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Ralph Dutli

Mandelstam,
Heidelberg

Gedichte und Briefe
1909-1910

 

Mit einem Essay

über deutsche Echos in Ossip Mandelstams Werk:

»Ich war das Buch, das euch

im Traum erscheint«

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Magie des Anfangs

Frühwerk und Laboratorium:
Ossip Mandelstams Jugendgedichte

Ossip Mandelstam, am 15. Januar 1891 in Warschau geboren und am 27. Dezember 1938 in einem Transitlager für Zwangsarbeiter bei Wladiwostok ums Leben gekommen, wird immer eine exemplarische Dichterfigur des von Totalitarismus und Diktatur, von ideologischer Verblendung und Gewalt geprägten 20. Jahrhunderts bleiben. Sein Beharren auf der Menschenwürde, seine Zivilcourage, seinen Mut – er schrieb im November 1933 ein Epigramm gegen Stalin, in dem der Diktator als »Seelenverderber und Bauernschlächter« bezeichnet wurde [1] – musste dieser »moderne Orpheus« (so der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky) mit dem Leben bezahlen.

Dabei darf das Wichtigste nicht vergessen werden: Mandelstam ist jenseits seiner tragischen Lebensumstände einer der bedeutendsten Vertreter der Weltpoesie. Dass sein Werk widrigsten politischen Umständen abgetrotzt werden musste, dass er als Dichter ein prominentes Opfer von Stalins Schriftstellermassaker wurde, mag zu seiner Aura beitragen, aber das Wesentliche liegt in seiner Poesie begründet, in deren lyrischer Intensität und Klangmagie, in der Kraft einzigartiger Bilder, im weiten Netz der kulturellen Assoziationen, in der Tiefe seines dichterischen Gedächtnisses.

Ossip Mandelstam war ein europäisch gestimmter Dichter, der sein Werk als Dialog mit Vorläufern und Verbündeten verstand, mochten sie aus der griechisch-römischen Literatur oder aus den Literaturen Frankreichs, Italiens, Deutschlands stammen. Einer der Entstehungsorte seiner Dichtung – neben Sankt Petersburg, Moskau, Paris, Koktebel und Feodossija auf der Krim, Tiflis in Georgien und Woronesch im südrussischen Schwarzerdegebiet – trägt einen deutschen Städtenamen: Heidelberg.

Russisches Heidelberg und eine seltsame
Gesandtschaft der Bücher

Nur zweimal hielt sich Mandelstam für längere Zeit in Westeuropa auf, von November 1907 bis Mai 1908 in Paris, wo er Vorlesungen an der Sorbonne und am Collège de France hörte, und von Oktober 1909 bis März 1910 in Heidelberg, wo er ein Wintersemester lang an der Universität studierte. Beide Aufenthalte verdankten sich bemerkenswerten biographischen Umständen.

Der Aufenthalt in Paris war eine milde Zwangsexilierung durch die Eltern. Da der jugendliche Mandelstam als Schüler in Sankt Petersburg mit der sozialrevolutionären Partei sympathisierte, über einen Schulkameraden, Boris Sinani, in Kontakt zu prominenten Sozialrevolutionären mit z. T. terroristischem Hintergrund kam und sich sogar als SR-Propagandist bewerben wollte, schickten seine erschrockenen Eltern den kaum Siebzehnjährigen zum Studium nach Paris. [2] Sie hatten das richtige Mittel gewählt. Die revolutionäre Gesinnung verflog rasch in der berauschenden Welthauptstadt der Poesie. In Paris ist Mandelstam bereits ein Dichter mit fast ausschließlich literarischen Interessen, wie mehrere Briefe belegen. »Eine Zeit der Erwartungen und des Gedichtfiebers« herrsche, schreibt er am 20. April 1908 an seine Mutter, am 27. April 1908 berichtet er seinem verehrten ehemaligen Literaturlehrer Wladimir Gippius von seinem Ringen um eine persönliche religiöse Empfindung und von seinen literarischen Vorlieben. Er spricht vom »reinigenden Feuer Ibsens«, von Lew Tolstoj und Gerhart Hauptmann, den »beiden größten Aposteln der Menschenliebe«, dann auch von Knut Hamsuns Roman Pan. Das Wichtigste aber ist die »Begeisterung für die Musik des Lebens«, die er bei französischen Dichtern – sein damaliger Favorit war Paul Verlaine – und, von den russischen, beim Symbolisten Walerij Brjussow fand. Und er fügt hinzu: »Ich lebe hier sehr einsam und beschäftige mich mit fast nichts anderem als mit Poesie und Musik.« [3]

Nach dem Pariser Aufenthalt kehrte er nach Sankt Petersburg zurück. Ein Studienplatz an der dortigen Universität war vorläufig unerreichbar. Das Hindernis war die vom Ministerrat beschlossene, vom Zaren am 16. September 1908 bestätigte Diskriminierung jüdischer Studienanwärter. Nur gerade drei Prozent der Studenten an den hauptstädtischen Hochschulen durften Juden sein. Und sie brauchten dafür beste Zeugnisse. Mandelstam war jedoch ein mittelmäßiger Schüler, und die Dreiprozentquote blieb eine abschreckende Hürde, die er 1911 in Finnland mit der Taufe formell überwinden wird.

Bereits im Pariser Brief an seine Mutter hatte er geschrieben: »Und wenn sie mich nicht nehmen, gehe ich an eine der deutschen Universitäten … und verbinde ein Literaturstudium mit dem Studium der Philosophie.« Tatsächlich waren die deutschen Universitäten, zumindest jene, die nicht wie Bonn oder Berlin von preußischem Geist beherrscht waren, damals weitaus liberaler als die russischen. Eine diskriminierende Quote für jüdische Studenten gab es hier nicht. In Marburg studierte Boris Pasternak 1912 Philosophie bei dem Neukantianer Hermann Cohen. Ossip Mandelstams Wahl fiel auf Heidelberg.

Die Stadt galt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – wie zuvor Göttingen – als ein »Mekka der russischen Wissenschaft«. Die russische Kolonie war zeitweise so groß, dass Heidelberg auf Zeitgenossen den Eindruck einer russischen Kleinstadt machte. [4] Vor allem nach den Unruhen von 1861 kamen viele studentische Flüchtlinge nach Heidelberg, als die zaristischen Behörden die Petersburger Universität zeitweilig geschlossen hielten. Für den im Londoner Exil lebenden Zarenkritiker Alexander Herzen und den Anarchisten Michail Bakunin war Heidelberg ein wichtiger Umschlagplatz für anti-zaristische, revolutionäre Literatur, für Zeitschriften und Flugblätter. In der 1862 gegründeten »Russischen Lesehalle« alias »Pirogowsche Lesehalle« in Heidelberg – eine Wanderbibliothek mit wechselnden Adressen (Plöck 52, Märzgasse 4, Untere Neckarstraße 64), die zu Beginn des Ersten Weltkriegs geschlossen wurde – konnten die russischen Studenten all jene Literatur lesen, die in Russland verboten war. Es war eine kleine exterritoriale russische Gesandtschaft der Bücher, Debattierklub, Treffpunkt für Heimwehgeplagte. Mandelstam war bereits nicht mehr gefährdet, die revolutionäre Versuchung war Ende September 1909, als er in Heidelberg eintraf, längst überwunden. Als junger Dichter kam er in die Stadt am Neckar.

Joseph Mandelstamm, Student in Heidelberg

Ein Zimmer fand er in der Familienpension »Continental« der Kapitänswitwe Frau Johnson, an der »Anlage 30«. Heute lautet die Adresse: Friedrich-Ebert-Anlage 30. Seit 1993 zeugt dort eine Gedenktafel von Mandelstams Aufenthalt. Die Pension lag am Rand der Altstadt, am Fuß des Gaisberges. Die ersten fünf bis sechs Wochen lässt der russische Student mit Flanieren und Erkunden der Stadt vergehen und notiert Gedichte in ein Heft, dann schreibt sich »Joseph Mandelstamm« in der gleichen Namenslautung wie einst an der Sorbonne endlich für das Wintersemester 1909/1910 an der Philosophischen Fakultät der »Großherzoglich Badischen Universität Heidelberg« ein. Unter Punkt 5 (»Studium«) des Anmeldeformulars steht: »Philologie«, unter Punkt 7 (»Religion«): »Israelit«. Das Datum fehlt, aber dank einem Eintrag unter Nr. 556 im »Album Matriculum« steht es heute fest: Es war der 12. November 1909. [5]

Am Collège de France hatte Mandelstam 1907/1908 die Vorlesungen des Mediävisten Joseph Bédier gehört, der auch bei einem breiteren Lesepublikum berühmt war durch eine Nacherzählung der Sage von Tristan und Isolde. Das dort geweckte Interesse wird in Heidelberg energisch bekräftigt: Mandelstam belegt die Vorlesungen des Romanisten Friedrich Neumann zur »Geschichte der französischen Literatur des Mittelalters« sowie »Übungen zu altfranzösischen und provenzalischen Texten«. Mandelstams Essay über den spätmittelalterlichen Poeten und Vagabunden François Villon, 1913 in der Petersburger Literaturzeitschrift »Apollon« (Nr. 4) abgedruckt, wurde vermutlich in Heidelberg entworfen. In der Essaysammlung Über Poesie von 1928 jedenfalls wird er ihn auf 1910 datieren.

 

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Das Anmeldeformular der Universität Heidelberg

mit Mandelstams handschriftlicher Einschreibung.

 

Es ist nicht die einzige Nachwirkung des in Heidelberg vertieften Interesses für die französische Literatur des Mittelalters. Am 23. Mai 1922 wird Mandelstam beim Staatsverlag eine Anthologie von Fragmenten aus altfranzösischen Heldenepen einreichen, die er selbst übertrug, unter anderem Ausschnitte aus dem Rolandslied und aus dem Leben des Heiligen Alexius (11. Jh.), aus den Epen Die Pilgerschaft Karls des Großen nach Jerusalem und Konstantinopel und Aliscans (12. Jh.). Das Projekt wurde abgelehnt, es war mit den revolutionären und proletarischen Erfordernissen der Epoche unvereinbar. Dennoch waren es bekenntnishafte Übersetzungen, aus denen laut Nadeschda Mandelstam »das Schicksal sprach«. Das Aliscans-Fragment sei ein »Schwur«, sich niemals zu verstecken, wenn das Leben zu verteidigen sei. Die Passage aus der Vita des heiligen Alexius bedeute ein Mandelstamsches »Gelübde der Armut«. [6]

Es ist naheliegend, dass auch die in Heidelberg gehörten Vorlesungen Friedrich Neumanns vielfältige Anregungen zu diesem Anthologie-Projekt und späteren existentiellen »Schwüren« und »Gelübden« boten. Auch einem mittelhochdeutschen Text galt Mandelstams Interesse an der Heidelberger Universität: Er besuchte eine Übung des Germanisten Wilhelm Braune mit dem Titel »Erklärung des Gedichtes Meier Helmbrecht«. Die satirische Versnovelle aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammt von Wernher dem Gartenaere. Braune hielt in jenem Semester auch eine Vorlesung zur »Geschichte der mittelhochdeutschen Literatur«, die Mandelstam vermutlich ebenfalls hörte.

Erstaunlich viel europäisches Mittelalter also für einen jungen Mann, der in der Zeit des russischen Modernismus das fortschrittliche Petersburger Tenischew-Gymnasium besuchte – wo auch Vladimir Nabokov zur Schule ging – und in Wladimir Gippius einen Literaturlehrer hatte, der sich selbst als symbolistischer Dichter betätigte. Immerhin muss Mandelstam auch ein Interesse für zeitgenössische deutsche Lyriker gehabt haben. In seinem Brief an Wjatscheslaw Iwanow vom 26. August 1909 aus Montreux erkundigt er sich nach ihnen: »Schreiben Sie mir auch, lieber Wjatscheslaw Iwanowitsch, welche Lyriker es jetzt in Deutschland gibt. Außer Dehmel kenne ich keinen einzigen. Die Deutschen wissen es auch nicht – aber Lyriker muss es doch geben.« [7] Dass Richard Dehmel von Frühsommer 1900 bis Herbst 1901 ebenfalls in Heidelberg gewohnt hatte, in der Villa Thea an der Klingenteichstraße 18, wusste Mandelstam vermutlich nicht. [8]

Der zweite Studienschwerpunkt war die Kunstgeschichte. Bei Henry Thode belegte der russische Student die Vorlesungen »Grundzüge der Kunstgeschichte« und »Die großen venezianischen Maler des 16. Jahrhunderts«. Auch hier gab es Keime eines fortdauernden Interesses. Ein ganzes Kapitel von Mandelstams Prosa Die Reise nach Armenien (1931/1933) führt unter dem Titel Die Franzosen eine Beschwörung von Gemälden der Impressionisten und Postimpressionisten sowie eine eigenwillige Anleitung zur souveränen, individuellen Bildbetrachtung vor. [9] Und die Venezianer des 16. Jahrhunderts, Tizian und Tintoretto, werden im Gedicht »Mir fehlt noch etliches zum Patriarchen« (1931) während einer einsamen Erkundung Moskaus ihren unerwarteten Auftritt haben:

 

Вхожу в вертепы чудные музеев,

Где пучатся кащеевы Рембрандты,

Достигнув блеска кордованской кожи;

Дивлюсь рогатым митрам Тициана

И Тинторетто пестрому дивлюсь

За тысячу крикливых попугаев …

 

Ich tret in wunderliche Grotten: die Museen,

Wo Zaubergeister, Rembrandts blähig schimmern

Mit ihrem Glanz von Leder wie aus Cordoba;

Steh staunend vor gehörnten Mitren Tizians

Und staun den bunten Tintoretto an –

Für seine tausend schreierischen Papageien … [10]

 

Ein damaliger Mitstudent, Aaron Steinberg, erinnert sich, dass Mandelstam auch bei den Heidelberger Philosophen Vorlesungen hörte: [11] Wilhelm Windelband hielt im Wintersemester 1909/1910 eine »Einführung in die Philosophie« und sein Kollege Emil Lask eine Vorlesung zur »Geschichte der Philosophie bis Kant (einschließlich)«. Tatsächlich sprach bereits Mandelstams Brief aus Paris an seine Mutter vom Plan, ein Literaturstudium mit dem Studium der Philosophie zu verbinden.

Die in Heidelberg gehörten Vorlesungen und die Umstände von Immatrikulierung, Unterkunft und Alltag eines russischen Studenten mögen biographische Kuriositäten sein, aber sie sind nicht das eigentlich Wesentliche. Schließlich war der junge Mann nicht irgendein ausländischer Student, der hier ein Semester absolvierte, sondern ein werdender Dichter, der einmal zu den bedeutendsten russischen Autoren des 20. Jahrhunderts zählen sollte. Das Wesentliche sind – wie könnte es anders sein – die Gedichte.

Die schönen Spekulationen:
der »Heidelberger Zyklus« und seine Erweiterungen

Der Heidelberger Studienaufenthalt bedeutete eine ungewöhnlich fruchtbare Schaffensperiode des jungen Dichters Ossip Mandelstam. Für den »Heidelberger Zyklus« wurden bisher 15 bis 23 Gedichte angenommen. [12] Es könnten aber durchaus noch mehr gewesen sein. Vierzehn dieser Gedichte legte Mandelstam, energisch um Aufmerksamkeit bittend, seinen zwischen Oktober und Ende Dezember 1909 verfassten Schreiben an die symbolistischen Dichter Maximilian Woloschin und Wjatscheslaw Iwanow bei (biographisch-literaturgeschichtliche Auskünfte zu den beiden Adressaten finden sich auf S. 75-77). Der letzte erhaltene Brief aus Heidelberg, an Wjatscheslaw Iwanow adressiert, datiert vom 30. Dezember 1909. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die beiden Dichter auf die Schreiben des achtzehn-, bald (am 15. Januar 1910) neunzehnjährigen Nachwuchspoeten, der bis dahin noch nichts veröffentlicht hatte, geantwortet hätten.

Aber es gibt auch keine Veranlassung anzunehmen, dass der jugendliche Poet, der schon im Brief aus Paris an seine Mutter von seinem »Gedichtfieber« berichtete, das Dichten plötzlich eingestellt hätte. Nur weil er den beiden bevorzugten Adressaten – vermutlich von deren Schweigen entmutigt – keine Briefe mit Gedichtbeilagen mehr schickte, heißt das nicht, dass er keine Gedichte mehr schrieb. Immerhin blieb Mandelstam noch mindestens bis zum 15. März 1910 in Heidelberg, bis zum Ende des damaligen Wintersemesters.

Dass Mandelstam in der verbleibenden Zeit ein besonders eifriger Student hätte gewesen sein können, dafür wird ein Kenner seines Werkes wie seines Lebens nicht die Hand ins Feuer legen wollen. Mandelstam war schon am Tenischew-Gymnasium kein glänzender Schüler gewesen, und er wird sein 1911 begonnenes Studium an der Petersburger Universität 1917 wegen nicht-angerechneter Semester und Nichtzulassung zur Staatlichen Prüfung abbrechen müssen, um nur noch eines zu sein: ein Dichter. Zurück nach Heidelberg: Dass er sich in den verbleibenden zweieinhalb Monaten von Januar bis Mitte März 1910 in poetischem Verstummen geübt haben könnte, ist sehr unwahrscheinlich. Viel einleuchtender, dass das besagte »Gedichtfieber« auch im neuen Jahr 1910 und auch in Heidelberg noch eine ganze Weile vorhielt …

Deshalb sollen in diesem Band, neben dem gesicherten »Heidelberger Zyklus« der 14 Gedichte, die den erwähnten Briefen beilagen, einem nur wenig umstrittenen 15. Gedicht, das zumindest in einer frühen Version (»Nichts, worüber sich zu sprechen lohnt«, S. 71) sehr wahrscheinlich in Heidelberg entstand, auch weitere Texte unter dem Titel »Aus dem Umkreis der Heidelberger Gedichte« stehen, im russischen Original wie in deutscher Übertragung. Diese Gedichte sind vermutlich kurz vor oder unmittelbar nach dem Aufenthalt in der Stadt am Neckar, nämlich in Sankt Petersburg, Montreux, Lugano, Hangö, Helsinki und Berlin-Zehlendorf entstanden. Mehrere davon könnten ebenfalls in Heidelberg geschrieben worden sein. Es gibt Indizien dafür, keine Beweise.

Jedenfalls ist es nicht abwegig, über einen erweiterten »Heidelberger Zyklus« – über jene 15 Gedichte hinaus – nachzudenken. Auch das bisher als unverrückbar geltende Urteil, Mandelstam habe die Heidelberger Gedichte nicht in seine Sammlungen aufnehmen wollen, muss nicht um jeden Preis aufrechterhalten werden. Dieses Buch soll nicht zuletzt ein Beitrag zur Erweiterung der Heidelberger Spekulationen sein.

Für folgende drei Gedichte des Jahres 1909, die Mandelstam in eines oder mehrere seiner insgesamt sechs Gedichtbücher aufnahm (Der Stein 1913, 1916, 1923; Tristia 1922; Das Zweite Buch 1923; Gedichte 1928), besteht zumindest ein starker »Verdacht«, sie könnten ebenfalls in Heidelberg entstanden sein. Sie sind gleichsam durch die Entscheidung des Dichters »kanonisch« geworden (und als Herausgeber der deutschsprachigen Mandelstam-Ausgabe habe ich diese Entscheidung nachvollzogen):

 

– Нежнее нежного

Zärtlicher-zärtlich

– Есть целомудренные чары

Es gibt den Zauber, reinen, klaren

– Дано мне тело – что мне делать с ним

Man gab mir einen Körper, und was nun? [13]

 

Nicht einmal zwei weitere Gedichte, die Mandelstam in seine Gedichtbücher aufnahm, lassen sich schlüssig von dem »Verdacht« der Zugehörigkeit zum Heidelberger Zyklus ausnehmen, [14] nur weil ihr Dekor angeblich auf den »Frühling« deute oder weil im ersteren der Monat »April« auftaucht, was mit Mandelstams Abreise aus Heidelberg Mitte März 1910 vermeintlich nicht vereinbar sei:

 

– На бледно-голубой эмали

Email, die sanfte blaue Blässe

– Невыразимая печаль

Die Trauer, unsagbarer Wall [15]

 

Solche »jahreszeitliche« Datierungen und indirekte Schlüsse sind zweifelhaft. Im erstgenannten Gedicht heißt es: »Email, die sanfte blaue Blässe:/So denkbar ist sie im April« (На бледно-голубой эмали,/Какая мыслима в апреле), also »denkbar« oder »möglich«, nicht zwingend im April muss das Gedachte ins Gedicht gelangt sein. Kann ein Dichter im Winter nicht vom Frühling träumen und im Sommer vom Herbst? Mandelstam hat das selbst thematisiert, als er sich im Woronescher Wintermonat Dezember 1936 mit seiner Frau Nadeschda an den letzten glücklichen Sommer in Sadonsk – als das Paar die erschütternde Nachricht vom ersten Moskauer Schauprozess vernahm – erinnern wollte und mit einer Beschwörung sommerlicher Fülle eines der heitersten Gedichte der Woronescher Verbannungszeit schuf. Hier die erste Strophe:

 

Пластинкой тоненькой жиллета

Легко щетину спячки снять –

Полуукраинское лето

Давай с тобою вспоминать.

 

 

Mit einem Plättchen des »Gillette«

Ist’s leicht, die Winterborsten wegzuschaben –

Komm lass, erinnernd im Duett,

Uns einen Ukraine-Sommer haben. [16]

 

Und man muss nicht einmal bis ins Spätwerk gehen, um diese saisonalen Verschiebungen in der dichterischen Phantasie auszumachen. Im Gedicht »Das Bienenvolk des Schnees treibt leichter« (Медлительнее снежный улей, 1910) durchdringen sich die Jahreszeiten:

 

Ткань, опьяненная собой,

Изнеженная лаской света,

Она испытывает лето,

Как бы не тронута зимой …

 

Dort ein Gewebe, selbstbetrunken,

Liebkost, verzärtelt fast vom Licht,

Lebt immer noch die Sommerstunden,

Als kenne es den Winter nicht … [17]

 

Gedichte erschaffen ihre eigene Jahreszeit, sie haben eine eigene »innere« Temperatur, sind keine bloßen Thermometer der Außenwelt. Deshalb sind auch die beiden erwähnten Gedichte nicht auszuschließen vom Heidelberger Licht.

Es ist verführerisch und reizvoll, durch solche »Verdachtsmomente« oder spekulative Datierungen den »Heidelberger Zyklus« zu erweitern. Unter den »kanonischen«, in die Bücher aufgenommenen Gedichten der Jahre 1909 und 1910 könnten sich noch weitere aus der Heidelberger Zeit befinden:

 

– На перламутровый челнок

Das Perlmutt-Schiffchen schwimmt davon (1909)

– Когда удар с ударами встречается

Trifft ein Schlag sich mit andern Schlägen (1910)

– Медлительнее снежный улей

Das Bienenvolk des Schnees treibt leichter (1910) [18]

 

Auch auf die folgenden fünf Gedichte, die nie in Mandelstams Sammlungen aufgenommen wurden, ließe sich der »Verdacht« der Zugehörigkeit zum »Heidelberger Zyklus« ausdehnen – sie finden sich alle im vorliegenden Band:

 

– В морозном воздухе растаял легкий дым

In dieser Frostluft taut ein leichter weißer Rauch

– Сквозь восковую занавесь

Durchs wächsern-helle Vorhangsblatt

– Здесь отвратительные жабы

Hier springen ekelhafte Kröten

– Музыка твоих шагов

Deine Schritte – Musik

– Пилигрим

Der Pilger

 

Und wenn es noch mehr wären? Könnte nicht auch das Gedicht »In ungezwungenem Austausch schöpferisch und frei« (В непринужденности творящего обмена), in dem Mandelstam die beiden Dichter Fjodor Tjutschew und Paul Verlaine als seine Vorbilder in einer eigenen schöpferischen Synthese verbinden will, in Heidelberg entstanden sein? Im letzten Brief aus Heidelberg an Wjatscheslaw Iwanow vom 30. Dezember 1909 bekräftigt er energisch Verlaines Vorbildcharakter.

Und damit soll die frohgemute Spekulation ein Ende haben. Gesichert sind fünfzehn Gedichte, mit dem Willen zu spekulieren könnten es auch rund dreißig Gedichte der Jahre 1909 und 1910 sein. Auf den erhaltenen Autographen, die den Briefen an Wjatscheslaw Iwanow beilagen (heute in der Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek Moskau, Fundus 109), finden sich keine Daten, auf dem ominösen »15. Gedicht« (»Nichts, worüber sich zu sprechen lohnt«), das sich im Mandelstam-Archiv der Princeton University, New Jersey, befindet, gibt es den Vermerk »Heidelberg, Dezember 1909«, aber er ist in einer anderen, fremden Handschrift gehalten. Doch das ist kein schlagender Beweis, dass das genannte Datum nicht zutrifft. Die Notiz könnte auf eine eigene Aussage Mandelstams, auf eine persönliche Erinnerung, zurückgehen.

Solange keine weiteren genau datierten Manuskripte auffindbar sind, ist Spekulieren erlaubt, aber irgendwann auch müßig. Ob fünfzehn Gedichte oder das Doppelte – das wichtigste biographische Ereignis der Jahre 1909 und 1910 ist zweifellos der nach Paris zweite Studienaufenthalt in Westeuropa und die in Heidelberg fortgesetzte intensive Schaffensphase, mithin das, was Mandelstam selbst als »Gedichtfieber« (стихотворная горячка) bezeichnete.

Ihr Kinderlallen ist schon Summe, nicht Quelle

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne: Wenn das Dichterwort zutrifft, so verdienen die Anfänge eines Dichters immer Aufmerksamkeit. Nur von diesem Ausgangspunkt her lässt sich sein dichterischer Werdegang in seiner Fülle ermessen. Auch Jahrhundertdichter haben irgendwann angefangen, und selbst das vielleicht unreife Frühwerk eines Dichters verfügt über eine eigene Magie.

Dass Mandelstam viele seiner Jugendgedichte nicht in seine Gedichtbände aufnahm, heißt auch, dass er ein unerbittlicher Kritiker und Richter über das eigene Schaffen war. Gewiss sollte man sein strenges Urteil akzeptieren und nicht Erwartungen an Jugendgedichte stellen, die sie noch nicht erfüllen können. Diese Gedichte lassen vielleicht noch nicht überall den »großen« Mandelstam erkennen. Aber es ist legitim, auch diese Texte zu befragen und den Versuch zu wagen, sie im Kontext des Gesamtwerks zu verstehen. Schon die Jugendgedichte zeigen viele Motive, die für Mandelstams späteres Werk bedeutsam sein werden. Sie stellen ein frühes Laboratorium dar, zeigen den achtzehn- bis neunzehnjährigen Dichter auf der Suche nach seinem dichterischen Weg, seiner Beziehung zum Leben, zur Welt, zur Natur, zur Liebe.

Trotz aller Zurückhaltung: Mandelstams Jugendgedichte sind zarte sprachliche Gebilde von zuweilen erstaunlicher Reife und Tiefgründigkeit. Allein das frühe Entstehungsjahr war für ihn selbst kein zwingendes Argument, alle Jugendgedichte auszuscheiden. Seinen letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtband von 1928, Gedichte (Стихотворения), eine Summe seines bisherigen Schaffens, eröffnen drei Gedichte aus dem Jahr 1908! [19]

Merkwürdiger Zufall oder pure Notwendigkeit: Beide für Mandelstam äußerst wichtigen Dichterkolleginnen und Gesprächspartnerinnen, Anna Achmatowa (1889 bis 1966) und Marina Zwetajewa (1892 bis 1941), haben sich über Mandelstams früheste Gedichte geäußert. Anna Achmatowa schreibt in ihren Blättern aus dem Tagebuch: »Vor kurzem wurden Ossip Emiljewitschs Briefe an Wjatscheslaw Iwanow aufgefunden. […] Das ist Mandelstam als Symbolist. […] Dort gibt es eine Vielzahl von Gedichten. Es sind gute Gedichte, doch findet sich in ihnen nicht das, was wir mit dem Namen Mandelstam verbinden.« [20]

Anna Achmatowas Urteil – »gute Gedichte, aber …« – kann man Marina Zwetajewas enthusiastische Betrachtung eines sehr frühen Vierzeilers entgegenhalten. Mandelstam nahm das 1908 entstandene Gedicht in die erweiterten Ausgaben seines Gedichtbandes Der Stein (Камень) von 1916 und 1923 sowie in die letzte Gedichtsammlung von 1928 auf – es ist sogar jenes, das den Band eröffnet:

 

Звук осторожный и глухой

Плода, сорвавшегося с древа,

Среди немолчного напева

Глубокой тишины лесной …

 

Der Laut – behutsam, stumm –

Der Frucht, wenn sie vom Baum sich trennt,

Die Melodie der Stille um

Ihn her: der Wälder, ohne End … [21]

 

In Marina Zwetajewas 1933 im Pariser Exil, in Clamart entstandenem Essay Dichter mit Geschichte und Dichter ohne Geschichte (Поэты с историей и поэты без истории) ist der zitierte Vierzeiler ein Musterbeispiel für frühe Reife, frühe Vollendung. Zwetajewa verjüngt den Dichterkollegen sogar noch – nicht vierzehnjährig war Mandelstam 1908, sondern siebzehnjährig:

 

Und es gibt auch solche, die mit dem Maximum beginnen und sich auf diesem Maximum halten bis zur letzten Zeile. […] Wenn der Weg mancher Dichter ein Weg der Selbstentdeckung ist, so haben diese überhaupt keinen Weg. Sie sind von Geburt an da. Ihr Kinderlallen ist schon Summe, nicht Quelle.

[hier folgt das oben zitierte Gedicht]

 

– ein Vierzeiler des vierzehnjährigen Ossip Mandelstam, in dem das ganze Vokabular und der ganze Rhythmus des erwachsenen Mandelstam schon da sind. Eine Formel seiner selbst. Was hat als erstes das Ohr jenes Lyrikers aufhorchen lassen? Der Klang eines fallenden Apfels, eine akustische Vision der Umgebung. Was ist daran vierzehnjährig? Nichts. Und was von Mandelstam? Alles. Und zwar gerade die Reife der fallenden Frucht. Diese Strophe ist genau jene fallende Frucht, die sie abbildet. […] Er (der Apfel) ist rund und warm, er ist rund und kalt, er hat Augusthaftes und Augusteisches (Kaiserliches), er ist der des Paris, jener der Hesperiden, und der aus dem Garten Eden, und jener Adams (in der Kehle). All das gibt Mandelstam der Phantasie des Lesers in einer einzigen Strophe. (Die evokative Gewalt der Lyrik!) Charakteristisch für seine Lyrik insgesamt ist, dass er diesen Apfel, den er bietet, gar nicht ausdrücklich beim Namen nennt. Und sich tatsächlich, in gewissem Sinne, von diesem Apfel niemals getrennt hat. [22]

Das frühe Entstehungsjahr kann also nicht alleiniges Kriterium für Mandelstams strenge Beurteilung seiner Jugendgedichte sein. Er nahm durchaus Gedichte aus den Jahren 1908 bis 1911 – also Gedichte aus der Zeit vor der Gründung des Akmeismus im Jahr 1912 – in seine späteren Sammlungen auf. Ungleich Boris Pasternak, der sein gesamtes Frühwerk verwarf, war Mandelstam sehr wohl bemüht, seine dichterischen Anfänge zu dokumentieren.

Anna Achmatowa hat einen Hinweis darauf gegeben, dass Mandelstam hier noch »Symbolist« sei, dass seine Gedichte damals, als er seine Briefe an Wjatscheslaw Iwanow schrieb, noch abhängig waren von jenen der russischen Symbolisten. Damit der Leser versteht, was diese Einordnung bedeutet, hier eine kurze Klammer zum literaturgeschichtlichen Kontext:

Um das Jahr 1892 hatte mit dem Symbolismus das »Silberne Zeitalter« der russischen Dichtung begonnen. Das Etikett des »Goldenen Zeitalters« war für die Generation um Alexander Puschkin (1799 bis 1837) reserviert. Nach einer von der Prosa beherrschten, von sozialen Problemen umgetriebenen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutete das »Silberne Zeitalter« eine Wiedergeburt der russischen Poesie, ein neues Bewusstsein des dichterischen Wortes, das von der Entdeckung Ibsens, Strindbergs und Nietzsches begleitet und von der Aufnahme des französischen Symbolismus beeinflusst war. Die Namen Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und Paul Verlaine bedeuteten jetzt die wichtigsten Offenbarungen. Baudelaires Sonett Correspondances