern wir das mit dem Leib und Gut vermimagegen.«30

Roloff ist allerdings nicht bereit, der hier entfalteten Kunst der Redeführung die Fähigkeit zum Periodenbau, bei dem die untergeordneten Sätze logisch-formal integriert sind, zuzugestehen: sie seien vielmehr trotz Unterordnung nur jeweils angefügt. Damit nähert er sich wieder den älteren Interpretationen, wie zum Beispiel der von Gumbel (unter dem Einfluss von Cassirer) an, die hierin primitive Strukturen mit Parallelen zur Kindersprache sehen.

Im nächsten Beispiel, aus dem Fortunatus, einem in seiner Zeit überaus populären frühen bürgerlichen Roman, dessen Verfasserschaft bis heute nicht geklärt ist, springen vor allem die vorangestellten inquit-Formeln ins Auge: Die hier viel kürzeren Redebeiträge werden stereotyp durch sprach eingeleitet bzw. voneinander abgesetzt (Kursivsetzungen A. B.):

hůb an und sprach / »gnimagediger herr ich hon verstanden das ewern gnaden sind knecht abgangen / bedarf ewer gnad nicht ains anderen?« Der graff sprach / »was kanstu?« er sprach / »ich kan jagen / payssen [mit abgerichteten Raubvögeln oder Hunden jagen] und was tzu waidwerck gehimagert und darzu verwesen ainen raysigen [rüstigen, kraftvollen] knecht / wann es tzu schulden kommpt.« Der graff sprach / »du wimagerest wol mein fůg / ich byn von ferren landen und fürcht du ziehest nit so ferr vonn disem land« / Fortunatus sprach / »O gnimagediger herr […]31

Für frühere Interpreten waren dies wiederum Zeichen der strukturellen Simplizität. Obgleich in vielen Texten dieser Zeit so gewählt, war es jedoch keineswegs the state of the art, direkte Reden so zu behandeln: Bereits die mittelhochdeutschen Versromane zeigten schon die raffiniertesten Varianten von direkter Rede mit und ohne inquit-Formeln (und wenn mit, dann in verschiedensten Positionen im Satz).

Mit welchen Schwierigkeiten ein Leser konfrontiert wird, wenn er Texte ohne diese Formeln Sprechern zuordnen soll, zeigt der kleine Ausschnitt aus einer langen Rede in Tristrant und Isalde (gedruckt 1484), der Prosaauflösung einer mittelhochdeutschen Vorlage von Eilhart von Oberg (12. Jh.). Zur Kenntlichmachung des Sprecherwechsels habe ich das jeweils erste Wort eines neuen Beitrags kursiv gesetzt:

Fürwar fraw, das ist ein ding dz nymermer geschicht. da habt nitt zweifels an. so will jch dich aber mit lieb vnd dienste darzů bringen. ja mit wz diensten mimagecht jr mir das widerlegen. O mein Brangel biß mir nit so himagert vnd hab nit zweifels es sol dir widerlegt werden. das wil jch dich sehen lassen Fraw jr legts gnůg dar. aber euwer dienst mügen mich wol vergeen. vnd jch jr enperen. So bitt jch dich aber durch got. du wimagellst dich mein erbarmen. Nun was sol die red so lang.32

Derartige Präsentationen von direkter Rede, ohne jegliche Segmentierungshilfe für das Auge, erklären sich natürlich nur durch die ursprüngliche Rezeptionssituation dieser Textsorten, nämlich den mündlichen Vortrag, bei dem der Vortragende die verschiedenen Redebeiträge stimmlich voneinander abhebt. Schon in der frühen germanischen Stabreimdichtung wie auch in der mittelhochdeutschen Versepik spielte die Wiedergabe von Reden in ihren verschiedenen Ausprägungen (wie Monolog, Dialog, indirekte Rede, Redebericht) eine große Rolle. Die zunehmende Vorliebe für die direkte Rede (oratio recta) wird dabei in der Forschung in Zusammenhang mit der Vortragssituation gebracht, da sie dem Rhapsoden durch Abheben von der Stimmlage des erzählenden Teils die Möglichkeit zu wirkungsvoller Deklamation gab: Aus diesem Grunde hätten schon die mittelhochdeutschen Dichter ihre besondere Aufmerksamkeit der Ausgestaltung der Reden geschenkt, während die Erzählsätze oft nachlässiger gebaut seien.33 Auch im 15. und im beginnenden 16. Jahrhundert sind Vortrag bzw. Vorlesen noch die vorherrschende Rezeptionsform. Die Reden dienen der Kundgabe von Ideen und Maximen, jeder Sprecher breitet seine Argumente aus, ohne unterbrochen zu werden, und empfängt dann die Gegenargumente des Gesprächspartners. Dieses oft weite Ausholen der Sprecher setzt zugleich die seit Homer und Vergil gepflegte klassische Erzähltradition fort. So verwendet auch der frühe Roman noch die langen, anspracheähnlichen Reden und Monologe, daneben aber auch die rasche Wechselrede wie in den beiden letzten Beispielen, die ihr Vorbild im stichomythischen Schlagabtausch hat.

Beim Übergang zur stillen Leserezeption stellt sich bei letzterer zunächst einmal das Problem der Redekennzeichnung. Da es noch lange keine geregelte Interpunktion gab und auch in den ersten Zeiten des Buchdrucks ziemlich individuell herumexperimentiert wurde, machen formelhafte Einleitungen mit einem verbum dicendi natürlich Sinn, je konsequenter, desto eindeutiger – sie haben quasi die Funktion der späteren Anführungszeichen. Wie lange deren Durchsetzung bis zum heutigen Usus dauerte, können Beispiele aus dem 17. und 18. Jahrhundert belegen. Die zunehmende optische Gliederung und verbale Markierung der Rede- und Erzählpartien ist eine der Konsequenzen der Textgestaltung nach dem Übergang zum vorwiegend lesend rezipierten Text. Sie wird erst nach ihrer vollständigen Systematisierung und der Entfaltung einer kunstvollen Variation aller Mittel wieder aufgehoben im experimentellen Roman des 20. und 21. Jahrhunderts, in dem durch das Spiel mit der/den Erzählinstanz/en offen bleiben soll, wer spricht: Nun wird dem Leser die Zuordnung der Redebeiträge als aktive Leistung bewusst abverlangt.

Direkte Rede und Erzähltext im syntaktisch-stilistischen Vergleich

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