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Ralph Dutli

Soutines letzte Fahrt

Roman

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Für Catherine,
Chartres 1989

Wir sehen fast glücklich aus in der Sonne,
während wir verbluten aus Wunden,
von denen wir nicht wissen.

Tomas Tranströmer, Für Lebende und Tote

Chinon, 6. August 1943

Sie werfen mit einer kräftigen Bewegung die beiden schwarzen Flügel der Hintertür zu. Ein scharfes Klicken wie von einer Waffe, ein trockenes Einschnappen ins wartende Schloss. Ein Ruck geht durch das Auto, aufgeschreckte Tauben fliegen voller Panik über das Dach des Krankenhauses ins Blaue hinauf. Es ist, als ob ein kurzes Lachen hereinfahre ins schwarze Ungetüm. Es muss vom Älteren stammen, der Junge, der einen Wollschal um den Hals trägt, erkältet jetzt im August, wie das besetzte Land, hätte es nicht gewagt. Nein, der Maler muss sich getäuscht haben. Es konnte kein Lachen sein. Der Chef schärft es den Angestellten am ersten Tag ein, dass es in diesem Beruf keine Witze über die Toten gebe, nur stille Würde, schlichte Pietät. Das ist man den Hinterbliebenen schuldig und dem guten Ruf der Firma.

Nur ist alles anders an diesem prächtigen Augusttag. Es ist ein lebender Toter, den sie im Leichenwagen, einem schwarzen Citroën, Modell Corbillard, nach Paris zu bringen haben. Das Auto hat schon viele alte und junge Leichname zur letzten Ruhestätte begleitet. Es ist ihr großes stilles Tier, das sie hüten und pflegen. Nach jedem Einsatz muss es mit dem Schwamm sauber geputzt und mit dem Leder abgerieben werden. Der Chef kontrollierte selber, und er ist gnadenlos. Ein verschmutzter Leichenwagen ist undenkbar, das Unternehmen legt Wert auf goldene Sauberkeit, auch in Kriegszeiten. Noch nie haben die Fahrer eine lebendige Leiche transportiert.

Irgendein Maler soll es sein, ein Arzt hat das Wort auf dem Flur beiläufig ausgesprochen. Sie müssen ihn zur Operation nach Paris bringen, es geht nicht anders, die Engel wollen es so. Doch wie ist es möglich, dem Besatzer eine Nase zu drehen, dem gepanzerten Riesenauge, das jeden Schritt kontrollieren will? Ein metallisches kurzes Geräusch, wie ein gepresstes, schmerzhaftes Auflachen der Tür. Wie das Klicken einer Waffe. Es riecht betäubend nach Lindenbäumen. Gibt es welche neben der Klinik? Vielleicht ist es nur die Karbolsäure, die der Maler im zerknitterten Klinikhemd mit sich trägt, das Aroma der Operation.

Der Maler murmelt vor sich hin, er scheint jemanden immer wieder anzusprechen, ein beschwörendes Summen um die Lippen, doch die beiden Bestatter verstehen ihn nicht, er spricht zu leise, und die Laute seiner Sprache sind ihnen unbekannt.

Kommt ihr von der Bruderschaft … habt ihr die Sargenes dabei … Chewra Kaddischa … ins Wasser muss ein Ei geschlagen werden … die neue Leich soll mit Leben gewaschen werden … wenn es nicht zu spät ist … kommt er selber … vergiss das Ei nicht … es muss ins Wasser hinein … das Ei blüht im Wasser …

Die beiden Bestatter sehen sich fragend an und schieben ihn auf der metallenen Bahre hinein in den Bauch des Leichenwagens. Es ist der 6. August 1943. Es ist Sommer und Krieg. Das ist ein besetztes Land. Sie wissen, was geschehen würde, wenn sie den Besatzern vor die schwarzen Läufe gerieten. Die beiden Bestatter, der rundliche ältere und der hustende Junge, hätten getarnte Widerständler und Saboteure sein können, die ihre Werkzeuge im Leichenwagen transportierten. Hin zum Bahndamm, hinauf zu den Schienensträngen, ein paar eingeübte Handgriffe, und die Schienen fliegen in den Himmel.

Von den Kontrollpunkten auf den großen Anfahrtsachsen haben sie sich fernzuhalten. Ein hagerer namenloser Arzt kam plötzlich, als sie schon zum Ausgang gingen, aus einem Zimmer auf den Flur heraus, schlug den Blick nieder und drückte ihnen voller Verlegenheit die gelbe Straßenkarte mit dem blauen Michelin-Männchen in die Hand. Das lachende laufende Männchen, Bibendum nannten sie es, dessen Rumpf, Arme und Beine aus Autoreifen bestanden. Es lief manchmal mit drohenden bösen Augen durch die Träume des Malers. Wenn man die lebende Fracht aufspüren sollte, sind die Bestatter selber Leichen. Passagiere eines Leichenwagens haben Tote zu sein, nichts anderes. Keiner würde ihnen die Ausrede glauben, der Maler sei ein Scheintoter, der zu ihrer eigenen Verblüffung gerade von den Toten auferstanden sei. Gewisse Punkte sind unauffällig mit Bleistift verdoppelt.

Und die schwarzen Kerle mit dem Gammazeichen, schwärmen sie schon nördlich der Demarkationslinie aus? Seit Januar 43 sind Darnands Milizen unterwegs. Auf der Suche nach dem Widerstand und den Verweigerern des Obligatorischen Arbeitsdienstes. STO bleibt STO. Auch den Schwarzhändlern ist kein Fahrzeug heilig, nicht einmal ein schwarzer Rabe. Ihre Tricks zeugen von schamlosem Einfallsreichtum. Aber wo sind die fetten Speckseiten, der Cognac, das eingemachte, vom Rotwein violett gebeizte Kaninchenragout?

In Zeitlupe auffliegende Tauben, Geflüster, Karbollinden, ein flatternder Geruch aus Besänftigung und Schärfe.

Am 31. Juli war er mit der Ambulanz eingeliefert worden. Die letzten Tage des Monats waren schrecklich gewesen, ans Malen war nicht mehr zu denken, der Schmerz im Oberbauch war zu bohrend geworden, ließ ihm kaum mehr Pausen, die er vorher noch gnädig, mit einer unvorhersehbaren Lässigkeit gewährt hatte. Ich bin da, ich bin kurz weg, aber ich komme wieder. Nur Geduld, ich bin gleich wieder da, verlass dich auf mich. Glaub nur nicht, ich werde lange ausbleiben. Glaub nicht mehr an mein Verschwinden. Ich verlasse dich nicht mehr.

Ma-Be, hörst du mich, bist du noch da? Ich kann dich nicht sehen.

Der Maler hat die Augen geschlossen, er spürt die Anstrengung, durch die Lider hindurch zu sehen. Er kann sie nicht öffnen.

Am Morgen lag er fiebrig auf der Matratze, wälzte sich wie ein verletztes Tier, stammelte Unverständliches. Keinerlei angelerntes Französisch mehr, es war wie gelöscht, nur irgendwelche Wortfetzen, die Marie-Berthe nicht verstehen konnte. Sie nahm es als schlechtes Zeichen, lief unruhig hin und her wie eine Tigerin im Käfig.

Der Maler dreht sich stöhnend auf der Matratze, von einer Seite auf die andere. Aber keine Seite hilft. Der Vermieter, Monsieur Gérard, bringt einen warmen Umschlag aus Senfmehl herauf, trägt ihn würdevoll wie ein Priester vor sich her und sagt feierlich, als hätte er es sonntags dem Dorfpfarrer abgelauscht: Prenez ce cataplasme. Seine Frau kannte sich aus damit, für jede Gelegenheit hatte sie einen Umschlag parat. In den Ohren des Malers, die sich seit seiner Ankunft in Paris dreißig Jahre zuvor zäh und zögerlich an die Sprache gewöhnt haben, die näselte und so völlig anders klang als die singende Sprache seiner Kindheit in Smilowitschi und die Mundbrocken eines tatarischen Russisch, klingt das Wort cataplasme einzig wie Katastrophe. Marie-Berthe nimmt es dem Vermieter wortlos ab und legt es dem Maler auf den Bauch.

Er windet sich auf dem Krankenbett, ein kleines frommes Kreuz um den Hals, das Ma-Be ihm umgehängt hat. Sie hatte verbissen gebetet in diesem Juli, längst hatte sie zu ihrem guten französischen Glauben zurückgefunden, die Wut auf die ganze Malerbrut am Montparnasse hatte ihr dabei geholfen. Christus baumelt an seinem Hals, der Messias ist da, soll er ihn stoppen, den wilden Schmerz.

Christus wird dir helfen, glaub nur fest an ihn, Chaim, hatte Marie-Berthe schon öfter gestammelt. Er ist für dich am Kreuz gestorben. Du bist schon erlöst.

Der Maler versteht nichts mehr, der Schmerz ist das Einzige, was er weiß.

Bleib doch liegen, lass den Umschlag wirken, er wird dir guttun.

Nein, ich muss … ins Atelier hinüber … muss … es gibt nichts anderes … bevor sie kommen … du weißt es …

Keiner kann ihn aufhalten. Ma-Be und ihr Gezänk, ihre Drohungen sind wirkungslos, er muss es tun. Er will keine Begleitung, lehnt sie mit einer schroffen Handbewegung ab. Immer war er dabei allein. Er schleppt sich weg zum Atelier, in jenes kleine Häuschen am Eingang zum Großen Park, an der Straße nach Pouant. Auch ins winzige Zimmer bei Monsieur Crochard, dem Schreiner und Bürgermeister von Champigny, will er noch hineinschauen, auch dort müssen noch Leinwände stehen. Halb gelähmt vom Schmerz, sich hochreißend mit dem kleinen hündischen Jaulen, das er längst kennt, die Hand flach an den Bauch gepresst. Es gibt noch etwas zu tun, was wichtiger ist als alles.

Streichhölzer her, mit raschen Handgriffen ein paar Zeitungen zusammengeknüllt, rein in den Kamin damit, wo in diesem heißen Juli noch Asche liegt vom letzten Mal, als die alte Zerstörungswut ihn überkam. Dann hastig die Leinwände hervorgezerrt, nur noch den einen wütenden Blick daraufgeworfen, dann hinein in die Hölle damit. Als seien sie an allem schuld, an diesem Unglück, das nicht mehr aufhören wollte in den letzten Monaten. Nein, seit Kriegsbeginn, dem unglaublichen, aber klar vorausgeahnten Tag des 3. September 1939, als sie im kleinen burgundischen Dorf Civry waren, er und Mademoiselle Garde, und vom Kriegseintritt Frankreichs erfuhren, und der Bürgermeister ihnen, den beiden auffälligen Ausländern mit ihrem verdächtigen deutschen und slawischen Akzent, die Abreise verbot »bis auf weitere Verfügung«. Sie saßen fest. Magdeburg, Smilowitschi. Verdächtige Geburtsorte.

Das alte Ritual, die Wut des Hervorzerrens, das blinde Verfeuern, brachte manchmal eine hämische kleine Erleichterung, sogar der Schmerz im Bauch schien dafür scheinheilig auszusetzen, oder er ließ sich vom Feuer betäuben. Es war ein nach Terpentin stinkendes Sommerfeuer, die Vollstreckung der immergleichen, seit den Jahren in den Pyrenäen geübten Tat.

Und jedesmal hört er die Stimme des Händlers Zborowski, der seit über zehn Jahren tot war, entsetzt in seinen Ohren gellen:

Nein! Hör endlich auf damit! Du bringst dich selber um!

Er antwortete jedesmal mit einer verächtlichen Grimasse, die keiner sehen konnte. Der Maler erinnert sich nicht mehr genau, wann er den Satz zum ersten Mal hervorgestoßen hat:

Ich bin der Mörder meiner Bilder, versteht ihr denn nicht? Ich werde es euch zeigen.

Ich bin … der Mörder … meiner Bilder.

Es musste nicht immer Feuer sein, das die Lösung brachte. Öfter waren es Angriffe mit dem Messer gewesen, ein blindes Aufschlitzen, um die farbigen Geschwüre auf der Leinwand nicht mehr sehen zu müssen. Um sie aus der Welt zu schaffen. Das Messerritual oder Scherenritual war hastiger, unkontrollierter. Unten, tief unten rechts hineinfahren und die Klinge blind und quer nach links oben hochreißen bis zum Rand, dann noch einmal, und noch einmal, bis nichts mehr erkennbar war. Bis die Streifen herabhingen, wie die blutigen Lappen zerfetzter Bäuche. Nein, keine Befriedigung, nie. Nichts als dumpfe Traurigkeit und Leere. Im Feuerritual war mehr wütender Triumph: das Hervorzerren der Leinwände, die Fäuste am Rahmen festgekrallt, das Hineinschleudern in den rauchenden, schlecht ziehenden Kamin, das Auflodern, wenn die Flammen das Öl geleckt hatten. Keiner hat mehr Bilder zerstört als er, keiner.

Ma-Be, hörst du mich? Ist der Wagen aus Chinon schon angekommen? Er soll warten.

Er flüstert. Er flucht.

Es ist an diesem letzten Julitag nur eine der zahllosen Zerstörungsorgien, das ewige blinde Verfeuern eines früheren Lebens. Auf die Wirkung war kein Verlass. Er will es nur loswerden, will die Bilder aus dem Leben fegen, und den Teil von ihm selbst, der in ihnen gefangen ist. Der Selbstauslöscher, Selbstzerfetzer, Selbstverfeuerer. Soutine, Chaim.

Keiner hat das Ritual verstanden. Kein Maler, kein Zborowski, nicht die beiden Frauen der letzten Jahre, weder Mademoiselle Garde noch Marie-Berthe. Und keiner konnte ihn aufhalten. Er selber verstand es nicht. Der ganze Park steht in Flammen vor seinen Augen, wirft Flammen auf seine Pupillen zurück. Er weiß, es muss geschehen, das war alles. Am 31. Juli 43 bringt es keine Erleichterung. Und der Schmerz ist nach dem Ritual sofort wieder da.

Es bleiben ein paar Bilder, die Madame Moulin diskret zusammengerollt nach Paris transportierte, um sie Galeristen anzubieten, was Brot und Eier ermöglichte, denn das Pariser Konto war gesperrt. Und es gab ganz wenige, vorsichtig ausgewählte Besucher, die aus Paris nach Champigny kamen. Die Bilder der letzten Jahre. Zwei sich suhlende Schweine, eines rosa, das andere so feldgrau, so uniformgrün mit Schlamm und Dreck verschmiert, dass ein paar Klugköpfe orakeln werden, er habe Soldaten der Wehrmacht dargestellt. Worauf sie alles kommen. Zweimal Mutter mit Kind, finsterblaue, verletzte Kindheiten, bittere Mütter, Ikonen der Besatzungszeit. Vom Wind gepeitschte Schulkinder auf dem Heimweg, klein und umhergeworfen in der stürmischen Dämmerung, sich panisch bei den Händen haltend. Kinder auf dem gefällten Baumstamm. Wer hat die Bilder gerettet vor ihrem Maler und seinen Besatzern, still beiseite gebracht, in den unauffälligen Schatten gestellt, als der Park in Flammen stand.

Bilder, die er sich und dem Magengeschwür in den letzten Monaten abgerungen hat. Hinein ins Feuer mit allem, was noch übrigblieb. Es bleibt nur wenig Zeit. Und er weiß nicht, ob es nicht seine letzte Verfeuerung war. Brandbestattung, blinde blanke Routine. Das Feuer war gut. Es ließ nur Asche zurück und ein paar unverkohlte Holzstücke, Reste des Rahmens. Letzte Möglichkeit, das Unmögliche zu löschen. Zwar liegen noch beim Metzger, Monsieur Avril, ein paar Gemälde, als Faustpfand, bis zur immer wieder aufgeschobenen Bezahlung, bis die seit Wochen angewachsene Schuld beglichen würde. Sollen sie Geiseln bleiben. Die Schuld ist nicht mehr zu begleichen. Nichts war nie und nirgendwo wiedergutzumachen.

Ma-Be, lauf zum Bauern, versuch es, nur noch einmal.

Die Zeit der Tauschgeschäfte ist abgelaufen, nichts geht mehr, alles ging schief in diesem Juli, die Bauern wollten für Eier und Butter keine dieser Leinwände mehr sehen, auf denen die Welt nicht zu erkennen war vor lauter sich krümmenden Wegen, taumelnden, sich biegenden Bäumen, vor lauter braunem und blauem Schmutz, Schrammen und Striemen. Wo nichts der Welt zu gleichen schien, nicht einmal jetzt im Krieg, es sei denn, sie wäre schon untergegangen in einem letzten Zucken, in blindem Gezerre und Schmerz. Als einziges, tobendes Magengeschwür. Aber Eier und Butter und Milch waren Gold.

Sie verstehen, es ist Krieg. Wir brauchen die Sachen jetzt selber.

Dann geht Ma-Be hinunter und ruft in der Wohnung des Vermieters Doktor Ranvoisé in Chinon an, der zu allem Unglück in den Ferien ist in dieser Leere des Juli-Monats, oder zu Verwandten gefahren, weiter unten an der Loire, zur Nahrungsbeschaffung, jetzt wo keiner mehr von Ferien spricht. Sackmännerdasein. Beutelgut. Sein Vertreter kommt, Doktor Borri, wirft nur einen kurzen Blick auf den Maler, betastet leicht seinen Bauch und ordnet die Hospitalisierung an. Keine Zeit zu verlieren. Sie müssen nach Chinon, in die Klinik Saint-Michel. Die Diagnose kennt der Maler selber gut genug, seit Jahren gab es ihn zweifach: Soutine und das Magengeschwür. Seit Jahren hat er einen Doppelgänger, der ihn verhöhnt und quält. Einen schwarzen schmerzenden Schatten, der immer wieder über ihn herfällt.

Gegen Ende des Nachmittags war die Ambulanz eingetroffen, der Maler war zurückgehumpelt ins Haus von Monsieur Gérard, der Senfwickel lag zusammengeknüllt neben der Matratze. An die Fahrt nach Chinon kann er sich nicht erinnern, der Schmerz hat wieder das Steuer übernommen, stopft den Körper hinein in eine viel zu enge Hülle, löscht alles, was nicht er selber ist.

Der Fahrer hatte sich vorgestellt: Foucaul, Achille. Doch die Namen besagten nichts mehr. Er hatte das Gesicht von Monsieur Foucaul kaum gesehen, der die Tür taktvoll zuschlug und mit sicheren Händen am erhitzten Steuerrad nach Chinon fuhr in einem dieser alten Peugeots, die hier herumkrochen wie müde Julikäfer.

Ankunft Klinik Saint-Michel. Bei der Aufnahme wurde »Soutine Charles« ins Viereck gesetzt, der richtige Vorname hatte so oft Scherereien und Nachfragen verursacht, lästige Buchstabierungen, Missverständnisse und Wiederholungen. Aber »Charles« war gut, er klang so unumstößlich und ungefragt von hier, der Name selber war ein Ausweispapier. Und er ließ sich verhüllend abkürzen, so dass jeder auf den gebräuchlichsten Vornamen verfiel.

Ch. Ch. Ch.

Aufnahme: Soutine Charles, 50 Jahre, Beruf: Kunstmaler, artiste-peintre, starke Schmerzen im ganzen Oberbauch, hinter das Brustbein ausstrahlend, bis in den Rücken, fiebrig. Dringend! Urgence. Eilt!

Sie haben ihre falschen Papiere dabei, die Fernand Moulin, Tierarzt und Bürgermeister von Richelieu, bei der Präfektur in Tours hatte abstempeln lassen. Es gab dort einen Beamten, der ihm noch etwas schuldete. Und er hasste die Besatzer, war froh um jeden, den er ihnen mit gefälschten Papieren entreißen konnte. Also steht es jetzt da, unverrückbar, auf dem gelben Papier, das seine Identität bescheinigt: Soutine Charles.

Wie er so mit zugepressten Augenlidern daliegt, die Gesichtszüge angespannt, könnte man ihn für eine ägyptische Mumie halten.

Sein Zustand ist kritisch. Der Arzt will keine Zeit verlieren, die Operation muss sofort vorgenommen werden. Jetzt gleich, nicht bis morgen warten. Ist es nicht bereits viel zu spät? Der Durchbruch der Magenwand ist wahrscheinlich. Die innere Blutung ist nur das eine. Die größte Gefahr bei einer Perforation ist das Austreten von sauren Magensäften in die Bauchhöhle, was zu einer Bauchfellentzündung – Peritonitis, können Sie mir folgen, Madame? – führt, die ohne Therapie in aller Regel tödlich ist. Die innere Blutung ist nicht das Hauptproblem. Aber handeln müssen wir sofort. Resektion des Magens nach Billroth. Zweidrittel-Entfernung, durch Vagotomie ergänzt. Der Anteil des Vagusnervs, der für die Innervation des Magens zuständig ist, wird durchtrennt.

Das Wort »durchtrennt« lässt sie aufschreien. Soutines schwarzer kreischender Engel entscheidet, dass er nicht in diesem Provinzkrankenhaus operiert werden soll, sondern in Paris. In der Stadt, wo es richtige Ärzte gab, nicht diese Kurpfuscher in ihren winzigen klinischen Königreichen, denen die Besatzer kaum das Verbandszeug ließen. Sie schimpft, sie droht, sie stampft auf.

Der Arzt versucht, Sie höflich von der Notwendigkeit zu überzeugen. Er will ihr entgegenkommen, fragt sie respektvoll:

Marie-Berthe Aurenche? Hieß so nicht die Frau von diesem deutschen Maler Max Ernst? Wissen Sie, ich habe in Paris studiert und war damals von den Surrealisten begeistert. Nein, ich war verrückt nach ihnen. Ich schwärmte für Nadja, lief mit Bretons Buch durch die Straßen und phantasierte vom Revolver mit weißem Haar … Die Medizin war das eine, ich war sie meinem Vater schuldig, aber nachts streunte ich in den Cafés am Montparnasse herum, um diese verrückten Tiere zu sehen. Von Ernst liebte ich Die nahe Pubertät, die Taumelnde Frau …

Er hatte das Falsche gesagt. Und die taumelnde Frau hatte sie sofort auf sich bezogen. Wenigstens hatte er den Takt besessen, nicht Ex-Frau zu sagen. Jeder ihrer Bekannten wusste, dass man in ihrer Gegenwart den Namen Max Ernst nie mehr aussprechen durfte, sonst wurde sie zur Furie.

Der Wahnsinn eines falschen Wortes, eines falschen Namens, taumelnde … Frau … Max … Ernst. Ein Wort braucht das Schicksal, um zu kippen. Es konnten zwei sein.

Ja, Ma-Be war um ihn, ihre Stimme war überall, die plötzlich schrill werden und streiten konnte, er wusste es nur zu gut. Die Befehle erteilte, Vorwürfe machte, auf irgendeiner Sache beharrte, was er nicht hören konnte durch die Wand seines Schmerzes. Diese Handfläche, die mit übermüdeter, aber unerbittlicher Strenge auf den Tisch schlug. Sie war mit den Nerven am Ende. Die rasch sich folgenden Wechsel der Zimmer und Verstecke, das Feilschen mit den Bauern um ein halbes Dutzend Eier, das Gezerre um Brot. Sechsmal haben sie in Champigny die Unterkunft gewechselt. Das gesperrte Geld in Paris, die verbotenen Fahrten in die Hauptstadt, der von seinen Schmerzen aufgeriebene Maler an ihrer Seite. Sie wollte alles rasch beenden, oder zum Scheitern bringen, was nicht längst verloren war. Er hört nur ihr Kreischen und Drohen durch die Tür, als er auf dem Flur liegt und die weißen Gespenster sieht, die schweigend vorüberhuschen. Ein Rascheln, dann plötzlich Geflüster, das er nicht versteht. Ein Umriss, der auf ihn zutritt, seinen Arm nimmt. Ein kurzer Blitz.

Auf dem Flur, wo er auf einem fahrbaren Krankenhausbett liegt, bis zu den Schultern von einem Laken bedeckt, ist niemand mehr zu sehen. Aber in seinem Ohr klingt eine einzelne Stimme.

Da, nimm das weiße Laken. Deck dich zu. Spiel eine Leiche. Das müsste man malen können.

Wo hat er die Sätze zum ersten Mal gehört? In Minsk, in Wilna? Gewiss nicht in Paris. Wer hat sie gesagt? Kiko oder Krem? Die Erinnerung ist älter als diese Provinzstadt an der Loire. Wo ist er jetzt? Gewiss nicht in Chinon.

Tu so, als ob du tot wärst. Dann wird es leichter. So wird alles leichter. Du bist schon tot, kannst das Leben nicht mehr verlieren. Immer schon verloren, sind wir halb schon frei. Du kannst überhaupt nichts verlieren. Also gehst du leicht hinaus. Das müsste man malen können.

Dann plötzlich Stille. Er schlägt die Augen auf, kneift sie jedoch sofort wieder zusammen. Öffnet sie noch einmal, wie um sicher zu sein, dass er nicht träumt. Am Ende des Flurs steht ein großer weißer Ziegenbock. Es gibt keinen Zweifel. Eindeutig ein Ziegenbock, mit großen, nach hinten geworfenen, aufsteigenden Hörnern, einem auffällig langen, fast bis zum Boden reichenden weißen Bart und üppigen, vom Hals abstehenden, herabhängenden weißen Zotteln. Wie nur war das Tier hereingekommen?

Der Maler erinnert sich, dass er in einer Zeitschrift die Abbildung eines asiatischen Schraubenziegenbocks gesehen hat, mit seinen ungeheuren, V-artig sich in die Luft schraubenden, nah beieinander stehenden Hörnern. Der Bock blickte streng und intelligent aus dem Bild hervor, als sei er ein Gott unter den seinen. Es war ein Sonntag, er war am Seine-Ufer entlanggeschlendert, hatte bei einem der Bouquinisten die Zeitschrift aufgeschlagen und war vor dem Ziegenbock erschrocken, der ihn direkt anblickte. Hastig schlug er die Zeitschrift zu und warf sie auf den Stapel.

Aber er ist es nicht. Nein, hier im Krankenhaus Saint-Michel steht am Ende des wie leergefegten Flurs ein großer, weißer Hausziegenbock, der sich jetzt langsam, mit hell tickenden Hufen auf den im fahrbaren Bett liegenden Maler zukommt, neugierig, mit kurzen, zunächst zögerlichen, dann beschleunigten Schritten. Die Verwunderung löscht alle Erinnerung. Was sucht er hier?

Und dann ist er auch bereits beim Maler angekommen, dessen linke Hand über den Rand des fahrenden Bettes hinaushängt. Der weiße Ziegenbock schnüffelt leicht in die Luft, sein Kopf ist jetzt auf gleicher Höhe wie der Kopf des Malers. Seine gespaltenen Pupillen schauen dem Patienten geradewegs in die Augen. Ohne Vorwurf. Ohne Zorn. Und mit einer rauhen, kalten Zunge leckt er die herabhängende, salzige Hand, die Soutine nicht zurückzuziehen wagt. Er öffnet wieder sein rechtes Auge und blickt dem Ziegenbock direkt in die seinen. Er ist da. Er ist gekommen. Er ist weiß. Das genügte. Es war kein Traum.

Dann wird eine Tür aufgerissen, der Maler schlägt beide Augen erschrocken auf, und der weiße Ziegenbock ist verschwunden. Der Flur belebt sich wieder, aus der Wand dringen beschwörende Satzfetzen, zornig abgebrochene Sätze, bedrohlich betonte Silben.

Überschuss an Magensäure, chronische Entzündung, tiefe Schädigung der Magenschleimhaut. Das Wort Perforation glaubt er zu hören, und das Wort Resektion flößt ihm Angst ein. Das alte Geschwür hat die Magenwand durchbrochen, Magensaft tritt in die Bauchhöhle aus. Der Chirurg rät zur Operation, sofort, jetzt gleich, keine Minute Aufschub mehr. Gleich in die Anästhesie. Wir haben hier einen Notfall, Madame. In Paris können sie auch nicht viel mehr tun für Ihren Maler.

Der Kranke will es selber so: Nur gleich, nur dass irgend etwas geschehen soll. Es muss nur endlich dieser Schmerz herausgeschnitten werden, nichts mehr aufschieben, nur jetzt und hier.

Aber nicht hier, das sind doch Provinzscharlatane, Pferdemetzger, sagt Ma-Be, ein Spezialist soll dich operieren, nicht hier, in Paris. Gosset, Guttmann, Abramy, einer von den Ärzten, die dich kennen, wird wissen, wer dich retten kann.

Sie ist der schnarrende, zischende Todesengel, der das Beste will und das Schlimmste verlangt, den Malermagen auf einer endlosen Irrfahrt zur letztmöglichen Operation begleiten wird.

Die Entscheidung ist plötzlich da, gefragt wird er nicht mehr. Marie-Berthe hatte mit irgendwelchen Stimmen telefoniert. Dass es diese Geister noch gab in diesem Kriegsmonat August. In einer Klinik im 16. Stadtbezirk, von richtigen Ärzten soll er operiert werden. Der Name ist lang: Maison de Santé Lyautey.

In Chinon bekommt er als gütige Wegzehrung von einer Ärztin eine Morphinspritze, die Dosierung ist riskant, das weiß sie, es muss möglichst lange vorhalten. Lannegrace hieß die Ärztin, sie stellte sich mit einer leisen Stimme vor, und er hörte in ihrem Namen nur grâce herüberhallen, die Gnade. Er dachte an Gnadenstoß, und seine Ohren hielten es für ein gutes Zeichen. Das großzügige, den Schmerz dämmende Morphin verspricht rasche Beruhigung, verteilt sich schnell über die Blutbahn im Körper und hüllt ihn in eine wattige Besänftigung.

Am 6. August fährt frühmorgens der Corbillard vor, der den Schmerz nach Paris bringen soll. Nur hin in die Hauptstadt des Schmerzes, hatte sie nicht einer dieser verrückten Surrealisten so genannt, mit denen er nichts zu tun haben wollte? Ein streitsüchtiger Engel mit näselnder Stimme treibt das schon taumelnde Schicksal gleichzeitig zur Eile an und zu Umwegen. Um jeden Kontrollpunkt zu vermeiden, aber auch, um Bilder einzusammeln, verstreute Habseligkeiten, um Spuren zu löschen, die verschwinden müssen. Zur Eile und zu Umwegen – beides ist notwendig und beides unmöglich.

Der Kies im Hof des Krankenhauses von Chinon knirscht unter den Reifen, dann kreischt er weiter in seinen Ohren, als sich der Leichenwagen an diesem Morgen in Bewegung setzt. Überhaupt die Geräusche in letzter Zeit. Das Auge war weniger hungrig, das hatte er gemerkt, genug gesehen, es hatte sich abgehetzt auf den schmalen Pfaden in Champigny-sur-Veude, jetzt waren die Geräusche plötzlich klarer, schriller. Das Geräusch verbündet sich gern mit dem Schmerz.

Dem Maler schneidet das Knirschen ins Ohr wie in den Magen, als beginne jetzt gleich die Operation, die er sich herbeiwünscht wie nichts auf der Welt, denn der erst flatternde und benommen kreisende, dann tippende, nur wenig später zustoßende, bohrende und wühlende Schmerz, der seit Jahren zu seinem Körper gehört wie ein zusätzliches Organ, ist so unerträglich geworden, dass ihm schon der Schnitt, irgendein Schnitt in den Bauch wie die Rettung selber vorgekommen wäre. Man müsste sich wie ein Gemälde aus der Welt schaffen können.

Schließlich war es die Idee ihrer Verzweiflung, die das Falsche rät. Lannegrace hatte ihr beim Hinausgehen eine blütenweiße Krankenschwesterkluft in die zitternde Hand gedrückt. Die Muse der Surrealisten als verwirrte Krankenschwester. Im schlimmsten Fall könnte sie sich darauf hinausreden, sie habe als Schwester den kreideweißen, sichtbar geschwächten Patienten nach Paris zu begleiten, wo bereits ein Chirurg auf ihn wartete. Nicht in der Salpêtrière natürlich, die alte Schießpulverfabrik hinter der Gare d’Austerlitz war längst ein deutsches Hospital. Nein, in einer unscheinbaren Klinik im gutbürgerlichen 16. Stadtbezirk, wo auch die Besatzer ihre Dienststellen haben. Unter ihren Augen gleichsam, da ist man am besten versteckt. Es sei gerade kein Ambulanzfahrzeug verfügbar gewesen, würde sie sagen, es habe, jetzt im glühenden August, einen schweren Brand auf einem nahen Bauernhof gegeben und jedes Fahrzeug sei gebraucht worden. Die falschen Papiere würde sie in die Höhe heben wie die Fahrkarten zur Erlösung.

Wenn alles gut geht, kommt ihr unbemerkt durch die Dörfer und Vorstädte hinein nach Paris. Vermeidet um jeden Preis alle wichtigen Einfallstraßen. Der schüchterne Arzt mit der Michelin-Karte und das blaue lachende, laufende Männchen. Sie mischen sich, verschmelzen mit den Pappelalleen.

Ins Wasser für die Leichenwäsche muss ein Ei geschlagen werden. Die Chewra Kaddischa kennt den Weg. Die Bruderschaft ist vor Morgengrauen schon unterwegs. Auf dem Rand des blechernen verbeulten Beckens schlägt die Eischale auf, zögert und bricht. Die schützende Haut reißt ein, der Schleim des Lebens fällt ins Wasser, das Gelb fährt als trübes Glück hinein.

Ma-Be

Es ist schwierig, die Augen zu öffnen. Wenn er es versucht, sieht er blinzelnd im Schattenlicht Marie-Berthe, die zusammengekrümmt auf einem Schemel sitzt, murmelnd, manchmal seufzend, ein Taschentuch vor ihre Lippen pressend. Sie scheint anderswo zu sein, aber das Elend hat sich tief in sie eingenistet. Schläft sie, spricht sie leise mit sich selber? Wie sehr sie sich verändert hat! Das Suchen neuer Verstecke, der Streit mit den Vermietern, die dauernde Angst, wenn Militärfahrzeuge durch den Ort brausen, der auf dem Weg nach Tours liegt, die zunehmende Schwierigkeit, noch die einfachsten Lebensmittel aufzutreiben – alles hatte sich in ihren Körper eingezeichnet, in jede Falte ihrer Haut, ins blaue Dunkel um die Augen.

Es war im Café de Flore. Oktober, vielleicht November 40? Er war seit einem halben Jahr allein. Mademoiselle Garde war am 15. Mai jenes Jahres zur befohlenen Sammelstelle, der Winterradrennbahn, gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Am Montparnasse raunt man, dass Tausende deutscher Einwanderer, mochten sie selber glücklose Flüchtlinge sein, als »feindliche Ausländer« in die Pyrenäen verfrachtet werden, ins Lager Gurs im Südwesten Frankreichs. Von einem ruppigen Besen zusammengekehrt wie fliegende, abgefallene Blätter. Fünf Tage zuvor hatte der deutsche Durchstoß in den Ardennen begonnen. Doktor Tennenbaum hatte also recht gehabt, als er es ihnen im Hôtel de la Paix am Boulevard Raspail beschwörend zuraunte:

Fliehen Sie, solange noch Zeit ist! Hören Sie mir gut zu: Fliehen Sie!

Der Maler kann nicht mehr an Garde denken ohne dieses drückende Schuldgefühl. Er sieht sie immerzu weggehen mit dem winzigen Lederköfferchen, sich noch einmal umdrehen, über die Schulter hinweg ihm zulächeln. Mademoiselle Garde! In einem Traum, der immer wiederkehrt, sieht er sie stumm auf seinem Bettrand sitzen, ohne Vorwurf, aber mit großen, fragenden Augen. Der Maler bleibt allein zurück, irrt wie eine verlorene Flunder durch die Straßen des Montparnasse-Viertels. Delambre, Grande Chaumière, Campagne Première, Passage d’Enfer. Jedesmal zuckt er zusammen, wenn er in die Höllenpassage einbiegt. Viele waren weggefahren.

Er soll die Castaings im Café treffen, um die Lieferung eines Bildes zu besprechen. Maurice Sachs sitzt dort mit einer schwarzhaarigen Schönen, die er schon einmal irgendwo gesehen hat. Blitzende Augen, wie hieß sie nur? Madeleine Castaing selber stellt sie ihm vor: Marie-Berthe Aurenche. Und der amerikanische Maler, der dabeisitzt, raunt ihm ins Ohr:

Du weißt schon, die Verflossene von Max Ernst.

Später erfährt er, dass Maurice Sachs sich zu Madeleine Castaing hinübergeneigt und ihr mit zynischer Ironie Vorwürfe gemacht hat:

Sie haben ihm Marie-Berthe vorgestellt, wie unvorsichtig! Sie haben sein Todesurteil unterzeichnet.

Sie gilt als eine der halbverrückten Musen, nach denen die Surrealisten gierig waren. Jetzt ist sie vierunddreißig, hat dieses schöne traurige, milchige Gesicht und scheint grenzenlos unglücklich … Er weiß, dass sie neun Jahre mit dem deutschen Maler verheiratet war, am Montparnasse kennt jeder jeden, und was man über den einen oder den anderen nicht weiß, ergänzt das allgegenwärtige Gerücht. Sie sei aus einem Mädchenpensionat, das von strengen Nonnen geführt wurde, nach Paris gekommen, voller Lebenshunger, Lust auf Abenteuer. Rosenkranz und rasende Liebe. Es wird gemunkelt, Man Ray habe sie mit achtzehn nackt photographiert. Und Max entführt sie, tatsächlich, er wird steckbrieflich gesucht, doch die erschrockenen Eltern Aurenche geben schließlich nach und willigen in die Heirat ein, im November 27. Neun Jahre später bleibt ihr nur die wahnsinnige unheilbare Wut, die sie noch mit Max verbindet.

Bis Herbst 36 war sie seine Frau gewesen, als er in London Leonora kennenlernte, dieses schöne kleine Biest, in das sich Max sofort verliebte. Ma-Be hasste sie, noch bevor sie sie sah. Ihren Platz überließ sie nicht leichtfertig einer jungen malenden bourgeoise mit dem Namen Carrington, die aufkreuzte, als Max sich gerade nach einer frischen Muse umsah. Er brauchte sie, verbrauchte sie schneller, als er sie malen konnte.

Der Dreckskerl, le salaud! hat sie später im Dôme gefaucht, als sie ihm alles erzählte, und Soutine erschrak vor der Wut, mit der sie Max verfluchte. Sie zitterte, es war, als wollte sie gleich die Tassen greifen und an die Wand schleudern. Und sie erzählte hastig, ohne auf ihn zu achten, sie musste es nur hervorwürgen, ihr tiefes, wutgepeitschtes Elend. Max war mit seiner englischen Eroberung in die Ardèche abgehauen, einmal hatte die gedemütigte Marie-Berthe die Liebenden in ihrem Nest in Saint-Martin d’Ardèche aufgespürt, sie kannte die Gegend gut, ihre Familie kam von dort. Sie tauchte bei der Wirtin Fanfan auf, trank in der lauten Kneipe, fauchte, flehte und flennte. Max war noch einmal zurückgekehrt zu ihr, den ganzen Winter 37/38 war er bei Ma-Be in Paris, ließ seine Anglaise dort unten in der Ardèche allein. Leonora wälzte sich die Qualen der Eifersucht und der Verlassenheit von der Seele, schrieb halb von Sinnen ihren Little Francis, ließ Ma-Be als Amelia auftreten, die ihr, der Schönen, mit einem Hammer den Pferdekopf zertrümmert. Ma-Be hatte sie unter einem Vorwand nach Paris gelockt, wo sich die Rivalinnen in die Haare gerieten, sich schlugen und kratzten wie verrückt gewordene Katzen. Er gehört mir, hast du denn noch immer nicht verstanden? Max ließ es gnädig geschehen und ging im Frühling 38 zu seiner schönen Engländerin zurück in die Ardèche. Ma-Be hatte den Kampf endgültig verloren.

Der Schemel rutscht, ihr fettiges Haar fällt ihr in Strähnen über die Augen, die manchmal zufallen, die Lippen bewegen sich ohne Laut. Soutine sieht es durch den Vorhang der Wimpern, er kann nichts tun für sie, schlummert fort, gewiegt vom wattigen Morphin. Es ist schwierig, die Augen zu öffnen.

Jetzt saß sie so verloren vor ihm, dass er sie hätte malen wollen. Unglückliche Frauen und Kinder ließen ihn zusammenzucken, er erkannte sich in ihnen wieder, da war etwas, was auf ihn übersprang, und war ihr Unglück erst mit dem Daumenballen auf die Leinwand gerieben, war es ungreifbar seins. Aber Ma-Be. Die Surrealen hatten ihre Musen benutzt und weggeworfen wie schmutzige Strümpfe. Unberechenbar, halbverrückt mussten sie sein, Unordnung verbreitend, für ein paar Cocktails zu haben, billige rasende Musen. Er wusste noch, was man sich in den Cafés zuraunte. Bretons Roman mit einer Geistesgestörten fachte alle Phantasien an, seine Nadja, seine schöne Irre! Er faselte laut von ihrer Reinheit, eine Kindfrau, unschuldig und verrucht zugleich, den Papst der Surrealisten elektrisierende Windsbraut. Ma-Be war nur eine aus der Herde, und sie spielte ihre Rolle gern, die flatternde Nähe zum Wahnsinn, die hysterischen Ausbrüche, grellen Kleider, bösen Späße. Sie las ihnen aus der Hand, murmelte Unverständliches, vernebelte den Dadamaxen den Kopf. Dass sie manchmal verzweifelt war und nicht mehr weiterwusste, dass Momente grenzenloser Traurigkeit sie heimsuchten, interessierte keinen.

Sei schön und halt den Mund, sois belle et tais-toi!

Aber Breton ließ seine Nadja fallen, bevor sich das Portal zur Irrenanstalt wieder schloss. Bunte Schmetterlinge des Montparnasse, vom Wahnsinn gerändert.

Und jetzt saß sie ihm gegenüber im Café, ihr Gesicht zuckte nervös, sie log, sie sei fünfundzwanzig, und wusste, dass er wusste, dass sie log. Aber ihre Lüge war schön und voller Verzweiflung. Bleiches Wrack einer gebrochenen, kaputten Muse. Max hatte sie gezwungen, ihr Kind abzutreiben, gestand sie ihm später, es war die reine Metzgerei, une boucherie, die die Abtreiberin für ein paar Francs mit Stricknadeln auf dem Küchentisch anrichtete, sie hatte Monate gebraucht, um sich davon zu erholen. Einmal warf sie sich in die Seine, um zu sterben, doch das Wasser war bitterkalt, sie schwamm ans Ufer und wurde zähneklappernd von Passanten herausgezerrt. Sie verkleidete sich wieder, unmögliche jämmerliche Clownskostüme, versuchte die alten Nummern der faselnden Fee aufzuwärmen. Fragende Mädchenaugen und lächerliche Ponyfransen.

Dem Maler gefiel ihr schluchzender Hass auf jene, die sie betrogen hatten, in ihrer Wut erkannte er seine. Die Surrealen hatte er nie gemocht, ihre Jünger in den Cafés palaverten von Befreiung, magischem Diktat, von irgendwelchen magnetischen Feldern, von der Zwangsjacke, die sie sprengen mussten. Welchen Unsinn haben die Rotonde und das Dôme sich anhören müssen! Wenn der rote Filz Ohren hätte, sich alles hätte merken können … Sie wollten nur den Traum und ihre trüben Spielchen.

Er aber hasste Träume seit seiner Kindheit, nie gab es Trost in ihnen, sie ließen ihn am Morgen gekrümmt und zerschlagen zurück. Nie hatte er schöne Träume gehabt, er misstraute ihnen, den scheinheiligen Unglücksboten. Kosakenstiefel, die im Stechschritt durch sein Atelier hämmerten, glatte schwarze Lederhandschuhe, die zerfetzte Leinwände von der Staffelei rissen, laute Fanfaren, aus denen plötzlich geschossen wurde. Spanisch wurde gesprochen, Mussolinisch, Gitlerdaitsch. Eine Nacht ohne Träume war eine gute Nacht. Die Surrealen liebten das Chaos, aber ein Pogrom hatten sie nie gesehen, die Namen Berditschew, Schitomir, Nikolajew sagten ihnen nichts, sie genossen die Verachtung der bourgeois, aber sie hatten nie in die Wälder fliehen müssen, um die eigene Haut zu retten. Verwöhnte Bürgersöhne, die sich ein paar Portionen Anarchie gönnten. In Deutschland jubelten jetzt dunkle Massen vor einem brüllenden, sich verschluckenden Guignol-Kasper und rissen die Arme hoch. Als er hörte, er sei auch einmal ein Maler gewesen, wollte er ausspucken.

Er musste die Leinwand strafen für die ungewollten Träume. Es war seine Haut, die er abrieb, ritzte, quälte. Rauh und schorfig. Er schlief schlecht, wälzte sich nächtelang wie ein Bär, fiel manchmal in einen groben Tiefschlaf, aus dem er nie wieder aufzutauchen schien. Breton hat er aus der Ferne gesehen, er schien ihm arrogant und überheblich, er wandte ihm den Rücken zu, um ihn nicht sehen zu müssen, starrte in den Aschenbecher. Sie verstanden ihn nicht, was sollten sie mit dem belorussischen Jid, der stumm war wie ein Fisch, verbissen krumme Landschaften malte. Stillleben! Porträts! Das ganze abgelegte Zeug. Max hieß ihr Gott mit den Insekten, Bäumen und Ungeheuern, den gerippten Steinen und grätigen Farnen. Dadamax, Schnabelmax, Loplop. Der Schwätzer, Verführer, Frauenbetörer, den er nicht einmal beneiden konnte. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben.

Dann nahm er Marie-Berthe mit sich nach Hause, sie ließ es geschehen, sagte, sie wolle seine Bilder sehen. Ihre Wut und seine Bedrückung, ihr Elend und seine Verzweiflung über den Krieg und die Besatzer griffen ineinander, sie packten sich bei den Handgelenken. Sollte Mademoiselle Garde aus seinen Schuldträumen zurückkehren, er würde versuchen, es ihr zu erklären. Jetzt war Ma-Be plötzlich da, eine verirrte verrückte Fee, eine furiose Katholikin, wie man es im Milieu ihrer Kindheit war, sie hängte sich goldene Kreuzchen um den Hals, die sie zur ersten Kommunion bekommen hatte, als müsste sie die untreuen Surrealen damit bestrafen, dass sie zum Glauben ihrer Herkunft zurückkehrte, den alle verachtet hatten. Max hatte die Muttergottes gemalt, wie sie das Jesuskind übers Knie legt und mit der Hand ausholt, um seine geröteten Hinterbacken zu klatschen. Breton, Eluard und Max schauen aus der Fensternische zu. Außerdem war ihr Vater irgendein solider französischer Beamter, munkelte man, Verkehrssteuereinnehmer im Ruhestand, und wer weiß, vielleicht könnte man von ihm einmal Hilfe erwarten, warten wir’s ab.

Ma-Be wollte vor lauter Unglück ihm seines austreiben, ihn als ihr trauriges Malertier halten. Sie wollte auch ihm die Kreuze um den Hals hängen, sie faselte von der Erlösung, so wie sie früher den Surrealisten aus der Hand gelesen hatte. Und sie wollte die Erinnerung an einen Schutzengel verscheuchen, an seine Mademoiselle Garde mit ihrem hilflosen deutschen Akzent. Lass das Schuldgefühl, du bist ihr nichts mehr schuldig.

Was willst du, so sind die Zeiten.

Ma-Be sagte nur:

Dein Schutzengel ist interniert, er kommt nicht wieder. Und ein paar Monate später: Dein Schutzengel trägt einen gelben Stern, er könnte dir eh nicht helfen. Hier aber ist Paris, und du brauchst eine ohne Stern. Die Pyrenäen sind weit weg, aber ich bin da, und ich kann dich verstecken.

Sie überzeugte ihn, dass man in diesen verfluchten Zeiten immer einen Engel brauchte, dass sein Gesicht wechseln könne, seine Sprache. Ma-Bes Groll auf Max, seine Verzweiflung über die Besatzer und den Schmerz, der durch die Magenwand kam. Zwei Unglückliche, die sich gegenseitig fesseln, sich zu zweit vereint fühlen gegen die Welt. Die sich gegen beide verschworen hat. Das Elend der verlassenen Marie-Berthe verbündet sich rasch mit Soutines Angst und Schuldgefühl, es ist ihr zusammengerührtes Unglück, das stärker verbindet als Glück. Glück ist keine Lösung, und es gibt schon lange keins mehr in einer vom Gebrüll besetzten Stadt. Ein simples Bett gibt es noch und die Katastrophe der ganzen verdammten Welt. Er nimmt Ma-Be, wie er sie der Einfachheit halber nennt, mit in die Villa Seurat, wo es kalt ist, das Atelier ist nicht beheizbar. Sie sprechen nie mehr von Max.

Sie verkriechen sich in eine Höhle und wühlen ineinander, ihre Zungen verschlingen sich, ihre zitternden Beine, ihr trauriges Geschlecht peitscht das seine. Als ob sich damit das Unglück verscheuchen ließe, das sich in der Welt breit macht und höhnisch in ihren beiden Körpern zu nisten scheint. Sie liebten sich wütend und schluchzend. Vom Regal über ihnen löste sich am ersten Abend ein tönerner Topf, als sie auf den zerrupften Laken keuchend in sich vorstießen, in das grenzenlose Land gottverfluchten Elends.