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Wir freuen uns, Ihnen einen der ersten Titel des von
Thorsten Ahrend verantworteten Literatur-Programms
als Leseexemplar zu überreichen.
Bitte beachten Sie die Sperrfrist: 1. März 2005.

Viel Vergnügen bei der Lektüre.

Martina Hefter

Zurück auf Los

Roman

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1.

Die Rezeption eines Hotels ist ein unentschiedener Ort, ohne rechte Bestimmung. Gäste betreten ihn und holen sich die Zimmerschlüssel. Sie melden sich und teilen kurz mit, daß sie am Leben sind. Für ein, zwei Minuten treten sie in ein anderes Leben ein, wühlen das Leben des an der Rezeption Diensthabenden auf, bevor sie den Schlüssel in der Jackentasche verschwinden lassen und aus dem schnell angetasteten Dasein eines anderen wieder herausgehen, mit einem leisen Schritt zur Seite. Stören Sie mich nicht, das ist es, was meine Haltung hinter dem Rezeptionstresen mitteilt, nehmen Sie den Schlüssel und hauen Sie ab.

Morgen wird Raimund aus meinem Haus ausziehen. Obwohl er die ganzen Jahre über seine eigene Wohnung besessen hat, sagen wir beide: Er zieht bei mir aus. Immerhin steht in der Stube ein Sessel, den wir gemeinsam bei einem Möbeldiscounter in der Kreisstadt gekauft haben, außerdem im Schlafzimmer ein Computer, der vorher in Raimunds Wohnung im Arbeitszimmer gestanden hat. Raimund brachte ihn im letzten Januar zu mir, weil mein Laptop für einige Zeit nicht funktioniert hatte, ein sehr alter Computer, die Kabel waren ineinander verdreht und ihre Enden schleiften im Schnee, als Raimund das Gerät über den Vorplatz ins Haus trug. Ein wahrer Strom aus Kabeln ist es gewesen, weshalb fällt mir das jetzt wieder ein? Raimund wird den Computer samt dem Kabelverhau morgen nicht mitnehmen, er brauche ihn nicht, hat er gesagt; dabei brauche ich ihn auch nicht mehr. Aber wie ist es, was den Computer betrifft, an jenem Tag weitergegangen? Aus irgendeinem Grund glaube ich, es müsse damals einen besonderen Zwischenfall gegeben haben, irgendeine Unterbrechung beim Einstekken und Verschrauben der Stecker auf der Rückseite von Gehäuse und Bildschirm, ich bin mir nicht mehr sicher. Vielleicht ist es ein Streit zwischen Raimund und mir gewesen oder ein komplettes Versagen des endlich angeschlossenen Geräts, eine kleine Schwierigkeit auch bloß bei der Zuordnung einer Buchse, eine leichte, winzige Verwirrung, oder eine Mißstimmung, ein Wort, das verärgert hingeworfen worden ist, ausgelöst bzw. hervorgelockt von den Kabeln, vom Durcheinander der Kabel, ich weiß es nicht mehr genau. In einer Frauenzeitschrift habe ich einmal gelesen, solche Unklarheiten in der Erinnerung, wenn der andere geht, seien völlig normal, man brauche sich deswegen nicht zu schämen. Es soll Leute geben, die sich, in den Stunden, bevor sie vom anderen endgültig verlassen werden, kaum einer Einzelheit aus der gemeinsam verbrachten Zeit entsinnen. Nur noch große, unzusammenhängende Erinnerungsbrocken bringen sie zustande, man kann sagen, sie hätten vor der Trennung eine Art Blackout gehabt, eine Trotz- und Schutzreaktion des Körpers zugleich, um das Abstoßen des anderen zu erleichtern und sich vor übermäßigem Schmerz zu bewahren. Wie Fieber bei einer Erkältung, hieß es in der Zeitschrift.

Vielleicht vermute ich die Mißstimmung oder die Panne beim Aufbau des Computers nur deswegen, weil es, angesichts des Kabelverhaus, etwas Naheliegendes ist. Mit einem solchen Wust von Leitungen und Drähten kann diese Stunde doch gar nicht glatt verlaufen, es muß etwas schief gegangen sein, woher kommt es, daß ich mir immer das Schlimmste ausmale?

Aber wie wird der Tag später aussehen, nach Raimunds Auszug? Ein in einer Felsnische am Neunerköpflegipfel liegengebliebener Schneerest wird gegen Mittag im Sonnenlicht aufscheinen, wie schon den ganzen Monat über. Der Abend wird kommen, Einbruch der Dunkelheit gegen einundzwanzig Uhr, die Lichter in den Häusern werden angeknipst, die Straßenlaternen flammen auf. Das soll das Gerüst des morgigen Tages sein, an das ich mich halte, wie jeden Tag? Das Aufleuchten, Aufflammen und Anknipsen der Lichter zu bestimmten Uhrzeiten? Es sind bloß Irrtümer, diese Bildausschnitte, von mir nur falsch hervorgebrachte Ansichten vom Tag.

Heute abend werden Paul und seine Freundin für ein paar Tage kommen, ich werde sie an der Rezeption empfangen und ihnen einen Zimmerschlüssel geben wie den anderen Gästen auch. Paul wird seiner Freundin das Hotel zeigen, in dem er aufgewachsen ist und das fünfundzwanzig Zimmer hat, das ist also das Hotel, wird er sagen, und irgendwo anfangen.

Raimund hat auf meinem Sofa gesessen, als ich ins Hotel aufgebrochen bin. Da Raimund seine eigene Wohnung bereits vor einer Woche räumen mußte, wird er auch diese letzte Nacht in meinem Haus verbringen. Ich habe ihm, wie an den Abenden zuvor, eine Decke auf das Sofa gelegt, und Raimund hat sie auseinandergefaltet und sorgfältig auf dem Sofa ausgebreitet. Er hat sich auf die Decke gesetzt, genau in die Mitte, und die beiden Enden über den Beinen zusammengeschlagen, dann das restliche Deckenstück bis unter die Brust gezogen und den an einer Seite überstehenden Zipfel hinter den Saum gesteckt. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich heute abend nicht da bin, habe ich gesagt, und Raimund, vertieft in das Befestigen des Deckenzipfels, sagte, er wolle sich sowieso einen Film im Fernsehen ansehen. Es ist das Letzte, was ich von Raimund gesehen habe: wie er sich in die Decke hüllt, wie er ein Haus innerhalb meines Hauses baut. Um die auf dem Fernsehgerät liegende Fernbedienung erreichen zu können, wird er wenig später aufgestanden sein, vielleicht gerade, als ich aus dem Haus gewesen bin, und die Deckenenden werden sich bei dieser Bewegungsfolge wieder aus ihrer Verschlingung gelöst haben. Das Einwickeln in die Decke wird also vergeblich gewesen sein, eine der vielen kleinen, einer großen Handlung vorausgehenden Aktivitäten; die Handgriffe werden geringer, vager im Umfang, bis sie einer nur noch in Gedanken vollzogenen Geste gleichen. Aber was, wenn Raimund so sitzen geblieben sein wird, von der Decke umschlungen auf seinem Platz auf dem Sofa, und sich nicht rührt, nicht fernsieht? Dann wäre Raimunds Stillsitzen eine Folge aus allen Handlungen, die dem Einwickeln in die Decke einmal vorausgegangen sind, und somit ein Anfang, ein Größerwerden der Bewegung, ein Start.

Ich hätte mit Raimund ein letztes Mal reden können. Nach den Tagesthemen reden, oder nach dem Ende des Spätfilms, in die (da kein Licht eingeschaltet gewesen ist) plötzliche Dunkelheit des Wohnzimmers eine erste, zaghafte Silbe kommen lassen, über das Knistern hinweg, mit dem der Bildschirm schwarz geworden wäre. Ich hätte meiner Mutter sagen sollen, daß ich nicht an der Rezeption aushelfen könne, heute nicht, da Raimund morgen ausziehen werde. Er wird in sein vollbepacktes Auto steigen und unter den Berghängen über den Wiesenpfad davonfahren, hätte ich sagen können, auf der Bundesstraße, an der großen Kreuzung am Ortseingang Richtung Norden abbiegen wird er, und du fragst, ob ich heute abend arbeiten könne. Aber ich habe, wie immer, die notwendigen Sätze viel zu spät im Ohr gehabt, sie sind ein Echo dessen gewesen, was jemand anderer nur im Traum ausgesprochen hat.

Ich sollte Raimund jetzt sofort anrufen. Erstens will ich wissen, was ich nun mit diesem Computer in meinem Schlafzimmer anfangen soll, zweitens, ob Raimund sich an jene Stunde erinnert (oder sind es bloß ein paar Minuten gewesen?), zu der er das Gerät angeschlossen hat. Eine idiotische Idee; Raimund wird glauben, ich suchte nur einen Vorwand, um dann über etwas anderes zu sprechen, etwas, das hinter den Worten ›Computer‹ und ›Kabelverhau‹ zurückgetreten ist, etwas, das wir nur nach außen hin als selbstverständlich hingenommen haben, wie das Wetter oder die Tiefsttemperatur des Tages. Trotzdem kann man sagen, der Tag ist bisher in Ordnung gewesen. Der Tag hat unter dem Motto eines Ordnungsversuchs, eines Ordnungsvorgangs gestanden, vom Frühstück bis jetzt, wie auf einer Baustelle ist den ganzen Tag lang eine Ordnung aufgeschichtet worden. Die Qualität der Tage scheint abgenommen zu haben. Raimunds und meine Äußerungen jedenfalls, die Beschaffenheit, die Brauchbarkeit eines Tages betreffend, haben sich verändert. Ich muß an unsere erste Begegnung denken, die in einer Nacht von Samstag auf Sonntag im Blauhaus stattgefunden hat, einer der Johannisbacher Diskotheken, in der ich damals als Aushilfskellnerin gearbeitet habe. Raimund hielt mein Handgelenk fest, nachdem ich ihm ein Bierglas hingestellt hatte, und er sagte, daß heute ein guter Tag sei, der beste Tag seit langem. Er, Raimund, habe bereits beim Aufstehen gewußt, daß es ein guter Tag werde, denn heute, an diesem besten aller Tage, habe er mich getroffen. Es war aber schon der nächste Morgen angebrochen, bereits ein oder zwei Uhr früh, als Raimund, mein Handgelenk festhaltend, von seinem guten und besten Tag gesprochen hat, und ich überlegte, welchen Tag er gemeint haben mochte, ob der neue, gerade angebrochene Tag auch gut, vielleicht sogar noch besser werden würde, bereits bestens war, oder ob Raimund gestern gemeint, sich auf gestern bezogen und womöglich beschränkt hatte.

Zu dieser Zeit hatte ich viele Datumsangaben im Kopf und noch viel mehr Datumsangaben zu Hause in meiner Küche auf Zetteln notiert. Die Zettel waren mit Tesafilm auf die Wand über dem Telefon geklebt oder lagen lose herum, auf der Ablage des Küchenbüfetts lagen Zettel mit Zeitangaben, Erinnerungen an dieses und jenes Datum: die Unterrichtszeiten in der Skischule, die Unterrichtszeiten der Volkshochschule, die Arbeitszeiten im Blauhaus, alles mit Kugelschreiber auf Post-it-Zettel gekritzelt, viele unterschiedliche Arbeitszeiten in schlampiger Handschrift, aber kein Beruf und keine Ausbildung, die hätten auf einem Extra-Zettel stehen können, einem übergeordneten Zettel, der über den anderen Zetteln hätte hängen und eine Begründung, einen guten Grund für die Uhrzeiten hätte abgeben können. Ich arbeitete an den Terminen entlang, riß jeden Morgen einen Zettel vom Büfett oder vom Tisch, schaute drauf, klebte einen neuen an, weswegen ich an jenem Abend im Blauhaus eigentlich schon in ganz anderen Tagen, besser: Abenden gewesen bin. Ich war im Monat ein gutes Stück voraus, als Raimund die Äußerung über seinen guten Tag gemacht hat, und ich verstand sie erst mit einiger Verzögerung, eigentlich erst, nachdem ich mich schon wieder umgedreht hatte, und ich bin auf der Stelle stehengeblieben und hätte beinahe die Gläser fallengelassen, die ich auf einem Tablett zwischen den Tanzenden allein deswegen herumtrug, damit Datum und Uhrzeit nicht vergeudet sind.

Vielleicht liegt darin Raimunds und meine ganze Geschichte: daß wir nicht einmal mehr genaue Angaben für einen immerhin gut bis besser verlaufenen Tag machen können. Das, was festzulegen gewagt werden kann, bleibt in bescheideneren Mitteilungen ausgedrückt, in den ohne Gefahr zu äußernden Wörtchen, im Vorübergehen oder über der Morgenzeitung/vor dem Computer ausgesprochen: Ist schon in Ordnung. Der Tag war okay. Der Tag war so lala.

In diesem Zusammenhang fällt mir ein (sehr langer) Satz ein, den ich einmal irgendwo gelesen habe, der das Verstreichen der Tage betrifft. Man könne nie wissen, wohin der nächste Tag einen bringen werde, so ungefähr heißt es in dem Satz, und diese Ungewißheit mache den Tag erst lebenswert. Je ungewisser das Ende des nächsten Tages, desto größer die Freude, mit der wir dem Abend entgegensähen. Ich weiß nicht mehr, in welchem Buch er steht, ob überhaupt in einem Buch, vielleicht habe ich ihn auch in einer Zeitschrift im Wartezimmer meines Zahnarztes gelesen, jedenfalls ist es der Zwang zum Abenteurertum in diesem Satz, der mich immer noch sofort vom Stuhl oder vom Sessel aufspringen und im Raum hin- und hergehen läßt, und es ist das vermeintlich Universelle an diesem Satz, weswegen ich jedesmal lachen muß. Der Satz tut so, als ließe er sich von jedermann überzeugend aussprechen, als ließe er sich über den Namen eines jeden stülpen, als hätte dieser Satz tatsächlich seine Wendung in das wirkliche Leben genommen und stünde längst in den Poesiealben, würde täglich an die Ränder der Schulhefte gekritzelt, hinge als Leuchtschrift an den Fassaden in der Innenstadt, wäre als Lied vertont, in unzählige Grabsteine als Inschrift graviert, müßte schon in der Schule auswendig gelernt werden, zu jeder Zeit im Gedächtnis präsent, würde in Gesprächen als Sentenz dazwischengeworfen, und wehe dem, der sich mit diesem Satz nicht anfreunden könnte, ihn nicht verstünde, sich bloß zum Schein, anstandshalber, mit ihm einverstanden zeigte.

Mein Vater zum Beispiel könnte so einer sein. Auch er könnte den Satz gelesen und für gut und richtig befunden haben, könnte vor Jahren im Hotelbüro, während der Mittagspause in einer Zeitung oder einem mitgebrachten Buch auf diesen Satz gestoßen und von ihm so aufgewühlt gewesen sein, daß er von einem Tag auf den anderen aus dem Hotel ausgezogen ist, um Bergführer und Alphüttenwirt in Oberstdorf zu werden. Mein Vater könnte sich den Satz einverleibt haben, aus lauter Zweifel über den Satz. Er könnte vollständig in ihm aufgegangen sein, ihn wahr gemacht haben, um ihn verschwinden zu lassen, um sich mit diesem hartnäckigen Satz nicht mehr auseinandersetzen zu müssen, ihn nicht mehr lesen zu müssen, um den Satz aus der Mitte der anderen Sätze zu tilgen. In seinem ersten Brief von der Hütte herunter schrieb er, daß er einen Großteil des Jahres auf sich allein gestellt sei, im Winter oft für Tage eingeschneit; auf den Fensterbrettern liege ein halber Meter Schnee, dann wisse er nicht, ob der Weg zur Seilbahnstation passierbar sei und er hinunter ins Tal käme, um für die kommende Woche Verpflegung in die Hütte zu holen. Aber es wird wieder Frühling, schrieb er, dann sehe er den Enzianen beim Knospen und Verblühen zu, die Kronblätter gingen mit einem Schlag auf, fast über Nacht, darüber schrieb er zwei Seiten, um den Satz vom ungewissen nächsten Tag zu vergessen, einen Satz, der in übergroßer Geste ausgesprochen und aus lauter Selbstüberschätzung gleich niedergeschrieben worden ist, und der jetzt um die Welt geht, ohne daß man ihn zum Ursprung zurückverfolgen könnte.

Bald werden Paul und seine Freundin kommen. Paul wird seiner Freundin das Hotel zeigen, das ganze Ausmaß des Hotels, das fünfundzwanzig Zimmer hat und lange Flure, eine Fotografie des Vaters hängt in einem der Flure, wie er mit verspiegelter Schneebrille von einem Gipfel im Hochgebirge winkt, das ist also das Hotel, wird Paul sagen.

Die Weggehenden gehen in den Sätzen weg und nehmen ihre Sätze mit sich, ziehen ihre Sätze hinter sich her, an Stricken, an Fallschirmseide, je nachdem, wie sehr sie sich ins Licht rücken wollen, das auch die Stricke und die Seide beleuchtet, die Mittel und Wege des Transports.

Eine Familie mit zwei Kindern kommt herein, in einem umständlichen Gemenge, als wären es viel mehr als nur vier Personen, schieben sie sich durch den Eingang, dabei leise, vollkommen wortlos. Das eine Kind, noch fast ein Baby, wird von der Mutter auf dem Arm getragen, das andere geht an der Hand des Vaters, wir haben ein Zimmer reserviert, sagt er, mit Zusatzaufbettung für die Kinder. Ich sehe auf der Zimmerbelegungsliste im Computer nach, es wohnen nur drei weitere Gäste im Hotel. Ich lasse mir vom Mann den Personalausweis zeigen, trage auf einem Anmeldeformular die Ausweisnummer ein und schiebe es über den Tresen, damit er die persönlichen Angaben einträgt, Straße, Wohnort, Telefonnummer. Das Kind, ein Mädchen, sieht mich von unten her an, ihr macht wohl Urlaub, frage ich, was soll ich anderes fragen. Nicht Urlaub, sagt das Kind, sondern Ferien, wir haben Ferien, und ich bin schon fünf Jahre alt. Es zeigt mit einer Hand die Zahl fünf, und sagt immer wieder: fünf bin ich, fünf, fünf, es fängt neben dem das Formular ausfüllenden Vater zu hüpfen und zu singen an, fünf, fünf, und ich werde von dieser Begeisterung über das Alter oder über die Zahl fünf mitgerissen, plötzlich weiß ich wieder ganz genau, wie es als Kind gewesen ist: Ich dachte, daß nur ich auf der Welt, niemand sonst, gerade fünf oder sechs Jahre alt sei, und ich wollte es nie so recht glauben, daß es im Kindergarten andere gab, die im gleichen Alter waren. Ich suche auf dem Schlüsselbrett den Schlüssel von Zimmer fünf. Er ist nicht da, das Zimmer ist vergeben, ich nehme die Fünfundzwanzig. Sieh mal, sage ich, ihr bekommt das Zimmer fünfundzwanzig. Obwohl ich die Silbe ›fünf‹ extra betont habe, schaut das Kind verständnislos drein und macht einen kleinen Mund. Mit dem Hopsen und dem Singen hat es aufgehört, es verharrt, sagt nichts mehr, bereut womöglich, etwas gesagt zu haben. Die Frau mit dem Kleinkind im Arm sitzt auf einem Sessel unter dem Fenster, als ob sie gar nicht zu dem Mann und dem Mädchen gehörte, als ob sie und das Baby eine eigene Familie bildeten. Wenn nur die Strecke nicht so schlecht ausgeschildert wäre, sagt sie, immer diese mangelhaften Ausschilderungen auf den Straßen. Sie scheint es zu ihrem Mann gesagt zu haben, nicht zu mir, aber es ist nicht herauszuhören gewesen, ob es eine Anklage, ein Jammern oder nur eine sachliche Feststellung sein sollte. Ich weiß gar nicht, wie die Straßen ausgeschildert sind, ich habe darüber noch nie nachgedacht, und ich habe diesen Satz auch noch nie zuvor von jemandem ausgesprochen gehört: diese schlechten Ausschilderungen auf den Straßen. Ich könnte ihn höchstens einmal in der Tageszeitung gelesen haben, in einem Bericht über die Verkehrswege in den Alpen, aber ausgesprochen? Der Mann nimmt den Schlüssel entgegen, wobei er lächelt. Er hat womöglich den Satz seiner Frau schon den ganzen Tag lang gehört, während der Fahrt über die Autobahnen und die Bundesstraßen, oder ihn aber, wie ich, noch nie gehört, noch nie aus dem Mund eines anderen als Lautkette vernommen. Habe ich einmal etwas Vergleichbares zu Raimund gesagt, einen vollkommen ungewöhnlichen Satz ihm gegenüber ausgesprochen? Als ich von meiner Mutter einen antiken Küchentisch geschenkt bekommen habe, ausziehbar, aus Eiche, mit geschwungenen Beinen, habe ich abends mit Raimund im Wohnzimmer gesessen, durch die geöffnete Küchentür zum Tisch hinübergeschaut und gesagt: Der Tisch gibt der Küche Würde, und tatsächlich hat Raimund gelacht, mich sogar umarmt nur wegen dieses Satzes. Gerade heute Abend hätte ich Raimund gegenüber gern einen Satz ausgesprochen, der womöglich nicht einmal aus grammatikalischen Entwicklungen heraus entstanden wäre, eine Art Nullsatz oder Nichtsatz, der trotzdem eine nachhaltige Wirkung zeigte. Die Frau steht auf, das Baby auf dem Arm, und folgt dem Mann und der Tochter. Hintereinander gehen sie durch die Tür zum Treppenhaus, schieben sich in ihrem lautlosen Durcheinander aus dem Raum. Das Gepäck hole ich, wenn die Kinder im Bett sind, sagt der Mann zu seiner Frau.

Wenn es wirklich einen Satz gäbe, der auf alles zutrifft. Wenn es nur einen Satz gäbe, einen einzigen Satz, der alle weiteren Sätze enthält und neben den wenigen als gesichert geltenden Annahmen, die wir zu Hause in unseren Schatullen und Nachtschränkchen aufbewahren, auch die völlig ins Kraut schießenden Spekulationen ohne große Worte mit einschließt, der z.B. den Wust aus Kabeln auf der Rückseite des Computers in meinem Schlafzimmer nicht erklären kann, nicht von diesem Kabelverhau spricht, der aber, ausgesprochen, in jeder Sekunde den Kabelverhau des Computers meint, natürlich meint er den Kabelverhau, spricht ohne die notwendigen Worte von den Kabeln bis in die letzten Windungen der Kabel, der Satz handelt immer auch vom Kabelverhau und gleichzeitig von allem anderen, der Satz spricht von mir, von Raimund, vom Auszug aus den Häusern, vom den Häusern entgegengebrachten Gefühl, von meinem Vater und seinem dem Satz entgegengebrachten Gefühl, vom Einverleiben eines Satzes, aber er meint damit etwas, was über all das hinausgehen wird, und was im und mit dem Satz erst dann ausgesprochen werden kann, wenn die ungesicherten, wuchernden Kleinigkeiten, die unscharfen Bilder in diesen Satz umgewandelt worden sind, in eine unauffällige Folge aus Worten, aber das ist ja ganz unmöglich, habe ich einmal zu Raimund gesagt.