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Konrad Heiden

Eine Nacht
im November 1938

Ein zeitgenössischer Bericht

Herausgegeben von
Markus Roth, Sascha Feuchert
und Christiane Weber

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Für Lisa

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© Wallstein Verlag, Göttingen 2013
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eines Geschäfts (Foto vom 10.11.1938). © ddp images/dapd
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ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2465-7
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2466-4

Inhalt

Nächtlicher Eid

Blutiges Erinnern

Grynszpan

Siegfried

Oesterreich

Der innere Komparativ

Die Nacht der Beile

Der Mob im Licht

Die Tempel brennen

Das grosse Schweigen

In den Folterlagern

Dem Hungertode entgegen

Wo war das deutsche Volk?

Märtyrer

Was sein muss

Nachwort

Kommentar

Konrad Heiden (1901-1966) – Annäherungen an Leben und Werk

Editorische Notiz

Abbildungs- und Literaturverzeichnis

Dank

Nächtlicher Eid1

Es ist Nacht in Deutschland. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938.

Die letzten Autobusse rauschen in die Vororte ab, die letzten Lichtreklamen verenden, die letzten Fussgänger streben nach Hause. Ein paar einsame Züge rollen durchs Land. Die Dörfer sind leer und still. Siebenundsiebzig Millionen Menschen schlafen.

Aber die Getreuen schlafen nicht. Einer wacht über sie alle, diese Nacht und alle Nächte. Heute wachen sie mit ihm.

Hier und da glänzt in dieser deutschen Nacht ein Feuerschein. Geht nicht zu nah hin, ihr siebenundsiebzig Millionen, schlaft lieber, dies ist nichts für euch. Da steht im Nachtdunkel eine schwarze Schar, von Fackeln beleuchtet, ein schwarzer Block mit Hunderten von Köpfen, kalkweiss im künstlichen Licht. Von einer Stange hängt steif ein Tuch, die rot-weisse Standarte mit dem Hakenkreuz; drohend greifen die schwarzen Arme in die Nacht. Das Dunkel langt nach dem Dunkel. Aus einem Lautsprecher ruft überlebensgross eine Stimme zu den Fackeln hinüber … die Stimme …

Fünfzigtausend stehen so im nächtlichen Deutschland. Es sind die jungen Männer, die heute Nacht in die S.S., in das auserlesene schwarze Korps der nationalsozialistischen Bewegung, in deren heilige, allmächtige, schweigende Schar aufgenommen werden. Nur einmal im Jahre geschieht das, stets in der Nacht vom 9. auf den 10. November, genau um Mitternacht.2

Zehntausendsechshundert stehen vor der Feldherrnhalle in München. Seyss-Inquart3, der Auslieferer Oesterreichs, und Konrad Henlein4, der Sudetendeutsche, sind unter ihnen. An den schwarzen Mützen glänzen im Fackelschein die silbernen Totenköpfe. Der Reichsführer Himmler wird ihnen sogleich den Eid vorsprechen.

Sie treten heute in die Gemeinschaft ein, die Deutschland schweigend beherrscht. Sie werden heute Mitglieder der geheimnisvollen, furchtbaren, allmächtigen S.S. Die S.S. feiert keine brausenden Feste. Sie singt und jubelt nicht an den grossen Tagen der Bewegung. Schweigend und kalt, fast unauffällig regiert sie; auf wen ihr Schlangenblick fällt, der verschwindet lautlos aus dem Gesichtskreis, aus der Welt, vielleicht aus dem Leben. Die S.S. gönnt dem Volk seine Freude und der S.A. ihre Paraden; sie selbst herrscht stumm. »Viele lieben uns nicht, aber alle sollen uns fürchten«5, hat Himmler gesagt.

Nur wenige taugen für die wahre Macht. Fünfzigtausend hat Himmler sich dieses Jahr als Nachwuchs herausgesucht. Sie stehen in diesem Augenblick in ganz Deutschland vor dem Lautsprecher. Es schlägt Mitternacht, und der, dem sie heute Nacht Treue schwören sollen, betritt die Stufen der Feldherrnhalle. Ein Kommando erschallt: »Helm ab zum Gebet!« Die Musik spielt das Lied: »Wir treten zum Beten.«6

Himmler spricht in das Dunkel der Nacht hinein den Fünfzigtausend rings in Deutschland den Eid vor:

»Wir schwören dir – Adolf Hitler – Treue und Tapferkeit. Wir versprechen dir – und den von dir eingesetzten Vorgesetzten – Gehorsam bis in den Tod – so wahr uns Gott helfe!«7

Fünfzigtausend in Deutschland sagen gleichzeitig: »Ich schwöre es.«

Dann spricht der, dem sie eben geschworen haben. Ihm ist eine Rede in der seltsamen Nachtstunde nichts Ungewohntes. Die S.S.-Männer wissen, dass er nachts nicht schlafen kann. Bald glänzt von der Fassade der Reichskanzlei ein einsames Fenster ins Morgengrauen hinein, bald glänzt es am Führerbau in München, an der Wohnung in der Aeusseren Prinzregentenstrasse, am Bergschloss bei Berchtesgaden. Mit dem schlaflosen Führer irrt dies Licht durch Deutschland. Er liebt laute Gesellschaft, Musik und Feste in der Nacht. Nun steht er vor dem feurigen Riesenschauspiel auf den Stufen der Feldherrnhalle; zur Linken ragt der doppeltürmige Schatten der Theatinerkirche zum Sternenhimmel; fern verschwimmt das kolossale »Siegestor« im Fackelschein. Mit rauer Stimme ruft die Gestalt auf den Stufen den schwarzen Röcken und silbernen Totenköpfen zu: »Ich erwarte von euch, dass ihr den Spruch wahr macht, den ihr zu tragen die Ehre habt: Eure Ehre muss immer und unter allen Umständen die Treue sein.«8

Dann geht er durch die Reihen und drückt Seyss-Inquart die Hand.

Die Zehntausend vor der Feldherrnhalle, die Fünfzigtausend im Reich, sind in dieser nächtlichen Stunde unter den Brandfackeln, angeweht vom mystischen Hauch der Blutfahne, erregt wie nie im Leben. Sie haben soeben geschworen, für den Führer in den Tod zu gehen;9 sie haben geschworen, auf seinen Befehl den Tod zu bringen. Sie sind jetzt »seine Garanten«, so nennt er sie. Sie bürgen ihm dafür, dass die Partei, das Heer, das ganze deutsche Volk das blinde Instrument seiner Befehle sind; dass jeder Widerstand in der Sekunde niedergeschlagen wird, jeder Widerspruch mit Blitzesschnelle verstummt. Nichts geschieht ohne seinen Willen, und sein Wille geschieht immer. Dafür ist die S.S. da. Das hat sie ihm eben geschworen.

Rings um die fünfzigtausend S.S.-10 Rekruten stehen in dieser Nacht die älteren Kameraden, die schon lange das Koppelschloss mit der Aufschrift »Meine Ehre ist Treue«11 tragen. Auch die S.A. ist vielfach an ihren Sammelplätzen, gelegentlich sogar die älteren Jahrgänge der Hitler-Jugend. Deutschland schläft, der Führer wacht, und rund eine halbe Million Nationalsozialisten, die treuesten seiner Anhänger, wachen mit ihm.

Sie haben achtundvierzig Stunden lang die Erinnerung an den 9. November 1923 gefeiert, an das heiligste Datum ihrer Parteigeschichte.12 Am Tag zuvor hat das ganze deutsche Volk an dieser Feier teilgenommen oder teilnehmen müssen. Diese Nacht vom 9. auf den 10. November aber gehört der Bewegung allein. Ihre Besten sind versammelt, und sie werden es noch in dieser Nacht zeigen, dass sie heute wie immer die Kraft zur Tat haben.

Blutiges Erinnern

An jenem 9. November 1923 griff ihr Führer, von mehreren tausend Bewaffneten begleitet, zum ersten Mal in den Strassen von München nach der Macht; aber im Feuer von hundert Polizeikarabinern brach das Abenteuer zusammen, und der Führer floh, sechzehn Tote auf dem Pflaster zurücklassend. Im Glück erinnert man sich gerne an vergangenes Unglück. Sie haben an ihre sechzehn Toten von damals gedacht, sicher tief überzeugt, dass diese Sechzehn von Feinden Deutschlands ermordet worden sind; denn dass die Toten Gewehre gehabt haben, zum Angriff ausgezogen sind, zuerst geschossen, selbst getötet haben – wer weiss das heute noch so genau? Die jungen S.S.- und S.A.-Leute waren damals noch Kinder.

Gläubige Kinder. Die Fackeln, die Fahnen, der Eid unter dem Sternenhimmel, die heisere Stimme in der Mitternacht … Sie werden alles glauben, was die Stimme verkündet. Sie werden alles tun, was die Stimme befiehlt.

Dies glauben sie:

Vor fünfzehn Jahren sandte das Weltjudentum zum erstenmal seine Schergen aus, um den Führer zu töten. Gott aber rettete ihn wunderbar und sparte ihn auf für Deutschlands Heil. Dass damals deutsche Patrioten, deutsche Offiziere dem Führer entgegentraten und ihn davor bewahrten, durch seinen Streich Deutschland in entsetzliches Unheil hineinzureissen – was wissen diese Kinder davon? Dass Männer mit den höchsten Tapferkeitsauszeichnungen aus vier Kriegsjahren, Männer mit den ältesten und ruhmvollsten Namen der deutschen Geschichte ihm den auf den Staat gerichteten Revolver aus der Hand schlugen – wer hat ihnen das schon erzählt? Dass der Führer selbst noch ein Jahr zuvor, am 9. November 1937, in öffentlicher Rede gestand, es sei eigentlich gut gewesen, dass es damals schief ging13 – wer hat auch nur hingehört? Und dass der Führer als erster floh – nein, das ist nur in ein paar Zeugenprotokollen, in ein paar verstaubten Gerichtsakten verzeichnet, die sorgfältig unter Verschluss gehalten werden.

Die Kinder wissen nur: die Juden waren es. Sie waren schuld am Unheil vor fünfzehn Jahren, wie sie schuld an allem Unheil sind.

Eben erst hat einer von ihnen wieder geschossen. Heute abend traf die Nachricht ein, dass Ernst vom Rath14, Sekretär an der deutschen Botschaft zu Paris,15 Mitglied der Bewegung seit 1931, auf dem Totenbett zum Gesandtschaftsrat erster Klasse befördert, seinen Verletzungen erlegen ist. Ein Jude hat auf ihn geschossen. Der Jude trug den Namen Herschel Grynszpan16; ein lächerlicher Name, für deutsche Ohren ein fast abstossender Laut. Herschel: das ist ein kleiner Hirsch, im vulgärsten Dialekt ausgesprochen; Grynszpan bedeutet: Grünspan, eine Zersetzungserscheinung an Metall. Da hat also der Major Walter Buch17, Vorsitzender des obersten Parteigerichts, Mitglied der Reichsleitung der Partei und enger Freund des Führers, einmal ins Schwarze getroffen, als er im September 1938 auf dem Nürnberger Parteitag sagte: »Der Jude ist kein Mensch, er ist eine Fäulniserscheinung.«18 Grünspan!

Grynszpan

Die Fäulniserscheinung hat geschossen.

Ein siebzehnjähriges Bürschlein; in Deutschland aufgewachsen, doch polnischer Nationalität; nach Frankreich geflüchtet; dort, gleich Tausenden von Leidensgefährten, ausgewiesen; von einer alten Tante und ihrem Mann in einer Dachkammer versteckt gehalten; angstvoll bewacht, damit er nicht von den »Flics«19 entdeckt werde; an Geld knapp gehalten, damit er nicht durchbrenne – dieses siebzehnjährige, ratlose Menschenwesen hat geschossen. Es hat einen Brief von seinem Vater bekommen, der dreissig Jahre lang ruhig und bescheiden als Kaufmann in Hannover gelebt hatte, dann plötzlich von der Strasse weggefangen, nach Polen transportiert und dort zwischen den Grenzen hinter Stacheldraht interniert wurde. Zehntausenden ist es so gegangen. Sie haben still dahingelebt in Deutschland; dem Lande, in dem die meisten von ihnen seit Jahrzehnten wohnten, in dem Viele von ihnen geboren sind, dessen Sprache die Jüngeren als ihre Muttersprache sprechen, für das ein Teil der Aelteren im Felde geblutet hat. Das dritte Reich brach an; sie lebten weiter in diesem Lande, weil sie nicht wussten, wohin sich sonst wenden; sie lebten weiter, geduckt, scheu, von den Behörden gequält, von der herrschenden Partei verfolgt und bespieen, von der übrigen Bevölkerung meist geduldet, bemitleidet, nicht selten mit ihr befreundet. Nun mussten sie binnen acht Stunden weg. Ihre Kinder wurden aus den Schulen geholt und auf die Eisenbahn geführt, wo die Eltern bereits in überfüllten Zügen sassen. Dann rollten sie nach Osten, dem unbekannten »Vaterlande« Polen zu, das sie oft gar nicht kannten und das sich nun weigerte, sie aufzunehmen. So blieben die meisten im Niemandsland zwischen den Grenzen hocken, in Baracken von Militärposten bewacht, von ihren im Land ansässigen Glaubensgenossen, meist selbst bitterarmen Menschen, gefüttert und mit Bettdecken versehen. Auch Herschel Grynszpans Vater war unter ihnen.20

Herschel Grynszpan, der Siebzehnjährige, der aus Deutschland Geflohene, der von der französischen Polizei Ausgewiesene, der Pole, der Polen nie gesehen, der Ausgestossene dreier Nationen, liest es in Paris. Er liest es in den Zeitungen, er liest es in den Briefen seines Vaters. Das also ist das Los der Juden: Ausweisung, Flucht, Abschub auf der Eisenbahn, Einkerkerung hinter Stacheldraht. Das heisst Jude sein. Wenn man Glück hat, bleibt es einem eine Zeitlang erspart; aber einmal kommt es. Man muss es sich gefallen lassen, sich ducken, schweigen. Die andern haben die eisenbeschlagenen Stiefel und die Knute, wir haben den Rücken. Duck dich und bete still, dass du erst möglichst spät getreten wirst.

Muss das so sein? Gibt es kein Recht? Auch Herschel Grynszpan hat die heisere Stimme gehört; am Lautsprecher, versteht sich. Vielleicht hat er das Buch21 gelesen, das der Mann mit der heiseren Stimme geschrieben hat. Sicher kennt er den einen oder andern der Ratschläge, die dieser seinen Anhängern gab: »Was der Güte verweigert wird, hat die Faust sich zu nehmen«22, »in der ewig gleichmässigen Anwendung der Gewalt allein liegt die allererste Voraussetzung zum Erfolge«23; »der Erfolg ist der einzige irdische Richter über Recht oder Unrecht«24; »Terror ist nur durch Terror zu brechen«25 usw.

Wenn Herschel Grynszpan belesen genug ist, kann er darauf verweisen, dass die genannten Sprüche auf den Seiten 152, 188, 377 und 550 des Buches »Mein Kampf« stehen.26

Das ist die Weisheit, die heute die Welt beherrscht. Solchen Ratschlägen folge, dann bringst Du es weit! Haben sie nicht auf diese Weise Deutschland erobert? Liegt ihnen nicht schon fast die Welt zu Füssen? Jawohl, sie liegt ihnen, den Anhängern des Mannes, der diese Ratschläge gab, zu Füssen. Gross, mächtig und bewundert sind sie, nachdem sie … obwohl sie … aber nein – weil sie:27

den deutschen Minister Erzberger ermordet haben;28

den deutschen Minister Rathenau ermordet haben;29

den General von Schleicher ermordet haben;30

die Frau des Generals von Schleicher ermordet haben;31

den konservativen Schriftsteller Dr. Edgar Jung ermordet haben;32

den General von Bredow ermordet haben;33

den ehemaligen Ministerpräsidenten von Kahr ermordet haben;34

die Katholikenführer Klausener35 und Probst ermordet haben;36 ihre eigenen Kameraden Ernst Röhm37 und Gregor Strasser38 ermordet haben;

den österreichischen Bundeskanzler Dr. Dollfuss ermordet haben;39

und noch unzählige andere ermordet haben, deren Namen die Welt schon lange wieder vergessen hat.

Den Mördern des Ministers Rathenau, Fischer und Kern40, wurde im nationalsozialistischen Deutschland ein Denkmal gesetzt; ein Reichsminister hielt die Gedenkrede. Den Mördern des Bundeskanzlers Dollfuss, Holzweber und Planetta41, wurden im nationalsozialistischen Oesterreich Denkmäler gesetzt, und Strassen wurden nach ihnen genannt; ein Reichsminister hielt die Gedenkrede.42

Herschel Grynszpan ist zu jung; darum erinnert er sich wohl kaum der tierischen Mordtat im Dorfe Potempa in Oberschlesien, wo fünf Nationalsozialisten im Jahre 1932 einen polnischen Arbeiter zu Tode trampelten und dann von ihrem Führer ein Telegramm erhielten, das mit den Worten begann: »Meine Kameraden …«43

Als die Kameraden vor fast zwanzig Jahren ihr Werk begannen, lachte man entweder über sie oder kannte sie gar nicht. Heute fürchtet die Welt sie und bettelt um ihre Freundschaft. Es scheint, dass mit den wachsenden Leichenhaufen auch der Respekt wuchs. Der siebzehnjährige Jude Herschel Grynszpan hat jedenfalls in dieser Schule lernen können. Er begeht das, was man eine Wahnsinnstat zu nennen pflegt und was, bei allem Verständnis für die Psyche eines erschütterten Siebzehnjährigen, eine tief verurteilenswerte Tat bleibt. Er schiesst den ersten beliebigen Nationalsozialisten nieder, der ihm in den Weg kommt. Das Opfer ist der dreissigjährige Botschaftssekretär an der deutschen Botschaft zu Paris, Ernst vom Rath. Grynszpan hat sich heimlich von zu Hause weggestohlen, Onkel und Tante in einem hinterlassenen Brief mit mysteriösen Worten irregeführt, in einem Waffenladen44 einen billigen Revolver gekauft, ist dann auf die deutsche Botschaft gegangen und hat dort den ersten besten Beamten niedergeschossen, zu dem er vorgelassen wurde.

Alle Umstände sprechen eine einheitliche deutliche Sprache. Es ist die Tat eines fassungslosen Siebzehnjährigen, eines verirrten Kindes dieser Zeit, in der der Mord regiert und Mördern Denkmäler gesetzt werden. Der junge Mensch vermochte nicht mehr zu unterscheiden, was Recht und Unrecht war. Es wurde so viel geschossen in der Welt. Immer wieder wurden die Schiessenden als Helden gefeiert und hatten das Vaterland gerettet. Also glaubte er, im Recht zu sein, wenn auch er schoss; denn »der Erfolg ist der einzige irdische Richter über Recht und Unrecht.«

So beging er seine unselige Tat. So schoss er.

Eine Viertelstunde später war er in den Händen der Pariser Polizei und wurde tagelang verhört. Seine Verwandten wurden festgenommen und verhört, die Umstände und die Vorbereitung der Tat wurden bis ins einzelne erforscht. Die Pariser Polizei informierte die Oeffentlichkeit genau. Es gab keinen Zweifel darüber: die Tat Grynszpans war die Tat eines einzelnen, verirrten, kaum für sich selbst verantwortlichen Jugendlichen. Niemand ausser ihm hatte von ihr gewusst, niemand ihm geholfen. Seine Verwandten wurden einige Wochen in Haft behalten, weil sie dem Ausgewiesenen verbotenerweise Obdach gewährt hatten; sie wurden dann wegen Uebertretung der Beherbergungsvorschriften für Fremde zu drei und sechs Monaten Gefängnis verurteilt,45 aber eines Komplottes wurden sie keinen Augenblick lang verdächtigt und darum wurden sie wieder auf freien Fuss gesetzt. Ein Richter verhörte sie öffentlich, und die Verhandlung bewies: von einem Komplott nicht die leiseste Spur.

Aber die jungen Leute von der S.S. wissen Bescheid. Ein Jude hat geschossen. Der Jude hat geschossen. Die Juden haben geschossen.

Die Fäulniserscheinung hat geschossen. Vor fünfzehn Jahren brachte das Weltjudentum den Führer schon einmal zu Fall. Nun richtet es wieder die Revolverläufe auf die Bewegung und ihre Häupter.

Die Pariser Polizei weiss es zwar anders. Aber Goebbels, unser Doktor, weiss es besser. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda stellt öffentlich fest:

»Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass er (Grynszpan) von einer jüdischen Organisation versteckt und auf diese zynische Mordtat systematisch vorbereitet worden ist.«46

So weit ist es also mit den Juden gekommen. Sie morden – und finden kein anderes Opfer als den unbekannten Botschaftssekretär? Sie schiessen – und finden kein anderes Werkzeug als diesen halb unzurechnungsfähigen Siebzehnjährigen?

Die jungen S.S.-Leute stellen solche Fragen nicht. Sie hören auf ihre Führer und hegen keinen Zweifel. Sie haben unterm Sternenhimmel ihre Befehle empfangen und führen sie aus vor Morgenrot.

Siegfried

Ueber den deutschen Juden liegt in dieser Nacht das Entsetzen. Sie ahnen, was ihnen bevorsteht. Sie wissen seit sechs Jahren, wessen die Nationalsozialisten fähig sind. Fiele Herschel Grynszpan den deutschen Juden in die Hände, sie würden ihn zerreissen.

Es ist etwas Merkwürdiges mit der Seelenverfassung dieser zertretenen Menschenschar.

Sie leben in dem Land, dessen Kinder sie sind, dessen Sprache sie sprechen, dessen Dichter auch ihre Dichter, dessen Lieder auch ihre Lieder sind, dem sie hervorragende, oft weltberühmte Söhne geschenkt haben, dessen Industrie – namentlich Elektrizitätswirtschaft und Schiffahrt, ferner Eisenbahnen – sie zum guten Teil aufgebaut haben, dessen kultureller Aufstieg im neunzehnten Jahrhundert nicht zum kleinsten Teil ihr Werk ist, das sie schliesslich während hundert Jahren in mehreren blutigen Kriegen verteidigen halfen – sie leben in diesem Lande wie auf einer öden Insel in einem feindseligen Meer. Sie sind nicht Bürger dieses Landes, sind auch nicht seine Gäste, denn Bürger und Gäste wären Menschen; sie aber sind Untermenschen und Fäulniserscheinungen. Dass ihre gebildeten Söhne keine akademischen Berufe mehr bekleiden, dass ihre Aerzte keine Kranken heilen, dass ihre Anwälte keine Angeklagten verteidigen dürfen, daran denken sie kaum noch. Dass sie keine politischen Rechte haben, von der Volksgemeinschaft ausgeschlossen sind und ihre Kinder nicht in die allgemeinen Schulen schicken können – längst haben sie sich damit abgefunden.47 Dass sie in den öffentlichen Anlagen sich nicht auf die allgemeinen Bänke setzen dürfen, sondern nur auf besondere, gelb gestrichene Bänke – in Gottes Namen; sie werden sich eben gar nicht setzen. Dass Liebe zwischen Nichtjuden und Juden ein Verbrechen ist, etwa in gleicher Weise strafbar wie Strassenraub – auch daran haben sie sich gewöhnt. Dass ihnen als einziger erlaubter Erwerbszweig der Handel gelassen wurde, bestätigt ihnen nur die alte leidvolle Erfahrung ihrer Geschichte: erst werden sie zum Handel gezwungen, dann schimpft man sie Handelsjuden. Dass ihre Läden zur Abschreckung mit Zeichen bemalt werden, überrascht sie nicht mehr; die Masse der Käufer ist bis jetzt trotzdem vorurteilslos gewesen und hat dort gekauft, wo sie gut bedient wurde. Dass man im Frühjahr 1938 ihnen plötzlich befahl, der Behörde ihr Vermögen anzugeben,48 war ein Warnungszeichen; aber arm waren die meisten schon längst geworden. Dass man zur Quälerei den Hohn fügte und anordnete, jeder männliche Jude müsse ausser seinem Vornamen49 den Namen Israel, jede Jüdin den Namen Sarah führen – das hätte sie fünf Jahre zuvor bitter gekränkt, heute nicht mehr.50

Israel und Sarah! Diese deutschen Juden hatten einmal ihre Kinder mit Vorliebe nach den Helden in Richard Wagners Musikdramen genannt: Siegfried und Siegmund; zwei grosse Namen deutscher Sage.51 Sie wollten Deutsche sein; sie fühlten, dass sie Deutsche wären, sie waren Deutsche. Ein rührender, leidenschaftlicher, manchmal etwas gewaltsamer Patriotismus erfüllte gerade die besten Teile des deutschen Judentums. Die Juden von Worms pflegten darauf hinzuweisen, dass sie länger am Rhein sässen, als die Germanen; denn auf ihrem Friedhof standen Grabsteine aus dem vierten Jahrhundert nach Christi Geburt.52 Als man den Juden von Regensburg in der Zeit der Kreuzzüge vorwarf, ihre Vorväter hätten Christus gekreuzigt, erwiderten sie: ihre, der Regensburger Juden Vorväter seien es jedenfalls nicht gewesen, denn die hätten schon vor dem Jahr der Kreuzigung zu Regensburg an der Donau gelebt.53

Die geistige und dann die politische Erneuerung Deutschlands, nach hundertfünfzigjähriger Lethargie, beginnt gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts gleichzeitig mit der Emanzipation der deutschen Juden. Die Entdeckung, dass alle Menschen »gleich« seien, hat in jener Epoche allen Völkern gewaltige Kräfte zugeführt; die Juden gehörten zu diesen neuen Kräften. Mit ihnen trat auch in die deutsche Gesellschaft ein neues Ferment ein, das sie in Bewegung bringen half. Es kann dem Antisemitismus nicht verwehrt werden, diese Bewegung und ihre Ergebnisse schädlich zu finden; das ist Meinungssache. Aber Tatsache ist, dass der historische Aufstieg Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert von dem historischen Aufstieg des deutschen Judentums nicht zu trennen ist. Die Einschaltung Deutschlands in den wirtschaftlichen Entfaltungsprozess Westeuropas seit den fünfziger Jahren ist in beträchtlichem Masse jüdisches Werk gewesen. Der Beitrag der Juden zu den Naturwissenschaften, von Hertz bis Einstein54, kann nicht gut bestritten werden. Aber nicht nur in den praktischen Künsten haben sie Bedeutendes geleistet. Der jüdische Kreis um Rahel Levin-Varnhagen55 hat als erster den unbedingten Kultus Goethes in Deutschland begründet. Der letzte Dichter nach Goethes Tod, mit dem Deutschland an der Weltliteratur teilnahm, war Heine56, ein Jude.

Zu Beginn des Weltkrieges hat der Jude Walter Rathenau dem preussischen Kriegsministerium erst sagen müssen, dass der moderne Krieg ein Rohstoffproblem sei. Er war es, der Deutschlands Rohstoffversorgung organisieren musste; dank ihm hielt das Land vier Jahre durch. Doch dieser patriotische Jude ist dann der erste verantwortliche Staatsmann Deutschlands geworden, der nach der deutschen Niederlage den Verzicht auf die Revanche aussprach. Als Aussenminister bekannte er im Reichstag, es sei nicht nur Deutschlands vertragliche, sondern auch seine moralische Pflicht, das zerstörte Nordfrankreich wieder aufzubauen; denn – hier gebrauchte er ein Bild aus Wagners »Parsifal«57 – nur der Speer, der die Wunde geschlagen, könne sie wieder heilen.

Ein Jude, Hugo Preuss58, schrieb Deutschland die demokratische Verfassung von Weimar. Ein Jude, Albert Einstein, ist heute in den Augen der Welt einer der grössten theoretischen Physiker aller Zeiten; aber in Deutschland war er zugleich ein Kämpfer für Menschenrechte und Völkerverständigung.

Mit einer grossen Zahl erschütternder Tragödien hat dann das deutsche Judentum im Jahre 1933 auf die ersten Massnahmen der nationalsozialistischen Regierung geantwortet, durch die die deutschen Juden aus dem deutschen Volke ausgestossen wurden.59 Hier nur ein paar Fälle von vielen. Der Chefingenieur der Reichsrundfunkgesellschaft Walter Schaeffer ging mit seiner Frau aus Gram in den Tod,60 der Berliner Ladenbesitzer Herbert Schimek erschoss sich am 1. April 1933, als sein Geschäft mit gelben Zetteln beklebt wurde, die an den »gelben Fleck« des Mittelalters erinnerten61; der Landgerichtsrat Hollevorden erschoss sich, nachdem er als Jude aus seinem Amt entfernt worden war;62 der Professor Jacobsohn in Marburg, angesehener Indogermanist und in jungen Jahren Mitbegründer einer politischen Bewegung der Vorkriegszeit, die den interessanten Namen »nationalsozial« führte, liess sich, vom Kultusminister beurlaubt, von einem Zug überfahren;63 Geheimrat Hebting in Mannheim, fast siebzigjährig, ging in den Neckar, weil sein Sohn, der Jurist war, aus dem Staatsdienst ausscheiden musste.64 Auf dem Bergfriedhof zu Heidelberg erschoss sich am 1. April 1933 der junge Gerichtsassessor Bettmann; in einem Abschiedsbrief schrieb er, dass er sein Leben zugleich Deutschland und den Menschen zum Opfer bringe, die ohne eigene Schuld plötzlich hinausgestossen würden, ohne ihrem Vaterlande dienen zu dürfen. Er sprach die Hoffnung aus, dass dies Opfer nicht vergeblich sei; es war vergeblich.65 Um dieselbe Zeit erschoss sich in Stuttgart der junge Kaufmann Fritz Rosenfelder66; in seinem Abschiedsbrief hiess es: »Ihr lieben Freunde! Hierdurch ein letztes Lebewohl! Ein deutscher Jude konnte es nicht über sich bringen, zu leben in dem Bewusstsein, von der Bewegung, von der das nationale Deutschland die Rettung erhofft, als Vaterlandsverräter betrachtet zu werden.«67

Das deutsche Judentum ist gegen Deutschland bis zuletzt loyal gewesen. Es hat die ärgsten Ungerechtigkeiten mit Disziplin und Korrektheit ertragen. Es hat sich von dem Land seiner Verfolgungen und seiner Erniedrigungen zum grösseren Teil äusserlich und bis68 vor kurzem auch innerlich nicht lösen können. Es kann dafür von den Nationalsozialisten keinen Dank erwarten – »geht weg, wir wollen euch nicht, seht ihr nicht, dass ihr lästig seid?«; aber eine objektive Welt wird die innere Anständigkeit dieser Haltung anerkennen, auch wenn sie sie nicht teilt. Die Welt gewöhnt sich daran, in den Nationalsozialisten hochzivilisierte Barbaren zu sehen, sie bewundert ihre Technik, fürchtet ihre Absichten und verachtet ihre Gesinnung. Die deutschen Juden aber sind auch darin deutsch, dass sie ihre grausame Obrigkeit noch in der eigenen Qual und Erniedrigung irgendwie achten, denn sie ist die Obrigkeit. Wenn sie auf einer Auslandsreise in den Londoner Hyde Park kommen, wagt mancher kaum, sich auf eine Bank zu setzen – das dürfen Juden doch nicht!

Oesterreich

Alle Loyalität hat ihnen nichts genützt. Ihre Lage verschlechterte sich langsam von Jahr zu Jahr. Seit März 1938 verschlechterte sie sich reissend. Oesterreich fiel in deutsche Hände; dort begann ein entsetzliches Wüten gegen die jüdische Bevölkerung, und dies Beispiel steckte das übrige Deutschland an.69 In Wien wurden alte jüdische Männer und Frauen von der Strasse weggefangen, in Kasernen geführt und gezwungen, die Aborte zu reinigen, Automobile zu waschen, auf den Knieen das Pflaster zu schrubben. Gespräch auf der Ringstrasse: »Sie sind Jude?« – »Ja.« – »Dann kommen sie mal mit« und der Angeredete ist glücklich, nur zweihundert Teller waschen und abtrocknen zu müssen.

Es klingelt morgens um sechs Uhr an der Wohnungstür: »Los, mit aufs Polizeirevier!« – »Zu dieser Stunde?« – »Wir arbeiten Tag und Nacht. Es handelt sich nur um eine Nachprüfung der Papiere«. Wie harmlos das klingt! Der Jude sagt zu seiner Frau: ich bin in einer Viertelstunde wieder da, geht ohne Mantel und Hut die zwei Schritte über die Strasse und ist seitdem nicht mehr gesehen worden.

Seltsam benimmt sich plötzlich die Obrigkeit, gegen die der deutsche Jude so gerne loyal wäre. Ein Beamter in Zivil verhört, das ist sein Recht; der Jude antwortet, das ist seine Pflicht. Der Beamte wirft ihm dies und das vor, der Jude rechtfertigt sich. Da steht der Beamte auf, tritt an ihn heran, schlägt ihm mit voller Wucht die Faust ins Gesicht, dass der Jude taumelt; dann springt er auf ihn los, reisst ihn am Hals, reisst ihn zu Boden, setzt sich auf seinen Nacken, ein anderer hat schon den Knüppel zur Hand und lässt ihn auf das Gesäss niedersausen. Der Jude will schreien, die Obrigkeit stülpt ihm eine Aktentasche über den Kopf und spricht: »Die Sau kann ja noch schreien. Hau weiter!«

Und doch ist Oesterreich erst ein Anfang und noch lange nicht das Schlimmste. Erst nach diesem Anfang begannen die deutschen Juden ihre erschreckende Lage völlig klar zu erkennen. Das scheint merkwürdig; es war ihnen doch fünf Jahre lang schlecht genug gegangen. Aber man werfe nicht den deutschen Juden allein einen Fehler vor, den mit ihnen die ganze Welt begangen hat. Wie spät erkannte diese Welt die Kriegsgefahr!

Aber nun sind die Zeichen nicht mehr zu übersehen, denn sie schneiden wie Messer tief ins Fleisch. Was die Registrierung ihrer Vermögen bedeutet, wissen alle deutschen Juden. Plötzlich werden aus heiterem Himmel im Juni 1938 dreitausend verhaftet, ohne Angabe von Gründen, ohne Beschuldigung und selbstverständlich ohne Schuld. Geiseln. Ihre Pässe werden ihnen abgenommen.70 Wer aber dennoch das Land verlassen darf, dem wird ein grosses J zur ewigen Kennzeichnung ins Papier gestempelt.71 Wer noch ein Geschäft hat, hat mehr Grund zum Zittern als andere. Eines schönen Tages erscheint bei ihm der Parteifunktionär und eröffnet ihm: die »Arbeitsfront«, der nationalsozialistische Riesenkonzern, wird das Geschäft kaufen; sie wird den Preis bestimmen, die Zahlungsweise bestimmen, und Widerspruch wäre Konzentrationslager.72 Ende September beginnt man in einigen Teilen Deutschlands abermals die Juden zu verhaften, so in der Gegend von Rothenburg ob der Tauber. Es waren Vorbereitungen auf den Krieg, der damals unvermeidlich schien.73

Darum hat der Schuss von Paris sicherlich niemanden in der Welt so tief erschreckt wie die deutschen Juden. Ein Jahr zuvor mochten manche noch gezweifelt haben, jetzt war es jedem bewusst: sie waren völlig wehrlos in der Hand eines Feindes, der zu allem fähig war und dem vor nichts schauderte.

Drei Tage gehen nach dem Unglücksschuss von Paris ins Land. Nichts geschieht, und gerade das ist unheimlich.74 Es deutet darauf hin, dass mit allen Hilfsmitteln einer mitleidlosen Intelligenz etwas besonders Furchtbares vorbereitet wird. »Die Rache ist ein Gericht, das kalt genossen werden muss«75, ist ein Lieblingsausspruch des Dr. Goebbels.

So kommt der Abend des 9. November heran. Er bringt die Nachricht vom Tode des Pariser Gesandtschaftssekretärs. Nun haben die Nazis ihren Vorwand. Eigentlich: wozu ein Vorwand, was könnte er rechtfertigen, und wozu brauchen sie sich überhaupt zu rechtfertigen? Nun, auch an diese merkwürdige Zerreissung der Logik haben sich die deutschen Juden bereits gewöhnt: wenn irgendwann und irgendwo in der Welt etwas die Nazis ärgert oder trifft, dann müssen wir es büssen. Wir haben es zwar nicht getan, uns trifft keine Schuld, wir hätten, stünde es in unserer Kraft, eine Sache wie diesen Pariser Schuss bestimmt verhindert – aber uns treffen selbstverständlich die Folgen. Wir sind ja Juden.

Wir sind keine Menschen. Wir sind Fische im Bassin, dort gehalten, um geschlachtet zu werden. Eine fremde, riesige, gefühllose Tierart beugt sich von Zeit zu Zeit über uns, zieht ihr Netz durch den Schwarm, hopp, Jude, zapple nicht feige; der Tod ist nicht das Schlimmste.76

Der innere Komparativ

Im Herbst 1938 leben auf dem Gebiet des Deutschen Reiches, Oesterreich und Sudetenland eingeschlossen, etwa sechshunderttausend Juden, d. h. Personen jüdischen Bekenntnisses. Würde man alle diejenigen hinzurechnen, die nach den sog. Nürnberger Gesetzen von 1935 als Juden oder Judenstämmlinge gelten, so würde diese Zahl sich wahrscheinlich mehr als verdoppeln.77 Eine genaue Statistik gibt es nicht.78

Rein zahlenmässig würden diese sechshunderttausend Juden in der Volksmasse von siebenundsiebzig Millionen fast verschwinden; sie machen weniger als ein Prozent aus. Auch wenn man die Halbstämmigen dazurechnet, steigt der Anteil nicht weit über ein Prozent. Doch wenn es zehn oder zwanzig Prozent wären – es blieben immer Menschen. Wenn ihre Existenz unter Menschen anderer Religion Probleme aufwürfe – es blieben immer noch Menschen; und vor allem Menschen, die trotz der Verschiedenheit der Bekenntnisform zu demselben Gott beten, dieselben heiligen Bücher verehren, demselben Sittengesetz gehorchen. Und mehr noch: waren es nicht ihre Propheten, die einst diese heiligen Bücher schrieben, die aus der Hand Gottes am Sinai dies Sittengesetz empfingen, die unvergängliche Lehre von Recht und Unrecht, von Wahrhaftigkeit, Nächstenliebe, Ehrfurcht, Achtung vor fremdem Leben, fremdem Eigentum – stammen sie nicht aus ihrer Geschichte, sind sie nicht heute noch ihr höchstes Heiligtum: die ewigen zehn Gebote?79 Und ging nicht aus ihrer Mitte der Heiland hervor, der zu den Aposteln sagte: geht hin in die Welt und lehret alle Völker?80 Der auch das immer des Nachsinnens werte Wort sprach81: das Heil kommt von den Juden?82 Ein schweres und vielleicht dunkles Wort; doch hell und klar ist die Gewissheit: das Heil kommt zu allen Menschen, die guten Willens sind, denn alle sind Gottes Kinder, und Jesus nimmt alle Sünder an, wenn sie zu ihm kommen. Das ist Christentum.

Das ist aber nicht Nationalsozialismus. Die jungen S.S.-Leute können da nur lachen. Sie kennen das Pfaffengerede übrigens; Pfaff und Jud, alles eins. Ihr Heiland im braunen Hemd ist nicht zu allen Menschen gekommen. Er kommt zu den Ariern, aber nicht zu den Kötern, Flöhen, Untermenschen und Fäulniserscheinungen. Die vernichtet er; das ist sein Evangelium.

Es ist viel Tinte verschrieben worden über die Frage, ob die Rassenlehre der Nationalsozialisten wissenschaftlich haltbar sei. Ob es überhaupt, als Rasse betrachtet, »Arier« gebe. Die wissenschaftliche Forschung hat die Frage überwiegend verneint. Die Gegner des Nationalsozialismus druckten diese Forschungsresultate in Zeitungen und Broschüren ab und sagten tief befriedigt: »Also …«

Die jungen S.S.-Leute lasen das Zeug überhaupt nicht. Sie wussten, was sie wussten. Erstens sind die Menschen nicht gleich, das ist doch klar; zweitens sind die einen mehr wert als die andern, denn Ordnung muss sein; und drittens bin ich am meisten wert, und wenn du es nicht glaubst, zeige ich es dir mit dem Beil.

Das ist die angewandte Rassenlehre des Nationalsozialismus; eine politische Waffe von furchtbarer Kraft – lasst die Professoren piepsen, was sie mögen. Wir wollen nicht die Wahrheit wissen, sondern die Welt erobern. Unsere Rassenlehre mögt ihr bestreiten. Unsere Rassenpraxis lasst in Ruhe, oder sonst nehmt eure Schädel in acht; denn wie wir uns als Rasse fühlen und neu züchten – das ist unsere Stärke und unser Stolz.

Um es in einer definierenden Formel zu sagen: Die Rassenpraxis des Nationalsozialismus ist der Versuch, den breiten Massen der modernen Völker in ihrem schweren Daseinskampf statt realer Verbesserungen ein künstliches Ersatz-Selbstgefühl zu geben und sie dadurch für bestimmte politische Zwecke seelisch brauchbar zu machen.

»Du bist nichts, dein Volk ist alles. Du bist als einzelner nichts, durch dein Volke bist du alles. Glück auf Erden gibt es nicht, aber du bist ein Deutscher. Du hast es nicht gut, aber durch dein Volk bist du gross. Als Deutscher bist du mehr als andere; Deutschland über alles!«83

Man muss einmal die hochmütige Haltung beobachten, mit der in Deutschland ein Trupp Hitler-Jungens oder Hitler-Mädels daherkommt. Man spürt es ihnen an, wie sie sich als Gefässe hoher Rasse und als erhaben über ihre nichtuniformierte Umwelt fühlen.

Geheimes Bewusstsein eigener Fragwürdigkeit unter normalen Verhältnissen erzeugt ein übersteigertes Selbstgefühl in den abnormen Umständen des dritten Reiches. Der Parteigenosse sieht auf den Volksgenossen hinab, der S.A.-Mann auf den Parteigenossen84 und der S.S.-Mann auf den S.A.-Mann. Alle sind Deutsche, und das ist schon etwas. Aber der Parteigenosse ist der bessere Deutsche, und der S.A.-Mann der noch bessere. Dem S.S.-Mann vollends ist seine Auserlesenheit bereits im Dienstbuch bescheinigt. Nur Leute von amtlich geprüfter »Rasse« können S.S.-Männer werden. Sie müssen mindestens 1,70 Meter gross sein, denn Körperlänge gilt als ein Merkmal guter Rasse. Ihre Glieder müssen gute Proportionen haben, der Oberkörper darf nicht zu lang, die Beine dürfen nicht zu kurz sein – weder Goethe noch Napoleon wären bei der S.S. zugelassen worden.85 Ein S.S.-Mann muss das Gefühl haben, vom Schicksal auserlesen zu sein; und zwar wozu? Zum Herrschen natürlich. Durch die ganze Bewegung, vom untersten Parteigenossen bis zum glanzvollsten S.S.-Führer geht das Prinzip des »inneren Komparativs«. Jeder vergleicht sich ständig mit jedem und sucht möglichst auf ihn hinabzusehen.

Denn es gibt oben und unten in der Welt, und wir sind durch unsere nordische Rasse auserwählt, oben zu sein. Wer aber ist durch seine Rasse unten? Denn wie es eine höchste Rasse gibt, muss es auch eine niedrigste geben; einen Menschentyp, der durch seine blossen Rasseeigenschaften auf der niedrigsten sozialen und moralischen Stufe steht – Untermensch nennt ihn die Bewegung meist, Fäulniserscheinung nennt ihn der Major Buch. Es ist der Menschentyp, an dem das Selbstbewusstsein des Nationalsozialisten sich immer wieder aufrichtet: seht, wie minderwertig ist er, seht, wie wertvoll bin ich, auch wenn ich nicht S.S.-Mann, wenn ich nicht einmal S.A.-Mann bin. Der Weltenschöpfer, so denkt der Nationalsozialist, hat mir diesen Untermenschen gegeben, damit ich ihn verachte, bekämpfe und, wenn nötig, ausrotte. »Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn«86, sagt Adolf Hitler in »Mein Kampf«.

Denn der Untermensch ist der Jude. Er ist die Personifizierung des Bösen auf der Erde. Er will die Welt beherrschen – ja, wahrhaftig, dieses Grüpplein von insgesamt sechzehn Millionen Menschen, von denen neun Zehntel buchstäblich bettelarme Proletarier sind, will die Welt beherrschen. Hitler weiss es genau, und seine S.S.-Leute, die ihm Treue bis in den Tod geschworen haben, glauben ihm alles. Und wenn es nur Beherrschen wäre – die Menschheit ausrotten wollen sie: »Siegt der Jude … über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totenkranz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Aether ziehen«87 (»Mein Kampf« Seite 69/70).

Und nun leben unter uns sechshunderttausend von dieser Satansbrut. Das ist ein Wink des Himmels. Gott gab sie in unsere Hand; sie sollen uns Geiseln sein für die 15,4 Millionen da draussen. Solange wir ihnen hier bei uns den Daumen auf die Gurgel halten, so lange haben wir sie fest.

»Die in Deutschland befindlichen Juden sind ein Teil des Weltjudentums, sie sind mitverantwortlich für das, was das Weltjudentum gegen Deutschland unternimmt, und – sie haften für die Schäden, die das Weltjudentum uns zufügt und zufügen will.«88 So schrieb das »Schwarze Korps«, die amtliche Wochenschrift der S.S., auf Seite 2 der Folge vierundvierzig des Jahrgangs 1938. Sie schrieb es bereits am 3. November 1938; da war in Paris noch kein Schuss gefallen.

Ob die nationalsozialistischen Führer alles glauben, was sie ihren Leuten erzählen, wäre eine interessante psychologische Doktorfrage. Sicher ist, dass kein einziger insgesamt all das glaubt, was insgesamt die andern von sich geben. Hitler glaubt nicht alles, was Rosenberg89 für Wahrheit verkündet; Rosenberg glaubt nicht alles, was Streicher90 an Schauermärchen der Welt aufhängt; Streicher zweifelt sicher oft genug an Göring91, Göring am Führer, und Goebbels glaubt weder, was die anderen sagen, noch das, was er selber sagt.

Aber die grosse Masse der Parteimitglieder glaubt im Durchschnitt, gelegentlich mit kleinen Abstrichen, das meiste von dem, was Hitler, Rosenberg, Streicher, Göring und Goebbels sagen. Und zumal die Mitglieder der S.S. glauben, was im »Schwarzen Korps« steht. Die Juden sind eine Fäulniserscheinung und Ungeziefer, und da gibt es keine Menschlichkeit. »Flöhe vernichtet man auch«92, sagt Goebbels.

Dieser kurze Einblick in nationalsozialistische Denkweise war notwendig, damit verständlich werde, was nun erzählt werden soll.93

Die Nacht der Beile

Ein junger Jude, der in der Nacht vom 9. auf den 10. November in einer hessischen Kleinstadt das jüdische Gemeindehaus bewachen half, hat seine Erlebnisse in dieser Nacht geschildert. Sein Bericht liegt vor. Es sind ruhige, schmucklose, ziemlich unbeholfene Zeilen. Wer sie liest, hat den unbedingten Eindruck: so war es. Nichts Besonderes wird geschildert, nur das Uebliche; aber die unheimliche Stimmung dieser Nacht kommt gut zum Ausdruck. So schreibt der junge Mensch:94

»Am Mittwoch (9. November) wurde ein polnischer Staatsangehöriger, Inhaber eines kleinen Ladens, von arischen Bekannten gewarnt, dass am Abend gegen halb elf Uhr ›etwas‹ geschehen solle. Derartige Warnungen waren schon häufig gekommen. Bei dem übernervösen Zustande unserer Menschen wäre es zu einer vollkommenen Panik gekommen, wenn wir die Warnung weitergegeben hätten.