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Sabine Peters

Feuerfreund

Sabine Peters

Feuerfreund

Roman

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Die Gestalten in diesem Buch sind nicht identisch mit lebenden oder toten Menschen.

Bilder

Schneetreiben im Rheiderland. Die schwerfälligen Flügelschläge eines Graureihers. Scharen von Blässgänsen auf den verschneiten Äckern. Zugefrorene Kanäle. Der Schriftsteller Rupert fährt frühmorgens mit dem 2 CV zur Bahnstation nach Leer. Er will seinen Verlag besuchen, steigt in Oldenburg, Bremen und Hamburg um, dann geht es durch die DDR bis Westberlin. Dezember ’86.

Die Studentin Marie aus Hamburg ist in diesen Wochen Praktikantin im Verlag. Der Lektor lädt sie ein, sie könne am Gespräch mit Rupert teilnehmen, aber er warnt. Bücher sind das Eine. Das Andere sind die Autoren selbst, sie wollen Vorschüsse und liefern Krisen statt Texte.

Ein verhangener Tag. Rupert ist beizeiten da. Schneeflocken liegen auf seinem kurzgeschnittenen Haar und auf dem schwarzblauen Wintermantel. Schnurrbart, schmale Brille. Hüpfende Nasenflügel. Freundlichkeiten werden ausgetauscht.

Tage nach dem Besuch sein kurzer zorniger Brief, nur an Marie geht ein erstaunter Gruß. Lachend gibt ihr der Lektor den Bogen, so sind sie. Halten sich am Schwächsten fest, an einer jungen kleinen Frau.

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Ein großer Raum, der sich leert. Hamburg-Barmbek, eine öffentliche Bibliothek, die Lesung ist vorbei. Stühle werden gestapelt. Am Tisch, den Kopf auf die Hand gestützt, sitzt Rupert und raucht. Er trägt ein Tweedjackett, Cordhosen, einen wollenen Schlips. Neben ihm am Boden ein schwarzweiß karierter Koffer. Er hört Thieß zu, der mit erhobenem Finger etwas erklärt. Marie daneben, eine Zigarette drehend.

Rupert hatte sie in Berlin vermutet. Mit einigen anderen gehen sie spät abends essen. März ’87.

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Ein Verlagsraum. Eine Stadtbücherei. Ein Zimmer in Hamburg, eine Brücke in Westberlin, ein Zugabteil der Deutschen Reichsbahn. Ein paar Begegnungen. Er ist neunundfünfzig, sie ist sechsundzwanzig Jahre alt.

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Neben dem Olivenbaum ein altes Haus, unverputzt, aus Steinen gelegt. Davor auf einer schmalen Bank sitzt Rupert. Eine Frau treibt eine Ziegenherde über den ginsterbewachsenen Hügel, ein Hund springt um sie herum. Quinta do Espinheiro, Dornenhof, im Landesinneren Portugals. Rupert hat sich hierher zurückgezogen, um ein Buch zu Ende zu schreiben. Die Briefe, die er nach Deutschland schickt, gehen auch an Marie. Sie hatten sich im Frühjahr erkannt. So sagt man es heute nicht mehr.

Er lebt ein halbes Jahr lang in der Quinta. In dieser Zeit beendet sie ihr Studium. Seinen Briefen legt er immer etwas bei. Einen Schmetterlingsflügel, eine Blüte, ein Stück Schlangenhaut, eine Zigarette Marke português SUAVE, oder den Zahn einer Ziege. Einmal wickelt Marie aus einem Feigenblatt ein Kettchen mit Kunststoffherz, das beschriftet ist. Pluma, Feder.

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Ein rotes Backsteinhaus im Rheiderland mit tiefgezogenem Dach, ein Landarbeiterkaten am schilf- und weidenbestandenen Kanal. Hier sagt man, am Tief. Rupert kniet auf einem Brett in dem noch fast kahlen Blumenbeet und schaufelt. Im Fensterbord des Salons leuchten Geranien, die hat er angeschafft in der Erinnerung an seine polnischdeutsche Mutter. Kinderchen, sagte sie in den dreißiger Jahren dem Sohn und der Tochter, Geranien sind Blumen für kleine Leute. Das Zimmer, das Rupert Salon nennt, hat neun Quadratmeter und eine Schrägwand. Die Vormieter haben einen abgelaufenen Auslegeteppich dagelassen. Der Raum ist möbliert mit Sachen vom Trödel. Rupert lag viele Stunden auf der Couch und grübelte, ob es richtig war, mit Marie zurück zu ziehen in das alte Haus, das er zuvor mit Ingrid bewohnt hatte. Tagelang schwieg er. Dann hat er sich an die Arbeit gemacht, den kleinen Acker umgegraben, der zum Grundstück gehört. Jetzt sieht er bei den Blumenbeeten nach dem Rechten. Die Taschen seiner grünen Hosen sind mit hellem Leinenband abgenäht. Die Taschenränder werden schnell mürbe, erträgt immer eine Lupe, ein Taschenmesser, eine Packung Tempo und ein Taschentuch aus Stoff bei sich, den Hausschlüssel und den für den 2 CV, auch einen Lieblingsstein, und was man aufliest, je nach Jahreszeit. Immer noch ist eine Esskastanie aus der Quinta bei ihm. Vor dem Schlafengehen leert er seine Hosentaschen auf dem Küchentisch aus. Marie sagt jeden Abend gern: Hast wieder allerhand Frösche dabei.

Er kniet im Blumenbeet, neben sich einen schwarzen Putzeimer vom Hauseigentümer, Maurer Fokko. Rupert sticht einen Löwenzahn aus.

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Leute um den Küchentisch, unter dem Bild der portugiesischen Malerin Lino, auf dem wilde Gänse sausen, es fliegen auch Paprika, Kürbis und Pflaumen. Der wachstuchgedeckte Tisch, die abgegessenen Teller, Kartoffelschalen und Grätenreste. Rupert, auf einem Schulstuhl an der Wand kippelnd, hält die Hand vor den Mund. Drei Freunde sitzen ins grüne Sofa gequetscht, in der Mitte raucht Thieß, rechts spielt Hans mit einem Zahnstocher, links schreibt sich Franz was auf. Das halbe Gesicht von Marie, die Tee eingießt. Eine Hand greift in die Schale mit den Kluntjes, ein in den Nacken zurückgelegter Schattenkopf an der Wand scheint den Himmel offen zu sehen.

Am Telefon hat Rupert Freunde aus Leer, Bordesholm und Hamburg angeschrien, sie müssten kommen.

Frühjahr ’89, Hungerstreik der RAF-Gefangenen, die um Zusammenlegung kämpfen. Rupert wechselt seit vielen Jahren mit ihnen Briefe, besucht sie gelegentlich in den Knästen. Was heißt Genossen, und was heißt Verantwortung? Was tun wir? Thieß sagt, du kannst machen, was du willst, es wird nie mehr als eine Schlagzeile bewirken.

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De drie Gezusters, die drei Geschwister, Leuchtreklame vor dem Lieblingscafé in der Altstadt von Groningen. An einem der Tische Marie und Rupert. Vor ihnen zwei rot schimmernde Gläser Campari. Er reibt sich seine Nasenflügel. Sie, kurz geschoren, lacht ihn an. Vater und Sohn, fragt der Tischnachbar, bevor er die Aufnahme macht. September ’89.

Rupert hat Marie gerade einen Brief gegeben. Immer noch lägen dreiunddreißig Jahre zwischen ihnen. Sie wisse, er habe zwei Ehen und Anderes hinter sich. Er werde jederzeit weggehen können. Wahrscheinlich werde er es sein, der sie eines Tages verlasse. In dem Brief stehen noch ein paar Zeilen.

Sie gabeln bei den drei Gezusters Weinbergschnecken aus den Gehäusen, tunken sie in die Kräutersoße, gegenseitig füttern sie sich. Sie sitzen in der Herbstsonne, sie sehen hell aus. Braut und Bräutigam.

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Auf dem Weg nach Rostock tuckert der 2 CV zwischen Trabis, Wartburgs, Skodas. Rupert nimmt es einstweilen gelassen, Tempo ist mehr was für Blöde, sagt er. Ein Land ohne Stacheldraht, das ist meine Freude. Ich hab nicht nur bleikalt den Klassenkampf im Kopf. Und doch, es zeichnet sich was ab. Wen wollt ihr, dass ich euch losgebe, den Sozialismus oder die Barbarei? Aufjauchzend rufen die Belogenen, Betrogenen, Erschöpften und Verletzten: Die Barbarei! Du hättest Prediger werden können, sagt Marie, und er: Ich weiß, die DDR ist ökonomisch, politisch und moralisch bankrott.

Sie laufen zu Fuß durch Rostock. Wilde Gebrauchtwagenlager mit Volkswagen und Audis. Neben schön restaurierten historischen Häusern die vielen verrotteten Neubauten. Abgeblätterte und schrundige Fassaden, pappverklebte Fenster, krautüberwucherte Schutthalden. Ein Angetrunkener in Dschungelhemd und Buschhose erkennt in ihnen Westdeutsche. Alles zu haben, sagt er und zeigt in die Runde. Alles Schrott. Nur unsere Menschen, er feixt, alles einfache herzliche Menschen! Sind im Preis mit inbegriffen!

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Herbst 1990. Auf dem Tisch im Salon liegt die mit Tulpenmuster bestickte Decke, die sie mitbrachten von einer Reise nach Alençon, Ruperts Sohn Friedo lebt dort. Der Tisch ist gedeckt: Ein Stapel Belegexemplare vom ersten Buch, das Marie geschrieben hat. Der Silberbecher mit Levkojen aus dem Garten. Eine neue schwarzrote Chinakladde, ein Füllfederhalter und ein kleines Tintenfass. Eine Flasche Rotwein. Abends wird Rupert Filet braten, und er hat hinter Maries Rücken Ilse und Gregor aus Leer eingeladen. Als sie vormittags beklommen das Paket des Verlags öffnete, fragte er, ob er ihr helfen dürfe. So hat er den Tisch gedeckt, hat seine Überraschungen zu den Büchern gelegt. Er, der ihr erster Leser ist, schlägt ein Buch auf, zitiert einen Satz und fügt hinzu: Siehst du mal. Also weiter, sagt er, an die nächste Arbeit, aber vergiss nicht, dich über dein Buch zu freuen. Als 1988 sein neuer Roman erschien, nach jahrelanger Pause, in der er Dokumentarfilme gedreht und Lyrik geschrieben hatte, war er so angespannt, dass Marie ihn allein ließ in seinem Zimmer. Dort tütete er die Belegexemplare ein, adressierte sie. Justizvollzugsanstalt Celle, Aichach, Lübeck, Köln-Ossendorf, Stuttgart-Stammheim. Gleich nachmittags fuhr er mit dem Rad zur Dorfpost nach Ditzumerverlaat, um sie loszuschicken.

Jetzt, als Maries erstes Buch erscheint, nimmt er ein Exemplar vom Stapel und bittet sie, ihm was reinzuschreiben.

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Wie immer hat er ihr den Frühstückstee ans Bett gebracht. Draußen wirbeln Schneeflocken. Er sagt, er könne ihren Geburtstag heute nicht mit ihr feiern. Seine Stimme wackelt. Der zweite Golfkrieg hat begonnen. Tagsüber hängen sie am Radio. Abends sagt er, als sie zusammensitzen: Erzähl mir was Schönes.

An den bald folgenden Friedensdemonstrationen nimmt er nicht teil. Wann hätten Demonstrationen je was bewirkt. Er wisse das noch aus der Zeit der ersten Ostermärsche. Die DDR, das sei eine andere Geschichte.

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Er setzt spät abends die Pelzmütze auf, um draußen am Tief vom Steg aus ins Wasser zu pinkeln. Wasser zu Wasser, sagt er, horcht nach den Enten im Schilf. Dann holt er Holz und Briketts aus dem Stall. In der Küche schlägt er zwei Briketts in ein Stück feuchtes Zeitungspapier ein, er legt das Päckchen auf die Ofenglut. Es war im Stall wieder ein Wispern bei den Kohlen, ein Gedränge, sagt er, der ein Feuerfreund ist. Die Briketts streiten sich flüsternd, wer zuerst ins Haus darf. Sie tauschen heimlich ihre Plätze. Wir wissen, die Dinge haben ihr Eigenleben. Meine Briketts fürchten den Ofen nicht. Das Feuer ist ihr alter Freund.

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arm am stock im arm. Marie und Rupert sind eingeladen, einen Text für eine Anthologie zum Thema Heiraten zu schreiben. Sie möchten von sich selbst nichts sagen. Sie stellen sich ein Paar vor, das miteinander alt geworden ist. Ihr Text ist eine Gemeinschaftsarbeit, ein Spiel. Sie haben ihre Sätze so lange miteinander verschränkt, bis sie selbst nicht mehr wissen, wo fing der eine an, wo machte der andere weiter.

arm am stock im arm. immer noch teilen sie brot und bett, in langer flanellnacht liegen sie flach. zwei flügellose wissen nicht, sind vierundsiebzig und achtzig. was noch, meinst du, wird werden, wissen nicht, schlaf. immer noch tappen sie weiter gemeinsam. nicht viele wörter. der mundwinkel verrät, die tirade hält einen vortrag. gegen sibirische kälte ruft er, sie knurrt dagegen frische luft, jagt ihn mit quark. beide schlagen noch immer täglich canasta, noch immer ist er der größte, die sie ist. sonst doch nicht fünfmal gemeinsame töchter von sauerland bis neapel. sonst doch nicht alles geteilt, das kleine geld, acht mal verschiedene arbeit vom nachtwächter bis zum lehrer. sie muss seine flöhe von wegen genie ausbaden, im gegenteil erbt sie von der mutter das schnattern, in seiner hand zittert der rotstift. entschieden schließlich die beiden alten, schließlich die frau und der mann. in einer dämmerung sind sie, sieh mal, arm in arm am stock, ein bisschen verfehlt am platz sind sie beide. in der kaufzone bisschen fremd, die beiden halten sich fest an einem einzigen stock. sie schlurfen dahin. und lieben, allerdings. ihr zuckerverrühren im tee, ihr kauen im fleisch der gans, wir sind eine arbeit, die hört nicht auf. eine kleine zeit durch die große welt, auf hühneraugen schnauzen die liebenden angst umeinander, gedankenverloren sind sie in unterschiedlich beleuchteten bildern, wissen nicht, sie sind eingenäht in die älter werdende haut. alles würden sie wieder genauso machen. nicht ringtausch mit hottentotten. stiller geworden, bröteln sie eigen das kleine brot, in ihrer geheimnissprache noch immer und immer mehr. wir geben nicht auf. wir fangen noch einmal an. wo wir im elend sind. wo fliegen wir. zwei leise stimmen, die beiden alten.

So denken Marie und Rupert lang hin in die Zukunft.

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Der Stall: Auf dem Regal leere Blumentöpfe, ein ausrangierter Wasserkessel und der Kasten mit dem Schuhputzzeug. Ein Glas mit Pinseln. Tapetenrollen. Auf dem obersten Brett die letzten Äpfel vom Vorjahr, meist schon so mürbe, dass man sie nur noch den Amseln hinlegen kann, täglich einen, aufgeschnitten. Im Schweinekoben Schneeschaufel, Besen, Harke, Hacke, aufgestapelte Pappkartons, und die Körbe fürs Holz. Unter dem spinnverwobenen Fenster ein Holzstoß, davor zwei Hollandräder. An der gekalkten Wand über den aufgestapelten Briketts lehnen zwei hölzerne Leitern. Federballschläger, Seile und Gurte hängen am Balken unter der Decke. Bei geöffneter Stalltür sitzt Rupert in seiner dicken grauen Strickjacke mit dickem Schal und dicker Wolldecke im ausrangierten dürren Korbsessel neben der Holzkiste, auf der alles Nötige steht, sein weißblau gemusterter Teebecher, die Tabaksdose, Streichhölzer und Aschenbecher. Er hat den Sessel so gerückt, dass er den weißverschneiten Pflaumenbaum im Auge hat, unter dem eine Amsel den heutigen Apfel aushöhlt. Kurze Schnabelhiebe, Kitsche und Schale lässt sie liegen. Rupert liest Zeitung. Wieder mal wollen er und Marie das Rauchen reduzieren. So haben sie entschieden, für jede Zigarette aus dem Haus zu gehen. Ständig treffen sie sich jetzt im Stall und grüßen sich mit einer Floskel, einem flosculum, einem Blümchen: Schiffe, die sich nachts begegnen, behaupten sie in falscher Überraschung. So viel Zeitung lesen beide nie wie in den Wochen als Wenigraucher. Sie werden krank, sie brechen das Stallprojekt ab.

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Rupert sitzt am Gartentisch unter dem Pflaumenbaum und enthülst Erbsen, seine Hand ist verbunden. Dupuytrensche Erkrankung, die Sehnen in der Hand verkürzten sich, er musste operiert werden. Das gelang nicht gut. Ein Stück des Ringfingers wurde amputiert. Rupert und Marie haben es vor einigen Tagen im Hammrich begraben. Nur langsam, unter wochenlangen Schmerzen werden seine Finger jetzt wieder beweglich. Er spielt mit den Erbsen, als wären sie Sand in der Hand. Zwischendurch trinkt er Tee aus seinem Glas. Seinen Teebecher hat er in einem Streit mit Marie auf den Küchenboden geworfen.

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Sie haben die Weihnachtstage in Hamburg verbracht. Familientage: Bei Maries Schwester auch der Vater, Doktor Phil, der nicht gut Luft bekommt und über seine Angst hinweg die Geschichte der alten Römer vorträgt. Neben ihm die besorgte Mutter, die vorgibt, Lukrez liege ihr am Herzen.

Bei Ruperts Tochter Judith sind zwei ihrer Brüder, Schwägerinnen, mehrere kleine Kinder.

In engen Wohnungen Gedränge, Musik, freundliches Schreien und gestresstes, immer zerren alle aneinander, immer meinen alle es gut. Warum werden Familien gegründet? Wer kann so viele römische Dichter, Stoffelefanten und Unglück wollen? Guatemala, sagte Rupert mehrere Male in sich hinein. Ein Fluchtpunkt, ein Drohwort. In Guatemala wäre er unerreichbar.

Der Zug Richtung Norddeich-Mole bleibt auf offener Strecke eine Stunde lang stehen, betriebsbedingt, heißt es lapidar. Zwischendurch geht das Licht aus, sie sitzen im Dunkeln, sie sind hungrig, durstig, müde. Grelles Stampfen aus dem Kopfhörer eines Jugendlichen ihnen gegenüber. Schließlich steigen sie in Leer aus dem überfüllten Zug. Ihre Koffer sind voller Geschenke, sie wiegen schwer. Im Parkhaus steht der 2 CV. Schweigend fahren sie aus der Stadt, über die Emsbrücke. Was soll aus den Kindern werden, Rupert knurrt. Sein Sohn Nico plant einen neuen Dokumentarfilm, Rupert hat ihm skeptisch zugehört. Jetzt sagt er: Der weiß nicht, worauf er sich einlässt. Der hat nichts auf der Naht als gute Ideen. Ich hatte es beim Filmemachen früher leichter. Ich kann ihm nicht helfen.

Die Auto-Heizung funktioniert nicht mehr. Kälte, knurrende Mägen, Erschöpfung. Rupert legt Marie die Hand aufs Knie. Bald, Grauchen, sind wir zu Hause, sagt er. Meiner warten die Brüder und die Klause, deiner aber duftendes Heu.

Volksschule Hamburg-Ahrensburg, um 1935. Ruperts Klasse führte ein Theaterstück auf, er war ein Mönch, sein bester Freund ein Esel. Einträchtig zogen sie miteinander über die improvisierte Bühne. Rupert hatte damals Mühe, sich die beiden Sätze einzuprägen. Sie sitzen bis heute. Trostworte, die teilt er mit Marie. Sie legt ihre Hand auf seine. Bald, Grauchen, sind wir zu Hause.

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Im vereinigten Berlin am Wannsee, eine Villa aus der Gründerzeit. Schon früh sprach Zuckmayer von einer imitierten Ritterburg, auch später wurde freudig gehöhnt: Verkleinerter Renaissance-Palast. Pralinenschachtel mit überinstrumentiertem Turm. Seit vielen Jahren schon ist hier das Literarische Colloquium zu Hause, Schriftsteller aus aller Welt sind gerne hier zu Gast. Marie darf für ein halbes Jahr im Turmzimmer wohnen. Rupert fährt sie nach Berlin. Als sie das Gepäck ins Haus raufbringen wollen, bleiben sie im Aufzug stecken. Das Bimmeln des Notrufs dringt nicht bis ins Nebengebäude. Sie rufen und schreien. Sie schlagen sich die Fäuste wund. Sie werden befreit.

Rupert geht an den See runter, dort sitzt ein anderer Stipendiat, Konrad aus Köln. Marie winkt den beiden vom Turm aus. Rupert sagt ihr später: Konrad ist gesprächig wie ein Grashalm. Den möchte ich kennenlernen.

Briefe gehen hin und her zwischen Berlin und dem Rheiderland. Rupert schreibt, er tue nichts. Er mag das Wort Depression nicht leiden.

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Fußstapfen auf dem vereisten und dick zugeschneiten Tief, das durch den Hammrich führt. Marie und Rupert gehen Arm in Arm. Sie werfen einen einzigen schmalen Schatten. Das Schilf am Ufer steht gelb erstarrt. Am Horizont der Hof von Bronsema, umstanden von kahlen Buchen. Hoch am Himmel ein Zug Nonnengänse. Kein Vieh auf den Weiden, kein Reh lässt sich sehen, kein Hase. Täglich bittet Marie ihren Mann, mit ihr rauszugehen. Er sagt, ich mag mich nicht sehen lassen. Wer sieht uns hier? Er winkt ab. Man kann schreiben und kann es lassen. Man kann kochen und kann es lassen. So wie auch Spazierengehen, Schnee fegen, Aufstehen und Sich-Hinlegen.

Auf den Wegen aber, die er dann doch mit ihr macht, nimmt er Marie in den Arm, wie sie ihn.

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In der Küche der Quinta do Espinheiro das steinerne Fensterbrett, dünne Scheiben, bröckelnder Kitt, ein vom Holzwurm zerfressenes Fensterkreuz. Neben einem Wasserglas, in dem gelber und weißer Ginster steht, räkelt sich im gefilterten Sonnenlicht eine Eidechse. Rupert nennt sie seinen grüngoldenen Bischof, er füttert sie mit Insekten. Einmal war er mit Marie zusammen in der Quinta, jetzt ist er hier auf unbestimmte Zeit allein. Er braucht die Rückzüge. Selbst das Rheiderland ist nicht abgelegen genug, selbst die Nachbarskinder wirken manchmal auf ihn verblendet, verkommen. Erst ein paar Jahre alt sind sie, sagt er, und schon kaputtgemacht. Er will darüber nicht diskutieren. Er weiß, nicht einmal Portugal ist eine heile Welt. Auch die Familie Lino, zu deren Landbesitz der baufällige Dornenhof gehört, träumt von reicherem Leben. Die aufgegebene Quinta scheint unberührt, ein Schutzraum. Viele Dachziegel sind zerfallen, bei Regen tropft es in der Küche und im zweiten Zimmer. Rupert stellt überall Eimer und Schüsseln auf. Er dirigiert die Regenmusik. Marie liest seine Briefe. Sie wusste nicht, dass man eifersüchtig auf einen Ort sein kann.

Er kommt viel früher zurück nach Hause, als sie dachte. Es geht ihm gut. Der schwarzweiß karierte Koffer ist voller Mitbringsel: Steine, Federn, Blumensamen. Quittenbrot, eine in ein feuchtes Tuch eingeschlagene Feigenpflanze, vinho tinto. Ein Kuhhorn, eine Flasche mit Olivenöl, selbstgemacht von Familie Lino. Und eine Tonbandaufnahme, die Stimme des Pirols.

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Der Schnäppchenmarkt NIX-WIE-HIN im Landflecken Bunde. Auf den Regalen liegen in kleinen Plastikkörben Billigartikel für fünfzig Pfennig. Rupert rätselt, was hinter solchem Geschäft für schlaue Köpfe stecken mögen. Sie haben den traurigen Mut, selbst hier im Rheiderland zu verkaufen, was an jedem Wegrand zu finden ist. Heb einen Fichtenzweig auf, drei Kastanien, etwas Laub. Besprühe das Ganze mit Goldstaub, gib es in eine Tüte aus Zellophan und nenne es herbstliche Dekoration.

Rupert hat von einem der Regale einen geflochtenen Mexikanerhut genommen und aufgesetzt, die Krempe ist kühn nach oben geschwungen. Mit beiden Händen wühlt er in einem Plastikkorb voller Glitzerkram, strahlend. Mehr, mehr, ruft er so laut, dass andere Kunden sich nach ihm umdrehen.

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Am Dollart im Watt steht der Kieckkasten. Vom äußersten Deich aus führt ein von Naturschützern angelegter Weg dorthin. Priele sind mit drahtbespannten Stegen überbrückt, es geht durch wucherndes Schilf. Je nach Wetter und Jahreszeit federnder Boden oder spritzender Matsch, so dass man auch mit Gummistiefeln kaum durchkommt. Der Kieckkasten auf der niederländischen Seite des Rheiderlands: Ein drei Meter hohes Gerüst mit einer Wendeltreppe aus Stahlstreben, die führt nach oben zu einer kleinen Veranda, dann in eine Kammer aus Holz. In allen Wänden Sehschlitze. Man tritt aus der Tageshelle in den dämmrigen Raum, öffnet die schmalen Klappen und setzt sich auf eine der Bänke. Marie und Rupert nebeneinander, vor ihnen auf der Ablage die Thermosflasche. Rupert sieht mit dem Fernglas raus. Immer zuerst der Eindruck von Stille über dem Watt. Das Schweigen am Wasser, am verschilften Ufer. Wenige Reusen, längst ist das Fischen hier nur noch ein Nebenverdienst. In den Binsen einige vermoderte und tangbesetzte Pfähle, früher Schlickfänger zur Landgewinnung. Noch absolute Ebbe, noch das Rieseln des ablaufenden Wassers, oder schon Flut? Vom Turm aus lässt sich das nicht sagen. Nachher, später, werden Rupert und Marie auf dem Weg über die Stege sehen, wohin das Wasser fließt, oder ob es gerade ganz still steht, für einen lang gedehnten Moment.

Wasser und Land in dauerndem Übergang. Ziehen und Schieben. Im rhythmischen Wechsel von Ebbe und Flut wird ständig die Landschaft neu erschaffen. Marie und Rupert sehen über das fette, schwarz schimmernde Watt. Ziehende Wolken werfen ihre Schatten. Die Stille öffnet sich. Das Schweigen beginnt zu rufen. Im Kieckkasten wird kaum gesprochen. Draußen fliegt ein Entenpaar flach schnatternd, weiter oben kreisen kreischend Sturm- und Lachmöwen. Der Graureiher ist ein Einzelgänger, steht weit ab vom Gezwitscher kleinerer nicht gut erkennbarer Vögel, die hüpfende Fleckchen sind. Der Graureiher, wie mit der Schere geschnitten, ein scharfer Riss im Gegenlicht. Ein lauerndes Denkmal. Jetzt stößt er zu, der scharfe Schnabelhieb, das Winden seines Halses, dann wieder völlige Reglosigkeit, schließlich sein ungelenker, schwerfällig wirkender Abflug. Verschiedenartig knarrende Töne kommen von Haubentauchern. Limosa limosa, langschnäbliger hochbeiniger Schnepfenvogel, die Brust rostrot, der Bauch mit dunklen Querflecken. Weißer Schwanz mit breiter schwarzer Endbinde. Marie übernimmt das Fernglas. Fliegende Uferschnepfen kann man erkennen am weißen Längsband in den Flügeln. Eine landet im Watt, geht langsam, zieht die Füße betont hoch. Greta, Greta. Ihr gellender Ruf hat den Vögeln hier an der Küste den Frauennamen gegeben. Die Gretas stochern im weichen Schlick. Austernfischer schwimmen in einem Priel, tauchen ab, und wieder auf an unerwarteter Stelle. Das glänzende fette Watt ist voll Vogelspuren, wie ein rätselhaftes Schnittmuster. Tunk-tunk, machen die Teichhühner. Darüber Austernfischer, ihr hohes kewik, kewik, kwik, kwirr. Marie und Rupert werden Vögel. Greta, Greta.

Bis die Rückenschmerzen kommen, bis die Kälte beide hochtreibt. Bevor sie gehen, schließen sie die schmalen Klappen mit den darüber angebrachten Brettchen gegen den Wind. Der Raum ist wieder verdunkelt.

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Franz und Hans, Marie und Rupert schieben und ziehen ein aufgebocktes Ruderboot, außen rot, innen blau, den schmalen Fußweg am Tief entlang. Kippelige Angelegenheit. Zwischen Brennnesseln und Schilf am Ufer behaupten sich neuerdings kleine Flecken mit Margeriten, und Marie ist stolz auf einen Weidenbaum, den sie gepflanzt hat.

Kühe grasen auf der anderen Seite des Tiefs, Federvieh läuft zwischen ihnen herum, und zwei Ferkel.

Franz wird seine Datscha am Bad Zwischenahner Meer abschaffen und fragte, ob Rupert das Boot übernehmen wolle. Nach kurzem Spritzen und Platschen liegt jetzt das große Geschenk im Wasser, leise schaukelnd. Zu viert trinken sie Tee im Garten, bevor sie die Jungferntour machen wollen. Aber dann haben Hans und Franz es plötzlich eilig. Rupert und Marie werden allein losrudern. Doch im Boot steht Wasser, knöchelhoch.

Ein Sommergewitter zieht auf, Donner und Blitz. Es schüttet.

Das Wasser im Boot steigt an. Marie und Rupert wüten hemmungslos. Franz weiß nicht, wohin mit seinem Schrott, das Boot ist leck. So war das nicht gemeint. Er hält sie beide für blöde, stellt seinen Müll bei ihnen ab, wie soll man ein vollgelaufenes Boot an Land hieven. Eher ertrinkt man beim Versuch der Bergung. Selbst wenn das gelingt, vielleicht mit Hilfe von Bronsemas Trecker, später muss man dann alles in Kleinteile sägen und trocknen, um das giftig lackierte Holz schließlich im Ofen zu verfeuern und an den Dämpfen zu ersticken. Unverschämtheit, Heimtücke und Niedertracht, mit einem alten Mann und einer schwachen Frau so umzugehen.

Einen Tag später kommt Thieß aus Bordesholm vorbei. In Ruperts Gummistiefeln geht er zum Steg, mit einer kleinen Blechkanne schöpft er das große Boot geduldig leer. Holz lebt, sagt er. Wenn so ein Ding lange an Land liegt, läuft es im Wasser erstmal voll, bis sich die Poren wieder schließen.

Sie rudern bis Ditzum, kaufen Eis, sitzen am Hafen. Auf eine Postkarte zeichnen sie Wellen, Walfontainen und ein bemanntes Boot, sie schreiben, lieber Franz.

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Den ganzen Tag über Regen. Unablässig rinnen Tropfen an den Fensterscheiben entlang, ziehen Bahnen, lösen sich auf in anderen Tropfen. Beharrlich fallen Tropfen in die Pfützen, werfen Blasen und bilden Kreise. Kleines Geräusch, das eine eindringliche Stille hörbar macht. Alle Blüten sind so dicht wie möglich verschlossen. Keine andere Bewegung als das Regnen scheint es zu geben. Am frühen Abend reißt der Himmel auf. Jetzt erst scheint die Zeit wieder weiterzugehen. Im Tief quaken die Frösche. Rupert steht vor dem Blumenbeet. Er fasst die regenschweren Rosenblüten zwischen Daumen und Zeigefinger, er schüttelt sacht die Tropfen ab.

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Die Operation der vergrößerten Prostata. Es gibt wenig Erfahrungsberichte, wie es danach weitergeht. Rupert ist seit ein paar Tagen aus dem Krankenhaus zurück zu Hause.

Im Bett miteinander verflochten, Lust und Glück. Wenn sie beieinander bleiben, wird Marie kein Kind bekommen. Sie müssen künftig nicht mehr von Verhütung sprechen. Adoption wird kein Thema.

Sei froh, dass du nie schwanger warst, sagt er später manchmal, was soll aus Kindern werden. Sie dreht jedes Mal den Kopf weg, auch wenn sie nicht denkt, ein Mensch wird vollständig erst durch ein Kind.

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Zwei Gartentische unterm Pflaumenbaum. Friedo aus Alençon ist mit seiner Frau Marguerite und den drei Kindern gekommen, wohnt ein paar Meter weiter in einer Ferienwohnung.

Verständigungsschwierigkeiten. Der Sohn übersetzt. Seine Kinder wollen das Boot ausprobieren, können nicht schwimmen, so wenig wie Friedos besorgte Frau. In der Sonne glitzert das Tief. Harmlos schaukelt das Boot. Was macht man mit kleinen französischen Enkeln, um nicht immer nur non zu rufen oder attention? Überall lauern Gefahren, sei es oben an der Straße, auf der ganz unverhofft ein Trecker eilig um die Kurve rumpelt, sei es das Wasser, sei es der Stall mit Sägen und Äxten.

So schlägt Rupert nach der ersten Bootspartie für den kommenden Tag einen Ausflug ins Emsland vor, im abgetrockneten Torfmoor könnten die Kinder sich müde spielen, später würden sie dort picknicken.

Heißer schattenloser Spätsommertag. Als alle verschwitzt und erschöpft sind vom Toben, die Erwachsenen noch mehr vom Reden, als sie kleben von Schweiß und vergossenem Saft, als sie nichts wie zurück nach Hause wollen, springt Ruperts 2 CV nicht an. Friedo zieht am Abschleppseil den Vater zurück bis ins Rheiderland. Motorenlärm. Hitze. Müdigkeit. Dreimal steigen die Kinder von einem Auto ins andere. Schließlich wimmern sie nur noch, j’ai faim, moi aussi, sind wir bald da. Non. Never ever, sagt Friedo, sagt Rupert.

Aber dann sind sie zu Haus, erleichtert über den Schatten unterm Pflaumenbaum, über die Stille, den frischen Tee. Ein Nachbarskind kommt und lässt sich nieder, auch Fokkos Tochter langweilt sich zu Hause. Die Kinder wollen miteinander spielen, schön, dafür müssen sie keine Sprache teilen. Nur darf der Ball nicht ins Wasser fallen. Nur darf der kleine Jacques aus Alençon ihm nicht ahnungslos hinterherspringen. Nach der Rettung gibt es trockene Kleider, schick übergroß.

Von der Straße kommt ein junges Paar den Weg runter. Ruperts jüngster Sohn Florian mit seiner Freundin, ein Überraschungsbesuch, heimlich abgesprochen mit dem Halbbruder aus Ruperts erster Ehe. Allseitige Begrüßungen, großes Hallo. Im Tief lachen die Frösche. Rupert und Marie flüchten ins Haus, in die uneinsehbare Schlafkammer im hintersten Winkel. Sie stürzen sich in die Arme. Sie küssen sich wild. Auch dieser Tag wird mal enden, beschwören sie sich. Sie kochen Abendessen für neun Leute. Sie mögen alle, die da sind.

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Nach der gemeinsamen Bohnenernte mit den Nachbarn Fokko und Janette. Rupert und Marie putzen im Garten ihren Anteil, drei Eimer, sie reden mit der alten Kneipenwirtin Grete, die wieder nach ihrer Katze sucht. Dann dibbern sie weiter.

Er frage sich, wer er allein für sich selbst sei, ohne den dauernden Austausch mit allen anderen.

Sie wisse nicht, wen er mit allen anderen meine.

Er habe immer wieder die eigene Zeit in Verstecken gebraucht, aber es sei ihm zu weit, in die Quinta zu fahren.

Sie frage sich, ob sie einige Zeit bei Konrad und seiner Freundin in Köln leben solle.

Er könne ihr Reden vom Sollen nicht hören. Es ginge darum, was sie dort machen wolle, und dies hier sei ihr Zuhause auch.

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Draußen ist alles schwarz und weiß. Der Schnee so hoch gefallen, dass man den Weg zum Stall, zu Holz, Kohlen und Ascheimer zweimal am Tag freischaufeln muss. Schwarz und weiß der Pflaumenbaum im Garten, der Holunder und die Weiden und Kastanien am Tief. Ohne das wehende grünbunte Laub, reduziert auf die bloße scharfe Kontur des Stammes, der Äste und Zweige, ist jeder Baum ein fremdes kompliziertes Schriftzeichen.