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Christine Lavant: Werke in vier Bänden

Band 2: Zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungen

 

Im Auftrag des Robert-Musil-Instituts der
Universität Klagenfurt und der
Hans Schmid Privatstiftung, Wien,

herausgegeben von Klaus Amann und Doris Moser

Christine Lavant

Zu Lebzeiten
veröffentlichte Erzählungen

 

Herausgegeben von Klaus Amann

und Brigitte Strasser

 

Mit einem Nachwort von Klaus Amann

 

 

 

 

 

 

Wallstein Verlag

Herausgeber und Verlag danken der

Stiftung Lyrik Kabinett, Frau Ursula Haeusgen,

für die Unterstützung der Edition

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Wallstein Verlag, Göttingen 2015
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,
unter Verwendung einer Fotografie von Sepp Schmölzer
Druck und Verarbeitung: Pustet, Regensburg
ISBN (Print) 978-3-8353-1392-7
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2798-6
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2799-3

Inhalt

Das Kind

 

Das Krüglein

 

Baruscha

Die goldene Braue

Baruscha

Der Messer-Mooth

 

Thora und die Rosenkugel

 

Nell. Vier Geschichten

Nell

Maria Katharina

Rosa Berchtold

Der Knabe

 

Einzelveröffentlichungen

Die Türgeschichte

Der Lumpensammler

 

Anhang

Anmerkungen und Glossare

Zur Edition

Editorischer Kommentar

Nachwort

Quellen und Literatur

Das Kind

 

Den Unmündigen aber
wird es offenbar werden

I

Da ist ein langer Gang. Und er hat weißgestrichene Türen rechts und links – viele weißgestrichene Türen. Oben, ganz hoch oben, wo vielleicht schon der Rand vom Himmel anfängt und wo man auch mit ganz weit aufgerissenen Augen nicht hinaufsieht, ist etwas Schwarzes. Was dieses Schwarze ist, wird man vielleicht einmal wissen, wenn man gestorben ist, weil dann weiß man alles.

So denkt das Kind, das schwer kurzsichtig ist und von nummerierten Türen nichts weiß. Eine richtige Türe, die wirklich bloß eine Türe ist – und auch diese hat noch genug Seltsames an sich! – sieht so aus wie zu Hause die Stubentüre, die braun und gefleckt ist und immer so fremd wird, wenn sie die Mutter vor Weihnachten oder Ostern mit einem nassen Tuch abwäscht. Am liebsten muss man sie im Winter haben. Da hat sie oben und unten und auf den Seiten Streifen von einer alten Kotze angenagelt wie ein Kleid und man möchte sie manchmal ausziehen wie eine Puppe, aber der Vater lässt nicht. Sonst ist sie eine richtige und gute Türe, aber nicht wie diese hier. Diese Türen sind sowieso keine richtigen Türen. Die tuen bloß so. In Wirklichkeit sind sie ganz was anderes und gehören zu dem Gang, der wie die Ewigkeit ist.

Am Ende dieses Ganges ist durch eine weißgestrichene Türe ein kleiner Raum abgeteilt, in dem allerliebste kleine weiße Tische und Bänke stehen. Er ist als Spielraum für die Kinder gedacht, wenn es draußen regnet oder kalt ist.

Von dieser einen Türe ist noch das Besondere zu sagen, dass sie halb aus Glas ist. Hat jemand schon sowas gesehen?

Vielleicht gehen alle Kinder mit einer kleinen Furcht durch diese Türe? O das wäre wohl sehr zu vermuten! – Denn: Wozu sonst schleichen sie sich heimlich wie ausgewachsene Verbrecher durch den langen Gang der Ewigkeit und durch die Besenkammer in der Männerabteilung, um sich von dort aus über den niederen Balkon ins Freie zu lassen. Wo es drinnen doch so warm ist und soo sauber und ein Ball liegt auch in irgendeiner Ecke. Und draußen regnet es in einer unfreundlichen, geradezu verdrossenen Art, wie es eigentlich zu Hause nie regnet. Wenn es zu Hause regnet, dann kann man, wenn es in der Stube zu langweilig ist oder die Mutter Kundschaften bekommt, die alte Leintücher zum Flicken bringen, sodass eigentlich nirgends mehr ein rechter Platz zum Spielen bleibt, in den Stall vom Bauern gehen, der so groß ist wie eine Kirche und auch zwei Säulen hat. Und der Knecht hat eine abgeteilte Kammer drin mit einem Bett. Wenn man die Schuhe auszieht, darf man hineinsitzen und an allerhand denken. Und soo warm ist es dort. Und die Tiere sind alle angehängt, Gott sei Dank! – Die können nichts tun.

Hier braucht man vor Tieren freilich keine Angst zu haben, weil keine da sind. Höchstens Vögel. Aber heute, wo es regnet, sind sie wohl alle heimgegangen. Denn: Daheim sind sie da bestimmt nicht. Niemand ist da daheim, bloß so lang wie man krank ist. Bloß der Primariusdoktor, aber der ist ja kein richtiger Mensch. Der gehört zu den Türen, die auch keine richtigen Türen sind und wohnt wahrscheinlich von Rechts wegen im Himmel. Der wird wohl auch wissen, was das ganz Schwarze oben bei den Türen ist. Er weiß ja alles!

Ja, es ist tatsächlich ein verdrossener Regen. Sein Rauschen hat nicht die Melodie, die jener Regen hat, der auf Keuschen, Heuhütten, Ställen und Maisstrohhecken fällt. Er ist abgehackt und hart und vielleicht schämt er sich dessen und geht deshalb mit dem wilden Wein, der sich so zärtlich an die Dächer der Holzgänge zwischen den Abteilungen des Krankenhauses anrankt, so wüst um. Er reißt die zarten Ranken herab und formt sie zu wilden Ruten, vor denen selbst die anderen Kinder, die alle viel mehr Mut haben als dieses Kind, erschrecken.

Ihr liebstes Spiel – denn wozu würde es sonst immer wieder wiederholt? – an solchen Tagen ist es, in der Kreuzung zweier Gänge – sehr zum Verdruss der schlechtgelaunten Erwachsenen – zusammenzuhocken und sich gegenseitig mit feuchten Steinen oder weggeworfenen abgebrannten Zündhölzern das Zuhause aufzuzeichnen. Fast jedes wird von dem anderen unterbrochen und fast stets mit denselben Worten: »– Ach, das heißt gar nichts, was du da machst! Bei uns ist es viel schöner. Schaut einmal soo! – Ja, so ist es bei uns! –« Dann entstehen Treppen und Türen und die unmöglichsten Sachen. Ja, es wäre zu vermuten, dass alle diese Kinder in wahren Prunkbauten hausen. Besonders die eine Große mit den herrlichen Zöpfen – Liselotte heißt sie auch noch – man denke bloß: Liselotte! – die vermag trotz der häufigen Wiederholung dieses Spieles immer wieder alle in neues Unbegreifen und Staunen, ja in geradezu nichtzuverhehlenden Neid zu versetzen. Da ist ein Kinderzimmer. Wer hat früher schon einmal etwas von einem Kinderzimmer gehört? Da schlafen nämlich bloß Kinder oder auch nur ein Kind. Eigentlich: –?– Im Keller schlaft ja auch bloß der Bruder und sonst niemand. Höchstens wenn Besuch kommt, auch eine von den großen Schwestern. Aber ein Kinderzimmer wird das wohl bestimmt trotzdem nicht sein. Da sind ja auch keine himmelblauen Wände mit Bildern von Schneewittchen und Hänsel und Gretel. Wer wohl solche Bilder malt? Wahrscheinlich eine Fee. Aber dann muss Liselotte schon ein sehr braves Kind sein!

»– Ja –« sagt die Große »– und hier, schaut bloß her! Hier steht das Klavier …«

Dieses war nun allerdings etwas ganz Neues! Ein Klavier ist bisher noch nie vorgekommen. Konnte sie so etwas Großes, Wichtiges tatsächlich so lange vergessen haben oder wollte sie es bloß aufsparen für eben jetzt?

In das leise entstandene Misstrauen hinein, ja förmlich in eine große Verstimmung, beginnt das Kind, das immer am meisten Furcht hat, irgendetwas Unbestimmtes, Verlorenes, das nicht den mindesten Eindruck auf die anderen macht, zu zeichnen. Und man denke bloß ja nicht, dass irgendjemand Interesse an diesem Gekritzel hätte. Mein Gott! Wie wird denn auch ein Zuhause von so einer, die immer auf und auf verbunden ist – wer weiß, was für eine schreckliche Krankheit sie hat? eine Arme-Leute-Krankheit jedenfalls – wie wird so ein Zuhause auch ausschauen?

Die Große, die ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsgefühl und unleugbar die Noblesse ihrer Schicht hat – wenn sie auch verarmt sind! – fragt schließlich doch mit einem Anflug von Wärme: »Na Kleine, was zeichnest denn du da? Hm?« – Nun sehen auch die andern hin. Aber da ist überall Herablassung bis an die äußersten Ränder, wo eigentlich schon der Spott beginnt.

Das verbundene Gesicht um ein Weniges tiefer duckend: »Ach, das ist bloß ein Stein!« »Hach!« sagt Pepi – sie hat gestern einen noblen Onkel – Schnellzugkondukteur! – zu Besuch gehabt und er hat eine Torte dagelassen und Schnitten, viele Schnitten, sodass es ein Leichtes war, jedem eine zu geben. – »Hach!« sagt sie, »ihr habt zu Hause wohl bloß Steine – was? Ihr wohnt wohl überhaupt bloß auf Steinen! Und wenn ich hingehe und den Stein aufhebe und wegwerfe, dann habt ihr überhaupt keine Wohnung mehr!«

»Aber wir haben wohl eine Wohnung. Ja, bestimmt! – Eine grooße Stube. In der ist alles drin. Ja, eine Nähmaschine auch. Ja, schwör bei Gott! Eine Nähmaschine auch!«

»Na – und der Stein?« »Ja der Stein, der liegt halt bloß so da. Vor der Haustür und wo der Brunnen ist. Und aufheben kann den niemand. Er ist ja so groß und schaut aus wie eine Truhe, wo jemand drin aufgebahrt ist. Und alle, die herausgehen, müssen darauftreten und – und die Mutter auch – –«

»Jetzt heult sie schon wieder, Liselotte. – Du, wenn du heulst, gehen wir alle hinein und sagen zu der Oberschwester, dass du allein herausgegangen bist. Dann kannst was erleben!«

»Schaut!« – sagt Liselotte und nimmt ihre langen Zöpfe schnell in die Hand – »Dort kommt der Teufel. Jetzt aber fix! –«

Der Teufel ist natürlich gar kein richtiger Teufel. Er ist bloß ein kleiner dicker Mann mit einem Strohhut. Bloß hat er die unangenehme Eigenschaft, dass er immer da auftaucht, wo die Kinder sind und eigentlich nicht sein dürfen. Eine richtige Angst hat wohl keines vor ihm, aber immerhin genügt sein Erscheinen, um den Rückzug durch den Balkon etwas über das normale Ausmaß zu beschleunigen. Wieder ganz behütet im sauberen warmen Gang ist es geradezu prickelnd, sich alle Möglichkeiten auszudenken – wie er geschimpft und mit den Händen gefuchtelt hätte, wenn er sie erwischt hätte. –

Der Einzug durch die Glastüre geht lebhaft und ohne jede Verheimlichung vor sich. – Nein … Es dürfte doch nicht ganz stimmen, das mit der Angst! Die gehen alle hinein, als ob es eine ganz gewöhnliche Türe wäre und gar nichts dabei hindurchzugehen.

Nur das Kind, in dem stets eine irgend geartete Furcht ist, kann es nie ohne leises Zögern tun.

Wird, wenn man da so mir nichts dir nichts hineingeht, nicht doch eine Verzauberung geschehen? – So eine Glastüre war ja bestimmt auch beim Zwerg Nase? … Wie er den Krautkopf zu der Zauberin hat tragen müssen. – – Meine Mutter möchte mich bestimmt nie und nie zu so einer Hexe schicken und wenn ich auch noch so unfolgsam bin. Aber er wird vielleicht bloß eine Stiefmutter gehabt haben? – – Wenn ich jetzt hineingehe, wer weiß, was alles passiert? Der Boden glänzt so verdächtig und dunkelrot ist er auch! – Überhaupt: Es sind ja gar keine Bretter da und nicht einmal ein Mausloch, wie bei einem richtigen Boden. Etwas stimmt da nicht! Vielleicht kriegt man unversehens einmal, wenn man hineingeht, Nussschalen an die Füße und wird zu lauter Eichkatzen oder Wildschweinen verwandelt? – nein, das waren Meerschweinchen oder ist das am Ende das Gleiche?

Immerhin ist stets von neuem die Vorsicht geboten, hineinzusehen, ob die andern, die schon drinnen sind, wohl noch richtige Kinder sind. – – Merkwürdigerweise ist das immer wieder der Fall.

Mit einem raschen Grübeln, ob es am Morgen wohl andächtig genug gebetet habe, ob nicht die andern am Ende doch vielleicht mehr und besser gebetet hätten und nur deshalb nicht verzaubert werden könnten, geht es schließlich doch, mit einer Gebärde des Mutes und allergrößter Zusammenraffung allerdings, durch die seltsame Türe.

Ach, und es geschieht nichts. Gar nichts! – – Das ist eine Erleichterung, aber am Rande hat sie ganz heimlich was angehängt, das aussieht wie eine Enttäuschung.

Immer setzt es sich in eine Ecke. Das ist immerhin und auf alle Fälle das Beste. Ecken geben immer von zwei Seiten Schutz und tun so wie etwas Bekanntes. Auch kann man von diesen Ecken aus durch das Fenster sehen. Ach, dieses wunderbare Fenster! Natürlich auch kein richtiges. Dazu ist es viel zu groß und Gitter hat es auch keine. Und vielleicht ist es von allem, was hier ist, überhaupt das Wunderbarste? Denn hier ist es ja geschehen, das erste Wunder und kann alle Tage wieder geschehen, wenn man bloß gut aufpasst und nicht zu lang mit den andern draußen spielt. Gleich am ersten Tag ist es geschehen. Damals, wie die große Schwester, die mit hergekommen ist, gesagt hat, sie geht bloß was einkaufen und kommt dann gleich wieder zurück. Aber gekommen ist sie nicht. Und damit hat sie wieder eine Sünde mehr und die darf man beim Beten am Abend nicht vergessen.

Wenn es bloß auch ein richtiges Wunder gewesen ist? – – Dies bis ganz zu Ende zu denken, dieses leise Zweifeln, war nie ohne eine seltsame, bittere Furcht möglich. Denn: Wenn es kein Wunder war – dann hatte die Große, die sogar Liselotte heißt, es bestimmt gewusst und hatte gelogen. Und wenn das gelogen war, dann stimmt auch das nicht mit dem Kinderzimmer. Dann gibt es nirgendswo Kinder, die ganz allein für sich ein Zimmer haben und himmelblaue Wände mit Märchenbildern und die ihren Eltern vor dem Schlafengehen die Hand küssen müssen und im Bett nicht mehr pfeifen dürfen. Aber schließlich: Die Sr. Berta ist ja auch dabei gewesen und wenn die nicht gesagt hat: »Liselotte du lügst!« – so kann es nicht gelogen gewesen sein.

Sie hat bloß gelacht. Und ein Mensch wie Sr. Berta lacht nicht, wenn eins lügt und sagt: »Ja, der Teppich kommt vom Himmel« – wenn er nicht wirklich vom Himmel kommt. Und so war es halt doch ein Wunder, ein ganz großes! Und jeden Tag kann es wieder sein, wenn man bloß brav genug ist und richtig warten kann. Vielleicht sogar heute noch, vielleicht schon gleich. Zuerst wird man sich fürchten müssen, weil es so dunkel wird herinnen. Vor dem Fenster wird etwas Breites ganz ganz langsam herunterkommen und wird hin- und hertun, zuerst wie eine Glocke, dass man noch gar nicht recht sehen kann wie schön es ist. Und dann wird es ganz still da hängen und so nahe, dass man es angreifen könnte, wenn jemand das Fenster aufmachen tät. Aber das tut niemand. Und das wird schon so recht sein, weil es sonst wahrscheinlich zergehen möchte. Und so große Blumen, die alle ausschauen wie Gesichter, sind darauf – wahrscheinlich sind das die jüngsten Engel?! – Und auch Vögel. Aber natürlich Himmelsvögel, weil sie so schöne Farben haben.

Warum wohl die Sr. Berta so lange nicht mehr gekommen ist? Sie hat so schöne Geschichten erzählt und Sachen hat sie auch mitgebracht zum Essen. Die hat immer die Liselotte verteilen dürfen. Vielleicht lasst sie der Primariusdoktor von der anderen Abteilung nicht mehr herüber? Das ist überhaupt kein richtiger. Der schaut nicht so aus wie unsrer. Klein und dick ist er und wenn er redet, klingen gar keine Glocken und gläserne Augen hat er auch nicht. Wenn Sr. Berta nicht bald wieder kommt, wird der Ball da absterben. Man kann schon gar nicht mehr damit spielen. Wenn man ihn angreift, geht er zusammen wie ein alter Fetzen und von Hüpfen ist gar keine Rede. Der Wasserkopf-Bub ist gestern auch noch draufgetreten. Das hätt er nicht tun brauchen, aber die Buben sind alle so, auch wenn sie einen Wasserkopf haben. Aber arm ist der schon, vielleicht noch mehr wie ich und verspotten tut er einen auch nicht. Wenn Sr. Berta kommt, dann wird sie ihn wohl gleich sehen und dass damit nichts mehr ist; nicht einmal am Boden rollen lässt er sich mehr, dieser arme Ball. Aber sie wird ihn schon wieder mit in die Küche nehmen und ihn ins heiße Wasser stecken. Dann wird er wieder so wunderbar blau wie ein Paradiesvogel herauskommen und hart wird er auch wieder sein und nur so springen vor lauter Freude. Hoffentlich lassen sie ihn dann dem Wasserkopf-Buben, sonst hat er ja so auch rein gar nichts. Wenn ich bloß wüsste, was für einen Zauber sie ins Wasser hineintut? Stark muss der schon sein. Noch viel stärker wie der, wenn der Bruder zu Haus mit den Spielkarten zaubert. Der sagt bloß: »Avus kadavus lexi konfrexi dreimal sieben ist sexi –« Aber die Sr. Berta sagt gar nichts. Bei der ist er wohl ganz tief wo drinnen, vielleicht gar im Herzen. Und wenn sie wieder kommt, dann sage ich es ihr ganz bestimmt. – Aber die Liselotte darf nicht dabei sein und überhaupt niemand! Weh wird es schon tun, das heiße Wasser. Oder – am End auch nicht? Vielleicht ist sie so gut und tut einen noch stärkeren Zauber dazu, damit man nichts spürt. Die werden schaun, wenn auf einmal ein ganz anderes Kind herauskommt! – – Ganz glatt und rund wird mein Gesicht sein, aber bleich – bleich ist so schön und interessant, sagt die Schwester. Sie ist auch bleich und hat schon viele Verehrer. Und keine Wunden werden mehr sein und nie mehr werde ich eingebunden sein müssen. Dann werde ich, wenn ich wieder heimkomm, mitten unter den andern in die Schule gehn und die werden was eine Wut haben, weil sie mich dann nimmer ausspotten können. Ja, werde ich sagen, das hat mir ein großer Zauberer getan, weil ihm die Mutter seinen Rock geflickt hat und wenn ich groß bin, zaubert er mir noch einen Königssohn dazu, bloß so als Draufgabe, weil der Rock wie neu geworden ist. Aber mein Gott! – dann hab ich ja gelogen und lügen darf man nicht. Besser ich sag nichts, sonst werde ich am Ende wieder so garstig wie ich bin. Eines darf ich aber bestimmt nicht vergessen. Das mit den Zöpfen! Solche Zöpfe wie die Liselotte hat – vielleicht noch um ein bisschen länger und ein paar Wellen könnten auch nicht schaden! Wenn bloß der Zauber für alles stark genug ist? Eigentlich: Die Augen können ja so bleiben wie sie sind. Freilich weh tut es schon sehr viel, überhaupt alle zweiten Tag, wenn die große Spritze kommt und das scharfe Pulver. Aber der Primariusdoktor sagt: »Soo – schön brav!« Dann ist alles so schön und eigentlich tut es gar nicht richtig weh. Bestimmt nicht so viel wie im Fegfeuer oder in der Hölle. Und wie er schaun wird! Seine Gläseraugen werden nur so funkeln wie die Sonne. Richtige Augen hat er ja nicht. Die hat er bestimmt einmal einem ganz blinden Kind geschenkt! – Vielleicht legt er mir dann die Hand auf den Kopf so wie letztes Mal der Liselotte und sagt: »Hast aber du schöne Haare mein Kind!« Und dann werde ich gar nicht so dumm lachen wie die Liselotte gelacht hat. Ich werde bloß sagen: »Ja, Herr Primariusdoktor, aber ich brauche sie nicht. Ich schenke sie dir!« – Nein, so darf man nicht sagen. »– Ich schenke sie Euch! Ich weiß, Ihr habt ein Mädchen, das ein schönes Kleid anhat, aber ganz so lang sind seine Haare nicht wie meine und sie kann sie leicht haben.«

Ja, so werde ich sagen. Genau so. Und der wird eine Freude haben! Dann sagt er zu mir bestimmt auch »mein Kind!« Und seine Hand, die fast so guttut wie die von der Mutter, wird er dann vielleicht auch auf mein Gesicht legen, weil ich dann ja ein schönes habe und nicht mehr so mit Wunden. – – Aber, sagen kann ich ihm das bloß, wenn wir allein sind. Mein Gott, wie soll ich das bloß anstellen? Vielleicht, wenn ich einmal am Abend sehr, sehr viel bete, alles zehnmal nacheinander. Die blauen, die roten, die grünen und die weißen Gebete. Das rote, das von der stillen Abendstunde und dem Herz Jesu, sag ich vielleicht noch öfter, weil es so schön ist wie ein Samtkleid. Aber dafür musst du mir dann im Traum sagen, wie ich es anstellen muss, dass ich das dem Primariusdoktor allein sagen kann. Und dass er eine recht große Freude hat und sein Mädchen auch. – Gar so schnell wird es so noch nicht sein können? – Denn verzaubert muss ich ja zuerst werden, schon wegen der Zöpfe. Und überhaupt! Weil: Von einem Kind, das Wunden hat, nimmt der Primariusdoktor bestimmt nichts für sein Mädchen.

Und Sr. Berta ist schon so lange nicht mehr gekommen.

Da sagt die Große, die Liselotte heißt und ein bisschen obenhin mit einem Baukasten gespielt hat und jetzt durch die Glastüre guckt: »Sr. Schelli, laufen Sie doch nicht so, denn sonst kriegen Sie Lungenentzündung!« Da wissen alle, dass das Essen kommt. Denn dann sagt sie immer so und dann lachen immer alle. Obgleich gar nichts zu lachen ist. Denn Sr. Schelli lauft ja nie. Überhaupt nicht. Und schon gar nicht mit dem Essen. Überhaupt: Komisch ist sie schon, die Liselotte und man kann sie gar nicht begreifen. Manchmal ist der Wasserkopf-Bub eigentlich der Einzige, mit dem man was reden möchte. Aber er weint fast immer, weil er so oft das Scharfe in die Augen bekommt und überhaupt tut er schwer reden. Aber das ist eigentlich gut so. Sonst würde er so auch bloß Spottgedichte sagen, so wie die Schulbuben.

Vor dem Essen hat das Kind immer Furcht. In der Früh beim Aufstehen und beim Essen ist immer wieder das Heimweh ganz groß und schwer da. Es ist so schrecklich fremd, allein aus einer Schüssel essen zu müssen und gar keine Angst mehr zu haben, dass man zu wenig bekommt. Einmal hat die größte Schwester beim Essen fortgehen müssen. Und trotzdem sie alle nach der Reihe gesagt hatten »Schwör bei Gott!« und das Totenkreuz gemacht hatten, dass keines weiteressen würde, bevor sie nicht zurückkommt, hat sie auf ihrer Seite hineingespuckt. Wie sie zurückgekommen ist, haben dann alle weitergegessen, bloß das Kind nicht.

Und das liegt nun bei diesem fremden Essen wie etwas Schweres auf ihm.

Ist es vielleicht doch nicht recht, dass es einem graust, wenn die Schwester hineinspuckt. Hätte man doch weiteressen sollen?

Aber da fallen ihm die großen gläsernen Augen des Primariusdoktor ein. Und seine Hände! – Die riechen immer soo sauber, wenn er die Augendeckel so ganz leise angreift, dass das Umdrehen gar nicht weh tut. Der wäscht seine Hände bestimmt alle Tage und noch öfter vielleicht? Er täte auch bestimmt nicht aus so einer Schüssel essen, wo jemand hineingespuckt hat. Ob seine Schüsseln alle aus Glas sind? Einmal im Schloss, wo die älteste Schwester in Dienst ist, haben sie in der Küche lauter Schüsseln aus Glas abgewaschen. Ja, wirklich wahr. Ganz durch und durch aus Glas. Angreifen hat man sie freilich nicht dürfen. Aber eine Farbe haben sie gehabt wie ganz lichte Veilchen und Sonnenschein. Und solche oder noch schönere hat bestimmt auch der Primariusdoktor. Und wenn einmal eine zerbricht, dann wird er sie wieder ganzzaubern. Denn: Den größten Zauber von der ganzen Welt hat er hinter seinen gläsernen Augen. Den hat ihm vielleicht eine Fee damals geschenkt, wie er seine Augen dem blinden Kind gegeben hat? – Und jetzt macht er damit die Leute alle gesund. Ja, bestimmt so wird es sein. Und vielleicht kommt sie ihn noch öfter besuchen, die Fee, wahrscheinlich dann, wenn der Teppich vom Himmel herunterhängt. Das nächste Mal muss ich ganz genau aufpassen wie das ist.

Schon während des Essens ist eine ganz ganz große, wunderbare Sonne gekommen und der Regen ist bestimmt sehr traurig, weil er fort hat müssen. Aber vielleicht ist er jetzt daheim unten und die Mutter schaut beim Fenster hinaus, das ein richtiges kleines Fenster ist und Gitter hat, und denkt an ihr Zartele? Lass sie bloß nicht sehr viel traurig sein, lieber lieber Gott!

Sr. Schelli ruft durch die Glastüre herein: »Hallo! Die Kinder müssen ins Freie spielen gehen. Aber schnell!«

»Bloß nicht so schnell wie Sie, Schwester, sonst kriegen wir Lungenentzündung.« Natürlich die Liselotte.

Sehr bekümmert geht das Kind als Letztes. Schon wegen dem Wunderteppich und überhaupt! Dieses süße, dieses schreckliche Spielen! Liselotte wird ja doch wieder das Eine spielen wollen, das wunderbar ist und eine große Sünde! Nur noch einmal geh ich mit, lieber Gott! Nur heute noch! Vielleicht sag ich es ihr aber heute, dass man das nicht tun darf? Vielleicht schickst du mir einen Schutzengel, der stärker ist wie der von alle Tage, dann werde ich alles überwinden und sagen: »Alles für dich, heiligstes Herz Jesu.« Aber nein, das stimmt ja nicht! – Für das heiligste Herz Jesu ist es ja nicht. Und beim Beten darf man schon gar nicht lügen …

Ich werde sagen, ganz leise natürlich, bloß so, dass es der starke Engel hört, zum Zeichen, dass er mir dann helfen soll: »Alles für dich, heiligster Primariusdoktor!« werde ich sagen. Und dann werde ich von dem starken Engel so viel Kraft bekommen wie die ganz großen Märtyrer und dann wird nirgendswo eine Angst sein und ich werde der Liselotte alles sagen können.

Aber vielleicht spielt sie heute was anderes? Dann brauch ich es vielleicht erst morgen tun und kann am Abend noch viel dafür beten …?

Doch Liselotte geht natürlich wie immer zum kleinen Pavillon. Hinter ihr der Bub mit dem Wasserkopf. Er hängt sich ja immer an sie an und sie sagt manchmal, wenn es ihr zu lästig wird, »Rolf« zu ihm, so heißt nämlich ihr Hund zu Hause. Ja, einen Hund hat sie auch. Dann kommt die Pepi, die noch ein Stück Onkeltorte in der Hand hat, dann die beiden ganz Kleinen, die sich immer an den Händen halten – aber Schwestern sind sie nicht – das denken die Leute bloß so, weil sie immer beisammen sind. Nur sehn tun sie fast gar nichts alle beide. Zu den schönen Blumen, die wie lange Glocken von den Ruten der Büsche herauswachsen – wahrscheinlich hat sie einmal die Fee dem Primariusdoktor mitgebracht und hat gesagt: »Die schenke ich dir, tu damit was du halt willst!« Und er hat dann gesagt: »Weißt Frau Fee, die setzen wir am besten vor den kleinen Pavillon hin, wo die Kinder immer spielen, dann haben sie eine Freude damit.« – Ja, so ist unser Primariusdoktor. Aber die beiden Kleinen wissen gar nicht, dass die wunderbaren Glocken rosarot und violett sind. Ja, violett heißt das, hat Liselotte gesagt. Und die denken immer, sie sind bloß grün. Ganz gewöhnlich grün. Die glauben wahrscheinlich, das sind so Büsche wie sie auf der Wiese wachsen. Sehen können sie ja so schlecht und das von der Fee wissen sie auch nicht.

Ja, mein Gott, es ist schon so, den starken Engel – aber einen ganz starken – wirst du mir schon heute schicken müssen.

Ja, Liselotte hat sie schon alle der Reihe nach auf die Bank im Pavillon gesetzt und der Wasserkopf-Bub – ausgerechnet der, wo ohnehin so ungeschickt ist! – muss die herrlichen Glocken von den Büschen reißen. Man denke bloß! – diese Feenblumen!

Wenn es dir vielleicht grad nicht ausgeht lieber Gott – am Ende hast du grad keinen recht starken Engel bei der Hand? – dann, vielleicht, schickst du den Teufel? Nicht den richtigen. Du weißt schon, den mit dem Strohhut …

Aber der Mann mit dem Strohhut ist weit, weit fort und lacht mit einer dicken Wärterin und weiß von gar nichts.

»Du bist heute Assistenzarzt, Kleine!« sagt Liselotte. Ja, solche Ausdrücke versteht die schon und es ist wirklich ohne starken Engel unmöglich, etwas nicht zu tun, was sie will. Und er kommt nicht und kommt nicht!

Nun muss das Kind die armen heiligen Blumen nehmen, denn das sind ja nun die Spritzen für die Augen, weil sie so lang sind und grad so aussehen wie Glasspritzen, sagt Liselotte. Aber da hat sie bestimmt nicht recht.

»Machen Sie schon, Doktor! Immer eine nach der andern. Erst eine große, dann eine kleine. Nein! – – Warten Sie: heute nur große. Die Augen sind alle viel schlechter geworden und es soll nur richtig brennen. Das heilt.« – Und wütend: »Du Kleine, du kriegst deine Puppe bestimmt nicht wieder zurück, wenn du noch lange so blöd schaust.«

»Aber – was soll ich denn mit den kleinen Blumen tun?«

»Erstens sind es keine Blumen und zweitens wegschmeißen. Verstanden!«

Und immer noch vom Engel keine Spur!

Voll Furcht und Verwirrung und zwischen hineingeschleuderten Anrufungen nestelt das Kind – immer in Angst vor der Großen – die kleinen Blüten, abgewandt, in den dreimal aufgebundenen Spitalkittel, der ihm trotzdem noch bis zu den Knöcheln geht und ihm schon am ersten Tag den Namen ›Großmutter‹ eingetragen hat. Aber eben die Große war es dann schließlich gewesen, die das allen energisch verboten hat. »Sie kann nichts dafür, dass ihr der Kittel zu lang ist. Und wenn sie so klein ist, heißt sie halt die Kleine!« Ja, so ist diese Liselotte! – Eine von den beiden Unzertrennlichen sitzt schon auf dem Schoß der Großen, wird aber trotzdem unentwegt von der Freundin an der Hand gehalten. Dieses vermag selbst Liselotte nicht zu verhindern. Sonst gebärdet sie sich sehr streng. Viel strenger als der wirkliche Herr Primarius.

»Sie Doktor! Sie müssen mich schneller bedienen, sonst fliegen Sie!« Und leiser: »Wenn du uns immer jedes Spiel verpatzt, dann scher dich fort und sie können auch ruhig wieder Großmutter zu dir sagen, ich rühr keinen Finger mehr für dich, verstanden!?«

Wo ist bloß der starke Engel? Hast du mir vielleicht den gewöhnlichen, den Alletageengel auch fortgenommen als Strafe für irgendwas?

Ach, es geht alles weiter wie immer. Der Reihe nach werden alle behandelt vom Herrn Primarius, dem ein stummer, aber beinah verbitterter Assistenzarzt wenn auch willig und mit hastiger Eile zur Seite steht. Sein Gesicht ist rot wie von Fieber und die Augen fast ganz zu wie bei einem Schlafenden.

Eine fremde Patientin geht am Pavillon vorüber, eine von der Sechser-Abteilung. Sie hat schon ein paar kleine Kinder zu Haus, schaut sich aber immer fremde auch noch gern an. Sie kommt zum Eingang und lacht freundlich hinein. »Tut’s Doktor spielen? Ist schon recht so. Was muss man ja haben, damit die Zeit nicht so lang wird, gelt ja! Und wie sie es schon kann! Wie ein richtiger Doktor! –«

Ob vom Lob angeeifert oder überhaupt – noch nie waren die Gebärden dieses großen schönen Mädchens, der geborenen Schauspielerin, von so unheimlicher, ja geradezu erschreckender Ähnlichkeit mit denen des großen Arztes. Ja selbst die Erwachsene steht für einen Moment wie angerührt von etwas Befremdendem, Gewaltigem.

Liselotte hat mit einer unendlich liebevollen warmen Art, wie sie der große Arzt für die kleinsten seiner Patienten hat, den Arm um Pepis Schulter gelegt, die sie eben aus der Behandlung entlässt. »So mein Kind, das war brav. Morgen tut’s dann nimmer so weh, gelt ja!«

Starker Engel! Starker Engel! Alle Heiligen und Nothelfer steht mir bei!

 

 

Ist tatsächlich etwas Großes, Starkes gekommen? Die erwachsene Patientin geht auf einmal so schnell fort.

Auf einmal spürt Liselotte, dass etwas an ihren Zöpfen reißt. Sie ist viel zu erstaunt, ja erschreckt, als dass sie sich irgendwie wehren könnte.

»– – Du! Du! – Heute Nacht kommt zu dir der Teufel. Ja, wirst sehen! Aber der richtige, der Höllteufel. Und wenn du auch Liselotte heißt – und wenn du auch Zöpfe hast – und ein Kinderzimmer und alles, alles! Der Teufel nimmt dich mit. Dich und alles! – Weil du – du tust Gspött treiben mit den heiligen Dingen! –«

Die Zöpfe werden weggeschleudert und was nun dasteht ist zwar klein und über und über verbunden, aber eine Feierlichkeit, eine Inständigkeit und zugleich Wildheit ist rundherum und lässt alle starr stehen wie Holzpuppen. Ganz leise ist die Stimme, aber krank und heiß: – »Die Weinberger-Vevi, die einmal im Kloster gewesen ist und alle heiligen Dinge versteht, hat uns beim Viehhalten gesagt, wie wir ›Tod‹ gespielt haben, dass das eine Todsünde ist. Mit Gott und dem Tod und überhaupt allen heiligen Sachen darf man nicht spielen. Es ist eine Sünde mit dem Heiligen Geist, hat sie gesagt. Ja, genau so. Und wenn du Primariusdoktor spielst, so ist das auch so eine Sünde mit dem Heiligen Geist und das ist die Einzige, wo Gott nie vergeben kann, hat sie gesagt. – Tu’s nicht mehr Liselotte, bitte tu’s nicht mehr! –«

Die Große hat tiefrote flammende Flecken über den eigentümlich starken Backenknochen. Irgendeine unerhörte Entrüstung über diese geradezu herausfordernde Auflehnung gerade der Schüchternsten ihrer Gefolgschaft, kocht in ihr. Aber auf einmal kriegt sie so um die Mundwinkel herum etwas wie ein Lachen. Ganz klein ist es und hat eine leise Zärtlichkeit an sich. – »Großmutter!« – sagt sie bloß. Und dabei ist ihre Stimme tief und weich und ganz erwachsen. Es klingt auch gar nicht wie Rache oder Hohn. Auch wie die andern alle nun pflichtschuldigst und im Chore »Großmutter« sagen, ist sehr wenig Spott dabei. Eher klingt es wie eine Erleichterung nach all dem Schreck.

Als das Kind mit einer raschen – wie verscheuchten – Bewegung hinausgestürzt ist, sagt die Große ganz streng: »Wer noch einmal Großmutter zu ihr sagt, ist ein Aff. Und mit Affen spiele ich nicht, verstanden?! – –« Tiefes Erstaunen über so viel Unbegreiflichkeit sieht ihr entgegen, aber dahinter wie immer vollkommene Ergebenheit.

Nur Pepi sagt, während sie mit leichtem Bedauern dem letzten Bissen Torte nachschmeckt: »Der hätte ich eigentlich keine Schnitte geben brauchen.« – »Kusch!« Damit ist die Sache erledigt und das Spiel geht weiter, aber – nicht mehr dasselbe.

Das Kind aber hat sich, immer mehr zusammenfallend, sodass es aussieht als ginge überhaupt bloß mehr ein großer, gestreifter Spitalkittel mit einem Verband oben herum, zu dem verbotenen Pavillon der Erwachsenen geschlichen. Sehr heimlich, vollkommen bewusst, dass es etwas Unrechtes sei. Hat doch die Oberschwester grad gestern wieder gesagt, dass der Primariusdoktor verboten hat, dass sich die Kinder bei den Großen aufhalten.

Aber da ist plötzlich ein eigentümlicher Widerstand, geradezu ein schneidendes Verlangen etwas zu tun, was Er nicht will.

– Und wenn Er jetzt kommt! – Und wenn seine Gläseraugen auch ganz ganz stark funkeln, so geh ich dann gerade und ganz laut zu den Großen. Und pfeifen kann ich auch schon. Das: ›Wenn mein Liebchen Hochzeit hat‹, wo dann zum Schluss was vom Dr. Röntgenstrahl drin ist, ja das pfeif ich, wenn er kommt. Dann wird er ganz zu mir herkommen und sagen wird er auch was. Vielleicht was ganz Böses, wie damals – – Aber mein Gott, wenn er am End mit seinem Zauber hinter den Gläseraugen alles weiß? – Wenn er weiß, was ich jetzt gedacht hab und am End das von früher auch? – – Und dann – und dann? –

Auf einmal aber weiß es, was es dann tun wird. Dann geht es ins Wasser. – – Eine richtige Vorstellung hat es zwar nicht dabei, aber der Gedanke, es zu tun, hat etwas unsagbar Süßes und Schweres an sich.

Einmal, wie es bei den Großen im verbotenen Pavillon war, haben sie davon geredet, dass ein junges Mädchen ins Wasser gegangen ist. Wegen unglücklicher Liebe, haben sie gesagt, das hat es sich genau gemerkt. Und das muss etwas ganz Großes, Wunderbares und Trauriges sein, eine unglückliche Liebe. Denn die Großen haben auf einmal ganz andere Gesichter gehabt wie früher und eine dicke alte Frau, die immer Tabak gegessen und dann wieder ausgespuckt hat – wahrscheinlich hat sie das wegen einer furchtbaren Krankheit tun müssen, die Arme! – die hat direkt geweint und der Mann mit dem roten Bart und dem kurzen Fuß hat gesagt: »Das arme Kind!« – Und von ihr würden dann auch alle sagen: »Das arme Kind!« und würden ganz andere Gesichter bekommen. – – Eine von den Schwestern wird es dann bestimmt dem Primariusdoktor sagen und dann wird er auch ein anderes Gesicht bekommen und am Ende – mein Gott – am Ende bekommt er dann auch andere Augen – die früheren, die richtigen – –?

Dieser Gedanke ist so verblüffend und so maßlos erschreckend, dass selbst das Erscheinen des Herrn Primarius, der mit langen raschen Schritten durch den nächsten Gang kommt, nicht mehr auszulösen vermag, nur noch ein Dunkles, Schweres, Erwartendes dazutut. Wo das Lied vom Feinsliebchen und dem Dr. Röntgenstrahl bleibt, weiß Gott.

Schrecken ist da und eine Süße, die schöner ist als alle Weihnachtsabende zusammen. Und das Dunkle wird immer dunkler und das Schwere immer schwerer und ist so, wie das ist, wenn die Mutter in der Nacht weint, weil die großen Schwestern vom Tanzen noch immer und immer nicht heimgekommen sind, obwohl sie heilig versprochen haben, dass sie um acht Uhr abends daheim sein werden.

Und Er geht rasch vorüber mit dem angespannten, zergrübelten Gesicht des über die äußersten Grenzen Belasteten und hat das Kind nicht gesehen.

Auf einmal ist nur mehr das Dunkle und Schwere da und alle Wunden am Hals, im Gesicht und an der Hand fangen an weh zu tun, geradeso wie beim Verbinden, wenn der alte Verband rasch abgerissen wird.

Aus dem Pavillon der Erwachsenen kommt eine große, magere, gutmütige Frau heraus und erschrickt vor dem Kinde. »Ja mein Gott, du Hascherl – was ist denn – na was denn, was denn? Haben sie dich wieder sekkiert? Hat dich wer gehaut? – Na, na – wein bloß nicht so, kommst halt zu uns herein, bist ja früher auch immer bei uns gewesen.«

Drinnen sagt gerade ein alter Mann, der eine Pfeife raucht: »– Überbleiben werden nur so viel wie unter einem Eichbaum Platz haben … sagt die Sybilla –«

Was nun kommt, ist bald wie ein großes, großes Feuer, so groß wie damals, als der Stadel vom Nachbar abgebrannt ist, wo alle gesagt haben, dass es der älteste Sohn angezunden hat, weil er die Dirn nicht hat heiraten dürfen und den dann nie mehr ein Mensch gesehen hat; aber seine Knochen haben sie in der Asche auch nicht gefunden, vielleicht hat er gleich, gleich vom Anzünden weg, so wie er war, in die Hölle müssen? –

Dann wieder ist es wie die Wasser im Herbst, wenn nicht nur der Fluss, sondern auch die Wiesen alle davon voll sind, so, dass oft die ganzen Wolken vom Himmel und auch das Blaue hineinfallen und darin ertrinken, weil es so tief ist wie die Ewigkeit und dann schauen sie herauf und wollen haben, dass man die Schuhe und die Strümpfe auszieht und hineingeht, damit sie nicht mehr so allein sind und was zum Spielen haben. Aber der Schutzengel sagt: »Geh nicht hinein, das ist so tief wie ein Tag und eine Nacht und noch eine Nacht und wer hineingeht, kommt nie mehr zu seiner Mutter und den Schwestern heraus.«

Und immer mehr wachsen die Wasser und das Feuer und mitten im Feuer steht ein unheimlich großer Eichbaum, unter dem es von dunklen Menschengestalten nur so wimmelt.

Manchmal brechen sich ein paar Worte durch alles hindurch –: »Wenn die Menschen rote Kleider und rote Schuhe tragen werden – sagt die Sybilla –«

Mein Gott! Rote Kleider? – – Das Mädchen vom Primariusdoktor hat ein rotes Kleid gehabt … Nein, eigentlich richtig rot ist es ja nicht gewesen. Höchstens so wie – eine ganz dunkle Pfingstrose und das ist vielleicht nicht einmal rot. Und die Schuhe sind bestimmt – ganz bestimmt! – schwarz gewesen. Und die Handtasche, wo sie dann so lieb Danke gesagt hat, wie ich sie ihr aufgeklaubt habe, die war aus Silber. Ja, ganz so silbern wie das große Wasser …

Es rauscht und rauscht und der Eichbaum wird immer größer und langt bestimmt schon weit in den Himmel hinein, wo vielleicht die Sybilla darauf wartet. Unter dem Eichbaum ist aber kein Mensch mehr als ein ganz ganz Großer mit einem kleinen Mädchen. Das Mädchen hat eine Tasche aus lauter Silber und der Große Augen aus Glas.

II

Ein früher Sommerabend legt das Grün hoher Parkbäume wie etwas Geschontes und von lange her Erspartes durch die hohen Fenster des Schlafraumes, der sich trotzdem ein eigentümliches Dunkel bewahrt, so dass nur die kleinen weißgestrichenen Gitterbetten das Helle zu erhalten haben. Draußen ist es sehr still und nur hie und da ersteht ein inständiges Vogellied, das süßer ist wie aller Sonnenschein und der Stille kaum etwas wegnimmt. In das Haus einzutreten hat die Stille wohl Angst, denn sie bleibt vor den Fenstern stehen.

Drinnen weinen ein paar ganz kleine Kinder, die vielleicht gebadet werden. Denn wozu brauchten sie sonst so zu weinen? Und so laut, dass es fast undenkbar erscheint, dass dies von kleinen Kindern kommen kann.

Darüber grübelt eben auch das Kind mit der steten Furcht … Arme Seelen schreien um diese Jahreszeit ja noch nicht. Oder ist vielleicht eine neue, eine ganz böse dazugekommen, eine mit lauter Todsünden?

Sr. Schelli hat eine hohe dünne Stimme. Und wenn sie – wie eben jetzt – mit aller Hingabe »Petrus schließt die Türen zu« singt, dann wird diese Stimme noch dünner, immer dünner und schließlich zittert sie vor Angst, dass sie zerbrechen würde.

Wenn die Schwester daheim beim Geschirrabwaschen das Lied singt – ja, sie kann das auch – dann ist es aber doch wie ein anderes Lied, weil ihre Stimme tief ist und mutig und so wie wenn sie auf einem schwarzen Pferd daherreiten möchte. Aber meistens sagt dann die Mutter: »Sing lieber ein Kirchenlied«. Die Mutter singt fast alles nur Kirchenlieder und am meisten das:

 

Ich lege alle meine Sorgen

in dein geliebtes Herz hinein.

Da ruhn sie alle wohlgeborgen

und du mein Herz magst ruhig sein.

Ich will ein fest Vertrauen fassen,

du wirst mich ewig nicht verlassen.

 

Wie das wohl ist, wenn die Sorgen irgendwo wohlgeborgen ruhn? Ob sie dann zusammenschliefen wie die jungen Katzen, die im Heu oben so geschrien haben? Und wie die Alte dazugekommen ist mit der Maus, dann sind sie ganz still gewesen und man hat von ihnen fast gar nichts mehr gesehen. Da werden sie wohl auch wohlgeborgen geruht haben.

Und mit dem Herzen meint die Mutter das Jesuherz. Aber das muss dann wohl schon sehr groß sein. Wie könnten sonst alle Sorgen von der Mutter drin Platz haben? Und wenn sie noch so fest zusammenliegen. Das Bett daheim ist auch groß. Aber wenn sie und die zwei Schwestern nicht fest zusammenliegen, haben sie nicht Platz und müssen raufen. Aber das Jesuherz ist wohl noch viel größer, wahrscheinlich so groß wie ein Himmelbett und so tief wie die Ewigkeit.

Und dann kann es mit den Sorgen von der Mutter schon noch eine Zeitlang weitergehen, aber viel mehr dürfen es wohl nicht werden. Sonst fangen sie auch einmal an zu raufen und das Jesuherz bricht durch so wie das Bett daheim. Und dann kommt vielleicht der Himmelvater und schimpft so wie der Vater geschimpft hat, wie er es hat zusammennageln müssen mitten bei der Nacht. Gut dass er so schlecht hört, der Vater, sonst hätt die Schwester Schläg gekriegt, weil sie so gemault hat. Aber – eigentlich gut ist es auch wieder nicht, weil er, seit er schlecht hört, nicht mehr in der Grube arbeiten kann, bloß am Tag heroben und da hebt er alle vierzehn Tage weniger auf und die Mutter weiß immer nicht, wie die Stube bezahlen und die Milch. Und das Fleisch und das Brot wird auch immer teurer, aber auf Kredit nehmen wir nichts. Kredit ist, sagt die Mutter, so: Zuerst braucht man lange und lange gar nichts zahlen und kann nehmen, was man will, und der Kaufmann ist freundlich. Das wäre wohl sehr fein. Aber zum Schluss dann ist es gar nicht mehr fein. Da wird der Kaufmann auf einmal sehr böse und man soll so viel Geld geben wie man nie im Leben gesehen hat und weil man es nicht kann, nehmen sie einem den Kasten und die Betten und die Nähmaschine und das wäre schrecklich! Denn wie kann sie dann die Hosen und die Leintücher, die die Bauern bringen, ausstückeln? Bloß beim Stricken in der Nacht verdient man ja nicht einmal so viel wie’s Schwarze unterm Fingernagel. Sagt die Mutter.

Ist nur gut, dass die Hausfrau endlich gestorben ist. Vorher hat sie Tag und Nacht schreien müssen, wahrscheinlich dafür, weil sie die Mutter so viel gepeinigt hat. Die Mutter hat gar nicht hingehn wollen, wie sie gestorben ist, trotzdem die Tochter von der Hausfrau gekommen ist und sie um den Hals genommen hat und gesagt hat: »Wenn Sie ihr nicht verzeihen, kann sie nicht sterben.«

Und recht hat sie gehabt, dass sie ihr verziehen hat, wenigstens hat sie sterben können. Ja – und jetzt sollen wir für sie beten, sagt die Mutter, aber einmal hab ich ja schon und vielleicht tu ich es morgen wieder. Sie hätt ja auch nicht alleweil herkommen und schreien brauchen, dass man vor Angst hat unter die Betten kriechen müssen, trotzdem die Mutter immer schon, wenn sie sie durchs Fenster hat hergehen sehen, die Tür zugesperrt hat. Und nie hat ihr die Mutter ein Wort durch die Türe zurückgeredet. Bloß ganz große Augen hat sie gehabt und die Hände hat sie so gehalten wie beim Beten, bloß tun sie beim Beten nicht so zittern. – – Wenn sie bloß nicht zu viel traurig ist, jetzt wo ich nicht bei ihr bin? Von den Großen kann ja keine das Bett so gut anwärmen wie ich. Und wenn sie dann die halbe Nacht strickt und kalte Füße hat, wird sie vielleicht um mich weinen? – Lieber Gott: Wenn du machst, dass die Mutter immer warme Füße hat und auch nicht traurig ist, dann bet ich heute schon für die Hausfrau. »Vater unser …«

Mit einer zarten Behutsamkeit geht die Türe auf und zwei Ärzte treten sehr leise ein. Der zuletzt eintritt ist sehr groß und hat gläserne Augen.

Das Vaterunser verlöscht unter den heftigen Herzschlägen … Wird Er jetzt zaubern? – Noch nie ist Er bei der Nacht hereingekommen! Oder weiß Er alles? Wird Er mich gar dem fremden Doktor mitgeben, dass Er mich nicht mehr anschaun braucht? Oder? –

Die beiden gehen leise von Bett zu Bett. Wahrscheinlich hat Er dem fremden Doktor auch ein paar Zauberschuhe gegeben, weil man gar nichts hört.

Und dann ist alles wieder vorbei … Nur für einen Herzschlag lang im Vorübergehen hat die eine große Hand das untere Gitter des Bettes berührt. Das Bett hat aufgezittert wie etwas, das davonspringen will. Du dummes Bett! Vor Ihm brauchst du nie Angst zu haben. Oder – mein Gott – wenn das vielleicht ein Zauberschlag war? …

Eine eigentümliche Nacht! Der Mond ist auch noch gekommen. Wahrscheinlich hat er deshalb so lange gebraucht, weil er erst ganz groß hat wachsen müssen.

Das Kind sitzt wie aufgeschreckt im Bett und hat weite fiebrige Augen. Der Traum, der eben noch da war wie ein tiefes Fallen, ist zwar schon fortgegangen, aber etwas Unbegreifliches hat er da vergessen. Das steht nun immer noch da und wartet.

Alles ist so anders.

Das ist ja gar nicht das richtige Bett. Wo haben sie mich denn hingelegt?

Es greift sich an das Gesicht. Da vergisst das Herz darauf, dass es schlagen soll.

Mein Gott, wo ist denn der Verband hingekommen? Das Gesicht ist nackt und glatt … Bin ich verzaubert? Bin ich richtig verzaubert? So ein glattes Gesicht! Aber die Zöpfe? Wenn nur die Zöpfe nicht vergessen sind? Nein. Der Zauber hat nichts vergessen. Und gut war er und stark. An beiden Seiten hängt es lang herunter. – – Jetzt ist alles gut. Jetzt will ich beten mein ganzes Leben lang und wenn ich groß bin, geh ich ins Kloster. Aber nicht in das, wo man in einer Totentruhe liegen muss. Haare braucht man im Kloster auch keine und so kann ich sie leicht herschenken.

Gut, dass die Schwestern alle schlafen und die Liselotte und überhaupt alle. Sein Zimmer, wo er immer zaubern tut, weiß ich genau. Ganz unten bei der Stiege ist es. Und ein Tisch ist drinnen und eine blaue Lampe, die wahrscheinlich die Wunderlampe von Aladin ist. Die hat ihm bestimmt auch die Fee gebracht, damit er die Leute besser gesund machen kann. Sonst brauchen die Leute ja nicht von so weit daher kommen. »Sogar Herrschaften von Wien kommen zu uns in Behandlung«, hat eine Schwester einmal zu einer Dame gesagt.

Wie unwillig und bösartig der lange Kittel ist! Immer wieder rutscht er hinunter, wenn er festgebunden werden soll. Aber im Hemd kann man nicht hingehen und Geschenke machen. Noch unwilliger sind die Pantoffeln. Und bevor man sie nicht mit krummgebogenen Zehen festhaltet, wird man ihrer nicht Herr. Aber dann geht alles Gott sei Dank leicht. Die Türe ist sowieso immer offen und kein Mensch ist weit und breit und alles ganz still. Der Vogel könnte ruhig ein bisschen singen, wenn auch bloß im Traum, aber er wird zu fest schlafen. Irgendwo brennt noch ein Licht und der Mond ist ja auch da und wenn man ein Stoßgebet betet, braucht man vor nichts Angst zu haben. ›Süßestes Herz Jesu, sei unsre Rettung!‹ – So ein Stoßgebet stoßt wahrscheinlich alles Böse fort.

Dass Gott den Gang so lang gemacht hat! Wahrscheinlich ist die Ewigkeit in der Nacht noch größer wie bei Tag, weil da ja auch die Geister alle drin Platz haben müssen.