image

Matthias Zschokke
Der Mann mit den zwei Augen

Matthias Zschokke

Der Mann
mit den zwei Augen

Roman

image

Eine rumänische Pflegerin hob den Hörer ab und gab ihn weiter an die Frau im Liegestuhl. Die murmelte: »Io dormo, io dormo.« Der Mann mit den zwei Augen lachte und sagte: »Seit wann können Sie Italienisch? Ich bin’s, hören Sie? Sie schlafen nicht, Sie telefonieren mit mir.« Daraufhin bekam sie einen Hustenanfall, und er verabschiedete sich. Io dormo, io dormo waren ihre letzten Worte gewesen. Am Abend starb sie. Einen Tag vorher war auch ihre einundzwanzigjährige Katze gestorben. Das hatte der Mann ihr eigentlich mitteilen wollen.

Die Katze war ihr als halbwüchsiges, verwildertes Tier zugelaufen und blieb bis zuletzt schmal und scheu. Sie hatte auffallend große, fast durchsichtige Ohren und machte nur selten, völlig unerwartet, zwei, drei Schritte auf Menschen zu, um sich dann ohne übertriebene Eile wieder von ihnen zu entfernen. Den Mann mit den zwei Augen hatte sie grundsätzlich nicht beachtet. Nur ein einziges Mal hatte sie sich ihm vorsichtig genähert, war ihm ums rechte Bein gestrichen und danach mit senkrecht erhobenem Schwanz davongegangen. Wie es dazu gekommen war, lässt sich nicht rekonstruieren. Er freute sich jedenfalls sehr darüber und dachte, nun hätte er sie für sich gewonnen.

Als junges Tier hatte sie eine porzellanzarte, rosarote Nase. Manchmal vergaß sie, die Zungenspitze ins Maul zurückzuziehen. Den Ausdruck ihres Gesichts hätte man dann als leicht besorgt umschreiben können. Sie erweckte ihr ganzes Leben lang den Eindruck, schwere Verantwortung zu tragen zu haben. Was für ein Ernst! Was für ein zierlicher Körper! Was für kühle, weiche Pfoten! Wer keine Katzen mag, wird verständnislos den Kopf schütteln über diese Zeilen. Der Mann mit den zwei Augen konnte nicht anders, ihm gefielen Tiere. In deren Umgebung war ihm wohl, und die Freude, am Leben zu sein, flammte jeweils kurz in ihm auf. Von Pferden zum Beispiel wusste er, dass sie schlecht schlafen, wenn man sie nachts allein draußen lässt. Pferde bewachen wechselseitig ihren Schlaf. Dies zu wissen beglückte ihn.

Es ist am besten, das Boot nur dann auszuschöpfen, wenn es nötig ist. Das war die einzige Weisheit, welche die Frau, die im Liegestuhl verstorben war, gekannt hatte. Sie zitierte sie zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, so oft, bis schließlich auch der Mann mit den zwei Augen anfing, sie zu zitieren. Er hatte sich mit den Jahren an die Frau gewöhnt. Er liebte es, an ihrer linken Seite durch die Straßen zu gehen und ihre Hand zu halten. Dann fiel ihm aber meistens nichts zum Sagen ein. Wie der Frieden und das Glück hatten sie beide nicht allzu viele Worte und Geschichten zu ihrer Verfügung. Wenn sie den Satz mit dem Boot sagte, dachte er jeweils für sich: Wie recht sie hat; am besten ist es, das Boot nur dann auszuschöpfen, wenn es nötig ist.

Nun war sie also tot. Freiwillig aus dem Leben geschieden, wie die offizielle Bezeichnung dafür lautete. Er wünschte sich nicht, Gottes Blitz möge in all jene fahren, die ihr das Leben verleidet hatten. Der Blitz war viel zu rein dazu. Würde er in sie fahren, würde er zeitlebens stinken, der Blitz, weil er mit diesem Bastardgezücht in Berührung gekommen wäre, mit diesen siechen Hämlingen, die alles niedermachen, was in die Höhe träumt.

Er wusste nicht genau, wen er meinte mit dem Wort Bastardgezücht. Alle halt. Er wusste nicht einmal, wo er das Wort herhatte. Auch sieche Hämlinge waren ihm unbekannt. Sie schossen nach der ersten Betäubung, die auf die Todesnachricht folgte, ohne jeden Zusammenhang in sein Hirn und verdunkelten ihm das Gemüt.

Die Katze lag, in eine weiße Tischdecke eingewickelt, in der Küche auf dem Fußboden. Nachdem er die Frau am Telefon nicht hatte fragen können, was er mit dem Leichnam machen solle, schob er ihn in einen blauen Müllsack aus Plastik und trug ihn in den Keller, wo in der hintersten linken Ecke, solange er hier wohnte, eine rostige Kohlenschaufel an der Wand lehnte, die ein Vormieter dort hatte stehen lassen. Die Schaufel steckte er zur Katze in den Sack und ging damit in den nahe gelegenen Stadtpark, einen kleinen Mischwald mit Lichtungen, Wegen, Grünflächen, Blumenbeeten, Kinderspiel- und Grillplätzen. Vormittags war dort meistens niemand unterwegs, außer in den Schulferien, im Hochsommer, die aber längst vorüber waren. Am Rand einer Rasenfläche grub er im Unterholz ein Loch – die Erde war dunkel, feucht und weich, das Graben ging leicht –, in welches er die in die Tischdecke eingewickelte Katze legte. Er schaufelte das Loch zu und schob Laub darüber. Dann stand er da, mit hängenden Armen, und schaute auf den kleinen Hügel. Leise sagte er: »Mach’s gut, Bisibisi.« Er hatte keine Ahnung, wie er auf dieses Bisibisi gekommen war. Er überlegte, ob in einem Film oder im Fernseher vor kurzem mal eine Katze mit einem solchen Namen aufgetaucht sei, konnte sich aber an keine erinnern. Er schüttelte den Kopf, als umsirre ihn eine Mücke, steckte die Kohlenschaufel zurück in die blaue Plastiktüte und ging davon.

Nach Beerdigungen nimmt man normalerweise ein Leichenmahl zu sich, dachte er. Das würde die Frau, die am Telefon io dormo, io dormo gesagt hat, jetzt bestimmt vorschlagen. Er ging also in die Breite Straße zu Mario, um dort Nudeln mit Schinken und Speck zu essen. (Schließlich ahnte er zu diesem Zeitpunkt ja noch nichts vom Tod der Frau, der erst am späten Abend eintrat und ihm erst am folgenden Morgen mitgeteilt wurde.) Die Schaufel in der blauen Plastiktüte stellte er unterwegs neben einen Abfalleimer.

Das Restaurant war leer bis auf einen Gast, der mit dem Gesicht zur Eingangstür an der Fensterfront saß und ihm bekannt vorkam. Der Mann mit den zwei Augen hatte nicht die Größe, sich mit einer knappen Verbeugung von diesem ihm seiner Meinung nach Bekannten fernzuhalten und den Tisch in der Nische rechts neben der Eingangstür zu wählen, um dort in Ruhe über die Gerichtsreportage, an der er gerade arbeitete, und darüber, ob es überhaupt noch einen Sinn habe, solche Gerichtsreportagen zu verfassen, nachdenken und speisen zu können, so wie er sich das vorgenommen hatte. Er errötete, die Wut stieg kurz in ihm empor, die Wut darüber, nicht allein bleiben zu dürfen. Doch er konnte nicht anders: Als ob er magnetisch angezogen würde, ging er quer durch den Raum und fragte: »Ist dieser Platz noch frei?« Der fremde Gast schaute von seinem Teller auf, deutete mit vollem Mund auf die vielen freien Stühle im Restaurant und fragte, warum er sich ausgerechnet zu ihm an den Tisch setzen wolle. »Weil wir einander meines Erachtens kennen«, antwortete der vor ihm stehende Mann mit den zwei Augen. »Wenn man sich kennt, ist es doch beinahe eine Verpflichtung, sich in der Situation, in der wir uns hier befinden, zu begrüßen und zueinander an den Tisch zu setzen, oder etwa nicht?« – »Ich kenne Sie nicht. Aber bitteschön, setzen Sie sich. Sie scheinen das Bedürfnis nach Gesellschaft zu haben?« – »Aber sind Sie nicht der und der? Kennen wir einander nicht von da und da?« – »In der Tat, der und der bin ich, und da und da verkehre ich. Doch kann ich mich beim besten Willen nicht an Sie erinnern.« – »Das kann gut sein. Mir wurde schon oft gesagt, ich hätte einen sparsamen Gesichtsausdruck; meine Erscheinung sei nicht besonders einprägsam; man vergesse mich schnell. Aber haben Sie etwa nicht unlängst von einem, an den ich Sie erinnere, wenn Sie mich genau anschauen, behauptet, er sei ein Blender?! Und sind nicht Sie es, den ich umgekehrt für einen ebensolchen halte, einen Heuchler und Schmarotzer?! Deswegen war ich im ersten Moment ja auch versucht, mich nicht an Ihren Tisch zu setzen, aus Angst davor, von Ihnen zur Verstellung verführt und in den Sumpf hinuntergezogen zu werden.« – »In welchen Sumpf denn?« – »In den des höflichen Miteinander-Umgehens, um nicht zu sagen, in den der Schmeichelei und der Lüge. Gerade gestern Mittag habe ich beispielsweise wieder einmal in der Kantine des Chemiewerks, in der ich jeweils meine Kaffeepause mache, weil sie in der Nähe meines Büros liegt, ein paar Elemente beieinandersitzen sehen, über denen eine stinkende Wolke giftiger Gase dräute. Jeder von ihnen, für sich allein genommen, macht einen vernünftigen und erträglichen Eindruck. Zusammen jedoch sind sie unausstehlich dumm und laut und verführen einander zu übler Nachrede, blöder Häme und feiger Anbiederei. Ich muss eben feststellen: Mir ist bei Ihrem Anblick jeglicher Appetit vergangen; ich verspüre das dringende Bedürfnis, nach Hause zu gehen, mich hinzulegen und auszuruhen. Sie verzeihen.«

Er deutete eine knappe Verbeugung an, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Restaurant.

Ein Mädchen spielte mit seiner Freundin im Hof des Mietshauses, in dem der Mann mit den zwei Augen wohnte. Der Hof war ein enges asphaltiertes Quadrat mit einer rostigen Teppichstange mittendrin. Die Sonne, die seit mehreren Tagen schien – was in dieser Region im Spätherbst ungewöhnlich war –, fiel das ganze Jahr über niemals bis auf dessen Grund. In den Ecken war der Asphalt deswegen ewig feucht und dunkelgrün bemoost. Immer wenn das Tor zur Straße geöffnet wurde und jemand hereinkam oder hinausging, wurde es kurz hell im Hof, und eine Welle warmer Luft schwappte herein. Dann verharrten die Mädchen reglos und ließen ihre nackten Beine davon umspülen.

Die eine, sie hieß Filine, hätte ihrer Freundin Ulrike gern vorgeführt, wie wohlbekannt sie im Haus war und wie gut sie sich mit den Bewohnern verstand. Deswegen schaute sie jeden, der vorüberging, herausfordernd an, hob ihr Kleid und machte einen Knicks.

Filine ist ein seltener Name. Vielleicht ist es gar keiner, sondern eine Erfindung. Ihren Eltern wäre das zuzutrauen gewesen. Sie waren künstlerisch veranlagt, wohnten parterre und hatten sich ihre Räume romantisch eingerichtet. Als Filine zur Welt gekommen war, hatte ein frisch gemachtes Kinderzimmer mit blauen Möbelchen auf sie gewartet und eine himmelblaue Tapete voller weißer Schäfchenwolken. Das hatte man von der Straße aus durch die Fenster sehen können.

Filine schaute also jeden, der vorüberging, herausfordernd an, hob ihr Kleid und machte einen Knicks. Die Mieter und Mieterinnen erkannten das Mädchen zu dessen Leidwesen nicht. Es war schnell gewachsen. Das letzte Mal, als sie es gesehen hatten, lag es noch im Kinderwagen. Sie schauten irritiert hin, verzogen das Gesicht zu einem starren Lächeln und sagten: »Hallo ihr beiden, na?« Mehr fiel ihnen nicht ein. Sie gingen unsicher weiter, zögerten, überlegten, was sie sonst noch hätten sagen können, blickten zurück, wandten sich dann entschieden dem Ausgang zu und verließen das Haus, oder sie stiegen die Treppe empor und verschwanden rasch in ihren Wohnungen. Filine war enttäuscht. Sie hätte Ulrike zu gern gezeigt, auf welch sicherem Boden sie sich hier bewegte.

Endlich wurde sie von einem der Heimkehrenden gefragt, nachdem sie ihren Knicks gemacht hatte: »Kannst du tanzen?« Er hatte zwei Augen, mit denen er so schaute. Das war alles, an was sich Filine später, wenn sie nach ihm gefragt wurde, noch erinnern konnte.

Sie antwortete: »Ich gehe in den Ballettunterricht und kann einen Knicks machen, zum Verbeugen.« Der Mann mit den zwei Augen verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Für seine Begriffe war sie verwirrend zart gebaut und zu klein für ihr Alter. Das ist so eine Redensart: zu klein für ihr Alter. Der Mann wusste nicht, wie alt sie war, aber er hielt sie eindeutig für zu klein dafür. Aus dem Keller kroch eiskalte Luft und strich um ihre Unterschenkel. Die Haut darauf zog sich zusammen und wurde grieselig. »Schau, du hast Haut wie Schmirgelpapier. Mit deinen Beinen könnte man eine ganze Kirchenbank glattpolieren.« Filine schaute den Mann an, dann ihre nackten Beine, dann rannte sie in den dunklen Hausflur, Ulrike hinter ihr her. Im Hausflur machten beide Pliers. Der Mann kniff die Augen zusammen und schaute ihnen nach. Er machte einen erschöpften Eindruck. In seinem Rücken war ein Nerv eingeklemmt. Den Kopf konnte er nur noch nach rechts drehen. Außerdem hatte er Hunger. Ich möchte auch wieder einmal hüpfen, dachte er, folgte den beiden in den dunklen Flur und fragte: »Könnte ich das wohl auch, was ihr da macht?« – »Nein«, sagte Filine. »Meine Mutter hört alles durchs offene Fenster. Wenn ich rufe, kommt sie sofort. In der Wohnung ist es zu kalt zum Spielen, darum sind wir draußen im Hof. Gestern habe ich vor Leuten getanzt. Am Schluss hob ich die Hände über den Kopf, und dann habe ich mich verbeugt, so …« Sie machte vor, was sie gesagt hatte.

Dass dies keine Geschichte war, wussten alle drei sehr genau. Aber so fangen sie an, die Geschichten. Und plötzlich steckt man mittendrin in einer, und Blut fließt, oder weiße Kleidchen sind zerrissen. Er verdiente sein Geld als Gerichtsreporter und kannte das.

Filine hatte dünnes Haar, riesige Augen und zu große Ohren. Sie besaß einen Hamster, der Motte hieß, Motte oder Moppel oder so ähnlich. Der Mann sagte, sie solle ihre Mutter um einen zweiten Hamster bitten, weil der eine allein sonst traurig werde und sterbe. Dann stieg er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, nicht ohne zum Abschied gesagt zu haben: »Das ist schön, wie du tanzt. Was für mehlige, schlanke Beine«, wonach er sich räusperte, weil ihm seine Stimme belegt vorkam.

Ulrike schaute und hörte den beiden stumm zu. Sie wird sich daran gewöhnen müssen, nicht beachtet zu werden neben Filine, dachte der Mann, während er die Treppe hinaufstieg. Es ist angenehm, nicht beachtet zu werden. Man kann sich dabei ausruhen und träge werden wie Teig. Filine hingegen wird in ihrem Leben kaum jemals träge werden können wie Teig. Sie wird weitertanzen und weitertanzen, immer im Zentrum des Interesses, und bald wird sie zu Tode erschöpft sein davon. Dann kommt die eisige Kälte aus dem Keller gekrochen und setzt sich auf sie drauf.

Männer träumen davon, zum Aus-der-Haut-Platzen groß und stark zu sein. Meistens sind sie das aber nicht. Der Anblick von dünnen, zarten Kinderkörpern erinnert sie an ihre Träume. Manchmal gelingt es einem von ihnen dann nicht mehr, sich zu beherrschen, und er packt so einen kleinen Körper, um seine Größe und Stärke an diesem zu messen. Für einen kurzen Moment ist er dann tatsächlich zum Aus-der-Haut-Platzen groß und stark. Fast immer weinen die Kinder während der Beweisführung, wodurch dem Mann auffällt, dass es sich um solche handelt und dass der Größenunterschied naturgegeben ist. Das macht ihn traurig und gefährlich.

Am späteren Nachmittag ging er die Treppe wieder hinunter. Die beiden Mädchen spielten nicht mehr im Hof. Der Mann mit den zwei Augen spürte, wie sich angesichts des leeren Quadrats große Mattigkeit in ihm ausbreitete. Er fühlte sich zerschlagen, müde und verbraucht. Er empfand das dringende Bedürfnis, eine Weile an nichts mehr denken zu müssen. Das Büro und die Entscheidung darüber, ob er den ganzen Gerichtsreportagenbettel hinschmeißen wolle, konnten bis morgen warten.

Ein Frisör namens Türschmidt hatte vor ein paar Tagen drei Häuser weiter seinen Salon eröffnet. Er warb im Schaufenster mit besonders günstigen Einführungspreisen für seine Dienste. Der Mann mit den zwei Augen entschloss sich, ihn aufzusuchen. Er ging am benachbarten Feinschmeckerrestaurant vorüber, das immer erst abends öffnete, stellte sich vors Schaufenster des neuen Frisörs, studierte die Liste mit den Einführungspreisen und trat dann ein. Nach kurzem kam ein eleganter Herr aus dem hinteren Raum nach vorne. Seine Schritte waren kaum wahrzunehmen. Es sah aus, als ob er schwebte. Seine geraden, sandfarbenen Haare, die ihm millimetergenau sorgfältig geschnitten vom Kopf hingen, waren leicht und biegsam wie Spinnfäden. Sie reflektierten das einfallende Tageslicht und glänzten matt bei jeder Bewegung. Der Mann mit den zwei Augen fragte: »Herr Türschmidt?« – »Ja.« – »Haben Sie gerade Zeit für mich? Falls nicht, wäre das kein Unglück. Ich wohne nur ein paar Schritte weiter und kann ohne Probleme noch einmal nach Hause gehen und später wiederkommen.« – »Nein, nein«, sagte Herr Türschmidt. Er sprach angenehm leise und sanft. »Sie haben Glück. Genau in diesem Moment klafft eine Lücke in meinem Terminkalender. Verzeihen Sie meine Neugierde: Darf ich fragen, wie Sie auf mich gestoßen sind? Haben Sie meine Anzeige in der Tageszeitung gelesen? Es interessiert mich aus Marktforschungsgründen.« – »Ich sagte doch, ich wohne drei Häuser weiter. Ich laufe täglich mehrmals an diesen Fenstern vorbei und habe darin Ihre Werbung gesehen.« – »Ach so, Verzeihung, natürlich, das sagten Sie in der Tat. Sie müssen verstehen, bei so einer Geschäftseröffnung möchte man möglichst alles richtig machen und denkt von früh bis spät nur darüber nach, was man noch verbessern könnte. Dabei wird man unaufmerksam für das, was im Moment passiert und gesagt wird, weil man in Gedanken dauernd in der Zukunft oder in der Vergangenheit steckt. – Jetzt aber zu Ihnen. Wünschen Sie eine Typberatung? Ich habe einen Kurs besucht und bin von unserem Berufsverband legitimiert, jedem Kunden zu sagen, welche Frisur am besten zu ihm passt. Oder haben Sie möglicherweise klare eigene Vorstellungen, was Ihr Aussehen betrifft?« – »Eigentlich wollte ich bloß ein bisschen nachschneiden und den Nacken ausputzen lassen. Sie sehen ja, wie ich ausschaue. Ungefähr so möchte ich auch nach Ihrem Eingriff noch ausschauen, dann allerdings weniger mitgenommen und wieder mehr in mir selbst ruhend, abgeklärter. Nichts Auffälliges oder Gewolltes schwebt mir vor. Mein Kopf soll Ausgeglichenheit ausstrahlen, Vertrauenswürdigkeit, sodass niemand, der mich sieht, anfängt, sich Gedanken zu machen über mich oder darüber, wie es in mir drin ausschaut, am allerwenigsten ich selbst.« – »Gut, ich will’s versuchen. Setzen Sie sich hier vors Waschbecken. Ich darf Ihnen die Haare doch bitte zuerst waschen? Nicht dass sie mir schmutzig vorkämen, im Gegenteil, es ist nur so, dass sich feuchte Haare besser schneiden lassen als trockene.« Der Mann mit den zwei Augen setzte sich auf den angewiesenen Stuhl, ließ den Kopf nach hinten ins Becken kippen und überließ sich Herrn Türschmidt, der mit angenehm kräftigem Druck anfing, die Haare zu waschen und den Haarboden zu massieren.

Der Mann mit den zwei Augen dachte an die Frau, die gemurmelt hatte, io dormo, io dormo. Er kannte sie nun schon sehr lange und wusste, wie gern sie schlief. Eine warme Welle überrollte ihn, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Herr Türschmidt fragte, ob es erlaubt sei zu erfahren, worüber er lächle. Der Mann mit den zwei Augen erklärte, dass er vormittags mit einer Frau telefoniert hätte, die gesagt habe, sie schlafe, dabei habe sie doch mit ihm gesprochen! Dazu müsse man wissen, dass die Frau nichts lieber tue in ihrem Leben, als zu schlafen. Er wisse das, weil er sie bereits seit Jahrzehnten kenne. Sie lebe mit ihm zusammen in derselben Wohnung. Herr Türschmidt lachte und sagte, das sei in der Tat lustig. Dann sagte er: »Wenn Sie sich jetzt bitte aufrichten und auf den Stuhl nebenan setzen möchten.« Nachdem er die tropfenden Haare kurz mit einem Frottiertuch durchgerubbelt hatte, begann er sie zu schneiden. Das tat er vorsichtig, Haar für Haar fast, während seine Wangen sich langsam röteten. Er sah aus wie ein alter Engel, so als hätte er nie gelebt. Die Haut in seinem Gesicht war ganz glatt, die dünnen Haare hingen pagenartig um das helle Oval und schimmerten bei jeder Bewegung, die er machte, wie das Fell eines zwei Wochen alten Lamas. Draußen vor dem Fenster fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf die gegenüberliegende Fassade. Herr Türschmidt schnitt ein Härchen nach dem anderen. Alles war ruhig und friedlich. Er atmete kaum hörbar und schaute konzentriert und liebevoll auf seine schneidenden Hände. Die abgeschnittenen Haarspitzen tanzten in den Lichtreflexen wie Goldstaub zu Boden.

Der Mann mit den zwei Augen schlief ein. Als er aufwachte, begriff er zuerst nicht, wen er im Spiegel vor sich sah. Er meinte, es sei Herr Türschmidt, und wollte sich schon bei ihm entschuldigen dafür, dass er kurz eingenickt sei. Da sah er, dass er selbst es war, der ihm in der Dämmerung entgegenblickte. Das Gesicht des Frisörs war über seinem eigenen zu erkennen. Mit einem fragenden Ausdruck schaute der Meister ihn an, einen kleinen, runden Spiegel in der Hand haltend, mit dem er ihm seinen Nacken zeigte. Der Mann mit den zwei Augen sagte: »Sehr schön, danke, sehr sauber. Jünger komme ich mir vor. Wie neu gekauft. Nicht mehr ganz ich selbst zwar. Eher wie Sie sehe ich nun aus. Schauen Sie uns beide im Spiegel an: wie Zwillinge. Offenbar mögen Sie Ihre eigene Frisur am allerliebsten und können die am besten schneiden?«

Herr Türschmidt verstand den in der Bemerkung verborgenen Sinn nicht. Er lachte verlegen und sagte: »Ja, ja … Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit meiner Arbeit. Was für ein Coupe – so nennen wir einen Haarschnitt unter Kollegen – von Ihrem letzten Frisör gemeint gewesen war, konnte ich beim besten Willen nicht herausspüren. Ich vermute, Sie haben sich Ihre Haare seit längerem nicht mehr schneiden lassen oder gar selbst Hand an sie gelegt? Da Sie schliefen, mochte ich Sie nicht stören und nach Ihren Wünschen fragen, sondern folgte meiner Intuition und tat, was ich für richtig hielt. Ich finde, es ist gut herausgekommen; Sie sehen blendend aus. Es würde mich freuen, wenn Sie meinen Salon wieder beehren und ihn vielleicht sogar weiterempfehlen möchten.« – »Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen. Sie müssen mir aber schwören, dass Sie nicht nur diese eine Frisur beherrschen. Sonst laufen in unserer Straße demnächst lauter Türschmidts herum.«

Der Frisör lachte wieder verlegen und sagte ja, ja.

Kaum zu glauben, dass dies derselbe Mann sein soll wie jener, der vor mehreren Tagen bei Mario Nudeln mit Schinken und Speck essen wollte und sich danach die Haare hatte schneiden lassen, welcher nun, schlecht rasiert, übernächtigt und mit schwarzen Ringen unter den Augen, hier in der Dunkelheit stand und suchend um sich blickte. Doch er war es.

Die Frau, die auf dem Liegestuhl eingeschlafen und erstickt war, hatte ihm vor Jahren erklärt, falls er sich einmal erschöpft fühlen sollte, müsse er nach Harenberg fahren, dort in der Unterführung links gehen und dann die Treppe hinauf, da würden mehrere Hotels nebeneinander stehen, in denen man sich gut erholen könne. Er war dieser Anweisung gefolgt, doch die Straße, auf die er gelangte, war düster, und nirgends war ein Hotel zu sehen. Weil sein Koffer schwer wog, mochte er nicht umkehren und die Treppe wieder hinuntersteigen. Lieber glaubte er daran, dass die Auskunft richtig gewesen sei und er bloß ein paar Schritte weiterzugehen brauche, um die Hotels zu finden. Der Nieselregen verrichtete überdies sein entmutigendes Geschäft mit so großem Ernst, dass allein der Gedanke an eine Umkehr ihn zur Verzweiflung getrieben hätte.

Es war ein kalter Abend, der Himmel ganz schwarz und ohne Sterne. Zur Linken standen Häuser. Rechts zogen sich die Bahngeleise hin. Nirgends brannte ein Licht. Er kam an einem portugiesischen Club vorbei. Die Fenster waren zugehängt. Zwei Häuser weiter folgte ein italienischer Club; da war die Eingangstür verrammelt; sie machte den Eindruck, als sei sie seit längerem nicht mehr geöffnet worden. Unrat hatte sich davor angesammelt. Eine dunkle Gestalt trat aus dem nächsten Hausflur und versperrte ihm den Weg. Er erkannte nicht gleich, was es war, das sich ihm in den Weg schob, und erschrak. Die Umrisse ließen ein großes, massiges Wesen erahnen. Der Mann mit den zwei Augen glaubte etwas wie eine Livree zu erkennen. Zumindest schimmerten an der Kleidung fahl ein paar Knöpfe, und auf dem Kopf schien eine Uniformmütze zu sitzen. Es war zu dunkel, um die Details genau erkennen zu können, und das Wesen stand zu nah vor ihm. Es knipste eine Taschenlampe an und reichte dem Mann mit den zwei Augen einen Reklamezettel, den es beleuchtete, sodass dieser lesen konnte, was darauf stand. Nach dem ersten Schreck entschloss er sich, den Text zu entziffern: »Rosaura empfängt in privatem Ambiente. Belegte Brote. Unverfälschter Alkohol. Viel dünne, weiße Haut.« Die Taschenlampe wurde ausgeknipst. Eine schwere warme Hand legte sich dem Mann mit den zwei Augen auf den Rücken und schob ihn sanft in die Richtung, in die er sowieso gehen wollte.

Zwei Häuser weiter, um die Ecke, lag ein türkisches Vereinslokal. Hier brannten vier Neonröhren an der Decke. Drei schwarzhaarige junge Männer saßen rauchend um einen Tisch; ein vierter, älterer, stand etwas entfernt hinter einem Büffet. Wieder zwei Häuser weiter folgte ein Etablissement ohne Namen. In der Tür gab es nur ein schwach beleuchtetes Bullauge, durch das man weder hinein- noch herausschauen konnte. Er öffnete die Tür und trat ein. Am Tresen stand eine Frau mit ledrigem Gesicht und großen Brüsten. Das wird Rosaura sein, dachte er. Sie musterte misstrauisch seinen Koffer und fragte dann, was er trinken wolle. Er verlangte ein Bier. Sie füllte ein Glas, stellte es auf den Tresen und fragte, ob er etwa vorhabe, hier wieder einzuziehen; ob seine großen Pläne sich zerschlagen hätten; ob er mit abgesägten Hosen heimkehre. Er schaute sie verständnislos an und sagte, sie verwechsle ihn wohl, er habe noch nie hier gewohnt, und große Pläne habe er in seinem ganzen Leben nicht gehabt; er sei fremd in der Stadt und suche ein Hotel, das sei alles. Er stellte den nass gewordenen Koffer neben den Tresen. Sie sagte vieldeutig: »Aber sicher, aber sicher.« Er lachte über ihr Abasicha, abasicha und fragte, was sie damit meine; ob das Arabisch sei. Sie sagte, sie rufe dann mal ’n Kuddi oder so ähnlich, öffnete die Tür zur Straße und rief »Kutschiii!« oder so ähnlich, »da isser wieder«. Dann schloss sie die Tür und trat zurück hinter den Tresen. Er sagte: »Ich verstehe dieses Wieder nicht. Was genau wollen Sie damit andeuten? Wie ich schon sagte, bin ich zum ersten Mal hier. Ich habe mich am Bahnhof bloß im Ausgang geirrt, nehme ich an. Man hat mir gesagt, ich müsse in der Unterführung links und dann die Treppe hoch, da käme ich auf eine Straße, an der mehrere Hotels stehen würden. Doch man hat vergessen, mir zu sagen, ob ich in Fahrtrichtung oder in Gegenfahrtrichtung links gehen müsse. Ich fürchte, die Hotels stehen am anderen Ende der Unterführung?«

»Wir sind dem Herrn also nicht mehr gut genug?«

Während er überlegte, was sie damit wohl sagen wollte, öffnete sich die Tür zur Straße. Ein großer, breiter Mann mit einem runden, vom Nieselregen feuchten Gesicht und geröteten Wangen trat ein. Er trug eine Mütze auf dem Kopf und einen Militärmantel mit metallenen Knöpfen. Er musterte den Mann mit den zwei Augen und fragte: »Aha. Da wären wir also wieder? War wohl nix mit der großen weiten Welt?« – »Ja, da haben Sie recht. Mit der ist nix. Zum Wohlsein.« – »Wenn du hier jemals wieder einen Fuß auf die Erde kriegen willst, dann wirst du dir schleunigst angewöhnen müssen, wieder so zu reden, wie wir hier reden. Das noble Zum-Wohlsein-Getue lässt bei uns schnell die Spinatzähne wachsen, wie du dich hoffentlich erinnern kannst. Du würdest also gern wiederkehren? Da muss ich dich leider enttäuschen: Wir haben uns die Freiheit herausgenommen, nicht auf dich zu warten. Dein Platz ist längst von einem anderen besetzt. Du bist hinausgezogen in die große weite Welt und hast hinter unserem Rücken über uns gelacht. Du hast geprasst und dich vergnügt da draußen, und jetzt, da gar nichts mehr läuft, jetzt kommst du angekrochen …«

»Ich war nie hier, wie ich bereits der Dame hinter dem Tresen erklärt habe. Es muss sich um eine Verwechslung handeln. Das passiert mir immer mal wieder in meinem Leben, dass ich verwechselt werde. Mein Gesicht ist nicht besonders einprägsam. Halten Sie mich möglicherweise für einen Frisör namens Türschmidt? So einer hat in der Straße, in der ich mein bisheriges Leben verbracht habe, vor ein paar Wochen seinen Salon eröffnet. Ich ließ mir von ihm die Haare schneiden, bevor ich wegfuhr. Er verpasste mir diese eigenartige Pagenfrisur, genau die gleiche, die er auch selbst trägt. Im Spiegel sahen wir aus wie Zwillingsbrüder. Vielleicht kommt er von hier, und ich erinnere Sie an ihn? Türschmidt? Sagt Ihnen der Name etwas? Falls ja, der bin ich definitiv nicht. Ich bin zum ersten Mal hier und wollte mich bloß erholen. Ich habe bislang als Gerichtsreporter in der Hauptstadt gearbeitet und bin davon müde geworden. Die Frau, mit der ich dort viele Jahre lang zusammen in derselben Wohnung gelebt habe und die vor ein paar Tagen gestorben ist, hat immer behauptet, Harenberg sei erholsam. Man könne hinterm Bahnhof günstige Zimmer finden, große, mit guten Betten und anständigem Frühstück; Zimmer, deren Fenster man nachts offen stehen lassen könne. Die frische Nachtluft ströme herein, man höre den Fluss vorbeifließen und Wasservögel, die sich im Schlaf räuspern, man höre den Wind in den Weiden rauschen, man höre aus der Ferne Hunde bellen, man schlafe tief und fest und träume von sich als jungem Menschen, dem die Glieder noch nicht wehtun, der noch auf Berge steigen, über Pässe wandern mag, hinunter ans sonnenbeschienene Meer. Wenn ich mich eines Tages erschöpft fühlen sollte, soll ich hierherfahren und mich ausruhen.«

»Und wie heißt sie denn, deine famose Leiche? Isidora selig? Klymnostrata selig? Sei vernünftig. In Büchern wird zwar oft behauptet, Menschen würden sich verändern mit den Jahren. Da kann es dann durchaus vorkommen, dass ein Sohn nach dreißig Jahren zum ersten Mal wieder seine alte Mutter besucht, und die erkennt ihn nicht mehr wieder. Doch Papier ist geduldig. Im Leben ist das anders; das solltest du als Gerichtsreporter eigentlich wissen. Wir erkennen dich sehr wohl wieder. Selbst Kühe erkennen ihre Freundinnen nach Jahren der Trennung wieder, wie du aus deiner Jugend noch wissen müsstest. Du hast dieselben zwei Augen, du hast dieselbe gequetschte Stimme wie damals, wenn du die Hausaufgaben nicht gemacht hattest und von unserer Lehrerin, Fräulein Ammann, aufgerufen wurdest und dich herauszuwinden versuchtest. Du warst immer schon ein Lügner und Betrüger. Ich spendiere dir jetzt ein Bier und stoße mit dir an auf die alten Tage. Dann aber packst du dein schmuckes Köfferchen und machst dich vom Acker. Wir wollen dich hier nicht mehr sehen. Deine Finken stinken, wie wir früher zu singen pflegten, du erinnerst dich …«

»Jetzt seien Sie vernünftig. Ich war noch nie in dieser Stadt, die ich – das nebenbei – für eine höchst anmutige halte, wie ich aus dem Zugfenster feststellen durfte, bei der Einfahrt, während gerade die Sonne unterging. Was für erhabene Sakralbauten!, dachte ich. Was für ein schlanker, grauer Strom, in den man am liebsten auf der Stelle hineinspringen möchte, um sich von ihm forttragen zu lassen. Ich war auf Anhieb so entzückt vom Gesamteindruck, dass ich tatsächlich erwäge, mich hier niederzulassen. Das hat aber absolut nichts zu tun mit Heimkehr. Im Gegenteil, ich bin im Aufbruch begriffen.«

»Und warum bitteschön verwendest du denn dann unsere Sprachfiguren? Dieses Jetzt seien Sie vernünftig zum Beispiel? Habe ich das nicht eben erst auch benutzt? Habe ich nicht eben zu dir gesagt sei vernünftig? Ist das etwa nicht unsere ureigene, hiesige Art zu versuchen, den anderen zur Raison zu bringen? Du hast zwar deinen Stallgeruch verloren, sicher, ja. Du riechst ängstlich, fremd. Du stinkst für meine Begriffe. Wahrscheinlich ein Rasierwasser, das man dort, wo du dich die letzten Jahre herumgetrieben hast, verwendet. – Wir wollen jetzt ein Spiel machen: Du säufst so lange unser Bier, bis dir wieder einfällt, wie ich heiße. Sauf.«

»Kuddi heißen Sie, Kuddi oder Kutschi oder so ähnlich?«

»Siehst du! Jetzt hast du dich verraten. Rosaura, du bist Zeugin: Der Sauhund hat behauptet, er sei nicht er und er kenne uns nicht. Kaum habe ich ihm aber angedroht, ein paar Schlucke von unserem Bier mit mir zusammen trinken zu müssen, fiel ihm ein, dass ich Kuddi heiße. Wie soll einer herausfinden, dass ich Kuddi, für Vertraute manchmal sogar Kutschi heiße, wo das hier doch ein absolut unüblicher Name ist? Hier heißt man Adrian, Zacki, Pierre, Melanie, Nino oder Alheidis, aber nicht Kuddi, und schon gar nicht Kutschi. Und doch hat er es herausgekriegt, ohne eine Sekunde zu zögern … Du Sausack. Jetzt willst du also zurückkommen und uns die Kartoffeln vom Acker fressen? Ohne sie angepflanzt und ohne sie geerntet zu haben? Zwei, drei Sätze dahersäuseln von anmutiger Gegend, Sakralbauten und so weiter, und schon liegen wir dir wieder zu Füßen? So hast du dir das vorgestellt? Aber so einfach geht das nicht. Wir wissen selbst, wie schön es bei uns ist. Harenberg wird nicht zufällig als das Kiew des Westens bezeichnet, welches wiederum als das Jerusalem des Ostens gilt. Um das zu erfahren, brauchen wir solche wie dich nicht.«

»Jetzt ist aber genug. Schalten Sie das Deckenlicht ein, bitte. In dieser schummrigen Stube werden Sie sonst alle noch verrückt. Sie können doch nicht jeden Gast, der hier zufällig hereingeschneit kommt, für einen anderen halten und ihn beleidigen, nur weil Sie ihn in Ihrer funzeligen Stallbeleuchtung nicht richtig zu erkennen vermögen?! Ich komme mir vor wie eine Fliege, die sich auf klebriges Papier gesetzt hat. Und sitze nun da und propellere mit den Flügeln und komme nicht mehr los. Und die Flügel bleiben am Ende auch noch kleben.«

»Das werden wir zu verhindern wissen, dass du hier kleben bleibst. Trink dein Bier, und dann nimm deinen Koffer und geh.«

Kennengelernt hatte er die Frau, die auf dem Liegestuhl erstickt war, beim Singen. Der Mann mit den zwei Augen war früher Mitglied in einem Kirchenchor gewesen. Sich einer gemeinsamen Sache unterzuordnen hatte ihm wohlgetan. Er stand in der zweiten Reihe bei den Bässen und fühlte sich aufgehoben in der von allen angestrebten Harmonie. Eines Tages klang eine fremde Stimme über den homogenen Klang hinweg, jung, klar und frisch. Sie vergoldete den Gemeindesaal, in dem die Probe stattfand, ohne einen einzigen Ton richtig zu treffen oder sich wenigstens an den Takt zu halten. Die Stimme stieg und fiel so schön, so innig und so falsch. Der Chorleiter brach die Probe ab und beschied der jungen Frau, die die fremden Töne von sich gegeben hatte, dass er sie leider nicht in den Chor aufnehmen könne, sie sei wahrscheinlich eher eine solistische Begabung. Das vergällte dem Mann mit den zwei Augen sein Vergnügen am gemeinsamen Singen, und er trat aus dem Chor aus.

Nach der Probe ging er neben der jungen Frau, die so seltsam gesungen hatte, durch die Fußgängerzone und redete wie besessen auf sie ein, in der festen Überzeugung, ein Mann, der die Sympathie einer Frau erringen wolle, dürfe ihr gegenüber nie den Verdacht aufkommen lassen, dass es ihm an Gesprächsstoff mangle. Sie schwieg, da sie irgendwo aufgeschnappt hatte, Frauen würden geheimnisvoll wirken, wenn sie schweigen.

Sie arbeitete in einer Bar, wo sie den Zapfhahn bediente. Ihr Traumberuf war das nicht. Doch da sie jung und schlank war, bekam sie viel Trinkgeld, genug, um sich davon eine eigene Wohnung leisten zu können.

Er verdiente seinen Lebensunterhalt zu jener Zeit bei einer Gebäudereinigungsfirma als Fensterputzer.

Vor dem Mietshaus, in dem sie wohnte und das am äußersten westlichen Punkt einer achtspurigen Ringstraße stand, schloss er sie unvermittelt in die Arme und drückte sie an seinen Körper, wobei er darauf achtete, sie sein hartes Glied spüren zu lassen und gleichzeitig seinen Mund auf den ihren zu pressen.

Als Knabe war er von einem jungen Mann, den er verehrte, auf dem Motorfahrrad mitgenommen worden. Er stand barfuß auf dem warmen Motorgehäuse und hielt sich an der Lenkstange fest. Der junge Mann, der hinter ihm auf dem Sattel saß, trug kurze Hosen. Er klemmte den vor ihm stehenden Knaben wie ein Fohlen zwischen seine nackten Schenkel mit den blonden Haaren drauf, und so jagten sie in schwindelerregendem Tempo über einen Waldweg in die grüne Finsternis hinein. Der Knabe bebte vor Lust. Als sie über eine Baumwurzel fuhren, gab es einen heftigen Ruck. Der Knabe rutschte mit den nackten Füßen vom inzwischen heiß gewordenen Motorgehäuse und schlug mit seinem Kinn auf die Lenkstange, sodass sein linker oberer Schneidezahn abbrach. Seither trug er an dieser Stelle einen Stiftzahn, den er sich bereits zweimal hatte erneuern lassen müssen, weil die übrigen Zähne im Lauf der Jahre ihre Farbe und Stellung veränderten, sodass der Stiftzahn nach einiger Zeit jeweils fehlfarben und schief zwischen ihnen hervorragte. Aus Sorge um diesen Stiftzahn hielt er die Lippen beim Küssen geschlossen.

Sie war dankbar dafür. Die Vorstellung, fremden Speichel im eigenen Mund zu haben, war ihr unangenehm. Sie drückte ihren geschlossenen Mund fest gegen den seinen und wand sich in den fremden Armen wie ein Ferkel, das zurück auf den Boden will, in der Annahme, Leidenschaft äußere sich in solch heftigen, schwer zu zähmenden Bewegungen. Nachdem sie beide erschöpft waren und sich aneinander wund gerieben hatten, seufzten sie tief auf und wünschten sich gegenseitig eine gute Nacht. Sie schlüpfte erleichtert in den dunklen Hausflur, und er ging quer durch die Stadt zu seiner Einzimmerwohnung, die am östlichsten Punkt der Ringstraße lag.

Die Rendezvous wiederholten sich. Am Ende umklammerte er sie jedes Mal mit eisernem Griff und rieb sich an ihr, während sie sich in seinen Armen wand wie eine, die sich von ihm entfesseln wollte. Damit glaubten sie einander ihre Zuneigung zu beweisen. Er bekam jedes Mal, schon bevor er sie anfasste, ein schmerzhaft steifes Glied, was er als ein untrügliches Zeichen für die Echtheit seiner Gefühle nahm.

Als Heranwachsender wurde er eines Nachts auf dem Nachhauseweg von einem ihm unbekannten älteren Herrn unter einer Eisenbahnbrücke angesprochen und, ohne etwas antworten zu können, umarmt und auf den Mund geküsst. Damals passierte ihm das mit seinem Penis auch schon. Der ältere Herr schien es ebenfalls für ein untrügliches Zeichen seiner Zuneigung zu ihm zu halten. Er knöpfte sich und ihm deswegen in flatternder Hast die Hosen auf, riss sie nach unten und rammte sein hartes, heißes Glied von hinten in den Jüngling hinein. Dieser begann sofort zu wimmern, während vor ihm sein eigener, heller Penis steil in die Nacht hinausragte, weswegen der ältere Herr mehrmals wiederholte, was weinst du denn, du dummer Junge, es macht dir doch Spaß, sonst würde sich dein Schwanz bestimmt nicht so stramm in die Höhe recken. Der Jüngling sagte, das habe gar nichts zu bedeuten. Sein Glied schnelle immer in die Höhe, sobald es berührt, ja sogar schon nur wenn es von fremden Augen angeschaut werde. Er könne das nicht beeinflussen; es passiere automatisch; es sei wie eine Maschine, die auf Knopfdruck reagiere. Würde es nach seinem inneren Empfinden gehen, müsste das Glied traurig nach unten hängen, ja sich vor Scham geradezu in die Bauchhöhle verkriechen, denn »Sie tun mir Gewalt an«. – »Ach was«, keuchte der ältere Herr, »dir gefällt das, und überhaupt, es ist ja schon vorbei, es hat ja gar nicht wehgetan.« Der Jüngling schniefte noch ein wenig, zog seine Hose hoch und wollte, ohne Abschied zu nehmen, nach Hause eilen. Der ältere Herr schaute ihn aber so traurig an, mit einem Gesicht, das an eine alte Ziege erinnerte, die keine Tücken mehr kennt, dass der Jüngling stehen blieb, worauf ihn der Herr mit einer Stimme, die nun dunkel und samten klang, fragte, ob er ein Foto von ihm bekommen könne, zur Erinnerung. Nein, sagte der Jüngling. Ob denn wenigstens er eins von ihm haben möchte? Nein.

Jetzt stand er also mit der jungen Frau, die so fremdartig gesungen hatte, nachts auf dem westlichen Stadtring und rieb sich an ihr, während sie sich bis zur Erschöpfung in seiner Umklammerung wand.

In Broschüren, die in jenen Jahren kostenlos in den öffentlichen Verkehrsmitteln verteilt wurden, war jeweils die vorletzte Seite der Welt der Erotik vorbehalten. Dort erklärten Fachleute der männlichen Leserschaft, wo und wie sie Frauen anfassen sollten, damit diese beim Sexualakt Lust empfinden würden. Der junge Mann mit den zwei Augen weigerte sich, diese Seiten zu beachten. Er glaubte, körperliche Anziehung und sexuelle Erfüllung zwischen Mann und Frau würden von höheren Mächten gesteuert. Er empfand es geradezu als Ketzerei, den Liebesakt zu einem Handwerk herabzuwürdigen, und er hielt es für eine Ungeheuerlichkeit, so zu tun, als müsse man bei Frauen nur lange genug am Knie reiben, um sie auf den Gipfel der Lust zu befördern. (Es war zu jener Zeit viel die Rede von weiblichen Knien, an denen man reiben müsse.) Er scheute vor diesen Ratgeberseiten deswegen geradezu zurück. Er war überzeugt davon, sie würden ihn verderben und seine Instinkte abtöten. Er glaubte an etwas Animalisches in jedem Menschen, das sich bestimmt auch bei ihm zur rechten Zeit heraustrauen werde, wenn er es bloß nicht mit stumpfsinnig wiederholten mechanischen Exerzitien vorher abtöte. Er müsse nur empfindlich genug auf die Signale der Frau in seinen Armen achten, dann werde er schon herausfinden, was ihr Lust bereite. Denn jede einzelne unterscheide sich bestimmt von der anderen. Die eine sei vielleicht kitzlig hinter den Ohren, die andere unterm Kinn.

Vor lauter Abneigung gegen die praktischen Tipps, die – von Illustrationen begleitet – in den Broschüren gegeben wurden, überblätterte er die entsprechenden Seiten, so rasch er konnte. Da er aber nicht so schnell wegschauen konnte, wie sich ihm die Illustrationen aufdrängten, brannten sich ihm unbewusst doch zwei, drei Stellen ein, die am Körper einer Frau nach Expertenmeinung eine besondere Bedeutung hatten. Er wollte sich nun aber auf keinen Fall wie ein Lehrling vorkommen, der am Körper der jungen Frau seine Gesellenprüfung abzulegen hatte, deswegen verbot er sich, den drei Punkten, die sich ihm eingebrannt hatten, erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken, ja er zwang sich geradezu dazu, sie zu ignorieren. Er beharrte darauf, die Welt der Sexualität auf eigene Faust entdecken zu wollen wie einen unerforschten Kontinent.

ihre Blume zu rauben