image

Olga Benario
Luiz Carlos Prestes

Die Unbeugsamen

Briefwechsel aus Gefängnis und KZ

Herausgegeben von Robert Cohen

image

Diese Veröffentlichung wurde gefördert durch
die Hamburger Stiftung zur Förderung von
Wissenschaft und Kultur und die Stiftung Irène
Bollag-Herzheimer sowie das brasilianische Kultus-
ministerium/Stiftung Nationalbibliothek

Obra publicada com o apoio do Ministério da Cultura do
Brasil/Fundação Biblioteca Nacional

image

Inhalt

Einleitung

Editorische Notiz

Abkürzungen

Briefwechsel

Einleitung

Im Blick auf die Lebensgeschichte der beiden Briefpartner und die Umstände ihrer Gefängnis- und KZ-Aufenthalte ist der hier folgende Gefängnisbriefwechsel nahezu vergleichslos. Die Münchner Jüdin und Komintern-Agentin Olga Benario wurde Ende 1936, nachdem sie in Brasilien an einem misslungenen Aufstand gegen die Diktatur von Gétulio Vargas beteiligt gewesen war, hochschwanger an Nazideutschland ausgeliefert. In Gestapo-Haft, im Frauengefängnis in der Barnimstraße in Berlin, gebar sie eine Tochter, Anita. Kurz nach Ende des ersten Lebensjahres wurde sie ihr weggenommen. Olga Benario gehörte zu den ersten weiblichen Häftlingen im KZ Lichtenburg, dann in Ravensbrück. 1942 wurde sie in Bernburg vergast. Ihr Lebenspartner und der Vater ihres Kindes, der Brasilianer Luiz Carlos Prestes, hatte Mitte der 1920er Jahre als junger Kommandeur einer rebellierenden Militäreinheit während zwei Jahren das brasilianische Hinterland durchquert. Ein Gewaltmarsch von 25.000 km, der ihn in der verarmten Bevölkerung als Cavaleiro da Esperança (Ritter der Hoffnung) zu einer mythischen Figur machte. Als Anführer des Aufstands von 1935 zusammen mit Olga Benario verhaftet, verbrachte er neun Jahre in Rio de Janeiro in Einzelhaft. Sein Schicksal und das von Olga Benario wurden in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zu einer internationalen Cause célèbre. Ihr Briefwechsel konnte unter den kaum vorstellbaren Schwierigkeiten der Haft, der Distanz, der Sprache und der Zensur selbst noch während Olga Benarios Inhaftierung im Konzentrationslager Ravensbrück aufrechterhalten werden.

Olga Benario

Eine vierunddreißigjährige Frau, die mitten im Zweiten Weltkrieg von den Nazis getötet wird – eine unter Millionen von jungen Frauen. Warum gerade sie? Warum starb gerade sie? Warum soll gerade an sie erinnert werden? War sie wichtiger als andere Frauen, die ihr Schicksal teilten? Mutiger? War ihr Leben und Sterben exemplarischer? In den Konzentrationslagern wurde das Individuum ausgelöscht, selbst das Recht auf den eigenen Tod wurde ihm genommen. »Daß in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar«, darin bestand für Adorno das nicht zu überwindende Skandalon.1 Indem wir uns heute an sie erinnern, geben wir den Opfern ihr unverwechselbar Individuelles zurück. Aber auch ihr Exemplarisches: ihren anonymen Tod, der sie mit allen anderen Opfern verbindet. In dieser Dialektik von individuellem und massenhaftem Schicksal stehen Leben und Sterben von Olga Benario.

Zunächst also ihr individuelles, unverwechselbares Leben: Münchnerin, Jüdin, Kommunistin, Geliebte, Militärpilotin, Kom internagentin, KZ-Insassin, Mutter, Vergasungsopfer. Fehlt etwas? Stimmt die Reihenfolge? Was wissen wir damit über sie?

So erzählen wir ihr Leben: immer schön der Reihe nach. Elternhaus, Jugend, politische Aktivitäten, nach einer spektakulären Gefangenenbefreiung Flucht in die Sowjetunion, Reise nach Brasilien usw. Chronologie als Sinngebung? Wir werden uns hüten.

12. Februar 1908 lautet das Geburtsdatum von Olga Benario, der Ort ist München, Haydnstraße 12.2 Am selben Tag wurde auch Simone de Beauvoir geboren, in New York startete das längste Autorennen der Welt (es führte nach Paris), und in Deutschland regierte Kaiser Wilhelm II. Die jüdischdeutsche Familie Benario besteht aus dem Vater Dr. Leo Benario, einem Rechtsanwalt, der Mutter Eugenie, geborene Gutmann, und dem sieben Jahre älteren Bruder Otto. Eugenie Benario wird 1943 in Theresienstadt getötet werden, der Bruder Otto 1944 in Auschwitz. Olga wächst in der JakobKlar-Straße 1 auf, besucht die Höhere Mädchenschule in der Luisenstraße, heute Luisengymnasium. Was immer sie dort gelernt haben mag, das eigentliche, das folgenreiche Lernen fand im Elternhaus statt. Der Vater, Sozialdemokrat, verteidigt vor Gericht Bedürftige, Proletarier und Arbeitslose. Die Fälle werden auch in der Jakob-Klar-Straße verhandelt, mit entgegengesetzter Wirkung auf Mutter und Tochter. Eugenie Benarios gesellschaftliches Ziel, von der Münchner High Society akzeptiert zu werden, ist bereits durch ihr Judentum kompromittiert. Und nun dieser Ehemann, der aus der konservativen Zunft der Rechtsanwälte ausschert. Bei Eugenie Benario-Guttmann führt das zu einem Bann gegen alles Linke, der am Ende selbst die in den Händen der Gestapo sich befindende Tochter und Enkeltochter trifft.3 Aber auch wenn Eugenie Benario sich von ihrem Judentum und von allem Linken distanziert, dem Schicksal der Tochter entgeht sie nicht. Nicht von Herzlosigkeit wäre zu reden, sondern von der Heillosigkeit der Zeit.

Auf die Tochter Olga haben die Berichte Dr. Leo Benarios über die Weimarer Klassenjustiz eine sehr andere Wirkung. Im Alter von fünfzehn Jahren tritt sie dem illegalen Kommunistischen Jugendverband bei, wenig später ist sie Funktionärin. Im Mai 1925 lebt sie in Berlin im Stadtbezirk Neukölln mit dem acht Jahre älteren Otto Braun zusammen, der für den sowje tischen Geheimdienst arbeitet. Sie wird Mitglied der Bezirks leitung der Kommunistischen Jugend Neukölln, ein Jahr später der Bezirksleitung von ganz Berlin. Braun verschafft ihr eine Stelle als Stenotypistin in der sowjetischen Handelsvertretung, so kommt sie unmittelbar mit dem sowjetischen Geheimdienst in Berührung. Sie ist achtzehn, als ihre Karriere eine jähe Unterbrechung erfährt. Am 2. Oktober 1926 werden sie und Braun verhaftet. Der Polizeirapport ist erhalten: »Einlieferungs-Anzeige«, »Ergreifungsort«, »Abgenommene Wertsachen«, »Isolier gewahrsam«4 – das sagt sich leicht. Olga Benario soll mit ihrer Tätigkeit die Republik gefährdet haben. Der Vater in München bietet an, sie zu verteidigen. Aber von einem Sozialdemokraten, und sei es der eigene Vater, will sie sich inzwischen nicht mehr helfen lassen. Zwei Monate später kommt sie dennoch frei: ihre Inhaftierung war nur ein Vorwand, das Interesse der Justiz gilt Otto Braun. Gegen ihn wird eine unbefristete Untersuchungs haft verhängt wegen Verdacht auf Landesverrat.

Zwei Jahre später, man schreibt den 11. April 1928, die spektakuläre Aktion: Mit der Pistole in der Hand befreit die Zwanzigjährige, zusammen mit den Genossinnen und Genossen aus der Jugendgruppe, Otto Braun aus der Justizvollzugsanstalt Moabit. Die Schlagzeilen auf der Titelseite der Berliner Zeitung am Mittag melden erregt: »Mit Waffengewalt aus Moabit befreit« – »Kommunistenüberfall im Zim mer des Untersuchungsrichters« – »Wildwest-Pistolen-Szene« – » ›Hände hoch‹ «.5 Die Aktion wird in der ganzen Weimarer Republik bekannt, Alfred Döblin hat sie in einer Passage seines Romans Berlin Alexanderplatz für die Nachwelt aufbewahrt.6 Die Polizei will sich nicht von einer frechen jungen Frau veralbern lassen. Fotos der beiden Untergetauchten auf Litfaßsäulen und Kinoleinwänden, der Oberreichsanwalt setzt für die Ergreifung eine Belohnung von 5.000 Reichsmark aus. Sie haben Olga Benario damals nicht erwischt.

Anfang Juli entkommen die beiden Flüchtlinge nach Moskau. Im September leitet Olga Benario bereits die Abschlussveranstaltung des fünften Weltkongresses der Kommunistischen Jugendinternationale, sie wird ins Zentralkomitee gewählt. 1929 (oder 1930) erhält sie in Borissoglebsk, 500 km südöstlich von Moskau, eine zehn Wochen dauernde paramilitärische Ausbildung. Sie erlernt den Umgang mit leichten und schweren Waffen, lernt Reiten usw. Die körperlichen Strapazen hält sie aus, sie treibt seit frühester Jugend Sport, bei der Jugendgruppe in München war sie für körperliche Ertüchtigung – so hieß das damals – zuständig, auf den Wiesen vor der Stadt trainierte sie mit den Kameraden Fußball. Sie liebt Bewegung, sie hält sich fit wie eine Leistungssportlerin. Im Frühjahr 1930 reist sie im Auftrag der Komintern nach Frankreich und England, wo sie verhaftet und nach Moskau abgeschoben worden sein soll. 1931 trennt sie sich von Otto Braun. Es mehren sich Ungewissheiten und Lücken in ihrem Lebenslauf, das entspricht dem Wesen konspirativer Tätigkeit. Von der Komintern dafür ausgewählt, nimmt sie an einem Fallschirmspringer- und Fliegerkurs an der Luftwaffenakademie Schukowski in der Nähe von Moskau teil. Sie kann alles, was angeblich nur harte Männer können: mit Waffen umgehen, Fallschirmspringen, ein Flugzeug pilotieren, körperliche Leiden ertragen, sie hat Mut, sie ist verwegen, unerschrocken usw. Das Bild einer heroischen Superfrau lässt sich kaum mehr steigern. Wie es vermeiden, da es doch stimmt? Und wie die Identität dieser verwegenen Aktivistin zusammendenken mit der zur Hilflosigkeit verurteilten jungen Mutter, die aus Nazi gefängnissen und Konzentrationslagern die Briefe schreibt, die hier folgen?

Im November 1934 – inzwischen ist ihr Vater gestorben und Hitler an der Macht – wird Olga Benario in Moskau an den Sitz der Komintern gerufen. Dmitri Manuilski, der leitende Funk tionär, stellt ihr einen schmächtigen, unscheinbaren Mann im korrekt sitzenden Anzug vor, Typ des anonymen Funktionärs, einen Kopf kleiner als sie. Das soll der brasilianische Haudegen Luiz Carlos Prestes sein, von dessen Gewaltmarsch durch das brasilianische Hinterland und von dessen Anwesenheit in Moskau sie aus den Zeitungen erfahren hat?

image

Olga Benario im Alter von 17 Jahren in einem Berliner Park (BArch, Bild Y1-6699)

Luiz Carlos Prestes

Und so sehen kühne Rebellen wirklich aus: Drei Männer mit wilden Bärten. Sie sitzen auf einem am Boden liegenden Baumstamm. So weit das auf dem verblichenen Foto auszumachen ist, tragen sie helle Blusen und lederne Hosen, die Unterschenkel sind in Stulpen gehüllt, die Füße stecken in knöchelhohen Stiefeln. Zwischen ihren Füßen, auf dem von welken Blättern bedeckten Erdboden, liegen breitkrempige Hüte. Die drei blicken verwegen in die Kamera, vielleicht auch nur erschöpft. Das Bild stammt vom Frühjahr 1927, nachdem sich die Überlebenden des Marsches der Kolonne Prestes – so heißt seither jene aufstän dische Militäreinheit – über die Grenze nach Kolumbien gerettet haben. Der Mann links im Bild ist der Artillerieoffizier Oswaldo Cordeiro de Farias, der Mann rechts der Kavallerie offizier Djalma Dutra. In der Mitte der junge Kommandeur, Hauptmann Luiz Carlos Prestes.7

Geboren am 3. Januar 1898 in Porto Alegre, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul. Er ist ein Gaúcho – der brasilianische Übername für die Bewohner des Südens. Nachein ander werden vier Schwestern geboren. Der Vater stirbt früh, so wächst er in einem Haus mit fünf Frauen auf. Sie verhätscheln den einzigen Mann im Haus – und auch wieder nicht. Die Mutter, Leocadia Prestes, ist Schullehrerin, das Lehren und Lernen wird auch zu Hause betrieben, für die Mädchen ebenso wie für den Jungen. Auch die Arbeit im Haushalt wird unter allen fünf Kindern aufgeteilt. Carlos Prestes wächst auf mit Hochachtung vor der Mutter und Achtung vor den Schwestern. Er versteht schon früh Frauen – und versteht sie nicht. Ist es Scheu, ist es die spartanische Lebensweise des Militärs, ist es sein Charakter eines Asketen? Er wird mehr als fünfunddreißig Jahre alt werden, bevor er zum ersten Mal eine Beziehung zu einer Frau hat: zu Olga Benario.

image

Die Führung der Kolonne Prestes im bolivianischen Exil, Anfang 1927. Von links nach rechts Cordeiro de Farias, Luiz Carlos Prestes, Djalma Dutra (Morais)

Was für Bildungsmöglichkeiten hat einer aus dem wenig bemittelten weißen Kleinbürgertum (von den Nichtweißen gar nicht zu reden)? Militär oder Kirche. Militär also. An der Militärakademie in Realengo bei Rio de Janeiro betreibt Prestes neben der militärischen Ausbildung ein Ingenieurstudium. Er arbeitet beim Bau von Eisenbahnlinien und Militärunterkünften, es ist der Beginn einer vielversprechenden militärischen Laufbahn. Sie stößt bald an Grenzen. Die höheren Dienstgrade und Posten werden seit jeher mit Vertretern der herrschenden Schicht besetzt. Im Herbst 1924 erreicht die Unzufriedenheit der niederen Offiziersgrade eine neue Qualität. Mehrere Militäreinheiten erheben sich, eine davon, die spätere Kolonne Prestes, schlägt in São Luís Gonzaga, in der südwestlichen Ecke Brasiliens, an der Grenze zu Paraguay, eine vielfach überlegene Armeeeinheit und macht sich auf den Weg. Weitere Militäreinheiten schließen sich an, tausendfünfhundert Mann sind es schließlich auf einem endlosen Marsch durch den riesigen Nordosten des Landes. Sie wollen der verarmten Bevölkerung im Landesinnern politische Aufklärung bringen und sie für den Kampf gegen die Oligarchie gewinnen. Mehr als zwei Jahre und 25.000 km später, nach kaum vorstellbaren Strapazen unter einer fühllosen Tropensonne und in der wasserlosen Ödnis des Sertão, der die Pferde nicht gewachsen sind, sodass die Rebellenkolonne meistens zu Fuß unterwegs ist, nach unablässiger Verfolgung durch regimetreue Truppen, denen die Hälfte der Kolonne zum Opfer fällt, nach der endlichen Einsicht, dass das Regime auf diese Weise nicht zu besiegen ist, überschreiten die Überlebenden am 3. Februar 1927 bei San Matías die Grenze nach Bolivien.8 Im kollektiven Gedächtnis der brasilianischen Bevölkerung haben die Rebelleneinheit als ›Unbesiegbare Kolonne‹ und ihr Anführer als Ritter der Hoffnung längst mythische Züge angenommen.

Im bolivianischen Exil beginnt der kleinbürgerliche Rebell Prestes mit dem Studium der Schriften von Marx. Ein Jahr später ist er in Buenos Aires, die fünf Prestes-Frauen sind ihm ins Exil gefolgt, er arbeitet als Ingenieur und knüpft Kontakte zu Kommunisten. In Brasilien ist inzwischen durch einen Putsch Gétulio Vargas, auch er ein Gaúcho, an die Macht gekommen. Er bietet dem Ritter der Hoffnung den Rang eines Oberbefehlshabers der Streitkräfte an. Als Prestes ablehnt, wird er wegen Desertion zur Verhaftung ausgeschrieben. Aus Argentinien ausgewiesen, von der Sowjetunion eingeladen, schifft er sich Ende 1931 nach Hamburg ein, die fünf Frauen folgen wenig später. In Moskau arbeitet Prestes als Ingenieur, die vier Schwestern nehmen Hochschulstudien auf.

Auf der Suche nach Verbündeten gegen den in Deutschland und Italien an die Macht gekommenen Faschismus richtet die Kommunistische Internationale im Jahr 1934 ihr Interesse auch auf Brasilien. Im größten Land Südamerikas nimmt sie einen sich formierenden Widerstand gegen die Diktatur des Mussolinibewunderers Vargas wahr. Der beste Mann, um diesem Widerstand eine organisatorische Form zu geben, befindet sich gerade in Moskau. Im August wird Prestes Mitglied der russischen Kommunistischen Partei. Mit einem kleinen Kollektiv erfahrener Berufsrevolutionäre soll er illegal nach Brasilien reisen und sich an die Spitze des erwarteten Volksaufstands stellen. Zur besseren Tarnung werden die Verschwörer von ihren Frauen begleitet, ihrerseits erfahrene Revolutionärinnen. Prestes braucht eine Ehefrau, er braucht aber, von Vargas’ Geheimdienst bedroht, auf der Anreise und während des illegalen Aufenthalts in Brasilien, auch eine Leibwächterin. So wird ihm im November 1934 am Sitz der Komintern Olga Benario vorgestellt.

Die Zeit der Gemeinsamkeit

Im Jahr 2013 dauert ein Flug von Moskau nach Rio (mit einer Zwischenlandung) siebzehn Stunden. 1934 und unter den Bedingungen der Konspiration war es eine Reise ohne Ende. Für Olga Benario und Carlos Prestes beginnt sie in den letzten Dezembertagen mit einer 650 km langen Eisenbahnfahrt nach Leningrad. Umsteigen in den Zug nach Helsinki. Von dort mit der Fähre nach Stockholm, es ist die Silvesternacht, die Passagiere, darunter die beiden einander fremden Kom internagenten, haben vielleicht Should auld acquaintance be forgot gesungen, Champagner getrunken und Papierschlangen und Konfetti geworfen. Eisenbahnfahrt nach Kopen hagen, dann im Schiff durch Kattegat und Skagerrak in die Nordsee; statt nach Amsterdam oder Le Havre geht es nach Bristol, Umwege sind sicherer. Mit einem anderen Schiff weiter nach Amsterdam, von dort mit der Bahn nach Paris. Sie wohnen im Grand Hôtel du Louvre beim Palais Royal, ein gut aussehender Geschäftsmann und seine zehn Jahre jüngere Frau, dem Hotelportier ist damit genug gesagt. Wochenlanges Warten auf (gefälschte) Papiere. Es ist bereits März, als sie aus der Zeitung erfahren, in Brasilien sei die Aliança Nacional Libertadora (ANL) gegründet worden, eine opposi tionelle Vereinigung, die sich den Sturz der Regierung Vargas zum Ziel gesetzt hat. Da ist es mit dem Warten vorbei. In Brest schiffen sie sich auf der SS Paris ein, dem damals größten französischen Linienschiff. Nach ein paar Tagen erreichen sie New York. Die 2.000 km bis Miami legen sie mit der Bahn zurück, zwei Tage und eine Nacht im Schlafwagen. Vielleicht dann, vielleicht schon früher, vielleicht auch später, werden sie sich näher gekommen sein. Warum auch nicht, zwei attraktive Menschen, das Außergewöhnliche der Partnerin, des Partners unübersehbar. Selbst wenn das zum Berufsbild von Kundschaftern Geheimagenten Spionen gehören sollte: Irgendwann war es nicht mehr die übliche Beziehung. Von Miami bis Panama im zweimotorigen Propellerflugzeug, dann der südamerikanischen Westküste entlang 4.800 km bis Santiago de Chile. Der Flug dauert mehrere Tage, die Nächte verbringen sie im Hotel. In einer der neuen zweimotorigen DC 2 über den Aconcagua-pass nach Argentinien. Von Buenos Aires mit der Fähre über den Rio de la Plata nach Monte video. Von dort mit dem Flugboot Santos Dumont9 der französischen Luftfrachtgesellschaft Latécoère (Vorläuferin der Air France) die Ostküste entlang Richtung Norden. Nach wenigen Stunden ist die Grenze zu Brasilien erreicht, man nähert sich den Tropen, das Licht ändert sich, sie sind in Prestes’ Heimat. Den Bedingungen der Konspiration folgend, fliegen sie nicht bis nach Rio, sondern verlassen das Flugzeug bei einer Zwischenwasserung in Florianopolis. Nach weiteren Umwegen kommen sie Ende April 1935, vier Monate nachdem sie Moskau verlassen haben, in Rio an.

Vom Kennenlernen in Moskau bis zur Verhaftung in Rio vergehen ein Jahr, drei Monate und zweiundzwanzig Tage. Eine kurze Zeit, wird man sagen. Aber was wäre eine angemessene Zeitspanne für eine Liebe? Die Bedeutung einer Beziehung bemisst sich nicht nach ihrer Dauer. Wollen wir etwas über die Liebe zweier Menschen wissen, so sollten wir nicht fragen, was die Menschen aus der Liebe machen, sondern was die Liebe aus den Menschen macht. Was sie aus Olga Benario und Carlos Prestes gemacht hat, erfahren wir in ihren Briefen.

In Rio wohnen sie in der Rua Barão da Torre, wenige Schritte vom Strand von Ipanema entfernt, heute Strand der Schickeria, damals entlegen am südlichen Stadtrand, der Strand der Sonnenanbeter und Nichtstuer, aber auch von Einwanderern aus vielen Ländern, darunter deutsche Exilanten. Das war den Bedingungen der Illegalität günstig. Wochen und Monate vergehen mit konspirativen Treffen, mit Kontaktnahmen zur ANL, zur illegalen kommunistischen Partei und zu oppositionellen Militärs, Prestes’ ehemaligen Kameraden. Pläne werden ausgearbeitet, ein Zeitrahmen festgelegt. Nach außen ist Prestes ein Mann von Muße, glattrasiert, leichter Anzug, Sonnenbrille, Hut, der am Spätnachmittag mit seiner eleganten Frau an den Stränden von Ipanema und Leblon spaziert. Die Tarnung vollendet durch Principe, der sie bellend umtanzt, er hat ihn ihr geschenkt, sie wird den kleinen Hund in ihren Gefängnisbriefen erwähnen. Die Komintern trägt das ihre dazu bei, Prestes’ Aufenthalt in Brasi lien zu verschleiern. Ende August wird er auf dem VII. Weltkongress zum Mitglied des Exekutivkomitees gewählt, die Prawda veröffentlicht sein Foto,10 da wird er sich wohl in Moskau befinden. Trotzdem bleiben Aufenthalte im Freien für ihn gefährlich. Olga Benario lernt Portugiesisch (sie spricht bereits Französisch, Englisch und Russisch), sie begibt sich an seiner statt zu Treffen, diskutiert in seinem Namen, aber mit eigenem Wissen, über Fragen der Strategie und Taktik. Im November wird Prestes endlich Mitglied der brasilianischen KP, so lang dauert es, bis die Genossen ihr Misstrauen gegenüber einem kleinbürgerlichen Offizier überwinden.

Wenig später, am 23. November 1935, bricht im 2.000 km von Rio entfernten Natal, am nordöstlichsten Punkt Brasiliens, nahe am Äquator, der Aufstand aus. Zu früh, wie Prestes und die Mitverschwörer sofort feststellen; die Stimmung in der Bevölkerung ist noch nicht reif. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Aufstand zu unterstützen. Nach wenigen Tagen ist alles vorbei. Es gibt viele Tote, Tausende, da runter auch fast alle Mitglieder des kleinen Verschwörerkollektivs, werden verhaftet, viele gefoltert, die ANL zerschlagen. Unter den Gefolterten die deutschen Kominternagenten Arthur und Elisabeth »Sabo« Ewert, Olgas enge Freundin. Die Folter des einen in Gegenwart des anderen, von einer Grausamkeit, die unausdenkbar ist. Arthur Ewert wird davon wahnsinnig. Nach dem Krieg hat man ihn in die DDR zurückgeholt und in ein Sanatorium verbracht, er stirbt 1959.11 Sabo wird zusammen mit Olga Benario nach Deutschland ausgeliefert, kommt in dieselben Gefängnisse und stirbt 1939 in Ravensbrück. Der folgende Briefwechsel enthält auch einen Brief von ihr.

Olga Benario und Carlos Prestes entkommen zunächst den Fahndern in die nördliche Arbeitervorstadt Méier. Am 5. März werden auch sie verhaftet. Die Polizei hat den Auftrag, Prestes niederzuschießen, aber Olga Benario, die Leibwächterin, soll sich, schwanger, vor ihn gestellt und dadurch die Tötung verhindert haben. Sie haben sich nicht mehr wiedergesehen.

image

Olga Benario 1936 in Rio mit einem Bewacher unterwegs zur Polizeibefragung (AT1)

image

Luiz Carlos Prestes 1936 in Rio mit Polizisten der Spezialeinheit (Morais/Arquivo Nacional, Rio de Janeiro)

Ende August beschließt die brasilianische Regierung, Olga Benario, die Jüdin und Kommunistin, nach Nazideutschland abzuschieben, Vargas weiß, was er tut. Ende September 1936 bringt man die im siebten Monat Schwangere gemeinsam mit Sabo auf die im Hafen von Rio ankernde Coruña. Das widerspricht jedem »Minimalprogramm der Humanität«, nach einer Formel Walter Benjamins; es widerspricht auch der brasilia nischen Verfassung, wonach Frauen das Recht haben, mit bra silianischen Ehemännern gezeugte Kinder in Brasilien zur Welt zu bringen. Waren Olga Benario und Carlos Prestes verheiratet? Die Frage ist naiv angesichts der Bedingungen der Illegalität.12 Dennoch haben die nazideutschen Behörden immer wieder auf den Heiratsschein gedrängt. Als ob sie im Min desten die Absicht gehabt hätten, Olga Benario freizulassen. Am 18. Oktober erreicht La Coruña Hamburg. Wenig später wird Olga Benario ins Frauengefängnis in der Barnimstraße 10 in Berlin eingeliefert, jenes einstige königlich-preußische Weibergefängnis, in dem 1915 schon Rosa Luxemburg einsaß. Sie wird zu ›Schutzhaft‹ verurteilt, Nazicode für unbegrenzte Haft, bei der die Häftlinge ohne Schutz den Wärtern ausgeliefert sind.

Die Gefängnisjahre

Bis zu Olga Benarios Tötung bleiben noch sechs Jahre. Kurz nach der Einlieferung bringt sie am 27. November 1936 eine Tochter, Anita Leocadia, zur Welt. Vierzehn Monate später, am 21. Januar 1938, wird ihr das Kind weggenommen. Nach Tagen erst erfährt sie, Anita sei der brasilianischen Großmutter Leocadia und der Tante Lygia übergeben worden und mit ihnen nach Paris gereist. Im Oktober 1938 entziehen sich Leo cadia und Lygia mit dem Kind dem langen Arm der Nazis nach Mexiko.

Olga Benario kommt am 15. Februar 1938 ins KZ Lichtenburg in Prettin, 100 km südlich von Berlin. Die ersten Wochen verbringt sie in Einzelhaft. Mitte Mai 1939 wird sie mit weiteren weiblichen Gefangenen in das gerade fertiggestellte Frauenkonzentrationslager Ravensbrück bei Fürstenberg gebracht, 80 km nördlich von Berlin. Auch in Ravensbrück soll Olga Benario die ersten Wochen in Einzelhaft verbracht haben. Was sich an Qualen dahinter verbirgt, ist nicht überliefert. Das gilt auch für die Zeit von Ende August bis Anfang Oktober 1939, die sie erneut in den Händen der Gestapo in Berlin zubringt. Davon ist ein in Ravensbrück ausgestellter »Transportzettel für die Gefangenen-Beförderung« vom 20. Juli 1939 erhalten. Olga Benarios Erscheinung und ihre Kleidung sind mit buchhalterischer Vollständigkeit aufgelistet: »Haare: dunkelblond; Augen: blau; Zähne: vollständig; Bart: ohne«; und: »buntes Kleid m. rotem Gürtel, schwarzer, dreiviertellanger Mantel, beige Sandaletten, helle Strümpfe. Gepäck: gelbe Handtasche«. So könnte man eine lebensfrohe junge Frau beschreiben. Unter Anordnungen zur »Fesselung« der Gefangenen heißt es: »nach Bedarf«. Der Zweck der Überstellung an die Gestapo: »Vernehmungen«. Man möchte sich nicht vorstellen, was damit gemeint ist. Oben auf dem Zettel schließlich, unterstrichen, der handschriftliche Vermerk »Jüdin«.13 Auch das möchte man lieber nicht wissen; noch da, wo die Nazisprache ein Faktum zu bezeichnen scheint, erweckt sie Grauen. Nach der Rückkehr aus Berlin wird Olga Benario nicht mehr in der Gefangenenbaracke (im KZ-Jargon: »Block«) für politische Häftlinge untergebracht, sondern im Zellblock 11, der Baracke der Jüdinnen, die auf der Skala der Nazis noch unter den Kommunistinnen rangieren. Im November ist sie ›Stubenälteste‹ – der Begriff ›Stube‹ lässt an ein behagliches Wohnzimmer denken –, später ›Blockälteste‹, die einzige jüdische Gefangene in dieser Position in der Geschichte von Ravensbrück. Sie hat sich auch noch unter den Bedingungen des Konzentrations lagers für ihre Mithäftlinge eingesetzt. Das ist keine wohl meinende Vermutung. Die Österreicherin Ida Hirschkron, im September 1941 aufgrund eines »Irrtums«, wie sie später aussagt, aus Ravensbrück entlassen, hat am 3. November 1947 in Wien vor Hauptmann H. A. Brunner von der britischen Field Investigation Section, War Crimes Group (NWE) Folgendes unter Eid zu Protokoll gegeben: Nach dem miss lungenen Attentat auf Hitler im Münchener Bürgerbräukeller (8. November 1939) seien in Ravensbrück die jüdischen Häftlinge wochenlang im Zellblock 11 eingesperrt und von der Auf seherin [Emma] Zimmer angeschrien und geschlagen worden. »Da wagte unsere Blockälteste Olga Benario Brestes [sic] die Zimmer zu ersuchen, diesen beinahe unerträglichen Zustand zu beenden. Die Zimmer schrie wie eine Verrückte und machte dem Lagerkommandanten Kögl [recte Kögel] eine Meldung wegen Meuterei.«14 Olga Benario wurde für ihre Frechheit bestraft (es gab die Prügelstrafe).

Von einer der Aktivitäten Olga Benarios hat sich ein Artefakt erhalten. Die Vielgereiste hat ihren Mitgefangenen Kenntnis der Welt vermittelt. Zu diesem Zweck hat sie aus dem Naziblatt Völkischer Beobachter – der einzigen erlaubten Zeitung – kleine Landkarten ausgeschnitten und zu einem mehrseitigen Atlas von der Größe einer Zigarettenpackung zusammengefügt. Der winzige Atlas ist heute in der Gedenkstätte in Ravensbrück zu besichtigen.

Am 1. September 1939 beginnt Nazideutschland seinen Krieg. Am 1. Juni 1941 marschiert die Wehrmacht in die Sowjetunion ein, und am 20. Januar 1942 beschließen die Nazis auf der Wannseekonferenz die für die Vernichtung der Juden nötige Organisation. Ende April 1942 wird Olga Benario mit einem der ersten Transporte von Ravensbrück nach Bernburg gebracht, etwa 150 km südwestlich von Berlin, und in der zu diesem Zweck erstellten, wenige Quadratmeter großen Gaskammer der Landes-Heil- und Pflegeanstalt vergast.

So weit die Chronologie. Einzelheiten über die konkrete Wirklichkeit von Olga Benarios KZ-Existenz sind nicht überliefert. Von wem auch?

In der DDR haben aus dem Exil zurückgekehrte Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Anna Seghers und Stephan Hermlin schon früh an das Schicksal von Olga Benario erinnert.15 1961 erschien die romanhaft in ein Heldenlied transformierte, zugleich faktenreiche Darstellung von Ruth Werner, Olga Benario. Die Geschichte eines tapferen Lebens.16 Das besonders der Jugend zugedachte Buch war ein Erfolg, Schulen und Straßen wurden nach Olga Benario benannt. In der BRD dagegen bestand an diesem Opfer des Holocaust kein Interesse. Seit Beginn der 1990er Jahre nimmt die Aufmerksamkeit für Olga Benarios Schicksal zu, von Dea Lohers Stück Olgas Raum (1992),17 über Galip Iyitanirs halbdokumentarischen Film Olga Benario. Ein Leben für die Revolution (2004) bis zu Robert Cohens Roman Exil der frechen Frauen (2009).18

Luiz Carlos Prestes wird am 7. Mai 1937 in Rio wegen Desertion zu 16 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Er verbringt die Jahre bis zum Kriegsende in Einzelhaft. Das sind neun Jahre ohne mit einem Menschen zu sprechen – außer, wenn es ihm, selten genug, erlaubt ist, mit seinem Anwalt. Das erste Gefängnisjahr muss er auf dem Morro de Santo Antônio ausharren, in den Militärbaracken der Spezialpolizei. Im Juli 1938 kommt er bis zum Ende seiner Gefängniszeit in die Casa de Correção in der rua Frei Caneca, unmittelbar neben der Casa de Detenção, wo Olga Benario bis zu ihrer Auslieferung gefangen gehalten worden war. Im Brief an die Mutter vom 26. Oktober 1939 schildert er die Auswirkungen der totalen Isolation: »Ich bin isoliert, aber meine Lage ist leider recht verschieden von der des klassischen Robinson, der auf seiner einsamen Insel frei war und alle seine edlen Qualitäten des Menschseins ohne Behinderungen entfalten und sogar seinem Papagei das Sprechen beibringen konnte … Schlimm ist es, ein Mensch zu sein, ohne wirklich ein Mensch sein zu können, das heißt, ohne unter anderen Menschen leben und im Umgang mit ihnen die Tatkräfte nutzen zu können, mit denen uns die Natur ausgestattet hat.«19 Die Haft bedingungen wechseln im Auf und Ab des fernen Kriegs gesche hens. Zeitweise erhält der Gefangene Bücher, Zeitschriften, Papier und Schreibmaterial, er kann Briefe an Olga, an Mutter und Schwestern und an Freunde schreiben und empfangen (seine Gefängniskorrespondenz füllt drei Bände20). Aus Protest gegen die Haftbedingungen tritt er mehrmals in Hungerstreik. Die Bevölkerung drängt auf Informationen über den Zustand des Ritters der Hoffnung. Da man den berühmten Gefangenen in seinem ausgemergelten Zustand der Öffentlichkeit nicht vorführen will, werden Mitte 1941 die Haftbedingungen verbessert. Zu Beginn des Jahres 1942, als die Niederlage Nazideutschlands denkbar wird, bricht Brasilien seine Beziehungen zu den Achsenmächten ab, erklärt ihnen auf Druck der USA den Krieg und schickt (als einziges lateinamerikanisches Land) Truppen nach Europa. Von da an sind Carlos Prestes’ Rechte wieder in Geltung.

Ende April 1945, wenige Tage vor Kriegsende, wird er aufgrund einer Amnestie für politische Gefangene aus der Haft entlassen. Er erfährt vom Tod Olga Benarios, und am 28. Oktober lernt er seine Tochter Anita kennen.21 Ende 1945 werden er und weitere Genossen als erste Vertreter der Kommunistischen Partei ins brasilianische Parlament gewählt. 1948 ist die KP bereits wieder verboten, Prestes verbringt zehn Jahre im Untergrund. 1951 heiratet der inzwischen Dreiundfünfzigjährige und hat mit seiner Frau Maria noch sieben Kinder. 1958 bezeichnet ihn die US-Wochenzeitschrift Time als den einflussreichsten Kommunisten der westlichen Hemisphäre.22 1964 kommt es in Brasilien nach einem Putsch zur Militärdiktatur, Prestes taucht erneut unter. 1971 gelingt ihm die Flucht ins Exil nach Moskau, 1979 kann er nach Brasilien zurückkehren. In einem offenen Brief bricht er im März 1980, nach vierzig Jahren als deren Sekretär, mit der KP Brasiliens, die ihre revolutionären Ziele aufgegeben habe.23 Er stirbt am 7. März 1990 im Alter von 92 Jahren in Rio. Die Mythenbildung um seine Figur hat schon zu seinen Lebzeiten auch in der Literatur eingesetzt, mit Jorge Amados Heldenepos O Cavaleiro da Esperança (1942)24 und mit Pablo Nerudas Gedichten »Prestes von Brasilien (1949)«, »Gesprochen in Pacaembú (Brasilien, 1945)«, »Und wieder die Tyrannen«.25 Nach dem Ende der Militärdiktatur (1985) erscheinen in Brasilien immer neue wissenschaftliche Aufsätze, Monographien, Radio- und Filminterviews.

Zu berichten bleibt noch von der Großmutter Dona Leocadia. Die Provinzschullehrerin aus Porto Alegre war 1934 mit ihren vier Töchtern dem Sohn nach Moskau gefolgt. Dort erfährt sie im März 1936 von der Verhaftung von Carlos und Olga. Mit der jüngsten Tochter Lygia verlässt sie die sowjetische Hauptstadt Richtung Paris. In Frankreich, dann auch in Spanien und England nimmt sie an Kundgebungen und Konferenzen zur Befreiung des Sohnes und seiner Gefährtin teil. Sie besucht Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften, trifft sich mit Gewerkschafts- und Parteiführern, mit Politikern und Staatsmännern. In der Stierkampfarena von Bilbao spricht die Zweiundsechzigjährige, der man das nicht an der Wiege gesungen hat, vor Zehntausenden.26 Um die Freilassung Olga Benarios aus Nazideutschland zu erwirken, begibt sie sich an den Sitz des Völkerbundes und des Roten Kreuzes in Genf. Die kleine Frau mit den streng zurückgekämmten Haaren kämpft gegen zwei Diktaturen.

Zweimal reist sie mit Lygia nach Berlin, man erlaubt ihr weder Olga noch das Kind zu sehen. Da der von der Gestapo verlangte Heiratsschein nicht beizubringen und Leocadias Verwandtschaft mit Olga nicht beweisbar ist, unternimmt sie den hoffnungslosesten aller Versuche. Sie reist nach München zu Olgas Mutter Eugenie. Die weist sie mit der Feststellung von der Tür, sie habe sich von der kommunistischen Tochter losgesagt.27 Am 21. Januar 1938 begibt sich die alte Frau ein drittes Mal nach Berlin. Sie legt eine von Prestes im Gefängnis in Rio unterzeichnete Vaterschaftserklärung vor.28 Für einmal dem internationalen Druck nachgebend, vielleicht auch, um der Fassade des Regimes einen humanitären Anstrich zu geben, rückt man das Kind heraus. Olga darf sie auch diesmal nicht sehen, eine Freilassung kommt ohnehin nicht infrage. Von Paris, dann von Mexiko aus führt Dona Leocadia den Kampf weiter. Vieles von dem, was sie zusammen mit Lygia unternimmt, um die Schwiegertochter doch noch zu retten, darf sie ihre Kinder nicht wissen lassen, das verstärkt ihren Kummer.

Nicht die geringste ihrer Sorgen gilt der praktischen Organisation des Briefwechsels. Olga Benario darf ihre Briefe nur auf Deutsch schreiben (vgl. B2), auch die Briefe, die sie erhält, müssen deutsch geschrieben sein. So läuft die gesamte Korrespondenz über Leocadia und ihre jüngste Tochter, in Paris und Mexiko schlagen sie sich mit der Suche nach Übersetzerinnen und Übersetzern – von Deutsch nach Portugiesisch, von Portugiesisch nach Deutsch – herum. Oft dauert es Wochen, bis ein Brief beim Partner ankommt. Inzwischen haben beide weitere Briefe geschrieben – Prestes weist einmal darauf hin, er habe Olga seit ihrem letzten Brief sieben Briefe geschickt (vgl. B43) –, in denen sie Fragen beantworten, die ihnen bereits vor Wochen oder Monaten gestellt wurden. Immer wieder klagen die beiden Inhaftierten über die Verzögerungen. Und noch ein wichtiger Aspekt der Briefe geht im Übersetzungschaos verloren. Am 16. Mai 1937 schreibt Olga Benario an die Schwiegermutter: »Aber weisst Du liebe Mutter, es hat mir doch sehr leid getan, dass ich nicht das Original des Briefes bekam. Das Fehlen der Handschrift u. vor allem eine Übersetzung ins Deutsche machen den Brief irgendwie unpersönlich. Hat doch diese Sprache überhaupt keine Beziehung zum gemeinsamen Leben von Carlos u. mir. Nicht wahr, Du verstehst schon, was ich damit sagen will. Schicke mir in Zukunft neben der deutschen Übersetzung, die wohl der Behörden wegen nötig ist, wenigstens eine Abschrift des Originals.«29

Die wachsende Verzweiflung in Olgas Briefen seit der Verlegung nach Ravensbrück wird die betagte Frau im mexikanischen Exil zusätzlich geschwächt haben. Sie stirbt am 14. Juni 1943. An der Beerdigung von Dona Leocadia Prestes nehmen der vormalige Präsident Mexikos, Lázaro Cárdenas, jetzt Verteidigungsminister, und weitere Kabinettsmitglieder teil.30 Die Zeremonie hat den Charakter eines Staatsakts. Unter den Trauergästen auf dem Friedhof Panteon Civil de Dolores befindet sich auch Pablo Neruda. Ein Foto zeigt ihn, Blätter seines Manuskripts haltend,31 er liest das Dona Leocadia gewidmete Gedicht »Harte Elegie« (»Dura Elegia«) vor: »Señora, groß, größer hast du unser Amerika gemacht …«32

Die von Dona Leocadia aus Nazideutschland gerettete Enkeltochter wird von Lygia erzogen. 1964 schließt Anita in Rio ein Chemiestudium ab, noch im selben Jahr erfolgt ein Militärputsch. Sie ist wie der Vater Mitglied der KPB, so erhält sie Berufsverbot. Von 1966 bis 1968 und erneut von 1973 bis 1978 studiert sie im Moskauer Exil politische Ökonomie. In Abwesenheit wegen ihrer politischen Gesinnung zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, wird sie nach ihrer Rückkehr amnestiert. In den 1980er Jahren schreibt sie im Fachbereich Geschichte eine Dissertation über die Kolonne Prestes. Nach der Promotion wird sie als Professorin für Geschichte an die Universidade Federal do Rio de Janeiro berufen, wo sie bis 2007 lehrt. Sie lebt in Rio.

Der Briefwechsel

Nichts von all dem findet sich in den Briefen. Politische Analysen, Gedanken zum misslungenen Aufstand in Brasilien, übers Individuelle hinausgehende Einzelheiten über Gefängnis und KZ sind undenkbar, daran wird man durch die Zensurstempel auf den Briefen aus Deutschland wie Brasilien erinnert, gelegentlich auch durch schwarz abgedeckte Briefstellen. Die Briefpartner waren sich über die Grenzen dessen, worüber sie schreiben konnten, im Klaren. In einem Brief empfiehlt Olga Benario der Schwiegermutter, sie könne ruhig ein Übersetzungsbüro beiziehen, »denn Geheimnisse enthalten wohl unsere Briefe nicht«.33 Zurückhaltung auch bei der Erwähnung ihres Judentums. Nur ein einziges Mal, in einem Brief an die Schwiegermutter, weist sie darauf hin (vgl. Dokument VII). Auch bei Carlos Prestes findet sich dazu nur eine einzige Anspielung: In einem Brief an seine Mutter bezeichnet er Anita, nach der Flucht nach Mexiko, als »unser winziger wandernder Jude«.34

Zentrum der 101 Briefe und Fluchtpunkt aller Gedanken und Gefühle von Olga Benario und Carlos Prestes ist das Kind. Ist je ein Kind mit einer solchen Genauigkeit beschrieben worden? Ohne jede Ablenkung ruht der Blick der Mutter auf Anita. Noch die geringste Einzelheit ihres Aussehens, ihrer Gesten, der Haut- und Haarfarbe, der Töne, die sie von sich gibt, wird mit mikroskopischer Detailversessenheit wahrgenommen und beschrieben. Auch darüber hat sich Olga Benario Rechenschaft gegeben. Im Brief vom 22. Dezember 1937 schreibt sie, für Anita einen lustigen Übernamen verwendend: »Aber genug von ›Fräulein Pong-Pong‹, die wohl beschrieben wird, wie nicht oft ein Baby.« (B29)

Olga Benarios Briefe geben ein Bild von den ersten Monaten im Leben eines Kleinkindes, das an Anschaulichkeit, Lebhaftigkeit und Innigkeit kaum seinesgleichen hat. Man erhält eine Mutter-Kind-Beziehung wie unter Laborbedingungen. Alle – notwendigen, sinnvollen – Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten des Lebens sind eliminiert, angefangen beim alltäglichen Interieur mit Zimmern, Möbeln, Küche, Bad und den dazugehörenden Gerätschaften; ebenso fehlt die ganze Außenwelt, die von Menschen gemachte wie die Natur. Vor allem aber: es fehlt die alltägliche Gegenwart anderer Menschen, anderer Kinder, von Familie und Freunden. Abgelöst von all diesen ›Ablenkungen‹, erscheint die Mutter-Kind-Beziehung als exemplarisch, wenn nicht als zeitenthoben. Zugleich ist sie, durch die besonderen Umstände einer jüdischen und politischen Gefangenen in Nazideutschland, auf einmalige Weise historisch konkret, damit auch auf spezifische Weise beschädigt. Deshalb findet sich Olga Benario trotz des Schmerzes, der ihr damit zugefügt wird, mit der Trennung von Anita ab, da das Kind nun ein einigermaßen normales Leben führen kann. Zugleich drängt sich ihr die Vorstellung auf, »dass es sein könnte, dass ich mein Kind niemals wiedersehen werde.« (Dokument IX)

Bis in die Sprache hinein reflektieren Olga Benarios Briefe die deutsche Wirklichkeit ihrer Zeit. Wenn sie über Anita schreibt, ist sie ganz bei sich, die Sprache ist authentisch, es herrscht, bei aller Bedrängnis, ein unvergleichlicher Ton von Charme und Witz. Indessen trägt ihr Schreibstil auch Spuren eines wohl im Gymnasium durchgesetzten Beamtendeutsch, etwa in der Verwendung der Abkürzung »u.«, oder in der häufigen Inversion von Personalpronomen und Verb (»u. lag ich ziemlich lang krank«; Dokument I), oder wenn die Briefeschreiberin, von den eigenen Gefühlen sprechend, in ein unpersönliches »man« verfällt. Letzteres ist wohl auch der sprachliche Ausdruck eines Bemühens, die Dinge nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen, der stetig sich verschlimmernden Situation standzuhalten. Unter dem Schmerz der Trennung brechen diese Schranken gelegentlich zusammen, und die Sprache erreicht eine unmittelbare expressive Kraft: »Die Sehnsucht ist so gross, dass ich fast böse bin auf meine eigenen Arme, die doch dazu geschaffen sind, unsere Anita zu tragen.« (B46) Gerade in solchen Momenten wird auch dem männlichen Partner eine große Sensibilität zugestanden: »Du wirst – soweit ein Mann überhaupt dazu im Stande ist – verstehen, was in mir vorging.« (B31)

Carlos Prestes hat es verstanden. Als sie schreibt: »Ich will Dir gestehen, dass es mir die grösste Anstrengung kostet, möglichst wenig an unsere Kleine zu denken – aber das ist der einzige Ausweg um irgendwie mit diesem Schmerz fertigzuwerden« (B42), antwortet er: »Du sprichst von Deiner Sehnsucht und der Anstrengung, die es Dich kostet, nicht viel an die Kleine zu denken, die man dir aus den Händen gerissen hat. Liebe, ich kann, glaube ich, die Größe Deines Leids gut ermessen und weiß, dass es viel größer ist als meines.« (B50) Seines war nicht gering. Jahrelange Einzelhaft, immer von Neuem Wochen und Monate ohne Zeitschriften, Bücher, Post, Schreibmaterial, nicht die geringste Ablenkung von der quälend vergehenden Zeit. Die Fallhöhe dürfte er umso heftiger empfunden haben, als er seit dem Marsch der Kolonne im Zentrum einer auch internationalen Öffentlichkeit gestanden hatte. Nun also die völlige Isolation.

Solange Carlos Prestes in der Zelle Bücher und Schreibmaterialien zur Verfügung hat, leistet er eine umfangreiche intellektuelle Arbeit. Besonders intensiv und weit ist sein Studium philosophischer Texte, von Thomas von Aquin über Bacon, Spinoza, Diderot, Voltaire, d’Holbach bis zu Condorcet, und von Kant, Humboldt und Hegel bis zu Schopenhauer und Nietzsche. Das mag an die Studien von Antonio Gramsci erinnern, der zur selben Zeit in den Gefängnissen des faschistischen Italiens die Gefängnishefte verfasste. Der Schwerpunkt von Prestes’ Programm liegt auf den Philosophen des 18. Jahrhunderts, Diderot wird zum »Lieblingsautor« (B67) erklärt. Die Sympathie zu den bürgerlichen Aufklärern lässt Wahlverwandtschaft annehmen auch angesichts der Tatsache, dass ihm Marx’ Werke aus offensichtlichen Gründen nicht zugänglich waren. Daneben liest Prestes Bücher über die alten Zivilisationen Indiens und Chinas (B48), er beschäftigt sich mit »Geschichte, Geographie, Wirtschaftspolitik, Ingenieurswesen« (B55) und löst mathematische Probleme, deren »Anmut« (ebd.) er als Ingenieur zu schätzen weiß.

Ebenso weit, wenn auch weniger zielgerichtet, sind seine belletristischen Interessen. Werke englischer, französischer, US-amerikanischer und brasilianischer Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Qualität gehören zum Leseprogramm. Im Zentrum stehen zunehmend deutschsprachige Werke. Es mag auffallen, dass sich darunter auch Bücher reaktionärer, sogar antisemitischer und nazifreundlicher Autorinnen und Autoren befinden. Doch sollte bedacht werden, dass Prestes über die Haltungen der Verfasser kaum informiert gewesen sein dürfte und auf die Auswahl der Werke, die ihm im Gefängnis eines Landes mit Sympathien zu Nazideutschland zur Verfügung standen, keinen Einfluss hatte. Er bringt sich Deutsch bei, übersetzt Goethes Zauberlehrling (vgl. B47) und ist schließlich in der Lage, der Partnerin in ihrer Muttersprache zu schreiben. Die wenigen erhaltenen deutschsprachigen Briefe bestätigen Olga Benarios Lob der »Grazie des Ausdrucks« (B82).

Nur ganz vereinzelt drängt sich Prestes’ aktivistische Vergangenheit in die abstrakte Gefängnisexistenz, etwa wenn er 1941 wegen seiner Mitverantwortung für den politischen Mord an einer jungen Frau, Elza Fernandes [Elvira Cupello Calônio], zu einer zusätzlichen Gefängnisstrafe verurteilt wird (vgl. B90) – ausgerechnet vom Militärgericht einer Diktatur. Dieser Mord hat stattgefunden, er ist in Brasilien bis heute Gegenstand von historischen Unter suchungen und Polemiken.35