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Ute Frevert
Gefühlspolitik

Ute Frevert

Gefühlspolitik

Friedrich II. als
Herr über die Herzen?

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Inhalt

I.   Gefühlspolitik »einst« und jetzt

Eine Anekdote – Drei Geschichten – What’s new? – Die emotionale Wende – Der König als Gefühlspolitiker – Moderne Gefühlspolitik – Definitionen – Anschauungen – Politische Kommunikation als Gefühlsmanagement – Zustimmung und Fügsamkeit – Medien des Emotionalen – Tränen lügen nicht – Politik/Theater – Bürgerliches Trauerspiel und Herrschaftskritik – Idealisierungen – Die Liebe eines Volkes

II.   Formierungen des Gemüts: Die Gefühlserziehung eines Königs

HonnêtetéSensibilité – Friedrich als homme sensible? – Tugend und Laster der Eroberung – Fegefeuer der Gefühle: Stoa versus Epikur in fatalen Zeiten – Egoismus oder Mitleid – Kann man ein Volk lieben? – Der Fürst als Vater – Gehorsame Maschinen – Der Fürst als impulsion – Wahre und falsche Gefühle – Töne und Stimmungen

III.   Régner sur les cœurs: Gefühlspolitische Praktiken

Liebe statt Furcht – Schein oder Sein – Wovon man nicht reden kann – Der König legt Hand an – Bei den Soldaten – Bittschriften – Schlesische Gunsterweisungen – Advokatendienste – Solennitäten, die die Sinne rühren – Huldigungen – Der königliche Hut – Erhabenheit

IV.   Ob Untertanen ihren König lieben können? Die Perspektive der Bürger

Überlieferungen und ihre Probleme – Herrschaftskommunikation, zweigleisig – Zeitungsschreiber und Schriftsteller – Gesungene Lieder – Die Karschin – Wir männlichen Dichter – Vorteile der Panegyrik – Devotionalien und ihre Produzenten – Noch einmal: Zeremonialdinge und Solennitäten – Der Schmerz des Bäckermeisters – Die Wollust der Bürger – Spiegelungen – Brotgesänge – Patriotismus oder … – … fritzische Gesinnung? – Perspektivenwechsel – Die Produktion der Affecten – Risiken und Chancen des Enthusiasmus – Die schweigende Mehrheit – Der tote König

V.   Widersprüche und Zukunftsentwürfe

Britische Kritik – Technologien der Macht – Patriotismus horizontal/vertikal – Die Verletzlichkeit des Königs – Europäische Gemeinsamkeiten und Unterschiede – Der König als Mensch und Person – Projektionen und Mahnungen – Eine neue Semantik

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

I.   Gefühlspolitik »einst« und jetzt

Eine Anekdote

»Einst« in Leubusch, »eine Meile bei Brieg«, das heute Brzeg heißt. Friedrich II. ist auf Revuereise. Wie in jedem Jahr besucht er die schlesische Provinz, die er 1740, im ersten Jahr seiner Regierung, überfallen, im Handstreich erobert und annektiert hat. Er erkundigt sich nach Handel und Wandel, spricht mit Landräten, Bürgermeistern und Steuerräten. Im Dorf Leubusch tritt eine Frau auf ihn zu. Sie hat ein dringendes Anliegen: Ihr Sohn soll zum Militär. Als Witwe, erklärt sie dem König, brauche sie den Sohn aber als Arbeitskraft daheim. Die Frau redet schnell, und sie redet polnisch, vielleicht auch das regionale, mit deutschen Einsprengseln versetzte Wasserpolnisch. Friedrich reagiert ungehalten: »Scheert Euch – ich verstehe Euren Mischmasch nicht!« Doch die Bittstellerin lässt sich nicht abspeisen. Sie nimmt all ihren Mut und ihre Deutschkenntnisse zusammen und weist den Monarchen zurecht: »Wenn Ihr wullt sein König unser, müßt sich lern’n pulsch.« Das macht Eindruck: Friedrich winkt einen Dolmetscher herbei, geht der Sache nach – und gibt den reklamierten Sohn frei.1

Drei Geschichten

In dieser Anekdote, einer von Tausenden aus dem Leben des ›großen‹ Königs, bündeln sich viele Geschichten. In einer geht es um die Landnahme einer eroberten Provinz und den Umgang mit ihrer »Mischmasch«-Bevölkerung (wobei sich das Mischmasch nicht nur auf die Sprache bezieht, sondern auch auf die Religionszugehörigkeit: halb protestantisch, halb katholisch). Eine andere handelt von der Beziehung zwischen Friedrich und seinen Untertanen: von seiner Sichtbarkeit und Zugänglichkeit, von ihrer Unerschrockenheit und Chuzpe. Und eine dritte Geschichte ließe sich erzählen über diejenigen, die diese und andere Anekdoten gehört, nacherzählt, aufgeschrieben, publiziert haben, aus verschiedenen Beweggründen und mit wechselnden Absichten.

Wofür steht die Anekdote in diesem Buch? Welche Geschichte wird hier erzählt – und was ist neu daran? Gibt es überhaupt noch Neues zu entdecken an diesem König, der schon zeit seines langen Regentenlebens große Aufmerksamkeit auf sich zog und nach seinem Tod erst recht zur Kultfigur wurde?2 Der nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Regionen Europas scharfe Kontroversen auslöste, Freunde und Feinde mobilisierte, Biographen umtrieb, Romanautoren und Filmemacher inspirierte? Historiker vieler Länder und Epochen haben ihn nach allen Regeln ihrer Kunst vermessen, gedeutet und in Besitz genommen.3 Alles, was er geschrieben und gesagt hat, und alles, was andere über ihn geschrieben und gesagt haben, ist frei verfügbar, das meiste inzwischen im Internet zugänglich. Also noch einmal:

What’s new?

Neu ist nicht das Material; neu ist die Perspektive, unter der es betrachtet wird. Sie ist, wie bei jeder geschichtlichen Erzählung und Analyse, zeitgebunden. Was konservative oder liberale Historiker des Kaiserreichs an Friedrich interessierte, ließ ihre Kollegen in Weimar und während der NS-Zeit kalt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwarf die DDR-Historiographie ein anderes Friedrich-Bild als bundesrepublikanische Geschichtswissenschaftler. Franz Kuglers Biographie, erstmals 1840 erschienen und binnen kurzem ein »Volksbuch«, wäre heute, trotz Adolph Menzels Illustrationen, ebenso wenig ein Verkaufsschlager wie das Charakter- und Lebensbild, das zum zweihundertsten Geburtstag »für Deutschlands Heer, Jugend und Volk« produziert wurde. Zum dreihundertsten grüßen stattdessen ein europäischer, ein riskanter und ein schwuler Friedrich, alle im Einklang mit unserer Zeit und unseren Befindlichkeiten.4

Diese Be- und Empfindlichkeiten spiegeln sich auch in Romanen und populären Geschichtsbüchern, wie sie der Jubiläums- und Erinnerungsboom regelmäßig auf den Publikumsmarkt spült. Auf annähernd 1600 Seiten wurden unlängst das Schicksal eines »ungeliebten Sohnes« und die Fährnisse eines »einsamen Königs« zum Besten gegeben. Das Leserecho, bei amazon.de abzurufen, war positiv; offenbar überzeugte gerade die »menschliche« Perspektive, der Blick auf die »zerrissenen Gefühle« des Kronprinzen und Monarchen, von der Autorin »einfühlsam« geschildert und in Szene gesetzt. Mit einem Zehntel des Umfangs gaben sich zwei Nachfahren aus königlichem Haus zufrieden, die der »Liebe des Königs« ein schmales, von Sympathie und Mitgefühl getragenes Bändchen widmeten. Es zeichnet Friedrich den Großen als feinsinnigen und empfindsamen Menschen, groß in (Männer-)Freundschaften und fein in der Liebe zu seinen Hunden, an deren Seite er sich begraben lassen wollte.5 Damit setzt es einen starken Kontrapunkt zu der verbreiteten Wahrnehmung Friedrichs als kühl kalkulierendem, rational handelndem, aufgeklärt-absolutistischem Herrscher, der Preußen nicht nur im eigentlichen Sinn geschaffen, sondern ihm auch seinen harschen, unsentimentalen Stempel aufgedrückt habe. »Inmitten einer Welt der Sentimentalitäten und Schwärmereien«, hieß es in einem konservativen Journal aus dem Kaiserreich, sei unter seiner Ägide »ein eigener hart gehämmerter Menschenschlag« entstanden, »den Edelleute, Bürger und Handarbeiter, ein jeder auf seine besondere Weise vertrat und zu vertreten suchte und dessen ideale Verkörperung der alte König selbst war«.6

Die emotionale Wende

Die heutige Zeit steht den »Sentimentalitäten und Schwärmereien« des 18. Jahrhunderts augenscheinlich näher als die auf »hart gehämmerte« Heldencharaktere abonnierten Wilhelminer am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Man interessiert sich wieder für Gefühle, Stimmungen und Empfindlichkeiten, noch dazu für zerrissene und widersprüchliche. Den human interest stories liefern sie die schmackhaftesten Zutaten.

Gefühle sind überall ein heißes Thema, in den Neurowissenschaften ebenso wie bei Therapeuten und Sozialpsychologen. Werbefachleute arbeiten mit ihnen, um Produkte besser und zielförmiger zu verkaufen; Politiker zeigen sie, wenn sie ihr Image auf- oder umpolieren wollen; Kino und Oper brauchen sie, um Spannung, Dramatik und Identifikation zu erzeugen. Seit 9/11 sind kollektive Ängste und das, was man mit ihnen machen kann, zum vieldiskutierten Thema geworden. Die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 hat das Thema neu perspektiviert und gezeigt, dass Nationen mit solchen Ängsten sehr verschieden umgehen. Umgekehrt hat sich der 4. November 2008 als Freude- und Hoffnungsdatum im globalen Kurzzeitgedächtnis eingenistet: Barack Obamas Sieg im US-Präsidentschaftswahlkampf wurde in vielen Ländern dieser Welt begeistert gefeiert.

Der aktuelle emotional turn in den Kultur- und Lebenswissenschaften reagiert auf diese Entwicklungen, reflektiert und inspiriert sie. Er regt auch dieses Buch an, das sich mit der Gefühlspolitik Friedrichs II. befasst. Was ist damit gemeint? Nicht gemeint ist ein menschelnder, gefühlvoller Blick auf den König oder ein Blick auf den König als gefühlvollen Menschen. Ob Friedrich zuerst Menschen und später nur noch Hunde liebte, ob er Trauer und Freude, Neid und Hass empfand, ob er in seiner Jugend empfindsamer war als im Alter: das alles wird keine Rolle spielen, denn das Format ist kein biographisches. Der König liegt hier nicht auf der imaginären Couch von Psychologen und Analytikern, die seine seelischen Verletzungen rekonstruieren und politische Entscheidungen aus der konfliktreichen Vater-Sohn-Beziehung ableiten.7

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Der König am Schreibtisch, Holzschnitt von Adolph Menzel, um 1840

Der König als Gefühlspolitiker

Um im Bild zu bleiben: Der König liegt nicht auf der Couch oder, zeittypischer, auf der Chaiselongue. Er sitzt auf einem Stuhl, in einer Kutsche oder auf dem Pferd, mit aufrechtem Oberkörper und wachem Blick. Er hört zu, liest, ordnet an. Er nimmt Bittschriften entgegen, spricht mit den Bittstellern – wie mit der Leubuscher Witwe. Er reist durch die Provinzen, fragt nach Problemen, befiehlt Lösungen. Er verbreitet, anonym, Rechtfertigungen seiner Feldzüge und Informationen über militärische Erfolge, seine Minister lancieren Propagandamaterial in Zeitungen und Flugschriften. Er lässt sich feiern, baut repräsentative Paläste, setzt seinen Ehrgeiz in die Fabrikation feinen weißen Porzellans à la Meißen. Und er verfasst Texte, unentwegt und in großer Zahl: Kabinettsbefehle mit Gesetzeskraft, täglich zwölf im Durchschnitt; Briefe an Familienmitglieder, Freunde, Minister, Untergebene; politische Anweisungen und Vermächtnisse für seine Erben; historische Ausarbeitungen über die Geschichte der Dynastie; Betrachtungen über politische Theorie und Kriegskunst und vieles mehr.

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Friedrich auf Reisen, Holzschnitt von Adolph Menzel, um 1840

Der König, so scheint es, ist allgegenwärtig – oder gibt zumindest vor, es zu sein. Er hört alles, sieht alles. Er kontrolliert seine Gegenwart, und nicht nur diese: Er hält auch die Vergangenheit fest im Griff und entwirft sogar seine eigene Zukunft. Die ihm nachfolgen werden auf dem preußischen Thron, müssen sich an seinen Vorstellungen abarbeiten und messen lassen; zugleich führt Friedrich künftigen Geschichtsschreibern die Feder, indem er sie mit Texten über seine Absichten, Ziele, Beweggründe füttert. Hier ist jemand am Werk, der nichts dem Zufall überlassen möchte, der noch über den Tod hinaus Deutungsmacht ausüben will.

Diese immense, nie versiegende Gestaltungsenergie richtet sich auch und nicht zuletzt auf das, was hier Gefühlspolitik genannt wird. Friedrich kannte den Begriff nicht, aber er praktizierte das, was sich damit verbindet. Gefühlspolitik: Dazu gehört die Begegnung mit der Leubuscher Witwe ebenso wie die gezielte Meinungslenkung und Selbstpräsentation als genialer Feldherr, sorgender Soldatenfreund und gütiger Landesvater. Warum war ihm das so wichtig? Wozu bedurfte ein König, der aus eigener, nie angezweifelter Machtvollkommenheit herrschte, derartiger Strategien und Praktiken? Wen wollte er damit beeindrucken?

Moderne Gefühlspolitik

Solche Nachfragen sind, daran besteht kein Zweifel, ultramodern. Sie kommen aus unserer Zeit der spin doctors und Mediendemokratie, in der sich der selling point politischer Aussagen und Programme wesentlich danach bemisst, wie sie kommuniziert werden. Spin doctors sind Experten der Gefühlspolitik. Sie beraten und coachen Politiker, sollen deren emotionale Ausstrahlung optimieren und den Bedürfnissen verschiedener Teilöffentlichkeiten anpassen. Denn ob ein Kandidat bei seinem Publikum punktet, hängt mehr und mehr davon ab, welche Gefühlsregister er oder sie zu ziehen versteht. Das trifft selbst auf Länder und politische Systeme zu, die wenig von Demokratie wissen (wollen). Wenn Wladimir Putin sich als russischer Staatschef gern mit entblößtem Oberkörper und in maskuliner Pose – als Tigerbändiger und Jäger, am Steuer eines Motorbootes oder Jeeps – filmen ließ, tat er das nicht nur aus Eitelkeit. Vielmehr wusste er, dass diese Imagepflege als mutiges, kraftvolles, energiegeladenes Alphatier bei den Zuschauern Stolz und Bewunderung hervorrufen und seine Zustimmungswerte erhöhen würde.

Auch mit einer anderen emotionalen Geste machte Putin, zwischenzeitlich (nur noch) russischer Ministerpräsident, von sich reden: Nach der Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April 2010, die fast hundert hochrangige polnische Politiker und Militärs das Leben kostete, eilte er sofort an den Unglücksort. Zusammen mit seinem polnischen Amtskollegen Donald Tusk legte er Blumen nieder und umarmte Tusk dabei, »spontan«, wie es in der Berichterstattung hieß. Diese Gebärde geteilten Schmerzes und gemeinsamer Trauer war von »immenser Strahlkraft«. Sie vermittelte der polnischen Bevölkerung das Bild eines »authentisch mitfühlenden und mit-leidenden, eines menschlichen Russlands« – ein Bild, das in der schwierigen Beziehungsgeschichte beider Länder einzig dastand und eine starke Gefühlswirkung entfaltete.8

Putins Umarmung erinnert an eine frühere berührende Geste: den Kniefall Willy Brandts vor dem Warschauer Ghetto-Denkmal im Jahr 1970. Auch dabei ging es um große Gefühle und tiefe emotionale Konflikte, um ihren Ausdruck und ihre Wahrnehmung. Wahrgenommen und gedeutet wurde vor allem in der Bundesrepublik: Nahezu jede Zeitung druckte das Foto, und der SPIEGEL gab umgehend eine Blitzumfrage in Auftrag: »Durfte Brandt knien?« Fast alle Befragten kannten das Bild, fast alle hatten dazu eine Meinung. 41 Prozent fanden die Demutsgeste des Bundeskanzlers »angemessen«, 48 Prozent hielten sie für »übertrieben«. Von der Oppositionspartei hagelte es scharfe Kritik, die den angeblichen Ausverkauf deutschen Landes in den Ostverträgen einschloss und das Leid der Vertriebenen beschwor, vor dem der Kanzler nicht in die Knie ging. Aber auch dem polnischen Establishment war die Geste nicht geheuer: Der Zensor schnitt das Agenturfoto am unteren Rand ab, so dass es aussah, als stehe der Kanzler vor einem polnischen Wachsoldaten.9

Es ist viel darüber gerätselt worden, ob Brandt unwillkürlich die Knie beugte oder ob er geplant und berechnend handelte. Höchstwahrscheinlich war die emotionale Geste weder das eine noch das andere, folgte weder einer unmittelbaren Eingebung noch ausgeklügeltem Kalkül. Auch Putins Umarmung des polnischen Ministerpräsidenten kam vermutlich nicht ganz so spontan daher, wie es den anwesenden Journalisten scheinen mochte. Beide Männer waren erfahrene und gewiefte Politiker, kannten sich in der Geschichte aus und hatten ein Gespür für symbolische Handlungen. Die Gefühle der anderen Seite waren ihnen nicht fremd, sie wussten Bescheid über Empfindlichkeiten, Verletzungen und das, was man heute historisches Trauma nennt. Vor diesem Hintergrund, auf dieser Bühne, im Blitzlichtgewitter der Fotografen und von Kameraleuten hautnah ausgeleuchtet, brachten sie ihre Gefühlspolitik zur Aufführung.

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Titelbild SPIEGEL 51/1970

Definitionen

Gefühlspolitik: Der Begriff stammt aus dem 19. Jahrhundert. Damals hatte er einen pejorativen Klang, war ein Schlagwort, mit dem man jene abkanzelte, die Politik mit Moral und/oder Gefühl verwechselten. Gefühlspolitiker galten als Dilettanten und Träumer, die keine Vorstellung davon besaßen, dass sich Regierungen an harten, egoistischen Interessen zu orientieren hatten anstatt an weichen Gefühlen und »Romantik« (Otto von Bismarck).10 Für Realpolitiker wie Bismarck waren Romantiker, wie er sie im preußischen König Friedrich Wilhelm IV. und dessen hochkonservativer Entourage vermutete, gefährliche Gefühlspolitiker, die die Macht des Staates aufs Spiel setzten.

Anders als in jener zeittypischen Semantik beschreibt der Begriff in diesem Buch keine Politik, die sich vom Gefühl oder, wie der Historiker Leopold von Ranke 1878 mit Blick auf Friedrich Wilhelm IV. schrieb, vom »Gemüth« leiten lässt.11 Gefühlspolitik meint nicht Politik mit oder aus Gefühl; Gefühlspolitik ist Politik mit Gefühlen und um Gefühle oder, um noch einmal Bismarck zu zitieren, Interessenpolitik mit »gefühlvollen Deductionen«. Affektive Empfindungen und Einstellungen sind hier nicht Motive, sondern Ressourcen, Werkzeuge und Objekte politischen Handelns.

Anschauungen

Wie das zu verstehen ist, können die Beispiele aus der Gegenwart verdeutlichen. Sowohl Putin als auch Brandt nutzten eine emotionale Geste dazu, politische Botschaften an den Mann und an die Frau zu bringen. Als Regierungschefs handelten sie sichtbar und öffentlich, damit An- und Abwesende, das Fernsehpublikum, die Zeitungsleser und die Nachwelt davon Kenntnis erlangten. Sie wollten Gefühle nicht nur ausdrücken, sondern vor allem kommunizieren. Es waren zwar ihre eigenen Gefühle, aber nicht ihre privaten, denn sie äußerten sie als Inhaber zentraler politischer Ämter.

Die emotionale Geste ist ein verbindender Akt. Sie teilt dem Gegenüber mit, dass es in seinen Gefühlen respektiert und angenommen wird: Putins Umarmung wollte Trost spenden, signalisierte Anteilnahme am Schmerz und an der Trauer der Polen, die ihr Präsidentenpaar und Dutzende weitere Würdenträger verloren hatten. Zugleich verbeugte sich der russische Ministerpräsident vor einem noch viel größeren Schmerz: Katyn. Drei Tage vor der Flugzeugtragödie hatte er es noch vermieden, der Forderung polnischer Politiker nachzugeben und sich für das sowjetische Massaker an polnischen Offizieren im November 1940 formell zu entschuldigen. Die Umarmung überbrückte die daraus entstandene Verstimmung, hob die politisch-historische Distanz auf und suchte die russisch-polnischen Beziehungen neu auszurichten. Ähnliche Signale gingen von Brandts Kniefall aus. Er offenbarte Demut und Beschämung vor dem Leid des polnisch-jüdischen Volkes (wobei die feinen semantischen Unterschiede zwischen polnisch und jüdisch unthematisiert blieben). Und er bekannte sich zur deutschen Schuld für das zugefügte Leid, ohne seinerseits Rechnungen aufzustellen und die Polen an das Unrecht der Vertreibung deutscher Bürger nach Kriegsende zu erinnern.

Das war Gefühlspolitik in Reinform: eine Politik, die Gefühle inszenierte, adressierte, erzeugte und in Dienst nahm, um die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern zu verbessern. Aber Gefühlspolitik findet nicht nur auf internationalem Terrain statt. Sie hat ihren Platz auch in der Innenpolitik. Wer erinnert sich nicht an die öffentlichen Tränen einer Politikerin, die als beinhart, machthungrig, berechnend und somit irgendwie männlich galt? Die Rede ist von Hillary Clinton nach ihrer ersten, unerwarteten Niederlage im Rennen um die demokratische Präsidentschaftskandidatur in den USA 2008. »Tränen lügen nicht«, titelte die FAZ damals und legte gleichzeitig das Gegenteil nahe. Eine (verdrückte) Träne vor laufenden Kameras reichte offenbar aus, die abgeschlagene Kandidatin in der Wählergunst steigen zu lassen, und sicherte ihr den Sieg in New Hampshire.12

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Hillary Clinton, Portsmouth/New Hampshire, 7. Januar 2008

Politiker, lehrt diese Geschichte, kommen nicht an, wenn sie keine (passenden) Gefühle zeigen. Die Zustimmung der Wähler hängt nicht nur davon ab, wie gut oder schlecht sie das politische Programm der Kandidaten finden. Wer ihre Stimme für sich verbuchen möchte, muss auch und vor allem glaub- und vertrauenswürdig sein – oder zumindest den Eindruck erwecken. Dazu bedarf es eines überzeugenden Gefühlsmanagements. Denn auch wer die falschen, der Erwartung widersprechenden Gefühle präsentiert, hat ein Problem.

Auf was das Publikum wartet, ist dabei schwer vorauszusagen. Wähler sind keineswegs nur stummes Stimmvolk, das von geschickten Medienartisten und Politikberatern manipuliert werden kann. Sie machen sich ihr eigenes Bild und schicken es via Internet-Blogs und Twitter in Windeseile um die Welt. Dieses Bild ist emotional eingefärbt, mit großen Sympathien oder heftigen Antipathien versetzt. Die Eindrücke und Urteile, aus denen es sich formt, haben ebenfalls einen starken emotionalen Bezug. Insofern war die angedeutete Träne in New Hampshire bestens platziert: Sie verbürgte persönliche Verletzlichkeit und Menschlichkeit bei einer Kandidatin, die bis dahin allzu stolz, unnahbar und siegesgewiss aufgetreten war. Mehr noch: Sie wies Mrs. Clinton als wirkliche Frau aus und gab ihr die vermisste Weiblichkeit (die die FAZ flugs mit »Weinerlichkeit« übersetzte) zurück. Auch das war Gefühlspolitik pur, und sie zahlte sich aus, zumindest am Anfang der Kampagne.

Politische Kommunikation als Gefühlsmanagement

Moderne Politik, lässt sich daraus schließen, kommt ohne geschicktes Gefühlsmanagement nicht aus. Politische Kommunikation muss Gefühle ansprechen und als Brücke nutzen, auf der sich Bürger und deren Repräsentanten, aber auch Staaten und deren Bevölkerungen begegnen, befreunden und befeinden. Welche Gefühle das sind, ist kontingent. Bislang war von Stolz und Demut die Rede, von Trauer und Schmerz, Hass und Verachtung, Scham und Enttäuschung. Aber auch Liebe, Vertrauen, Furcht, Neugier, Ver- und Bewunderung werden in diesem Buch auftreten, weil sie Menschen verbinden, Beziehungen stiften, politische Kommunikation ermöglichen oder erschweren.

Diese Kommunikation findet, mit Abstufungen, in allen politischen Systemen und Regimen statt. Besonders intensiv und auffällig ist sie zweifellos dort, wo, wie in den USA, basisdemokratische Prinzipien stark ausgeprägt sind. Aber selbst in Staaten wie dem postsozialistischen Russland, in denen solche Traditionen und Verfahrensregeln fehlen, wendet sich der Regierungschef mit emotionalen Botschaften an sein Volk. Und auch totalitär-diktatorische Regime haben eine sorgfältig geplante Gefühlspolitik betrieben: Adolf Hitler inszenierte sich, in dezidierter Nachfolge Friedrichs (und Bismarcks), als charismatischen Führer, dem sein Volk begeistert und vertrauensvoll folgte; Josef Stalin trat als Vater auf, der sich Tag und Nacht um das Wohl seiner Kinder kümmerte und deren liebevolle Anhänglichkeit seinerseits mit treusorgender Zuneigung vergalt.13

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Postkarte, 1933

Zustimmung und Fügsamkeit

Dahinter steckt eine politische Logik, für die der Soziologe Max Weber vor hundert Jahren eine einprägsame Formel fand. Herrschaft, definiert als »Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«, bedürfe der Zustimmung der Beherrschten. Deren »Fügsamkeit« könne negativ oder positiv erzeugt werden: negativ, wenn ihr die Furcht vor Sanktionen zugrunde liege; positiv, wenn sie auf dem Glauben an die Legitimität der Herrschaft beruhe. Legitimität wiederum speise sich aus verschiedenen Quellen, die sich durchaus miteinander vermischen können: aus Recht und Gesetz, aus Tradition und aus Charisma. Daran engagiert zu glauben verlange nach unterschiedlichen Gefühlen: nach Treue und Vertrauen, Ergebenheit und Hingabe, Verehrung und Bewunderung, Liebe und Dankbarkeit. Die heißesten »Affekte« ziehe eine charismatische Herrschaft auf sich, die kältesten der hochmoderne Typus legaler, auf kalkulierbaren und einklagbaren Regeln basierender Herrschaft. Aber selbst Letztere versetze sich oft, so Weber, mit einem Schuss Charisma, »aus Not oder Begeisterung geboren« und an »demagogische« Fähigkeiten geknüpft.14

Wichtig an dieser Herrschaftsdefinition und Typologie ist das Moment der Zustimmung. Ohne die Fügsamkeit der Beherrschten funktioniert Herrschaft nicht. Fügsam aber sind Menschen entweder dann, wenn sie mit Gewalt dazu gezwungen werden oder wenn sie von der Rechtmäßigkeit und Anerkennungswürdigkeit der Herrschaft überzeugt sind. Im letzteren Fall antworten sie mit »gefühlsmäßiger Hingabe« (Weber), die sich jedoch nicht automatisch einstellt. Sie muss geweckt, genährt, gepflegt und am Leben erhalten werden, durch Gefühlspolitik: eine in der Regel bewusste und reflektierte, mitunter generalstabsmäßig geplante Ansprache mit dem Ziel, Zustimmung zu erzeugen und affektiv zu modellieren. Demagogisch begabten Politikern, wie sie Weber in Kurt Eisner erblickte, dem Anführer der bayerischen Novemberrevolution 1918 und ersten, bereits ein Jahr später ermordeten Ministerpräsidenten des Freistaates, gelang dies durch mitreißende Reden und fulminante öffentliche Auftritte. Wem diese Mittel nicht zur Verfügung standen, der musste sich etwas anderes ausdenken, um das Publikum emotional zu erreichen und zu fesseln.

Medien des Emotionalen

Triumph des Willens