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Hans Mommsen

Das NS-Regime und die Auslöschung
des Judentums in Europa

Hans Mommsen

Das NS-Regime
und die Auslöschung
des Judentums
in Europa

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zweite, überarbeitete Auflage 2014
© Wallstein Verlag, Göttingen 2014
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Aldus
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
unter Verwendung folgender Abbildung:
Heinrich Himmler besichtigt die Baustelle des IG-Farben-Konzerns
beim KZ Auschwitz, Bauleiter Max Faust erläutert Himmler die
Baupläne, 17. Juli 1942, © akg-images
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen

ISBN (Print) 978-3-8353-1395-8
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2584-5
ISBN (E-Book epub) 978-3-8353-2585-2

Inhalt

Einleitung

KAPITEL 1
Antisemitismus in der Weimarer Republik
und der Aufstieg der NSDAP

KAPITEL 2
Die Funktion des Antisemitismus in der NSDAP

KAPITEL 3
Die Entstehung der »Nürnberger Gesetze«

KAPITEL 4
Die Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft

KAPITEL 5
Der 9. November 1938 und die öffentliche
Herabwürdigung des Judentums in Deutschland

KAPITEL 6
Die Umsiedlung der Juden und die Fiktion
einer »territorialen Endlösung«

KAPITEL 7
Der »Rassenvernichtungskrieg«
gegen die Sowjetunion

KAPITEL 8
Der europäische Osten als Schauplatz
der Ermordung der Juden

KAPITEL 9
Auschwitz und die »Endlösung
der europäischen Judenfrage«

KAPITEL 10
Der Holocaust und die Deutschen

Abkürzungen

Ausgewählte Literatur

Personenregister

Einleitung

Mit der Ermordung von über fünf Millionen jüdischer Menschen hat das Dritte Reich und damit die deutsche Nation eine unauslöschliche Schuld auf sich geladen. In der bisherigen Geschichte gibt es kein Verbrechen, das mit der Dimension und der Infamie des Holocaust verglichen werden kann. Jeder Versuch, dieses Geschehen in eine Reihe mit historischen Genoziden zu stellen, ist daher im Ansatz verfehlt. Denn anders als bei den exorbitanten Massenverbrechen, wie sie Timothy Snyder unter dem Begriff der »Bloodlands« zusammengestellt hat, gibt es beim Judenmord keine unmittelbaren Motive, wie etwa ethnische oder soziale Rivalitäten.1 Insoweit nimmt die Vernichtung von Millionen jüdischer Menschen in Europa eine Sonderstellung ein.

Die Ermordung von 5,6 Millionen jüdischer Menschen, denen es nicht gelang, sich durch Flucht oder Untertauchen dem Zugriff der Häscher zu entziehen, stellt eine bleibende moralische Last für diejenigen dar, welche die Verfolgung entweder aktiv betrieben oder sie passiv hingenommen haben. Dies betrifft in erster Linie die deutsche Nation, in deren Namen die Vernichtung vollzogen wurde, wenngleich neben den Deutschen Angehörige anderer europäischer Nationen beteiligt waren, nicht zuletzt die Polen, die Ukrainer, die Rumänen, die Serben und Kroaten. Die Landkarte des Verbrechens ist zu vielfältig, um sie im Einzelnen nachzuzeichnen, sodass unser Interesse vor allem denjenigen gilt, die Morde ersonnen und umgesetzt haben.

Gleichwohl können die ideologischen Wurzeln nicht übergangen werden, welche die abendländische Geschichte begleitet haben. Ihre spezifische Virulenz erhielten sie jedoch in der spätwilhelminischen Epoche, in der sich die tradierte Judenfeindschaft mit völkisch-rassistischen Zügen verknüpfte und damit dem »modernen« Antisemitismus seine aggressive Note gab. Nachdem am Ausgang des Ersten Weltkrieges radikal antisemitische Bestrebungen zunehmend Gewicht erhielten, aber keineswegs auf Deutschland beschränkt waren, fanden sie ihre eigentümliche Zuspitzung in rassistischen Denkhaltungen im Ersten Weltkrieg. Aber ihr Einfluss blieb zunächst begrenzt, verlor sogar an Impetus. Auch wenn sich innerhalb der politischen Rechten antisemitische Tendenzen festsetzten, blieb ihre Verbreitung in der Weimarer Republik eingeschränkt. So zählte der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, der den harten Kern des völkischen Antisemitismus ausmachte, zum Zeitpunkt seines 1922 verhängten Verbotes nicht mehr als 220.000 Mitglieder. Die Mehrheit der aggressiven Antisemiten fand sich jedoch nach 1923 in der NSDAP wieder. Die höheren Funktionäre der Partei stammten überwiegend aus den völkischen Verbänden und praktizierten dort weiterhin die eingeübte antijüdische Aggression.

Gleichwohl blieb der Einfluss des völkischen Antisemitismus in der späten Weimarer Republik begrenzt. Die fulminanten Erfolge der NSDAP in den Reichstagswahlen vom September 1930 bis zum März 1933 waren nicht primär ihrer extrem antisemitischen Propaganda zuzuschreiben. Die NS-Propagandaleitung erkannte vielmehr, dass eine weitere Zuspitzung der Judenfrage kontraproduktiv war, sodass die extrem judenfeindliche Propaganda in den Wahlkämpfen zurückgefahren wurde. Andererseits vermied die NSDAP unter dem Einfluss Adolf Hitlers, sich in der konkreten politischen Auseinandersetzung festzulegen, nicht zuletzt in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Als Folge dieser Strategie der Optionsvermeidung fungierte die antisemitische Propaganda als Surrogat für ein inhaltliches politisches Programm der Partei.

Bekanntlich versuchte Hitlers fähigster Gefolgsmann Gregor Strasser, von dem völlig veralteten Programm der 25 Punkte loszukommen und der Partei ein zeitgemäßes Programm zu geben, doch scheiterte dies am Widerstand Hitlers, der darauf bestand, das alte Programm unter keinen Umständen zu ändern. In der Parteipropaganda dominierten leere oder nicht miteinander vereinbare Grundsätze, die mit antisemitischem Inhalt aufgefüllt wurden. Auf diese Weise rückte die Judenfeindschaft in den Mittelpunkt der propagandistischen Rhetorik der Partei und trat an die Stelle konkreter Gegenwartsforderungen. Zusammen mit dem Fehlen konstruktiver Zielsetzungen bewirkte die bewusst geschürte Rivalität zwischen den Funktionsträgern der Partei und angegliederten Verbänden, dass das Schlagwort von der »Lösung der Judenfrage« als Politikersatz fungierte. In dem Sammelsurium von Ressentiments und Phobien, die in der NS-Propaganda zusammenflossen, stellte die Judenfeindschaft ein unentbehrliches Ingredienz der NS-Weltanschauung dar.

Für die sich stufenhaft vollziehende Eskalation der Ausschaltung der Juden aus der deutschen Gesellschaft bis hin zur »Endlösung der Judenfrage« nach 1933 stellte der sich zunehmend verfestigende Judenhass einen bedingenden, aber nicht zureichenden Faktor dar. Desgleichen entsprang die Judenverfolgung keinem in sich konsistenten »Masterplan«. Zwar verfestigte sich in der NS-Führungsschicht die Erwartung, den jüdischen Bevölkerungsteil zunächst aus Deutschland, schließlich aus dem besetzten Teil Europas zu vertreiben. Aber es gab vor dem Frühjahr 1941 keine Strategien, um diese Vision zu realisieren. Erst der vom Auswärtigen Amt, dann dem RSHA aufgegriffene Madagaskar-Plan, der alles andere als neu war, gab der Vorstellung, die »Judenfrage« im Wege einer systematischen Umsiedlung lösen zu können, neue Nahrung. Es überrascht, wie viel Energie die Planer im RSHA auf dieses Konzept verwandten.

Tatsächlich hat es zu keinem Zeitpunkt ein in sich konsistentes Konzept zur »Endlösung der Judenfrage«, sondern nur rivalisierende Teilvorhaben gegeben, die, wie Götz Aly einleuchtend argumentiert hat, sämtlich in eine Sackgasse führten.2 Er hat nachdrücklich betont, dass die »Judenfrage« im Zusammenhang mit dem Generalplan Ost, zugleich den Rückwirkungen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts und der darin vereinbarten Rücksiedlung der volksdeutschen Minderheiten aktualisiert wurde. Zuvor gab es keine Alternative zu dem Kalkül, die in Deutschland lebenden Juden zur Auswanderung zu zwingen, aber gleichzeitig wurden deren Existenzgrundlagen systematisch ausgehöhlt und schließlich zerstört. Dabei konkurrierten spontane Aktionen, wie sie für die »Reichskristallnacht« charakteristisch waren, mit einer den jüdischen Lebensraum zunehmend einengenden Gesetzgebung, die mit den Nürnberger Gesetzen ihren Ausgang nahm.

Den entscheidenden Wendepunkt in der Radikalisierung der »Judenverfolgung« stellte der Angriff auf die Sowjetunion dar. Die Hybris der Planer des RSHA, nach der für den Oktober 1941 erwarteten Niederlage Russlands ein gigantisches Ostsiedlungsprojekt vorzubereiten, an dessen Ende nicht nur die Liquidierung von 31 Millionen Russen, sondern auch der europäischen Juden stand, kam damit zum Durchbruch. Hitlers Entschluss, den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mit der Umsiedlung der volksdeutschen Minderheiten in der Sowjetunion und den baltischen Staaten zu verbinden, wurde zum Ausgangspunkt einer umfassenden völkischen Neuordnung. Sie traf primär die polnische Bevölkerung im Warthegau, aber zugleich die dort lebenden Juden, die deutschen Siedlern Platz machen sollten. Im Zusammenhang damit scheiterten die wiederholt betriebenen Pläne, ein Judenreservat, so in Nisko und danach in Lublin, zu errichten. An diese Stelle traten die von Heinrich Himmler betriebene Errichtung von Vernichtungslagern und die systematische Liquidierung der aus den übrigen europäischen Ländern deportierten Juden.

Es besteht Einigkeit in der Forschung, dass es einen umfassenden Befehl zur Durchführung der totalen Liquidierung nicht gegeben hat und dass Hitler offenbar zögerte, diesen Schritt zu tun. Seine Stellungnahmen betrafen stets nur Teilschritte und ließen das Fenster für die Fiktion einer künftigen Absiedlung der Juden im »Ostraum« offen. Gleichwohl setzte sich in der NS-Führungsriege die Vorstellung durch, dass die Judenvernichtung und nicht die bevorstehende Zerschlagung der Sowjetunion das eigentliche Kriegsziel darstelle. Aus dieser Perspektive, die einen grotesken Realitätsverlust kennzeichnete, sollte die Ausrottung des Judentums dem Bolschewismus endgültig seine Grundlage entziehen sowie Großbritannien zum Einlenken zwingen, sich den Achsenmächten anzuschließen.

Es fällt schwer, die sich in den SS-Stäben unter Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich durchsetzende fanatisch verfochtene Vorstellung ernst zunehmen, dass es möglich sei, nicht nur das europäische, sondern das Weltjudentum physisch auszulöschen. Das Denken der NS-Führung war stets geneigt, sich utopischen Visionen zu verschreiben. Im Zusammenhang mit den hypertrophen Plänen einer Zerschlagung der Sowjetunion und schimärischen Siedlungsplänen stellte sich bei den SS-Führungsstäben und der NS-Führung selbst ein extremer Realitätsverlust ein, der in der Forderung einer globalen »Endlösung der Judenfrage« gipfelte.

Es ist die Aufgabe der vorliegenden Studie zur Geschichte des Holocaust, die einzelnen Bausteine und Etappen zu schildern, die zur Kulmination des Verbrechens geführt haben. Dabei steht die Frage im Vordergrund, warum und unter welchen Bedingungen die einzelnen Stufen der Ausgliederung der Juden aus der deutschen Gesellschaft, ihre Ausschaltung aus dem Wirtschaftsleben und ihre schrittweise Enteignung vollzogen wurden, bis schließlich ihre Deportation erfolgte: Die Analyse geht von einer Skizze der Judenfeindschaft in der Weimarer Republik und vor 1933 aus, schildert dann den Komplex der Nürnberger Gesetze und der Einschaltung des Behördenapparats in die Verfolgung, um danach den Prozess der Eliminierung der Juden aus dem Wirtschaftsleben nachzuzeichnen. Die Vorgänge im Zusammenhang mit der »Reichskristallnacht« leiteten dann die vollständige Entrechtung der deutschen Juden ein, während die jüdische Auswanderung zunehmend stagnierte.

Nachdem mit der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges der Rubikon zu hemmungsloser Gewaltanwendung überschritten war, schaltete das NS-Regime unter der maßgebenden Mitwirkung Adolf Eichmanns zu einer territorialen Lösung der »Judenfrage« um, während die Einsatzgruppen des SD und der Sicherheitspolizei im Vorgriff auf eine Deportation der europäischen Juden »nach Osten« zur systematischen Ermordung der sowjetischen Juden übergingen. Abschließend behandelt die Darstellung die Liquidierung des Judentums in den besetzten und den annektierten polnischen Gebieten bis hin zur Aktion »Reinhard« und die sich an die Wannsee-Konferenz anschließenden Vernichtungsaktionen in den südosteuropäischen Länden, in Italien und Frankreich sowie die Deportation der ungarischen Juden. Mit einem Blick auf die Todesmärsche schließt sich der Kreis der Verfolgung.

Anmerkungen

1Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2010.

2S. Götz Aly, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 32005, S. 90 ff.

Kapitel 1

Antisemitismus in der Weimarer Republik
und der Aufstieg der NSDAP

Die Ursprünge und ideologischen Verzweigungen des Antisemitismus liegen in der Periode zwischen der Reichsgründung von 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Zwar gehen die antisemitischen Strömungen bis in den Vormärz zurück, politische Virulenz erhielten sie jedoch nicht vor der Gründerzeit, die 1873 von einer Rezession abgelöst wurde. Mit der sogenannten Berliner Bewegung des protestantischen Hofpredigers Adolf Stoecker wurde zum erstenmal systematisch versucht, antisemitische Ressentiments politisch zu mobilisieren.1 Stoeckers Erwartung, durch die Karte des Antisemitismus die Masse der Industriearbeiterschaft dem Einfluss der Sozialdemokratie entwinden zu können, erfüllte sich jedoch nicht.

Im frühen Kaiserreich waren antisemitische Einstellungen in bürgerlichen Kreisen, vor allem aber in der Akademikerschaft weit verbreitet, und kein Geringerer als Heinrich von Treitschke hat diesen Stimmungen öffentlich Ausdruck verliehen, was eine scharfe publizistische Entgegnung seines Fachkollegen Theodor Mommsen zur Folge hatte.2 Insbesondere bei studentischen Korporationen, so dem Verein Deutscher Studenten (VDSt), gehörte der Ausschluss von Juden zur Selbstverständlichkeit, und das sollte sich in den Weimarer Jahren fortsetzen.

Demgegenüber waren die Versuche, den Antisemitismus im Parteiensystem heimisch zu machen, weitgehend erfolglos. Zwar bildete sich eine Reihe antisemitischer Parteien, darunter Stoeckers Christlichsoziale Partei, die Deutsch-Soziale Partei Otto Böckels und die Deutsche Reformpartei Max Liebermanns von Sonnenberg, aber sie blieben von marginalem Einfluss und lösten sich nach der Jahrhundertwende auf.3 Wichtiger war, dass sich in den konservativen Parteien antisemitische Einflüsse geltend machten. So wandte sich das Tivoli-Programm der Deutschkonservativen Partei von 1892 gegen die überproportionale Vertretung von Juden in bestimmten Professionen und verlangte die Schließung der Grenzen, um eine weitere Einwanderung von Juden aus Osteuropa zu unterbinden.4

Die auf konservativer Seite vertretene Variante des Antisemitismus richtete sich in erster Linie gegen die nicht assimilierten Juden und entzündete sich an der im Zuge der industriellen Revolution anwachsenden Zuwanderung von Ostjuden nach Deutschland. Die antisemitischen Einstellungen dieses Typus bildeten einen gleichsam unerlässlichen Bestandteil des deutschen Nationalgefühls und umfassten vor allem Gruppen, die gegen eine Modernisierung eingestellt waren. Man hat daher von einer Art »kulturellem Code« gesprochen, der die Funktion hatte, die bürgerliche Mittelklasse in das konservative Lager zu integrieren.5

Diese im Kaiserreich in den Vordergrund tretende Variante des Antisemitismus enthielt in der Regel keine rassistische Komponente, sondern pflegte das assimilierte einheimische Judentum davon auszunehmen. Sie war bei der gebildeten Oberschicht weit verbreitet, die den völkischen Radau-Antisemitismus vom Schlage Theodor Fritschs ablehnte. Parallel zu diesem vorherrschenden dissimilatorischen Typus stand der vor allem im katholischen Raum lebendige traditionelle Anti-Judaismus, der die Juden nach wie vor als Christus-Mörder betrachtete und vor allem den katholischen Klerus bis in die 30er Jahre beeinflusste.6

Demgegenüber war der völkisch-rassische Typus des Antisemitismus auf verhältnismäßig kleine Gruppierungen beschränkt. Er ging in erster Linie auf Autoren wie Houston Stewart Chamberlain, Eugen Dühring und Julius Langbehn zurück und fand weniger in den antisemitischen Parteien, die sich als instabil erwiesen, als in den Richard-Wagner-Vereinen, dem Alldeutschen Verband und verwandten imperialistischen Organisationen einen organisatorischen Rückhalt.7 Dieser Typus zeichnete sich dadurch aus, dass alle Personen jüdischer Abstammung, unabhängig davon, ob sie konvertiert waren oder nicht, verteufelt wurden. Die völkischen Antisemiten verlangten daher die Entfernung der Juden aus Deutschland, die sie für den Umstand verantwortlich machten, dass es den Deutschen nicht gelang, sich zu einer geschlossenen Nation zu entwickeln. Dahinter verbarg sich die Vorstellung vom inneren Zusammenhalt der Juden als Ethnie, der sie wiederum zum geheimen Vorbild für die deutsche Nationsbildung machte.

Während die antisemitische Unterströmung in den Vorkriegsjahren nur geringe Popularität besaß, änderte sich dies unter den innenpolitischen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges. Vor allem bei der politischen Rechten entluden die sich zuspitzenden sozialen und politischen Spannungen einen regelrechten Ausbruch antisemitischer Emotionen, die insbesondere die Militärs erfassten. Der sogenannte Judenzensus, den das Preußische Kriegsministerium 1916 einführte, um die Teilnahme von Juden am Militärdienst zu überprüfen, spielte öffentlichen Ressentiments in die Hände, wonach sich die Juden als rücksichtslose kapitalistische Profiteure hervortaten und sich der Wehrpflicht zu entziehen suchten.8 Das war die erste offizielle Bekundung antisemitischer Vorurteile seitens des Preußischen Kriegsministeriums und der Obersten Heeresleitung. Sie spiegelte die vor allem im konservativen Lager verbreitete Bestrebung, Schuldige für die anwachsende öffentliche Missstimmung zu finden, die durch die mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln und die ungünstige Kriegslage ausgelöst war.

Die deutsche Revolution von 1918 war von einer Verstärkung nationalistischer und antisemitischer Gefühle auf Seiten der politischen Rechten begleitet, die sich mit dem eskalierenden Antibolschewismus und Antisozialismus verquickten, der sich des Vorwands bediente, dass Juden überproportional in der Sozialdemokratischen Partei und dem kleinen Spartakus-Bund vertreten waren, welcher zur Jahreswende zur Kommunistischen Partei umgegründet wurde. Die antisemitische Agitation war nicht zuletzt vom Alldeutschen Verband entfacht worden, in der extreme Judengegner, darunter der Justizrat Claß, eine führende Rolle spielten, obwohl der Verband selbst von jüdischen Honoratioren mitfinanziert wurde.

Die Revolution von 1918 konfrontierte den Alldeutschen Verband mit einer unerwarteten Konstellation. Um seine formell überparteiliche Stellung zu bewahren, hatte der Verband den Versuch unternommen, durch die Gründung extrem nationalistischer und antisemitischer Tarnorganisationen wie dem Reichshammerbund oder der Thule-Gesellschaft in München politischen Einfluss auszuüben. Diese ordensähnlich aufgebauten Geheimorganisationen, die überwiegend aus bürgerlichen Honoratioren bestanden, spielten in der aktivistischen antisemitischen Bewegung eine maßgebende Rolle, die sich vor allem in München am Ende des Krieges und nach dem Zusammenbruch vom November 1918 herausgebildet hatte. Der Alldeutsche Verband unterstützte zugleich die Deutsche Vaterlandspartei die von rechtsstehenden Politikern im Umkreis des Generallandschaftsdirektors Kapp 1916 ins Leben gerufen worden war, um die Fortführung des Krieges gegenüber den anwachsenden Protesten in der Arbeiterschaft und dem unteren Mittelstand propagandistisch durchzusetzen, und die ebenfalls dem Antisemitismus das Wort redete.9

Die Vaterlandspartei stellte einen neuen Typ der Massenorganisation dar, indem sie im Unterschied zu bürgerlichen Vereinen auf individuelle Mitgliedschaft verzichtete und stattdessen einen Zusammenschluss des Verbandswesens im rechtsbürgerlichen Spektrum anstrebte, zu dem die Christlichen Gewerkschaften, der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband und die Patriotischen und Kriegervereine gehörten. In dieser Hinsicht nahm die Vaterlandspartei Organisationsmuster der faschistischen Parteien vorweg, während ihre Führungsgruppe der Tradition des Wilhelminischen Kaiserreiches verhaftet blieb und insofern den Schritt zu offen populistischen Agitationstechniken verfehlte. Sie nahm eine defensive Position gegenüber dem vordringenden Einfluss der Sozialdemokraten ein, die für einen Frieden ohne Annexionen und die Reform des preußischen Wahlrechts eintraten, unterstützte aber gleichzeitig völkisch-antisemitische Bestrebungen.

In der begründeten Erwartung, dass die bevorstehenden Wahlen zur Nationalversammlung, die nun auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes erfolgten, die bisherige bürgerlich-konservative Majorität zerbrechen und die Konservative Partei dadurch ihren früheren Rückhalt in der öffentlichen Verwaltung einbüßen würde, reagierte der Alldeutsche Verband mit der Gründung einer neuen nationalistischen Organisation, dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, der die Aufgabe haben sollte, die Arbeiterschaft für das rechte Lager zu gewinnen. Als Mittel der Massenmobilisierung, die sich vor allem gegen die sozialistische Mehrheit richtete, sollten die verbreiteten antisemitischen Ressentiments im Nachkriegsdeutschland ausgespielt werden.10

Parallel zu der Initiative entschloss sich eine Reihe von alldeutsch gesinnten Honoratioren, die der Münchner Thule-Gesellschaft angehörten, unter ihnen der völkische Journalist Karl Harrer, eine kleine nationale Arbeiterpartei ins Leben zu rufen und finanziell zu unterstützen. Diese Splittergruppe wurde von Anton Drexler gegründet, der von der Thule-Gesellschaft kam und deren extrem antisozialistische und antisemitische Vorstellungen teilte. Seine Deutsche Arbeiterpartei stellte eine von vielen gleichartigen Organisationen dar, die im gegenrevolutionären Klima Münchens wie die Pilze aus dem Boden schossen. Drexler wäre heute vergessen, wenn nicht Hitler sein Angebot angenommen hätte, dem Ausschuss der Partei beizutreten, mit der er als V-Mann des Bayerischen Reichswehrgruppenkommandos in Verbindung gekommen war.

Eine weit größere Stellung im völkischen Lager besaß der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund, der sich anschickte, zum Zentrum des organisierten Antisemitismus in der frühen Weimarer Republik zu werden. Als verdeckte Nebenorganisation des Alldeutschen Verbandes wurde er von diesem finanziell massiv unterstützt. Mit dem Aufbau eines ausgedehnten Netzwerks von mehr als 400 Ortsgruppen gelang es dem Bund, sich rivalisierende antisemitische Initiativen einzuverleiben. Auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung – er wurde 1922 von der preußischen Regierung im Gefolge des Rathenau-Mordes verboten – umfasste er mehr als 200.000 Mitglieder und damit das Gros des aktivistischen Antisemitismus.

Die Initiative zur Gründung des Schutz- und Trutzbundes war von Justizrat Heinrich Claß, dem Führer des Alldeutschen Verbandes, ausgegangen. Er verfolgte dabei das Konzept, die in der Bevölkerung vorhandenen antisemitischen Ressentiments für die Erzeugung einer breiten Volksbewegung auszunutzen, die unter demokratischen Bedingungen als Gegengewicht gegenüber der Sozialdemokratie fungieren und die Arbeiterschaft in das nationale Lager zurückholen sollte. Claß’ Kalkül erwies sich jedoch als verfehlt, da die Industriearbeiterschaft gegenüber dem völkischen Antisemitismus weitgehend unempfänglich war.

Zugleich ebbte die antisemitische Strömung nach dem Ende der Hyperinflation von 1923 rasch ab und sollte erst wieder unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise größere politische Revelanz gewinnen. Zwar blieb eine antisemitische Unterströmung durch die Zeit der Weimarer Republik hindurch erhalten und beeinflusste die politischen Diskurse. Zugleich blieb der dissimilatorische Antisemitismus der deutschen Oberklasse virulent, der schon im Tivoli-Programm der Deutschkonservativen Partei von 1892 zum Ausdruck gekommen war. Aber als politisches Organisationsprinzip erwies sich der Antisemitismus als wenig erfolgreich.

Es war indessen von kaum zu überschätzender Bedeutung, dass die NSDAP – die Namensänderung von DAP zur NSDAP wurde 1920 unter dem Einfluss der parallelen Bewegung in Österreich vorgenommen – als Sammelbecken der aktiven Antisemiten der Kriegs- und Nachkriegsjahre fungierte. Fast alle der vom Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund und verwandten Organisationen herkommenden antisemitischen Aktivisten fanden in der NSDAP ein neues Wirkungsfeld, und sie formten den inneren Kern der Parteiführung. Viele von ihnen sollten sich später als Gauleiter einen Namen machen.

Auch die Deutschnationale Volkspartei verfolgte einen eindeutig antisemitischen Kurs, wenngleich sie sich vom radikalvölkischen Lager distanzierte. Die Partei nahm 1920 eine Prinzipienerklärung an, die eine sorgfältig abgefasste Bejahung antijüdischer Politik enthielt und sich »gegen jeden zersetzenden undeutschen Geist, mag er von jüdischen oder anderen Kreisen ausgehen«, und sich gegen »die seit der Revolution immer verhängnisvoller hervortretende Vorherrschaft des Judentums in Regierung und Öffentlichkeit« wandte. »Der Zustrom Fremdstämmiger über unsere Grenzen ist zu unterbinden«, hieß es darin weiter.11 Damit setzte die Partei die Linie des Tivoli-Programms fort, ohne jedoch so weit zu gehen, Juden von der Parteimitgliedschaft auszuschließen (was dann 1924 geschah), bei gleichzeitiger Zurückweisung gewaltsamer Übergriffe gegen Juden.12

Dies genügte jedoch dem ausgeprägt antisemitischen Flügel der DNVP nicht, der bestrebt war, die Gesamtpartei auf einen radikaleren Kurs in der »Judenfrage« festzulegen, ohne damit Erfolg zu haben, da die Parteimehrheit ihre Koalitionsfähigkeit nicht gefährden und ebenso wenig auf die finanzielle Unterstützung jüdischer Sympathisanten verzichten wollte. Das machte einen Bruch unvermeidlich. Nach der Ermordung Walter Rathenaus, des deutschen Außenministers, die eine breite öffentliche Protestwelle gegen die antisemitischen Propagandisten auslöste, zu denen insbesondere Wilhelm Henning, Reinhard Wulle und Albrecht von Gräfe-Goldebee gehörten, suchte die Parteimehrheit Druck auf den rassistischen Flügel auszuüben, die antisemitische Agitation zu mäßigen, und griff zu disziplinarischen Maßnahmen. Daraufhin verließ der extremistische Flügel 1922 die Partei und konstituierte sich als Deutschvölkische Freiheitspartei unter Erich Ludendorff als Galionsfigur. In der Folge knüpfte sie enge Verbindungen zu den Nachfolgeorganisationen der 1923 verbotenen Hitler-Bewegung und ging 1925 in der neu begründeten NSDAP auf.13

Im gleichen Zeitraum nahm die NSDAP einen raschen Aufstieg, nachdem Hitler 1921 als Propagandaredner der Partei Drexler erpresst hatte, ihm die alleinige Führung zu übertragen, und er, gestützt auf seine eng verschworene Münchner Anhängerschaft, eine förmliche Diktatur über die Partei begründet hatte.14 Die unablässige antisemitische Hetze, die Hitler und seine Münchner Gefolgsleute betrieben, trug unzweifelhaft zu der wachsenden Popularität der NSDAP bei, aber sie war im Wesentlichen auf München, Oberbayern und Franken beschränkt und weit davon entfernt, eine nationale Bewegung zu sein.

Das 25-Punkte-Programm, das die DAP/NSDAP im Februar 1920 verabschiedet und das Hitler öffentlich verkündet hatte – er sollte es auf der Bamberger Führertagung 1926 als »unabänderlich« hinstellen – unterschied sich allenfalls im Ton vom völkischen Antisemitismus, wie er gleichzeitig von der bürgerlichen Rechten und vom Alldeutschen Verband artikuliert wurde. Es bestritt Juden unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit die Fähigkeit, Volksgenosse zu sein, woraus die Aberkennung öffentlicher Ämter und ihr Ausschluss aus der Presse abgeleitet wurden. Zugleich wandte sich das Programm gegen »den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns«.15 Es war von den Grundsätzen der Deutsch-Sozialistischen Partei, ebenfalls ein Thule-Ableger, und nicht zuletzt von Dietrich Eckart und Gottfried Feder beeinflusst. Hitler selbst hatte keinen Einfluss auf den Inhalt genommen und scheint es nicht wirklich ernst genommen zu haben.16

Der frühe Aufstieg der NS-Bewegung in Bayern muss in den Zusammenhang der konterrevolutionären Vorgänge gestellt werden, die sich bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik abspielten. Diese wurde von der Rechtspresse als jüdisches Machwerk denunziert, wobei hervorgehoben wurde, dass neben dem Sozialdemokraten Kurt Eisner, dem ermordeten bayerischen Ministerpräsidenten, eine Reihe von Führern der Räterepublik jüdischer Abstammung waren.

In diesem spezifischen politischen Klima tat Adolf Hitler seine ersten politischen Schritte, nachdem er in der Phase der Räterepublik eine eher neutrale und sogar prosozialistische Haltung eingenommen hatte. Er war zu dieser Zeit noch immer Mitglied des Bayerischen Reichswehrkommandos und war zu militärischen Ausbildungskursen kommandiert worden, in denen er jenen vitriolischen Antisemitismus entwickelte, der dann einen unerlässlichen Bestandteil der nationalsozialistischen Weltanschauung bilden sollte.

In seiner Wiener Zeit war Hitler zwar vom zeitgenössischen Wiener Antisemitismus beeinflusst, insbesondere der rassistischen Propaganda Georg Schönerers, jedoch vollzog er die Wendung zum extremistischen Antisemitismus nicht vor den Münchner Jahren, in denen er unter den prägenden Einfluss von völkischen Ideologen, insbesondere des nationalistischen Dichters Dietrich Eckart, gelangte.17 Gleichzeitig kam er in Kontakt mit dem Historiker Karl Alexander von Müller, der Hitlers rhetorische Begabung frühzeitig erkannte. Sowohl Dietrich Eckart wie Alfred Rosenberg, mit denen er 1919 in München zusammentraf, haben Hitlers Weltanschauung maßgeblich geprägt und nicht zuletzt dessen antisemitische Einstellung gefördert. Beide waren Mitglied der Thule-Gesellschaft gewesen.

Es ist allerdings nicht leicht, die tatsächliche Verbreitung und den realen Einfluss der völkischen Bewegung in den Frühjahren der Weimarer Republik zu bestimmen. Organisatorisch war sie in erster Linie vom Alldeutschen Verband und der Deutschvölkischen Freiheitspartei repräsentiert, und sie erlangte über die Medien einen beträchtlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung. So gehörte der »Münchner Beobachter«, der später von der NSDAP erworben und als »Völkischer Beobachter« weitergeführt wurde, der Thule-Gesellschaft und fungierte als Propagandaorgan für das völkische Lager. Die antisemitische Presse fand vor allem in Teilen Bayerns und in Franken beträchtliche Resonanz und wirkte mit Sicherheit auf die nachhaltig antisemitisch eingestellte Freikorpsbewegung ebenso wie die Bayerischen Heimwehren. Es kann als sicher gelten, dass auch die Reichswehr davon nicht unberührt blieb und deren Propagandaarbeit wie im Falle der Aufklärungsabteilung, der Hitler angehörte, antisemitisch geprägt war.

Gleichwohl gelangte die Phase, in der die frühe völkische Propaganda florierte, mit dem Ende der Hyperinflation zu einem gewissen Abschluss. Schon das Scheitern des Hitler-Putsches am 9. November 1923 bezeichnete einen Wendepunkt. Hitlers Umsturzversuch war als ein letzter Vorstoß zustande gekommen, das Ruder herumzureißen und die Initiative zurückzugewinnen, die der Parteiführer an die konservativen Frondeure im Umkreis der bayerischen Vaterländischen Verbände, der Freikorps und der Bayerischen Reichswehr verloren hatte. Während diese den geplanten Umsturzversuch noch einmal aufschieben wollten, da sie auf eine Mitwirkung von General von Seeckt und anderer hoher Funktionäre in Berlin hofften, entschied sich Hitler, auf eigene Faust zu handeln und die bayerischen Honoratioren, mit denen er verbündet war, darunter Erich von Ludendorff, durch den geplanten Propagandamarsch am 9. November mit sich zu ziehen.18

Der Putsch vom 9. November 1923 war der letzte Versuch der politischen Rechten, die Weimarer Republik mit militärischen Mitteln und in einer frontalen Attacke zu stürzen. Das vollständige Scheitern führte zu einer empfindlichen Schwächung der rechtsextremen Gruppen, die sich in den Ergebnissen der Reichstagswahlen vom April und September 1924 niederschlugen. Während sich der in Landsberg inhaftierte Hitler aus taktischen Gründen zurückhielt und verzichtete, auf die völkischen Splittergruppen, die an die Stelle der offiziell aufgelösten NSDAP traten, unmittelbaren Einfluss zu nehmen, um sich der Abfassung von »Mein Kampf« zu widmen, mussten diese unter der Führung des Generals Ludendorff eine spektakuläre Niederlage hinnehmen.

Für die 1925 anstehenden Reichspräsidentenwahlen nominierte der völkische Block Erich Ludendorff als gemeinsamen Kandidaten. Hitler gab seine formelle Zustimmung in der berechtigten Erwartung, dass sein einziger ernsthafter Rivale im völkischen Lager eine empfindliche Niederlage davontragen würde. In der Tat endete Ludendorff im ersten Wahlgang als aussichtsloser Mitbewerber, indem er nur 0,06 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Dies zeigte, dass die völkische Idee ihre Stoßkraft weitgehend eingebüßt hatte. Auch späterhin bis zu den Reichstagswahlen vom Dezember 1928 erhielt das völkische Lager einschließlich der NSDAP nie mehr als acht Prozent der Stimmen.

Für den Aufstieg der NSDAP als Massenbewegung spielten offensichtlich andere Faktoren eine wichtigere Rolle als der Einfluss rassisch-völkischer Ideen in der deutschen Öffentlichkeit. Von entscheidender Bedeutung war zunächst der Aufbau einer wirksamen Parteiorganisation nach der Neugründung der NSDAP von 1925. Die neuen Statuten sicherten Hitler uneingeschränkte Macht über die Partei zu und etablierten die Herrschaft des Führerprinzips auf allen Ebenen der Partei. Darüber hinaus setzten Hitler und die Münchner Gruppe durch, dass die Partei alle verfügbaren Energien in die Propaganda steckte und sich nicht dem Leerlauf programmatischer Debatten hingab oder ihre Kräfte durch die Teilnahme an konstruktiver parlamentarischer Arbeit verzettelte.

Zugleich untersagte Hitler jede Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Rechtsparteien. Er legte vielmehr den Nachdruck darauf, die Partei als ausschließliche Alternative zu dem als verrottet betrachteten Weimarer Parteiensystem herauszustellen. In der Tat sollte sich dies auf die Dauer als erfolgreich erweisen.19 Aber diese Taktik sicherte nicht einen raschen politischen Durchbruch, wie er von Hitler und seiner Umgebung ursprünglich ins Auge gefasst worden war. Es bedurfte erst der Krise und Erosion der bürgerlichen Mittelparteien unter den Folgewirkungen der Inflation und dem Druck der Weltwirtschaftskrise, bevor die NSDAP die Chance erhielt, das aufbrechende politische Vakuum auszufüllen und sich dem Wahlvolk als Verkörperung des »neuen Deutschland« zu präsentieren.20

So wenig es gerechtfertigt ist, den Einfluss völkischer Ideengänge und insbesondere des Rassenantisemitismus für den Aufstieg der NS-Bewegung zu unterschätzen, so sehr ist es notwendig, deren indirekte Auswirkungen zu erkennen und das intellektuelle und politische Umfeld zu beachten, in dem sich ihr Aufstieg vollzog. In der Phase der relativen Stabilisierung von 1924 bis 1928 war die antisemitische Agitation, obwohl sie sich vorübergehend in spektakulären Übergriffen der SA gegen jüdische Bürger ausdrückte, noch ohne größere Bedeutung.

Die Ausweitung der nationalsozialistischen Wählerschaft vollzog sich erst nach den ganz unerwarteten Erfahrungen, welche die Partei vor allem bei den Reichstagswahlen vom Mai 1928 gemacht hatte. Während sie trotz größter Anstrengungen keine nennenswerten Wahlerfolge in den Großstädten davontrug und nur Randgruppen der Industriearbeiterschaft für sich einzunehmen vermochte, war sie ganz unverhofft mit positiven Resultaten auf dem platten Lande konfrontiert, obwohl die Parteiorganisation in den agrarischen Gebieten Nord- und Ostdeutschlands erst rudimentär entwickelt war. Daraus schlussfolgerten sie, dass es sinnvoll war, den agrarpolitischen Rückhalt der Partei, auch durch die einzige Änderung des Programms der 25 Punkte, auszubauen und nicht länger primär auf die Eroberung der urbanen Zentren zu setzen.21

Es war symptomatisch für die strategische Konstellation, in der sich die NSDAP befand, dass die Reichswahlkampfleitung, die ursprünglich in den Händen von Heinrich Himmler, dann von Gregor Strasser lag, sich rasch darüber klar wurde, dass eine Akzentuierung der antisemitischen Propaganda keine neuen Wähler anziehen würde, weil die sozialen Schichten, die für antisemitische Schlagworte empfänglich waren, bereits überwiegend zur NSDAP-Wählerschaft gehörten. Daher spielte die Partei in den entscheidenden Wahlkämpfen vom September 1930 bis zum November 1932 den Kampf gegen das Judentum eher herunter, sodass die Deutschnationalen zeitweise in stärkerem Umfang antisemitische Slogans benutzten als die NSDAP selbst.

Die gelegentlich geäußerte Vorstellung, die nationalsozialistische Massenbewegung sei von einer Welle des Antisemitismus nach oben geschwemmt worden,22 überschätzt die Bedeutung des rassistischen Moments bei weitem. Der Aufstieg der NSDAP nach den Septemberwahlen von 1930 beruhte überwiegend auf der geschickten Ausnutzung der Krise des parlamentarischen Systems von Weimar und dem allgemeinen Bedürfnis, zu neuen Ufern zu gelangen, ohne dass klare Vorstellungen darüber bestanden, welche politischen Strukturen die Republik ablösen sollen. Der NSDAP gelang es, sich als die säkulare Alternative zu dem bestehenden System überzeugend zu präsentieren und die vielfältigen und widersprüchlichen Hoffnungen der Deutschen auf einen nationalen Neuanfang zu bündeln.

Das heißt jedoch nicht, dass die sich verstärkende antisemitische Unterströmung in der Weimarer politischen Kultur bedeutungslos gewesen wäre. Einerseits war sie ein Indikator für das allgemein vorhandene Krisengefühl, andererseits bereitete sie in mancher Hinsicht den Boden, auf dem der nationalsozialistische Aufstieg möglich wurde. Während gewaltsame Übergriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen, die in den Jahren vor 1923 gang und gäbe geworden waren, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre fast völlig zurücktraten – die Pogromen vergleichbaren Exzesse im Berliner Scheunenviertel stellten eher eine Ausnahme dar23 –, vollzog sich eine schrittweise Durchdringung der öffentlichen Diskurse mit antijüdischen und antisemitischen Einstellungen, die mit der virulenten konservativen Kulturkritik eine enge Verbindung eingingen.

Insbesondere im akademischen Bereich spielten antisemitische Strömungen eine herausragende Rolle. Die rechtsextremen Einstellungen in der deutschen Studentenschaft reichten in die vorrevolutionäre Periode zurück, und sie hielten die ganze Weimarer Zeit hindurch mit unverminderter Stärke an. Schon die 1920 vollzogene Gründung des »Hochschulrings deutscher Art«, der alle deutschen Studentenschaften unter Einschluss Österreichs und des Sudetenlandes umfasste, zeigte die Dominanz von völkischen Gruppierungen an den Hochschulen. Der Konflikt mit dem preußischen Kultusministerium entzündete sich an der Frage des Ausschlusses jüdischer Mitglieder, der sowohl in Österreich wie in der Tschechoslowakei satzungsgemäß festgelegt war, während dies dem Hochschulrecht in Preußen und den anderen Bundesstaaten zuwiderlief. Trotz des öffentlichen Widerspruchs durch das preußische Kultusministerium beschloss der vierte Studententag in Würzburg 1922, Juden weiterhin auszuschließen, was auch für jüdische Studenten gelten sollte, die konvertiert waren. Das preußische Ministerium reagierte auf die unverhüllte Kampfansage 1927 mit der Auflösung der Studentenschaftsverfassung.24

Der Konflikt spiegelte den wachsenden Einfluss des völkischen Flügels auf die Gesamtstudentenschaft, in der ohnehin republikanische oder sozialistische Strömungen in einer extremen Minderheit waren. Hingegen gelang es dem Nationalsozialistischen Studentenbund, die Mehrheit in der deutschen Studentenschaft zu erobern. Übergriffe gegen jüdische Professoren wurden jedoch überwiegend von der Kollegenschaft abgewehrt, obwohl die Solidarität auch Bruchstellen aufwies. Allerdings gingen die völkischen Gruppierungen seit der Mitte der zwanziger Jahre etwas zurück. Aus den Absolventen dieser Phase sollten jedoch die maßgebenden Repräsentanten der SS-Bürokratie hervorgehen.25

Im gleichen Zeitraum spielten antisemitische Ressentiments in der Literatur des »soldatischen Nationalismus« eine herausragende Rolle, und das galt auch, wenngleich in etwas geringerem Maß, vom neokonservativen Schrifttum. Rechtsstehende Autoren wie Ernst Jünger, Ernst von Salomon, Hans Fallada und Hans Blüher repräsentierten, was Thomas Mann als »Bildungsantisemitismus« bezeichnete.26 Auch der führende Verleger Eugen Diederichs, der die Zeitschrift »Die Tat« herausbrachte, stand im antisemitischen Lager, und das galt für zahlreiche politische Schriftsteller, die sich von ihrer zuvor emanzipatorischen Position abwandten.

Der antisemitische Diskurs fand sich insbesondere in den Publikationen von Schriftstellern wie Wilhelm Stapel, Edgar Jung und anderen neokonservativ eingestellten Autoren, die zwar den Rassenantisemitismus ablehnten, aber grundsätzlich für die Trennung von jüdischem und deutschem »Volkstum« eintraten und den Juden die volle Staatsbürgerschaft verweigerten. Repräsentativ für diese Auffassungen war Stapels Flugschrift von 1932, in der er für »eine praktische Lösung der Judenfrage« plädierte und für Juden die Schaffung eines eigenen Standes forderte.27 Er setzte sich für weitgehende Dissimilation ein, lehnte aber jede Form gewaltsamen Vorgehens ab. Carl von Ossietzky kommentierte Stapels Vorstellungen mit der weitsichtigen Bemerkung, dass die Handlanger bereits bereitstünden, um die Ideen Stapels und Hans Blühers – er war der Sprecher des antisemitischen Flügels des Wandervogels – mit Gewalt umzusetzen. »Der literarische Antisemitismus«, meinte er, »liefert nur die immateriellen Waffen zum Totschlag«.28

Der Antisemitismus Wilhelm Stapels, der für den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband publizistisch tätig war, stellte eine Mischung zwischen Rassentheorie und romantischem Volksbegriff dar und war insoweit von dem extremen völkischen Antisemitismus der Nationalsozialisten klar unterschieden.29 Diese gemäßigte Spielart war im neokonservativen Lager weit verbreitet. Der ästhetische Antisemitismus, den Edgar Julius Jung mit stark kulturkritischem Akzent vertrat, gehörte dazu. Aber Gedankengänge dieser Art waren eben nicht bloß esoterisch, sondern trugen maßgeblich dazu bei, dass die politischen Diskurse im konservativen Lager immer mehr mit antisemitischen Klischees durchsetzt wurden.

Neben diesem überwiegend intellektuell geprägten Antisemitismus gab es eine mit gesellschaftlichen Interessen eng gekoppelte Judenfeindschaft, die sich häufig mit dem katholischen Antijudaismus vermischte. Ein klassisches Beispiel dafür waren die ausgeprägten antisemitischen Ressentiments des westfälischen Adels, der bereits Heinrich Brüning massiv beschuldigte, jüdischen Interessen dienstbar zu sein.30 Nicht anders verhielt sich dies mit der Deutschen Adelsgenossenschaft. Sie transportierte antisemitische Inhalte von der wilhelminischen Periode in die zwanziger und dreißiger Jahre, nur dass sie sich zunehmend mit völkisch-rassischen Positionen vermengten.31 Dies ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass der radikale Antisemitismus in Deutschland keineswegs allein im Lager der unteren Mittelklasse zu Hause war.

Die ursprünglich im Bürgertum vorherrschende liberale und tolerante Einstellung gegenüber dem Judentum verkehrte sich zunehmend in ein spezifisch antiliberales Klima, in dem das Vokabular des gemäßigten Antisemitismus weit verbreitet war. Insofern handelte es sich um einen »neuen Antisemitismus«, der die »Judenfrage« primär auf die Unterschiede zwischen Germanen und Juden bezog und ältere antisemitische Stereotype reaktivierte, nicht auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen beschränkt war und auch Individuen, Parteien und Organisationen erfasste, die man normalerweise nicht mit Judenhass in Verbindung bringen würde.32 Diese Einstellungen prägten seit der Mitte der zwanziger Jahre weite Bereiche der politischen Öffentlichkeit, und zwar in dem Maße, in dem die Erosion liberaler Werthaltungen voranschritt. Wichtiger als die wachsende Zahl von Übergriffen und Gewaltakten, die sich gegen Juden richteten, war die um sich greifende Tendenz zu einer stillschweigenden sozialen Segregierung der jüdischen Bürger und der Vorstellung, dass die Juden nicht zur »Volksgemeinschaft« zu rechnen seien.

Diesen Vorbehalten gegenüber jüdischen Mitbürgern stand jedoch eine weitreichende Ablehnung von Gewalt und Pogrom-Diskursen gegenüber, wie sie in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten beobachtet werden konnten. Diese Einstellung war auch bei führenden Nationalsozialisten wie Hermann Göring, Wilhelm Kube und Gregor Strasser anzutreffen, die 1932 wiederholt versicherten, dass die NSDAP keineswegs beabsichtige, Pogrome in irgendeiner Form durchzuführen und dass sie den Ausschluss von Juden aus der öffentlichen Verwaltung und kulturellen Spitzenpositionen ausschließlich mit legalen Methoden betreiben werde, während ihre wirtschaftliche Stellung unangetastet bleiben solle.33

Äußerungen dieser Art muteten um so defensiver an, als die Partei gleichzeitig mit Vorwürfen überhäuft wurde, gewaltsame Übergriffe gegen Juden zu veranstalten, wie die Vorfälle auf dem Kurfürstendamm in Berlin von 1931 unterstrichen.34 Tatsächlich besaß die Parteiführung noch kein klares Konzept über ihre künftige antijüdische Politik, und es war symptomatisch, dass einige Renegaten von der DNVP sich daranmachten, in der Parteizentrale Entwürfe für eine antisemitische Gesetzgebung auszuarbeiten.35 Sie konnten sich dabei auf die entsprechenden Ausarbeitungen in der Obersten Heeresleitung von 1917 stützen, die von Erich Ludendorff als Generalquartiermeister angeregt worden waren.

Das generelle politische Klima der späten Weimarer Republik begann sich gegen das deutsche Judentum zu wenden, obwohl der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens nicht ohne Erfolg gegen die antisemitische Hetze vorging und dabei in begrenztem Umfang auf die Unterstützung der Gerichte und des Justizsystems zurückgreifen konnte, das in anderen Bereichen längst die Balance zugunsten der antirepublikanischen Kräfte eingebüßt hatte. Der gerichtliche Schutz sollte nicht unterbewertet werden, aber er konnte die dahinschwindende Bereitschaft der bürgerlichen Mittelparteien nicht wettmachen, die Ergebnisse der Emanzipation zu verteidigen.36

Weder Heinrich Brüning noch Franz von Papen waren bereit, für die jüdische Sache öffentlich einzutreten, und die DDP zögerte nicht, 1932 mit dem Jungdeutschen Orden zu fusionieren, der Juden von der Mitgliedschaft ausschloss. Daher verlor das deutsche Judentum seine angestammte politische Heimat und büßte der linksliberale Flügel der DDP jeden Einfluss auf die Parteiführung ein. Selbst die Sozialdemokraten ließen gewisse Zeichen der Schwäche angesichts der fortdauernden antisemitischen Agitation der Rechtsparteien erkennen. Wäre die NSDAP nicht zur Macht gekommen, hätten die autoritären Präsidialkabinette sicherlich die Bürgerrechte der Juden eingeschränkt und die jüdische Einwanderung aus Osteuropa unterbunden.37

Symptomatisch für die veränderte Konstellation war der öffentliche Diskurs über die Ostjudenfrage. Zahlenmäßig machten die Ostjuden weniger als zehn Prozent der in Deutschland lebenden Ausländer aus und umfassten nicht mehr als ungefähr 100.000 Personen, also weniger als ein Fünftel der jüdischen Bevölkerung. Der von der Rechtspresse hochgespielte sogenannte Barmat-Skandal gab den gegen die Ostjuden gerichteten rassistischen Emotionen neue Nahrung.38 Forderungen, die Ostjuden zu repatriieren, waren keineswegs auf die NSDAP und DNVP beschränkt, und sie bezogen sich auch auf diejenigen, welche die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen.