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Hermann Peter Piwitt

Der Granatapfel

Hermann Peter Piwitt

Der Granatapfel

Roman

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Für Ingrid

Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist.

Johann Strauß, Die Fledermaus, 1874

Offen gesagt, es ist alles gelogen. Geboren bin ich in Razzogloriosa an der Adria, gut. Daran ist nicht zu rütteln. Echt wird auch das Todesdatum sein. Demnächst. Wenn mir nicht noch was dazu einfällt. Aber der Rest, dazwischen? Man will mir ans Leder. Wir haben den Krieg verloren. Aber ein paar Leute meinen, ihn gewonnen zu haben. Und nun rennen sie mit abgesägten Schrotflinten herum, plärren Bella Ciao und wollen ihr Mütchen kühlen. Die reinste Jagdsaison. Steine fliegen über die Mauer in den Park mit Zetteln dran: »Hau ab, alter Sack!« Verirrte Schüsse; man will Wachteln gesehen haben. Als ob es hier je Wachteln gegeben hätte. Raussetzen wollen sie mich, ihren Comandante. Und dann ihre Kommandatura hier aufmachen, mit Stempeln, Nutten und Genickschuß.

Als ob sie nicht alle mitmarschiert wären, damals, solange es noch was zu holen gab! Abessinien, Eritrea, Tunis, Libyen, Dodekanes, Albanien, Somaliland.

Und der General Badoglio immer vorneweg. Aber dann, kaum daß die Cowboys im Land stehn, die Fronten gewechselt. Und die Herren von der ehrenwerten Gesellschaft, die Blüte der Knaste von Palermo bis Sing-Sing, Arm in Arm mit der Army. Chocolate und Coca-Cola. Freiheit und Democracy … – Als ob ich nicht von Anfang an vor dem Duce gewarnt hätte. Ein Emporkömmling. Keine Kultur, keine Taille, keine Rasse. Ein stumpfer Bock. Ohne delicatesse. Aber verbreiten, er habe mehr Frauen gehabt als ich! Wie er das Kinn beim Redenschwingen gereckt hat, a noi!, unser Schlachtruf – alles hatte er von mir. Und dann die Posse in Libyen mit dem Schwert des Islam; kaum, daß er sich mit dem Prügel auf dem Pferd hat halten können, vor den Kameras.

Hat man ihn deshalb gleich umbringen und an den Beinen aufhängen müssen mit seiner Schickse? Sogar im Geburtshaus in Razzogloriosa sind sie seinerzeit aufgekreuzt; das muß man ihnen lassen: Ciano in vollem Wichs, der Marschall Balbo mit seinen ewigen Wickelgamaschen, der halbe Großrat – alle sollen sie im Blauen Salon gestanden und die Fresken an der Decke bestaunt haben. Der Brand von Troja mit dem flüchtenden Äneas plus Vater und Sohn. Der Raub der Proserpina. Die Frucht- und Blattgewinde drumrum, mit den Putten, Schwänen und Doggen drin … Jeder nahm ein Auge voll davon mit. Vom Mobiliar dürfte sonst nicht mehr viel am alten Platz gewesen sein. Einiges haben sie später wieder eingesammelt, die fleißigen Ameisen von der Stiftung. Truhen, Bilder, Betten, sogar das alte Kohlenbecken, das immer so qualmte. Kein Iglu ist so kalt wie ein italienisches Mietshaus im Winter. Und natürlich das eiserne Bettgestell in der Schlafnische, wo ich zur Welt kam. Denn, um die Wahrheit zu sagen: Ich bin nicht auf dem Meer geboren. Auch nicht auf der Brigantine »Irene«. Ich weiß, es war meine Idee. Aber man wird ja wohl noch einen Scherz machen dürfen? Also nichts da: Von wegen »die Adria, das mare nostrum selbst ging schwanger mit ihm«. Es waren auch keine Einsiedler aus den Abruzzen die Vorfahren. Von wegen »sie geißelten sich, bis das Blut kam. Sie aßen Schnee und pflückten sich die Adler vom Himmel.« Sie kratzten auch nicht ihr Siegel in die Felsen mit »dem Nagel, den Sant’ Elena vom Heiligen Kreuz rettete«. Sie gingen von Haus zu Haus und stopften den Leuten die Matratzen nach; das war es. Aber was soll man machen. Mythen, Legenden, der ganze Schwindel. Die Leute sind ganz wild auf sowas. Wenn ich an die Bildergeschichten denke, die über mich in Umlauf sind. Taumaturga: Der Liebling der Frauen. Der Freund des Volkes. Der Mann, der den Roten Baron in der Luft zerbröselt hätte, hätte er sich nur einmal in den italienischen Luftraum gewagt … Ich hau mir ja selbst ab und zu so ein Heftchen hinter die Linse, zusammen mit »Zorro« und »Buffalo Bill«. Ich kann mich gut gemalt sehen … Daß ich den Leutchen rechtzeitig hätte die Augen öffnen sollen? Hat sich was. Eher hätten sie den Spielverderber erschlagen als von ihren Illusionen gelassen.

Um bei der Wahrheit zu bleiben, ich sagte es schon: Ich bin geboren in Razzogloriosa an der Adria, im Jahr als die königlich-piemontesischen Truppen die mit ihnen verbündeten Republikaner unter Garibaldi bei Aspromonte, Kalabrien, entwaffneten. Schließlich, auch im Freiheitskrieg muß Ordnung herrschen, sagte der Vater. Am Tag meiner Geburt war die halbe Stadt auf den Beinen, um ihm, dem Don Francesco Taumaturga, zu seinem Erben zu gratulieren. Die Rapagnettas, so reich an Kindern wie an Gütern arm, umarmten den stolzen Vater, ihren leiblichen Sohn, und brachten Trinksprüche aus. In seinem Bratenrock walzte Don Antonio, der Großvater, herum, stolz, daß sein Adoptivsohn es endlich zu einem Stammhalter gebracht hatte. »Lu Gabriele« hieß das Lieblingsschiff seiner kleinen Frachtflotte. Es brachte Gewürze von Dalmatien an die Küste. Nach ihm, so war beschlossen, sollte das Neugeborene heißen. Nach ihm und Johannes dem Täufer. Ich glaube, das paßte ihm sehr. Herübergekommen aus Sulmona auch die Benedictis, von der Mutter her. Don Filippo voran trug eine Lade mit vierhundert Silberpiastern, die er mir, Münze für Münze, in die Windeln stopfte.

Ein Erstgeborener aus den Familien »Wundertäter« und »Gebenedeit«: Wenn da nicht Segen drauflag … Und dann Donna Rosalba und Donna Maria, die Tanten: mit Amuletten behängten sie das Kind. Säckchen voll Salz, Brotkrumen und Getreidekörnern sollten die Kraft zu Höherem verleihen. Haarbüschel aus Dachshaar im Rücken vor Krankheit und bösem Blick schützen. Ich denke, ich wog gegen Abend gut das Doppelte, mit all dem Lametta. Fünfzehn Fässer Wein waren am Ende leergemacht. Und zwischen all dem Volk und Verwandten die Schwestern Anna und Elvira, in rote Mieder geschnürt, vergessen wie zwei voraufgegangene Fehlstarts nach dem ersten geglückten.

Zur Taufe trugen sie mich nach San Cetteo, dem Schutzpatron der Seefahrer. Verpackt in achtmal gefaltete blaue Seide, die eine dritte Tante geduldig mit Blumenmustern bestickt hatte. Und dann bis in den Morgen hinein Feuerwerk, als gelte es San Cetteo selbst zu feiern.

Daß ich es mindestens soweit bringen würde wie San Cetteo, davon waren sie alle überzeugt. Besonders der Vater. Mein Vater war ein großer, starkleibiger Mann mit dichtem, schwarzen Haar. Er trug den Kopf stets so hoch, daß sich sein Nacken über dem steifen Kragen zweimal wulstete. Mit seinem mächtigen, schwarzen Schnauzer sah er aus wie der Seelefant auf den alten Kupfern seiner »Naturgeschichte« im Bücherschrank. Den Spitzbart trug er wie alle damals, die auf den König setzten, sosehr ihr Herz noch für Garibaldi schlug. Unter dem Kraut seines Moustache hing die Unterlippe fleischig herab. Die Kraft seiner listigen, kleinen Augen war ganz und gar dort versammelt, wo er sie für seine Geschäfte brauchte: außen, auf dem Halbrund der Netzhaut; und wen er damit ansah, dem schloß sich der Mund, der eben noch über ihn hatte lästern wollen.

Zu lästern gab es einiges. Seine Geschäfte waren weitläufig und verzweigt, wenn auch damals noch in Maßen und für ihn selbst überschaubar. Von Beruf Geometer hatte er mit der Mitgift seiner Frau Grundstücke billig an sich bringen können, auf denen gebaut werden sollte. Er hatte vor der Stadt eine Bauernwirtschaft erworben und mit Hilfe seines Stiefvaters Ambitionen im Stadtrat. Am obersten Knopf seiner enggeknöpften Samtweste hing die Uhrenkette. Wenn er das massiv goldene Stück aus der Tasche zog, ein bißchen am Rädchen drehte, danach aufblickte und in die Runde lachte, hatte er im voraus jeden Kredit. Und nur wer über die breiten, hellgetönten Revers und die schwarzen Samtkragen auf seinen sündteuren Gehröcken hätte ins Grübeln kommen mögen, hätte im Dandy den Buffone, im Buffone den Bankrotteur von morgen erkannt.

Ich liebte ihn. Und er liebte mich, nach seiner Art. Er aß gut, trank stark, konnte wie Polyphem zwölf Stunden durchschlafen, und wenn er gegen Morgen mit schweren Füßen von seinen Frauengeschichten heimkam, war es, als käme das Haus selbst nach Hause.

Ich liebte auch meine Mutter. Aber was war ihre Liebe wert, immer verfügbar, wie sie war? Sie hatten beide mit fünfzehn geheiratet. Und weil Geld auf beiden Seiten war, hatte niemand etwas dagegen gehabt, daß die Herzen sprachen. Aber nach ein paar Jahren merkten sie, daß sie wenig mehr verband als die Kinder. Und die blieben nun ihr. Vom Leben.

Anfangs hatten sie sich noch gemeinsam bemacht wegen ihrem einzigen, ihrem Schmetterling. Nacht für Nacht müssen sie auf Trab gewesen sein beim kleinsten Muckser, den ich tat. Aber eines Mannes Feld ist die weite Welt. Und am Ende blieb ihr nichts als das, wofür sie sich ohnehin bestimmt sah: die Frömmigkeit und die Tugend.

In Rom hätte sie sich einen Galan, einen Flüsterer, einen Cicisbeo nehmen können. Hier, in der Provinz, blieb ihr als Liebhaber nur ihr Bambino Santissimo. Und um das zerriß sie sich fast, zusammen mit den Tanten, der Großmutter und den Schwestern, die schnell spitzgekriegt hatten, wie es ihnen die Gunst des Hausherrn erhielt, wenn sie dessen Stammhalter ihre Jugend opferten. Ich war ihr Faustpfand. Sie beugten sich über meinen Schnippi: »Seht nur, an dem wird noch so manche Frau ihre Freude haben.« Einmal, ich war schon größer, kam abends Tante Rosalba ans Bett. Ihr Nachthemd stand oben offen, und ihre Brüste sanken aus dem Ausschnitt weich auf mein Gesicht herab, während sie mich küßte. Sie kicherte, als sei ihr ein Mißgeschick passiert. Sie nestelte sich zu. Sie seufzte. Manchmal hörte ich sie mit dem Vater herumrascheln. Ich war wirklich in besten Händen. Und ich müßte lügen, wollte ich behaupten, daß ich es nicht genoß.

Arme, gute Mutter. Immer, wenn ich an dich zurückdenke, sehe ich dich so sitzen: am Fenster nach vorn zur Straße hin, in deinem wollseidenen, schwarzen Kleid, wie es die Bauersfrauen trugen, strickend oder mit irgendeinem Weißzeug beschäftigt, und manchmal von deiner Arbeit aufsehend, über das geschwungene Eisengitter des Balkons, über die Geranien, hinaus, nach draußen, wo das Leben unten an dir vorbeiging. Ihr Gesicht wurde mit den Jahren immer länger. Und ihre Wangen sanken, die Mundwinkel mit sich ziehend, auf die Halskrause herab, nicht schwer von Genuß wie bei ihrem Mann, sondern erschlafft von dessen Abwesenheit. Manchmal schienen ihre Augen Sturm auszubrüten. Mütter kamen an die Tür, beschimpften sie. Daß ihr Mann sich gefälligst um die Kinder kümmern solle, die er mit ihren Töchtern gezeugt habe. Schlampe nannten sie sie. Ob sie nicht besser aufpassen könne auf ihren Signor Schwanz? Ob es ihr am Ende wohl noch passe?

Sie steckte es weg. Und wenn überhaupt Leben in ihren Blick kam, so war es eine Regung der Sorge, ausgebootet in ein dünnes Lächeln. Der Sorge um ihren Sohn.

Gute Mama. Ich habe dich immer verehrt. Aber eben so, wie man einen Heiligen liebt: Man spricht ein Gebet und geht seiner Wege. Er selbst hat wenig davon. In seiner Nische.

Ihre Liebe war wie Salz und Mehl, das immer im Haus ist. Wie es dahin kommt, fragt niemand. Da war mein Vater aus anderem Stoff. Wann immer er sich mal blicken ließ, es wurde ein Fest daraus. Er nahm mich hoch und küßte mich ab. Er warf mich in die Luft und fing mich wieder auf. Er schwang mich herum, bis mir schwindlig wurde. Er blickte in die Runde der Frauen: »Ich hoffe, er hat mich gut vertreten?«

Als ich größer war, spielten wir »La Morra«: Hellwach wie ein Fechter die Hand des Gegners im Auge behalten, dann plötzlich ein paar Finger ausstrecken und als erster die Zahl aller Finger, die im Spiel waren, nennen, lernte ich schnell. Und er ließ mich gewinnen, bis ich besser war als er. Er war fett. Und manchmal schüttelten ihn Wutausbrüche. Dann lief er im ganzen Gesicht rot an … Am ganzen Körper, womöglich. Rauch schien aus seinen Poren zu kommen. Es roch nach verbrannter Haut … Aber an seiner Hand über die Strandpromenade oder über den Corso gehen und die neugierigen und verliebten Blicke der Damen auf ihn gerichtet sehen, auf seine starken Schultern, sein breites Daherschreiten, das war wie ein Auftritt mit dem König selbst.

Er hatte nicht die Bohne Kultur. Das bißchen, was er außer seinen Geschäften im Kopf hatte, hatte er aus Almanachen und Bauernkalendern. Aber auf seinen Knien sitzen und ihn von Napoleon erzählen hören, seinen Tabak riechen oder das Parfum, das er am Kragen, am Hals mit nach Hause gebracht hatte und dann wieder mitnahm, und mit sich die Sehnsucht nach den Abenteuern, die er draußen bestand: Das war nicht das Salz und nicht das Mehl, das war die Pasta selbst.

Was für ein Futter für Träume. Für sich sein, ohne alleingelassen zu sein, wenn er dann wieder fort war. Sich aufgehoben wissen in verlassenen Zimmern. Die Frauen unten in der Küche, fern, aber immer in Rufweite. Den ganzen Tag räumten sie herum. Sie kochten die Wäsche und behandelten Kragen, Manschetten und Chemisetts mit Reisstärke; die Seidenkleider zogen sie durch Zuckerwasser, daß sie auch richtig raschelten, sie bläuten die Weißsachen, mangelten und plätteten. Sie seihten den Saft von Brombeeren und Trauben durch Leinwand und ließen ihn auf kleinem Feuer, bis er eindickte. Sie salzten und säuerten Fleisch ein, Geflügel und Gurken. Sie kochten Kirschen, Orangen und Aprikosen zu Marmelade, ein Pfund Obst auf ein Pfund Zucker, verschlossen mit ausgelassenem Fett die Krüge mit dem Pflaumenmus und schützten, wenn ein Gewitter kam, die Milch vor dem Sauerwerden mit Wachstuch. Die kompliziertesten Kleider, Berge von Atlas und Seide, mit Spitzen, Bandschleifen, Rüschen und Rosetten dran, nähten sie selbst. Sie verstanden sogar Eis zu machen, für Fruchtsäfte und Sorbets … Jeden Tag war das Kupfer zu scheuern und der Teig durch die Maschine zu drehen, für die Pasta. Aber das einzige, was davon zum Kind nach oben drang, waren Geräusche. Zank, Schnattern und manchmal ein Lachen. Das Klirren des Geschirrs und der Gong der Töpfe. Das Quietschen der Mangel. Das Klatschen des Wassers, wenn ein Eimer ausgegossen wurde: ein Nest aus vertrauten Stimmen und Lauten, von dem man weg in Phantasien fliegen konnte, immer sicher, bei der Rückkehr weich zu landen.

Auf dem Fußboden lag ich, auf dem Rücken, und an der Zimmerdecke stand eine Stadt in Flammen. Ein Krieger, ein Kind an der Hand, trug einen Alten auf dem Rücken aus dem Feuer. In einem Triumphwagen entführte ein wildblickender Mann eine Frau. Ein Dichter, der Dachs hieß, eben noch am Königshof geehrt, den Lorbeer um die Stirn – nun krank im Hospital unter Irren. Maria, winzig in einem Kreis aus Licht, vor den prächtig geschmückten Oberpriester hintretend, dem eine Mondsichel vor der Stirn prangte. Die Madonna, groß, die Füße auf Mond und Schlange setzend. Und noch einmal sie, von Engeln in den Himmel getragen. Morgens, nach einer Nacht mit Fieber, lag ich in die Dämmerung hinein wach, horchte auf das Gehen der Standuhr und sah dem Kreisen der Fliegen, dem kleinen Wehen der Vorhänge zu, bevor das Licht durchbrach und draußen, auf dem Markt, die Karren anrollten und die Händler anfingen ihren Kram auszusingen. Es gab einen Betstuhl im Kinderzimmer, der benutzt wurde ohne Widerspruch. Es gab San Sebastian an der Wand, einen Strahlenkranz von Pfeilen in der Brust, lächelnd, verzückt und nackt bis auf ein bißchen Tuch um die Lenden. Und im Blauen Salon der König auf einem weißen und auf einem schwarzen Pferd Garibaldi, in seinen Poncho gehüllt, von einem geeinten Italien träumend.

Nichts von den langen Tagen am Hafen, bei den Fischern, vom Schwimmen in der leichten Brandung. Nichts vom Herumkraxeln auf Bourbonischen Kanonen, von Keilereien mit den Fischerjungen, vom ersten Steifen, den wir uns zeigten. Jeder Junge wächst so auf. Oder so ähnlich. Schluß davon.

Meine Mutter hätte es gern gesehen, wäre ich Notar oder Arzt geworden. Da hätte sie mich noch ein bißchen um sich gehabt. Im Konvikt in Chieti oder in der Militärschule in Aquila. Wäre es nach ihrem Kopf gegangen, einiges wäre der Menschheit erspart geblieben. Aber Amulette und Dachshaare wollten es anders. Und der Vater hatte Größeres mit mir vor. Das Beste sollte gerade gut genug sein für Sohnemann. Der Hauslehrer, Maestro Crispi, hatte ihm meine ersten Schreibversuche gezeigt. »Bewahren Sie die Papiere auf; sie sind ein Schatz.« Und auf dem Bahnhof drückte er mir die Hand: Ehre sollte ich meinem Land, meiner Familie und ihm machen. In dieser Reihenfolge. Und mein Vater sagte: »Was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker.«

Er hatte gut reden. Das Pellicani in Florenz, die Eliteschule, die sie für mich ausgesucht hatten, war ein Massengrab erster Klasse. Zu Hause war ich die Nummer eins gewesen. Jetzt war ich die Nummer dreiundfünfzig, hatte das Bett Nummer elf und in der Klasse die Bank Nummer acht. Morgens um halb sieben jagten uns die Jesuiten mit einem Trommelwirbel hoch und abends um halb zehn mit der Trompete ins Bett. Dazwischen Beten, Büffeln und Sport. Damit wir abends auch ja wie tot umfielen und nicht noch aufs Wichsen kamen. In den ersten Nächten lag ich im Dunkeln wach und betrachtete meine linke Hand, die mir die Mutter zum Abschied geküßt hatte. Unvorstellbar, sie zu besudeln. Auf der Stelle wäre der Blitz in sie gefahren. Zum Glück war ich Rechtshänder. Und gegen Heimweh half der tägliche Drill. Es gab noch ein anderes Problem: Die Bürschchen aus der Toskana äfften meinen Akzent nach. A li schinque me sche mise a lette … Sie glaubten, sie seien was Besseres. Daß sie es mit dem Kleinsten machen könnten, dachten sie sich. Aber sie sollten mich kennenlernen. Ich war nicht umsonst wie Achill unter Weibern aufgewachsen; mit dem Büffel von Razzo als Vater. Am Schulportal gab es eine Inschrift: Missus est Angelus Gabriel. »Vergiß es nie!« hatte er gesagt, als er mich ablieferte. Ich war eine Erbse, ein Winzling. Aber der Tag der Bewährung kam: Viermal in der Woche hatte es Fleischklöße gegeben, einen ganzen Monat lang. Das war zuviel. Ich blies zum Sturm auf die Küche. Töpfe, Pfannen, Geschirr, alles ging zu Bruch. Ich riß den Bratspieß aus der Wand: »Vorwärts, Männer, mir nach!« Zehn Tage Karzer waren die Quittung für den Anstifter. »Hört nicht auf den bösen Erzengel!« drohten die Schwarzärsche und wackelten mit den gerollten Krempen an ihren Hüten. Mir konnte es egal sein. Hauptsache, ich hatte den Schmalzlocken gezeigt, mit wem sie es zu tun hatten. Von nun an fraßen sie mir aus der Hand.

Man muß etwas riskieren, wenn man klein und winzig ist. Das kann schiefgehen. Aber gewöhnlich haben die Kleinen das Überraschungsmoment für sich. Niemand nimmt sie für voll; und schon ist es passiert. Napoleon, Federico von Preußen, der Große, waren Stifte; und den Duce hätte man senkrecht rollen können. Lange Leute sind was zum Ausstopfen, für Wachtparaden. Will man es im Leben zu etwas bringen, ist es gut, wenn das Blut nicht zu lange Wege gehen muß; und Kopf und Schwanz nah beieinander sind.

Filomusi war so ein Lulatsch mit großen Knochen. Wir hatten ihn einmal beim Wichsen erwischt, und ein paar Schlaumeier wollten ihm eine Lehre erteilen. Er war stark, und sie dachten, sie könnten ihn im Schlaf überraschen. Erst ein paar mit dem Gürtel drüber. Und dann grüne Seife zum Saufen … So malten sie es sich aus.

Das war sehr dumm. Denn schließlich wichsten wir alle. Aber wichsen ist eine Sünde. Nicht wegen dem Keuschheitsgebot, sondern weil es Kapitulation bedeutet. Die Kapitulation des Jagdinstinkts, der Eroberungslust. Es bedeutet hinnehmen, daß Frauen nicht jederzeit und jedem überall zur Verfügung stehen. Gut, das ist so. Aber sich damit abfinden, wäre der Untergang unserer Kultur, unserer Rasse, unserer Nation, äh?

Eh wir zur Tat schritten, wußte ich es besser. Ich rekrutierte Filomusi zu meinem persönlichen Schutz. Als Leibwache sozusagen. Nötig war das nicht mehr. Wir waren längst ein verschworener Haufen. Und in den wenigen Freistunden führte ich die Knilche mal als Lord Byron nach Missolunghi, mal als Napoleon nach Marengo, mal als Garibaldi nach Sizilien und weiter gegen Rom. Wir schworen, die Menschen die Liebe zum Vaterland zu lehren und die Feinde Italiens auf den Tod zu hassen. Wir bliesen uns auf. Allein mit Filomusi jagte ich hinterm Haus das Corps Oudinot bei Civitavecchia auseinander. Zum Gianicolo wurde eine kleine Aufschüttung am Refektorium bestimmt. Wir Garibaldianer hielten sie bis zum bitteren Ende; und als es ein paar Papisten und Franzosen nicht reichte, daß wir wie Helden starben, und sie noch Leichen fleddern wollten, bekamen sie von Filomusi ganz außer der Reihe was vor den Kopf.

Unsere Montur tat ein übriges, uns heiß zu machen. Fesche Dolmans, mit Schnurverschlüssen, karmesinrote und silberne Litzen vorn und auf den Ärmeln. Und am Gürtel eine blitzende Spange. Einmal salutierten Soldaten vor uns. Sie hielten uns für Offiziere. Der Fall zog Kreise, bis vors Kriegsministerium. Und die Stimmung unter uns war danach: gehoben. Nur Filomusi maulte herum: »Die armen Soldaten«, sagte er. »Wie stehen sie jetzt da …« Vierzig Jahre später, an der Nordostfront, traf ich ihn per Zufall wieder. Er war ein guter Junge. Aber viel zu lang für den Krieg. Sein Kopf ragte, selbst eingezogen, über jeden Schützengraben hinaus. Er starb bei Caporetto. Kopfschuß. Er war kräftig und intelligent; aber immer einen Tick zuviel gegrübelt. Und immer kalte Füße. Er litt daran wie andere an Masern. Das einzige Mittel dagegen war, daß man ihm einen Witz erzählte. Dann lachte er, und es wurde ihm prompt warm. »Erzähl mir einen Witz«, sagte er und zeigte auf seine bloßen Füße. Sie waren weiß wie ein Knochen. Am liebsten hatte er den von der Wachtelwurst. Er konnte einfach nicht genug davon kriegen … Im Ernst, was hatte ihn der Seelenfrieden dieser Muskoten in Florenz zu interessieren! Dreckfresser, die sie waren. Und wann soll man sich sonst freuen, wenn nicht dann, wenn man jemanden hat dumm aussehen lassen? Soll man vielleicht warten, bis der andere am Zug ist? Keiner von den Pelikanen nahm Filomusi ernst. Er war der geborene Verlierer. Er hatte einfach nicht die richtige Moral.

Anders ihr Anführer. Zugegeben, im nachhinein sieht alles anders aus. Tote, viele Tote, Leichenberge, ich gebe zu. Aber so sind sie nun mal, die Leute: Sie wollen Führer, die ihren Anteil an der Beute kennen. Den Löwenanteil. Da verzichten sie schon mal auf dies und das. Ein Bein. Einen Kopf. Mit Glück auf die Kriegsanleihe. Hauptsache, sie wissen, woran sie sind.

Die Selbstlosen dagegen, die blassen Typen, sie bringen alles durcheinander. Sie zerstören die Spielregeln. ›Ab ins Reliquiar mit ihnen. Daß man sie unter Kontrolle hat!‹ Und die Knilche vom Pellicani dachten da geradeso wie ich.

Glück, daß ich ihnen auch in der Schule über war. Englisch, Französisch, Klavierspielen und Zeichnen, Gymnastik und Tanz, dazu die klassischen Fächer – alles geritzt. Und am Schluß die bekannte Latte von Diplomen. »Der Mensch ist ein Wolf«, exzerpierte ich ihnen aus dem Plato. »Ich glaube nicht an das höchste Wesen; denn es schuf sich den Menschen, um sich daran zu erfreuen, wie er leidet.« Sie sperrten die Mäuler auf. Ich zitierte ihnen die scharfen Stellen bei Horaz und Ovid, die, die in ihren Ausgaben gestrichen waren, auswendig. Von Abenteuern mit unerhörten Frauen erzählte ich ihnen. Von einem Kampf bis aufs Messer mit einer betrunkenen Prostituierten. Von verzweifelten Gefechten mit finster blickenden Zuhältern in Bordellen und dunklen Alleen. Und sie spürten: Das war’s. Hier war ein Mann, auf den ließ sich bauen.

Was sie nicht spürten war, wie sehr sie mir auf den Keks gingen. Sie wunderten sich, wenn auf Ausflügen der Erste in der Schule, ihr Abruzzenwolf, noch hinter den Letzten hertrottete. Was wußten sie, diese geborenen Krämer, Kannegießer und Kanzlisten, was wußten sie von den sanften Hügeln um Razzogloriosa? Was von den kleinen Schluchten voll Thymian und Ginster? Was von den Aufläufen am Hafen, wenn die Kutter nach einer Nacht mit Sturm heimkamen, wenn der Fisch auf der Mole in den Körben zappelte und die Gören überall mit anfassen wollten und jedem auf den Füßen standen? Was ahnten sie von San Sebastian, im Strahlenkranz der Pfeile blutend, im Schlafzimmer? Was von Ronsino, dem alten Pferd, mit dem ich in den Ferien durch die Wälder streifte? »Wer nie die Minze gerochen hat am Hang, wird die Madonna nicht sehen ein Leben lang.« Meine Mutter war groß in Sprüchen. Warum habe ich diesen bis heute nicht vergessen?

Nachts, wenn die Pelikane schliefen, schraubte ich den Ölbehälter von meiner Funzel los, schlich von Lampe zu Lampe, leerte die Ölreste hinein und las bis Mitternacht. Michelangelo, Bonaparte, Byron, Baudelaire. Das war ein anderer Umgang. Beatrice, Dalilah, Lukrezia, Salome, die büßende Magdalena, die eine Brust entblößt über den Totenkopf gebeugt. Die Sphinx mit dem Körper eines Leoparden, die Brüste gereckt. Die Kunst. Und die Künste der Jahrtausende. Sätze. Marmor. Kanonen. Schlachten und menschliche Abgründe. Da wurde die Welt ins reine gebracht.

Und doch: Gewesen, gewesen! Eine Heldenzeit abgelagert in Museen, in Bibliotheken archiviert, halbaufgefressen von Bücherwurm und Milbe …

Es gab eine naturgeschichtliche Sammlung im Pellicani. Und ich hatte mir heimlich den Schlüssel dafür besorgt. Nachmittage ließen sich da verträumen zwischen Vitrinen mit ausgestopften Affen, Katzen, Eulen und Ibissen. Ein Marder in einem Hühnerstall im Sprung auf die Henne; andere wild herumflatternd, andere schon totgebissen. Blut und Federn lagen herum. Alles ganz wie im Leben. Ein Bussard mit ausgebreiteten Schwingen, einen Maulwurf in den Fängen. Ich nahm die Bälge von ihren Podesten, sah in die lidlosen Kunstaugen, ertastete unterm Fell, unter dem Federkleid die steifen Körper, forschte mit den Fingern den Krallen nach, der Wunde im Fell, dem womöglich verklebten Blut. Ein Kabinett nach dem andern, Vitrine um Vitrine ließ sich öffnen. Ich spürte die Angst, entdeckt zu werden, als Ziehen in den Lenden und schlich doch weiter, ein kleiner Pharao der letzten Dynastie unter so vielen Mumien. Auf einem Schrank lag ein Knochen, poliert, mattschimmernd wie Elfenbein und von allen Präparaten klein genug, um ihn mitgehen zu lassen. In dem Moment ging die Schulglocke. Den Knochen in ein Taschentuch gewickelt im Schoß, saß ich in der Bank. Ich hatte gestohlen. Aber die Beute deshalb loslassen? Kein Gedanke. Überhaupt kein Gedanke; nur die Lust, ihn zu berühren, zu befingern. Glatt fühlte er sich an. Nicht trocken, stumpf, kalkig, überhaupt nicht wie ein Knochen. Nein, fast wie lebendig, so als schwitze er von selbst statt von meiner Hand. Der Tutor deklamierte aus dem »Paradiso«. »O Jungfrau, Mutter, Tochter deines Sohnes, / Gering und über jeder Kreatur / Du vorbestimmtes Ziel des ewigen Thrones …« Ich drückte mir den Knochen gegen die Hose, schob ihn mir in den Schritt. Ich hatte auf einmal einen Ständer, daß es nicht mehr zum Aushalten war. Und dann, ohne den Schwarzarsch vorn aus den Augen zu lassen, im Vollgefühl einer faustdicken, fantastischen, rundum gelungenen Sünde schob ich in die Hose ab.

Pelikane ernähren ihre Kinder mit dem eigenen Blut. Jahre, nachdem ich mit dem Schulterblatt eines Pelikans mir einen runtergeholt hatte, stand ich mit Clemenza Coccolini im Etruskischen Museum in Florenz. Sie war die Tochter eines alten Colonels im Ruhestand. Er war ein dicker Mann, der winters immer mit einem Päckchen marrons glacés und sommers mit Cremeschnitten in der Tasche herumlief. Wenn ich ihn begrüßen mußte, wechselte er den Spazierstock mit dem silbernen Knauf von der Rechten in die Linke und gab mir eine ewig klebrige Hand.

Es hatte andere Flammen vor Clemenza gegeben. Ich stellte ihnen mit orientalischen Nächten im Kopf nach, nannte sie Ida, Lilla, Dalilah, Splendore; aber mit ihr war es anders. Sie hatte große, dunkle Augen, runde, kühle Arme, die sie gern zeigte, und jenes üppige Gardemaß, das kleine Männer neben sich so nötig haben wie eine Diva einen Bankier. Lange blieben wir stumm stehen vor der etruskischen Chimäre. Das bräunlich graue, bronzene Ungeheuer schien aus dem Mund noch immer Flammen zu speien. Ich steckte ihm die Hand ins Maul und zog sie zurück, so als hätte ich mich verbrannt. Clemenza griff danach: »Ist sein Mund noch immer heiß? Erzähl mir, brennt er noch immer?«

»Und deiner?« flüsterte ich. »Laß mich fühlen, wie deiner brennt.« Und dann küßte ich sie, die um zehn Jahre Ältere, zwischen Tonkrügen, Knochen und Statuen.

Zum erstenmal war mir das Leben ins Netz gelaufen, in der einzigen Gestalt, in der es zu genießen war: in der einer Frau. Und in dem einzigen Gehege, wo es ihnen erlaubt war, sich frei zu fühlen, damals: in der toten Welt der Künste und ihrer verklebten Heldengeschichte, aufgebahrt wie sie war in Kirchen und Museen, Ruinen und Läden für Antiquitäten. Das traf sich gut. Denn es war mein Revier.

Ah, die Jahre vor dem »Großen Fieber« in Rom. Wenn ich an sie denke.

Wer damals nicht jung war, hat nie gelebt. In stählernen Krinolinen regte sich das Maschinenzeitalter. Und alle Träume hatten die Augen hinten. Und alle Ideale die Motten.

Es ist Ostern in Rom, und alles in der Stadt spricht deutsch oder englisch oder radebrecht beides. Die Museen und Kirchen sind voll, und kein Gedanke, auch nur eine Minute da zu zweit allein sein zu können. Voll ist auch der Corso, ein rasselndes und hufeklapperndes Kommen und Gehen von Reitern, Droschken und Equipagen, in denen die Damen ihre neuesten Pariser Toiletten, die Herren den englischen Schnitt spazierenfahren, der eben in Mode ist. Blankgeputzt sind jetzt Sattelzeug und Gestänge, daß sie in der Sonne blitzen können. Die kleinen Glocken an den Hälsen klingeln im Trab; und auf dem Rückenriemen der Pferde, zur Verzierung, hier ein Hirschkopf mit Geweih, ein Delphin, dort Fortuna, Leier, Kanonenlauf, der Erzengel Michael oder noch einmal ein springender Gaul. Über den Pincio läßt sich der Dritte Stand den Kinderwagen mit dem Neugeborenen schieben, bestaunt die Kanonen von 1870 und legt ein Päuschen ein, wenn die Militärkapelle aufzieht.