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Ernst Glaeser
Jahrgang 1902

Roman

Herausgegeben von
Christian Klein

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ERSTER TEIL
DER AUFMARSCH

La guerre – ce sont nos parents …

Gaston P.

DER ROTE MAJOR

»Stillgestanden!« »Die Augen rechts!« »Abzählen!«

»Eins – Zwei – Drei –Vier – Fünf – Sechs – Sieben – Acht – Neun –«

»Zehn!« – das war Ferd.

»Elf!« – das war ich.

»Dreizehn! …«

»Halt!«

Die Augen des Dr. Brosius, Klassenführer und Turnlehrer der Quarta, suchen die Front ab. Er schiebt den Kopf etwas vor, macht den Hals, der immer ein wenig entzündet aus dem steifen Kragen herausschaut, lang wie ein Papagei, bevor er den Zucker schnappt; dann stampft er mit dem Fuß auf, daß der graublaue Steinschotter des Schulhofs hochspritzt. Sein scharfgeschliffener Zwicker wackelt bedenklich. Nur die silberne Kette über dem Ohr rettet ihn vor dem Absturz. Auf Dr. Brosius' Backen schwellen die Schmisse. Zwischen unseren starr nach vorne gerichteten Köpfen wird ein Gesicht feuerrot.

»Silberstein! Natürlich Herr Silberstein aus Firma David Silberstein u. Co., Tuche en gros, kann nicht auf zwölf zählen. Tritt vor!«

Und Leo Silberstein, der einzige Jude der Quarta, tritt vor.

»Zurück!« brüllt Herr Dr. Brosius. »Mit welchem Fuß hast du anzutreten?!«

»Mit dem linken …«

»Was ist das wieder für eine unmilitärische Antwort?!« schreit Brosius und gibt Silberstein einen Stoß, daß er in die Reihe zurückfliegt.

»Zu Befehl, mit dem linken Fuß, Herr Dr. Brosius«, schluckt der kleine Leo, der wie immer in solchen Szenen mit den Tränen kämpft.

»Tritt vor!« Diesmal gelingt es.

»Wie ist das mit dem Abzählen?«

Leo steht stramm vor der Front, puterrot das Gesicht, und salutiert: »Zu Befehl, ich habe mich geirrt …«

»Geirrt?« Herr Dr. Brosius bekommt einen seiner überlauten Lachanfälle.

»Geirrt? Beim Abzählen! Weiß nicht, welche Nummer er ist! Geschlafen hast du! In die Sonne geträumt! …«

»Ich behalte so schlecht die Nummern«, sagt Leo leise und senkt den Kopf. Dabei kratzt er aus Verlegenheit den Boden mit seinem linken Fuß.

»Stillgestanden, wenn ich mit dir spreche!«

Leo zuckt zusammen und legt sofort Kopf, Fuß, Arme und Rücken in die befohlene Haltung. Über seine Backen laufen ein paar Tränen. Leo kann sie nicht wegwischen, weil er stramm stehen muß.

Brosius grinst und schaukelt sich zweimal in den Hüften. Er geht um den armseligen Jungen herum und rümpft die Nase: »Na, zur Jarde wirst de man och nich kommen ...« (Brosius berlinerte immer, wenn er jemand lächerlich machen wollte.) »Na, aber vielleicht langts zum Train ...«, sagt er in ironischer Aufmunterung zu Leo, den ein stilles Weinen dauernd in seiner militärischen Haltung erschüttert. Für einen deutschen Jungen des Jahres 1914 war Train die größte Deklassierung. Dreimal geht Brosius um Silberstein herum und bewitzelt unter dem Grinsen der Front seine armselige Gestalt. Leo sah auch kläglich aus. In seinem abgeschabten Bleyleanzug saß immer der Brustlatz schief, seine dürren Beine endeten in übergroßen Füßen, die nach außen standen. Seine Schultern waren ängstlich hochgezogen, links gingen sie tief. Um seinen Hals lief ein dunkler Kranz; denn Leo wusch sich ungern außerhalb des Gesichts. Nur seine Augen und besonders sein Haar waren schön. Es war schwarz und glänzte wie dunkler Achat.

Plötzlich wackelt Brosius mit dem Kopf. Er stellt sich breit vor die Front und näselt: »Silbernes Steinchen, was soll das werden, wenn er nicht zählen kann? Was wird der Papa sagen, der doch den lieben, langen Tag nichts als Geld zählt ... Nu ... ?«

Und Herr Brosius verrenkt seine Gestalt, zieht das linke Bein hoch, mimt einen Buckel, rutscht den Zwicker weit vor auf die Nase und reibt den Zeigefinger am Daumen als zählte er in die darunter geöffnete, hohle Hand blanke Dukaten.

Aus der Front schnauben ein paar geziemende Lacher.

Herr Brosius war in der ganzen Stadt als Spaßvogel bekannt. Seine Reden, die er als Vorsitzender des Flottenvereins bei dessen Festen von sich gab, sprühten von Witz. Die Damen kamen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Daneben war Brosius auch ein guter Tierstimmenimitator. Bei den Liebhabervorstellungen des Kasinos, wo man meistens ländlich-tirolische Stücke aufführte, war seine Mitarbeit hinter der Bühne unersetzlich. Am besten gefiel er jedoch bei den Landpartien.

Da bannte seine naturgetreue Wiedergabe von Tierlauten manchen Ochsen zur Lust der Damen in eine lähmende Verwunderung. Brosius besaß die Gunst von Frl. Hainstadt, der reichsten Erbin unserer Stadt. Er war Reserveoffizier und hatte neben seiner Unschuld die unmännliche Glätte seiner Backen bei einer Verbindung in Heidelberg verloren. Mit Vornamen hieß er Heini. Der Einzige in unserer Klasse, der es wagte, Brosius' Witze nicht zu belachen, war Ferd v. K. Dafür strietzte ihn dieser, wo er nur konnte.

Vor der Front steht der kleine Leo Silberstein und heult in militärischer Haltung. Nur seine Hände bewegen sich wie aufgeregte Vögel, die nicht fliegen können. Brosius betrachtet ihn mit spöttischem Mitleid. Er freut sich an der zimperlichen Not des Knaben. Plötzlich wirft er sich in seine Amtshaltung zurück, klemmt den Zwicker in die normale Lage und diktiert: »Fünfundzwanzig Kniebeugen für Silberstein, weil er das drittemal beim Abzählen geschlafen hat.«

»Rührt euch!« ruft er uns zu, dann stellt er sich scharf vor Silberstein und beginnt im Takt: »Eins, zwei, drei ... Eins, zwei, drei ...« Die ersten fünf Kniebeugen gelingen Leo korrekt. Darnach bemerke ich, daß er zittert. Er wackelt mit den Knien. Sein Hals verliert die Spannung. Seine Fußspitzen, auf denen er in Tiefstellung hockt, bohren in kreiselnder Schwäche Löcher in den Boden.

Dr. Brosius lacht. »Hopp, hopp!«, ruft er, »kleines Silbersteinchen, zeig, daß du ein deutscher Junge bist ... !«

Leo bemüht sich verzweifelt darum. Es sieht sehr traurig aus, wie er das will, was er nicht kann.

Mit gespreizten Fingern greift er in den Sand. Sein Rücken krümmt sich. Aber Brosius boxt ihn ins Kreuz und ruft »Haltung!«

»Schuft!« murmelt Ferd v. K. neben mir.

Brosius hat sich neben den schwankenden Leo gestellt und vollführt nach eigenem Kommando eine Serie exakter Kniebeugen. Sicherlich empfand er das als den Gipfelpunkt seines Witzes. Aber keiner lacht unter uns. Die Quarta steht stramm und schweigt.

Plötzlich spüre ich, wie Ferd v. K. über das ganze Gesicht grinst. Sein schmaler Mund zieht sich fast bis an die Ohren. Durch die Nase schnaubt er Luft. Seine Wimpern sind feucht und glänzen von unterdrücktem Lachen. Er stößt mich an und nickt mit dem Kopf nach Leo hin. Der macht plötzlich Kniebeugen, als wäre er ein Stehaufmännchen aus Gummi. Neben ihm kommandiert Brosius gerade zum einundzwanzigsten Male: »Eins, zwei, drei ...« Aber Leo hüpft unverdrossen weiter.

Die Front der Quarta durchläuft ein gewaltiges Grinsen. Ich habe Mühe, vor Lachen nicht meine militärische Haltung zu verlieren. Denn kaum hatte Leo bemerkt, daß Brosius nicht mehr vor ihm stand und seine Übungen kontrollieren konnte, da konstruierte er sich schon eine Hilfsstellung. Er setzte sich einfach bei dem Kommando Drei auf seine Absätze und gewann dadurch eine Sicherheit in der Rumpfhaltung, überwand so die Schwierigkeit der Körperbalance und hatte zugleich einen guten Abstoß nach oben. Auf diese Art kann man 50 Kniebeugen machen, selbst wenn man Leo Silberstein heißt.

Brosius bemerkt nichts. Er ist viel zu verliebt in seine eigenen Übungen. Bei der fünfundzwanzigsten Kniebeuge springt er exakt hoch, klatscht in die Hände und sieht mit entsetzten Augen nach Leo, der rasch seine Hilfsstellung aufgibt und mit dem Einsatz seiner geschonten Kraft weiter auf und nieder geht. Brosius tut einen Schritt zurück und legt den flachen Handrücken vor die Augen.

»28 ...,« keucht Leo ... »29 ... 30!! ...«, dann fällt er triumphermattet um und schließt die Augen.

Brosius scheint erstarrt. Er räuspert sich dreimal und sagt »wie?« Er geht einen Halbkreis um den zusammengefallenen Leo und sagt nochmals »wie??«

Dann sagt er »Sapperlott!« und bleibt stehen. Er betrachtet Leo, der in der Ohnmacht seines Sieges auf dem Boden liegt, die Augen geschlossen, etwas Schweiß auf der Stirn. Herrn Brosius ist nicht wohl zu Mut. Vielleicht ist der Junge überanstrengt und hat einen Herzkrampf. Das kann böse Weiterungen geben, denkt der Dr. Brosius und fürchtet ein wenig für seine Karriere. Schließlich, man weiß es ja, wie solch ein harmloser Scherz mit einem jüdischen Schüler von einer gewissen Presse bereitwillig aufgegriffen und aufgebauscht wird. Nur keine Presse, denkt Herr Brosius, nur keinen Skandal. Denn wie alle Menschen seines Standes hatte er eine heillose Furcht vor der Öffentlichkeit.

Er steht da und räuspert sich. »Hm!« macht er. Dreimal macht er »Hm!« Dabei stößt er mit nervöser Handbewegung seine vorgerutschten, gestärkten Manschetten in die Ärmel zurück.

»Silberstein!« ruft er, »was hast du? Steh' auf!« Leo rührt sich nicht. Brosius' Stimme wird fast zärtlich. »Silberstein, das hast du gut gemacht. Bravo, lieber Leo! Aber jetzt steh' auf ... Sonst erkältest du dich vielleicht ...«

Leos Gesicht ist grau wie der Boden, auf dem er liegt.

»Aber um Gottes willen, so war das doch nicht gemeint ... Ich machte ja nur Scherz ... Kannst du keinen Scherz vertragen? Komm, steh auf, Silberstein ... !«

Und er faßt den armseligen Leo, den kleinen Juden und zukünftigen Trainsoldaten, unter den Rücken und will ihn hochheben. Der ist steif wie ein Stecken.

»Wasser! Holt Wasser!« Ich laufe zum Brunnen. Die anderen machen wichtige Gesichter.

»Daß mir das passieren muß!« murmelt Brosius und wackelt mit dem Kopf.

»Er hat sich überanstrengt,« sagt plötzlich Ferd v. K. »er war immer schwach auf dem Herz und bekommt oft Anfälle ...«

»Dann muß er von der Turnstunde dispensiert werden!« schreit Brosius und springt erleichtert hoch. »Woher soll ich das wissen! Mich trifft keine Schuld! Ich begreife die Eltern nicht! Zum Donnerwetter nocheinmal!«

»Sie fürchten den Spott für den Bub, wenn er sich dispensieren läßt«, sagt Ferd.

Aber er bekommt keine Antwort – denn alle starren auf Leo.

Der ist bei Brosius' lautem Fluch zusammengezuckt, seine Augen springen weit auseinander, mit taumelnden Gliedern geht er auf die Beine und, während sein Oberkörper dauernd hin und her schwankt, als stieße ihn eine unsichtbare Faust wider die Brust, schlägt er die Beine stramm, salutiert und sagt mit brüchiger Stimme: »Zu Befehl, Herr Dr. Brosius!«

Ferd v. K. ist herangesprungen und stützt ihn.

Brosius sieht auf den Jungen. Sein Gesicht beruhigt sich. Er wischt mit seinem Batisttuch die Stirn. Er schlägt sogar den Staub von den Knien und geht in gehobener Freundlichkeit auf Leo zu: »Ist dir nicht gut? Silberstein?«

Leo, dessen Gesicht käsebleich ist, unter dessen Augen dunkle Ringe hängen, Leo, der Held von dreißig Kniebeugen, der einzige Jude und Trainaspirant der Quarta, lächelt und antwortet fast heiter »Zu Befehl, nein!« Dabei taumelt er.

»Na, also« sagt Brosius, »dann ist ja alles halb so schlimm. Das nächstemal sagst du mir vorher, daß du etwas mit dem Herzen hast« ... »Übrigens«, setzt er hinzu, »rettet dich das sogar von dem Train ...«

Leo hält den Kopf starr nach vorne, schluckt zweimal, dann spricht er breit und hell in das Gesicht seines lächelnden Lehrers: »Zu Befehl, ich weiß, daß ich nichts bin.«

Brosius lacht. »Es braucht ja nicht jeder Soldat zu werden. Vielleicht wirst du ein guter Geschäftsmann. Silberstein A. G. ...« Leos Gesicht wird feuerrot. Sein Rücken krümmt sich, als habe man ihn geschlagen.

Da hebt Ferd den linken Arm: »Melde gehorsamst, der Leo zittert immer mehr.«

»Dann führt ihn nach Hause«, entscheidet Herr Dr. Brosius und winkt mich noch herbei.

Wir führen Leo an die Mauer und ziehen ihm die Sandalen aus. Ferd hält ihn, und ich helfe ihm in die Stiefel.

»Ach laßt doch«, sagt Leo, aber Ferd meint, vor uns brauche er sich nicht zu genieren, wenn ihm nicht gut sei.

Da lächelt Leo und hält sich an Ferds starkem Haar. Wir stützen ihn, und Ferd fragt: »Sollen wir dich tragen?«

»Nein«, sagt Leo, aber er schwankt.

Gerade, als wir durchs rechte Tor gehen und von der Mitte des Hofs die scharfen Kommandos des Dr. Brosius ungeschwächt die Luft durchschneiden und die Nummern der abzählenden Quarta exakt hochprasseln, fällt Leo steil vornüber und erbricht sich kurz vor der Zahl dreizehn zweimal sehr heftig über den äußeren Zaun in den Vorgarten des Direktors.

Wir tragen ihn nach Hause. Seine Mutter schenkt jedem von uns einen breiten Mazzen. Dann telephoniert sie dem Arzt.

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Ich begleite Ferd auf seinem Weg. Es ist April, und die Sonne hängt blind im Dunst. Über die schwarzen Äcker treiben die Bauern mit Flüchen und Peitschengeknall die schweren Gespanne. Ein scharfer Nord-Ost pfeift durch die Haselnußhecken, wo die ersten Kätzchen blühen. Die Luft ist süß und feucht von Mist, den die Mägde mit großen Gabeln von den dampfenden Wagen laden.

Am Pappelbach bleiben wir stehen. Ferds Schuhriemen ist geplatzt. Er knotet ihn provisorisch. Ich beiße in den Mazzen.

Von der Stadt her klingt Hämmern und das Geholper der Wagen. Dazwischen manchmal das gepolsterte Geräusch der Spinnerei. Der Himmel hängt tief und schwer. Die Wolken sind graublau und gedunsen von Regen. Auf der Kreisstraße klingeln die Fahrradkolonnen heimkehrender Arbeiter.

Ferd v. K. steht vor mir. Er hat die Hände in den Taschen seiner Lederhose und kickt mit dem rechten Fuß einen weißen Murmelstein in den Acker.

»Weißt du, was Brosius da gemacht hat, war eine Gemeinheit.« Ich nicke. Über meiner Brust zerkrümelt der Mazzen.

»Es ist natürlich leicht, den kleinen Leo lächerlich zu machen. Der wehrt sich nicht. Das weiß Brosius ganz genau. Und wenn er es auch seinem Vater erzählt, was will der schon tun? Brosius ist beim Direktor gut angeschrieben, er gilt als forscher Erzieher, mein Vater sagt, das Ministerium verfolge ihn mit Wohlwollen.« Ferd v. K. setzt sich neben mich. Sein schmaler Kopf biegt sich nach vorn. Er schlägt die Beine übereinander und pfeift vor sich hin. Ich weiß, daß er etwas Großes denkt; denn sein rechter Zeigefinger liegt an der Nase.

Plötzlich steht er auf und schneidet sich von einer Weide einen Stock. Während er damit ein paar Löwenzahnblüten köpft, deren feuchtes Gelb giftig zwischen dem jungen Gras leuchtet, sagt er: »Wir müssen den Leo beschützen ...« Dabei schlägt er nochmals ins Gras.

»Natürlich,« antworte ich, von Ferds Vorschlag begeistert, »der Leo ist auch immer so nett. Neulich ließ er mich die ganze französische Arbeit bei sich abschreiben, weil er weiß, daß ich das mit den Konjunktiven nicht begreife ...«

Ferd sieht mich streng an. »Darum handelt es sich nicht, daß er nett ist. Das sind viele, für die ich keinen Finger rühre. Aber er hat überhaupt keinen Schutz. Bei jedem Fußballspiel stellen sie ihm absichtlich das Bein und schimpfen ihn dann, wenn er stolpert. Er rennt dauernd wider. Er fällt überall hin. Er wird von jedem ausgelacht, weil keiner da ist, der ihn schützt. Er kann nicht sagen, mein Vetter dient bei der Marine, sein Vater hat keinen Orden, er hat nicht einmal einen Onkel, der Doktor ist. Sein Dach ist nicht wie unsere Dächer, überall lacht der Spott durch. Sicherlich glaubt er, das gehöre zu seinem Leben, und er ist traurig darüber, daß er dieses Leben hat. Und wenn ihn Brosius weiter so lächerlich macht, dann wird er es auch.«

Ferd v. K. macht sein altes Gesicht. Er legt die Stirn in wichtige Falten und zieht die Nasenflügel zusammen. Sein Mund ist ein scharfer Strich.

»Mein Vater hat neulich gesagt, es gehöre zu meinen Pflichten, den Schwachen zu schützen. Es sei dreckig, jemand zu schlagen, von dem man weiß, daß er sich nicht wehren kann. Brosius ist ein Schuft ...«

»Er ist eitel,« antworte ich. »Meine Kusine hat mir erzählt, er spräche nur von sich und dem Kaiser ...«

»Er ist feige«, lacht Ferd, »wie alle Leute, die laut reden.«

Dabei rührt er mit seiner Gerte in einer Pfütze.

»Aber er wird Karriere machen. Ich habe neulich gehört, er käme in den Landtag ...«

»Warum nicht«, sagt Ferd, »im Landtag sind noch viele wie er ...«

Ich bewundere Ferd. Selbst vor dem Landtag, dem Traum meines Vaters, hat er keinen Respekt. Alles, vor dem ich in meiner Familie den Hut abziehen muß oder schweigen, wenn die Erwachsenen davon reden, verachtet er. Ferd ist so männlich. Nichts imponiert ihm. Wie ich Ferd liebe.

»Ja,« rufe ich »wir zwei wollen Leo schützen!«

Er nickt. Ich lege meinen Arm um seinen Hals. Dann singen wir. An einem Tümpel, dessen Fläche mit Blasen übersät ist, die so fett sind, daß sie nicht platzen, findet Ferd den ersten Feuersalamander. Er kitzelt ihn mit seiner Weide am Kopf. Das Tier zuckt und läuft mit plumpen Füßen, die aussehen wie Hände, an den Rand des Tümpels, wo es zwischen dem Schilf verschwindet. In vollendeter Trägheit liegt eine dicke Kröte über dem Weg. Über den grauen Wulst ihres faltigen Fleischs spazieren zierliche Mücken mit opalisierenden Flügeln. Mit harten Ackerschollen werfen wir nach Raben, die in dem verfaulten Stroh einer leeren Kartoffelmiete nach weißen Engerlingen suchen.

Hinter uns liegt die Stadt. Durch die schweren Wolken bricht ein überscharfer Strahl Licht. Er tanzt auf den taubengrauen Dächern, die zu glänzen beginnen. Dann regnet es. Wir laufen ...

Das Gut, wo Ferd wohnt, liegt etwa 500 Meter von der Kreisstraße ab. Ein gelber, glatt gewalzter Weg, den Silberpappeln flankieren, führt zu ihm. Es ist schön, auf diesem Weg mit dem Rad zu fahren. Man hört kaum die Schläuche. Ferd und ich probieren hier oft Reigen.

Die Hofreite ist groß und weit. Rechts steht das Herrenhaus. Ein Bau aus dem 18. Jahrhundert mit viel Efeu. Daran schließen sich die Meierei, die Scheunen und die Ställe. Gegenüber liegt das Gesindehaus, dahinter die Baracken für die polnischen Saisonarbeiter.

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Wenige Jahre nach Bismarcks Sturz hatte der Herr v. K. den Militärdienst quittiert. Er war dabei der Parole seiner Familie gefolgt, die gegen alles, was Wilhelm II. sagte und unternahm, frondierte. Von England aus, wo der Major drei Jahre nach seinem Abschied lebte, fand er diesen Schritt berechtigt. Seine Beziehungen zum englischen Hochadel und zur Diplomatie ließen ihn die wachsende Isolierung Deutschlands bald erkennen. Er haßte Wilhelm II. als einen Verräter der altpreußischen Tradition, die sich immer kontinental erprobt hätte und sich nicht wie jetzt in kostspieligen Flotten- und Kolonialmanövern verzetteln dürfte. Sein konservativer Instinkt wandte sich gegen die laute, aufdringliche Art des »neuen Kurses«, der seiner Meinung nach das wahre Bild des Deutschen in der Welt verfälschte. In seinen Briefen spielte er stets die Opernherrlichkeit des Kaisers gegen die sol da tische Einfachheit seines Großvaters und die weltmännische Liberalität seines Vaters aus. Er war überzeugt, daß eine deutsch-britische Verständigung, die allerdings auf der Basis einer Anerkennung der englischen Flotten- und Kolonialsuprematie zu erfolgen hätte, das Gleichgewicht Europas auf Jahrhunderte garantiere. Eine Denkschrift, die er über diesen Gedankengang an das auswärtige Amt geschickt hatte, worin er übrigens auch die innerpolitischen Gefahren für die Monarchie bei Ausbruch eines Krieges gegen eine von England geführte Koalition zu erwägen gab, hatte der Kaiser mit Randglossen versehen, über deren Inhalt und Ton der Major erschrak und es endgültig vorzog, als Privatmann zu leben.

In England hatte der Major seine Frau gefunden. Sie entstammte dem Hochadel, ihr Vater war einer der größten Bewunderer Bismarcks. Mit ihr reiste der Major nach Indien. Sein Sohn Ferd wurde im Majestic-Hotel in Kalkutta geboren. Drei Jahre lebte Herr v. K. als Globetrotter und Jäger. Bei einer Expedition ins Himalaja-Gebiet starb seine Frau am gelben Fieber. Der Major erlöste seinen Sohn aus der puritanischen Obhut einer englischen Bonne und fuhr mit ihm nach Japan. Dort lernte er nach den schweigsamen Monaten einer korrekten Trauer die Tochter eines französischen Militärattachés kennen. Er verfiel ihrem gaskogneschen Temperament und lebte mit ihr ein halbes Jahr in einer Gartenstadt der japanischen Provinz. Der Major zählte diese Monate zu den klarsten seines Lebens.

Ferd hatte inzwischen Sprechen und Laufen gelernt – er nannte Jaqueline Mama, da sie ihn immer küßte, wenn er in den Gärten mit den Blumen spielte. Durch eine Intervention des Attachés, der bei aller Schätzung des Majors einen Skandal aus politischen Gründen, der ihm in seiner Karriere schaden mußte, voraussah, wurde das Verhältnis gesprengt. Jaqueline war Französin und Tochter genug, um sich den Gründen ihres Vaters zu beugen. Sie schenkte dem Major einen Abschied, der drei Tage und drei Nächte dauerte. Der Major hatte die Kraft, ihn ohne Sentimentalität zu genießen. Wenige Tage, nachdem Jaqueline zu den Notwendigkeiten ihres Vaters zurückgekehrt war, fand er in einer deutschen Buchhandlung in Tokio einen Band Jean Paul. Nach seiner Lektüre beschloß der Major, heimzufahren.

Den Geist Wilhelms II. hatte er vergessen.

Er nahm den Landweg über Rußland. Als Offizier interessierte ihn die ostsibirische Bahn. In Wladiwostok bekam der Major Typhus. Seine Delirien durchtanzte der Name Jaqueline. Ferd lebte 6 Wochen unter der schweigenden Obhut einer katholischen Schwester.

Sie fuhren durch die flachen Tage Sibiriens. Ferd weinte, als er die Steppen sah. Sein Vater tröstete ihn, indem er ihm von Deutschland erzählte.

In Moskau führte der Major seinen Sohn vor den Kreml. Dort wurden gerade die Glocken mit Hämmern angeschlagen. Ferd hat diese Glocken nie vergessen. Er nannte sie später die Ochsen Gottes ...

Als sie die deutsche Grenze überschritten, war Ferd vier Jahre alt. Er konnte seinen Vater auf deutsch, englisch und französisch liebkosen.

Als der Major in Berlin eintraf, erkannte er, daß er einer Romantik zum Opfer gefallen war. Jenes Deutschland, dessen Geruch ihm in Tokio vor einem Buch Jean Pauls das Herz betäubt hatte, existierte nicht mehr. Es wurde überall verleugnet. Deutschland lag nicht mehr unter dem milden Licht seiner fruchtbaren, geduldigen Sommer, die Gedanken, die es dachte, kamen nicht mehr auf den leisen Sohlen eines großen, weltgeborgenen Wissens – sie trompeteten, sie schrien, gebärdeten sich absolut – alles war laut, überschwenglich und ohne Kritik. In gleichem Schritt und Tritt glaubten alle jenem Platz an der Sonne entgegenzumarschieren, den ihr Kaiser mit schönen Worten polsterte. Zu dem Proletariat hatte der Major keine Beziehung, auch nicht zu jenen Köpfen, die in schweigender Opposition im Lande lebten. Er sah nur die Fassade eines größenwahnsinnig gewordenen Bürgertums und eines byzantinischen Adels. Er sah Deutschland mit den Augen der Welt, aus der er kam. In den Familien, Gesellschaften, Versammlungen, in den Straßen, Zeitungen, Eisenbahncoupés, in den Reden des Parlaments – überall tönte es dem Major entgegen: unsere Armee, unsere Industrie, unsere Wissenschaft, unsere Kunst, unsere Frauen, unser Charakter, unsere Kinder, unser Gemüt, – alles was wir haben, ist das Beste auf der Welt!

Den Major erregte dieser Refrain so stark, daß er sich zu einem hemmungslosen Aufsatz über das Flotten- und Kolonialproblem hinreißen ließ. Er erschien in der bekannten liberalen Zeitung Süddeutschlands mit einer einschränkenden Notiz der Redaktion. Der Major verfocht dort seine These eines radikalen Verzichts auf eine großstreberische Überseepolitik zugunsten einer Verständigung mit England, er geißelte die maßlose Selbstüberschätzung eines Regimes, das es anscheinend vollkommen vergessen hätte, wessen staatsmännischer Arbeit es seine Großmachtgeltung verdanke, er warnte vor dem politischen Laster einer Unterschätzung des Gegners, er schrieb von dem Briefmarkenwert der Kolonien und nannte die Flottenpolitik »Das Riesenspielzeug eines kleinen Kindes«. Dieser Aufsatz bewirkte die Ausschließung des Majors aus dem Adelsklub und seine gesellschaftliche Ächtung. Selbst die liberale Zeitung schrieb ihm, daß er in seiner menschlich begreiflichen Überreizung wohl doch etwas zu weit gegangen wäre.

Von diesem Tage an widmete sich der Major nur noch der Bewirtschaftung seines Guts und der Erziehung seines Sohnes. Er verzichtete darauf, einem Volk die Wahrheit zu sagen, das die Erfolge seiner günstig gelegenen Industrie mit seinem Schicksal verwechselte.

Er flüchtete in die Landschaft. Er wurde Bauer. Er lehnte als solcher jede Verantwortung ab.

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Ich lernte Ferd kennen, als er sechs Jahre alt war. Er nahm in unserer Schule eine Sonderstellung ein. Sein Intellekt, durch die Reisen und den Umgang mit seinem Vater frühzeitig geweckt, sicherte ihm eine Überlegenheit, die seinem schweigsamen Wesen gut anstand. In dem Denkkreis unserer Klasse gab es nichts, was Ferd nicht kannte. Es imponierte uns gewaltig, wenn er auf seinem schmalen Schulatlas mit rotem Stift die Routen seiner Reisen einzeichnete. Um den Jungen lagerte unsere Phantasie alles, was wir uns von fremden Ländern einbildeten. Wir sahen ihn in Abenteuern, die wir in unseren Spielen mühsam rekonstruierten, und wenn wir in der Geographiestunde die nüchternen Berichte von fremden Küsten, deren Staatszugehörigkeit und »Haupterwerbszweige« auswendig lernen mußten, waren es Ferds Augen, die alles in sich trugen, was wir hinter den Buchstaben träumten. Er kannte die Welt. Er kannte das Wunder. Selbst die Lehrer fragten ihn oft nach dem, was er gesehen. Es waren Fragen, die nicht zum Pensum gehörten.

Ferd konnte alle Fremdworte sofort richtig aussprechen. Er wurde niemals rot vor einem Namen.

Nur in der Religionsstunde versagte er. Denn sein Vater hatte versäumt, ihm die empirische Voraussetzungslosigkeit biblischer Ereignisse rechtzeitig beizubringen. Es geschah sehr oft, daß Ferd sagte: »Das glaube ich nicht.« Etwa das Wunder der Hochzeit zu Kana oder das Wort des Herrn zu Petrus: »Stecke dein Schwert in die Scheide ...« Als er an einem sonnenschweren Nachmittag den asthmatischen Religionslehrer bei dem Auswendiglernen der Passion, während wir alle in müder Langeweile den Bildern der Heiligen Schnurrbärte anmalten, fragte: »Ja, warum ist Jesus denn in den Himmel gefahren, als er auferstanden war? Warum blieb er nicht da?! Die hätten sich doch alle gefreut, wenn er da geblieben wäre ...«, bekam er einen Tadel ins Klassenbuch wegen vorlauten Benehmens.

Er kompensierte diese Unfähigkeit, Dinge zu glauben, nur weil sie der Religionslehrer so erzählte, durch die Turnstunde. Hier war Ferd unser Ideal. Er beherrschte jede Übung. Mit Kraft verband er Gewandtheit. Sein Vater verbesserte diese schulkorrekte Turnerei durch eine konsequente sportliche Erziehung. Jeden Morgen um 7 Uhr unterwies er Ferd auf der Scheunentenne im sportgerechten Boxen. Als Punchingball figurierte ein Sack, den der Major mit Zeitungsberichten von Kaiserreden vollgestopft hatte. Für die Schläge des Jungen war er schwer genug.

Während wir in den dunklen Stuben unserer Eltern mit Bleisoldaten den Balkankrieg nachspielten, Briefmarken klebten und schwer bestraft wurden, wenn wir bei frischem Wetter ohne Schal oder Wams auf die Straße gingen, ritt der Major abends mit seinem Sohn über die feuchten Wiesen. Ferd schlief auf einer harten Matratze, im Sommer badete er oft, unter allgemeiner Empörung des Städtchens, in dem Brunnentrog vor dem Herrenhaus nackt. Wir bekamen immer einen roten Kopf, wenn wir dabei waren. Heimlich beobachteten wir Ferd, dessen brauner Körper in der starken Luft der Äcker und Wiesen stand, als sei er aus ihr geboren. Einmal ist ein kleiner Junge, dem es von seinen Eltern verboten war, sich abends beim Schlafengehen bei Licht auszuziehen, an Ferd herangesprungen, als er aus dem Trog herausstieg und ich ihm mit zitternden Händen und abgewandtem Kopf das Frottiertuch hielt, und hat ihn in den Rücken gebissen. Ferd, der stark blutete, hat ihn mächtig verhauen, der Junge – es war der Sohn des Pfarrers S. – rieb dauernd seinen Kopf an Ferds Beinen und küßte unter Ohrfeigen mit sonderbar beglücktem Gesicht dessen Hüfte. Ferd schüttelte ihn ab, der kleine S. lief ins Feld und onanierte dort hinter einer Pappel, wo ihn polnische Landarbeiterinnen kichernd beobachteten. Sie stellten sich breit vor ihn und riefen: »gut ... gut ...« Dabei deuteten sie auf ihre Schöße. Der kleine S. weinte und lief nach Hause.

Ferd war wegen seiner Schläge in der ganzen Schule berühmt. Selbst die aus der oberen Klasse respektierten ihn. Jede Meinungsverschiedenheit trug er sportlich korrekt aus. Er kam immer in Wut, wenn nicht fair gekämpft wurde. Wenn jemand sich bei einer Rauferei eines heimtückischen Handgriffs bediente – den Gegner etwa trat, ihm ein Bein stellte oder in den Bauch schlug – forderte ihn Ferd auf drei Runden und schlug ihn nieder, um die Ehre der Klasse wieder herzustellen.

Ferd kannte keine Feinde, nur Kampfpartner. Niemandem, den er besiegt hatte, trug er etwas nach. Sein Vater erzog ihn streng in der ritterlichen Tradition des Offiziersadels der vorbürgerlichen Epoche.

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Die Stimmung in unserer Stadt war scharf gegen den Major. Zuerst war es aufgefallen, daß er nie zu einer Kaisersgeburtstagfeier erschien und auch jede Einladung dazu brüsk ablehnte, danach hatte man von seinem Aufsatz über das Kolonialproblem Wind bekommen, auch die Art seiner Erziehungsmethode schien vielen Eltern suspekt. Aus gewissen Andeutungen des Landrats, der über den Major Akten besaß, schloß man auf seine politische Verdächtigkeit, die noch durch die Tatsache verstärkt wurde, daß der Major oft mit seinem Sohn Englisch sprach. In den Familien hieß er allgemein der »rote Major«, obwohl man dem Herrn v. K. alles andere als eine Vorliebe für das Proletariat nachsagen konnte. Seine Fronde gegen den herrschenden Kurs entsprang nur seiner Liebe für eine Vergangenheit, die er heute bedroht sah. Er war konservativ, allerdings voller Kultur. Dies allein schon mußte ihn zu einem entschiedenen Gegner Wilhelms II. machen, der sich auf das halbgebildete Bürgertum und die weltfremde Ideologie einiger Professoren stützte und einem Volk eine Weltherrschaft versprach, das nicht einmal Geschmack genug hatte, sich gut zu kleiden und mit Genuß zu essen. »Was wollen diese Leute«, sagte der Major, »mit einer Welt, selbst wenn sie sie politisch bekämen, anfangen? Auch in Kalkutta würden sie Rippchen essen ...«

Soweit hatte sich der Zorn des Majors über den neuen Kurs sublimiert, daß er seine politischen Bedenken und Sorgen schon ästhetisch umkleiden konnte. Niemand wird behaupten, daß dieser Mann ein Revolutionär war ...

In unserer Stadt war er als solcher verschrien. Das Wort der »Rote Major« stammte von Brosius. Geflissentlich verbreitete er in den Salons eines ihm geistesverwandten Beamtentums Geschichten aus dem Privatleben des Majors; darunter spielte natürlich das Verhältnis mit der Tochter des französischen Militärattachés die Hauptrolle. In den einflußreichen Kreisen von dem Niveau des Dr. Brosius wurde französisch mit degeneriert, syphilitisch und pervers gleichgesetzt.

Unter der Maske einer moralischen Entrüstung gab der Dr. Brosius Details dieser skandalösen Verbindung. Er verdankte sie einem Couleurbruder, der in Tokio als Legationssekretär die deutschen Interessen vertrat.

Die Mütter kreischten auf, wenn Brosius seine Berichte lüstern-verschämt ausmalte. Sie eilten zu ihren Söhnen und verboten ihnen jeden Verkehr mit dem Sohn des roten Majors. Dabei ließen sie durchblicken, man wisse nicht, ob dieser Ferd vielleicht die Frucht einer sträflichen Verbindung sei. Sie nannten das, er hat keinen ehrlichen Namen.

Die Söhne beugten sich dieser Beweisführung ihrer Eltern. Sie waren froh, Ferds sportlicher Überlegenheit, die sie ungern anerkennen mußten, die eines moralischen Besser-Seins entgegensetzen zu können. Bald hieß Ferd ein Bankert – der gleiche Name, mit dem wir die Volksschüler riefen.

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Ferd nahm diesen Boykott gelassen auf. Allein stand er in den Pausen auf dem Schulhof und aß sein Brot, während sich die anderen in Gruppen unterhielten. Es kümmerte ihn wenig, wenn sie hinter seinem Rücken tuschelten und ihm manchmal das Wort Bankert oder Soz nachriefen.

Sein Vater hatte ihn über den Grund dieser Isolierung aufgeklärt; er trug sie wie eine Auszeichnung.

Als einziger der Klasse gelang es mir, den Boykott zu durchbrechen. Ich konnte das, weil mein Vater sich in allen Erziehungsfragen auf meine Mutter verließ und sich nur um sein Amt und seine Briefmarken kümmerte. Außerdem war ihm Brosius wegen seiner Geschwätzigkeit verhaßt. Brosius, der gern Zoten erzählte, wenn er betrunken war, widersprach in allem den streng christlichen Grundsätzen, nach denen mein Vater erzogen war. Zwar verurteilte er alles, was er über den Major hörte, als unmoralisch – aber er war gerecht genug, Herrn Brosius als Richter anzuzweifeln.

Meine Mutter liebte Ferd. Sie beobachtete ihn oft bei unseren Spielen, wenn er einen Streit schlichtete oder mit eleganten Bewegungen den Nußbaum hochkletterte. Sie freute sich an ihm, denn er gab klare Antworten und wurde niemals rot, wenn ein Erwachsener ihn ansprach. Wenn er sich verbeugte und den Hut abnahm, so war das keine andressierte Höflichkeit wie bei anderen Jungen ... es wirkte frei und gewinnend. Sie sprach oft mit ihm, aber nicht in dem Ton einer freundlichen Ironie, wie es sonst Erwachsene mit Kindern, die nicht ihre eigenen sind, zu tun pflegen, sondern ernsthaft und interessiert. Selbst mein Vater sagte, als der Boykott einsetzte, der wenige Tage nach Kaisersgeburtstag an dem akademischen Stammtisch beschlossen worden war: »Der Junge ist eine gute Rasse, schade, daß sein Vater so quere Gedanken hat. Warum behält er sie nicht für sich?«

»Es ist nicht jeder so wie du ...«, sagte meine Mutter und sah meinen Vater scharf an.

»Bitte!« rief mein Vater, »dieser Vergleich geht zu weit. Zwar bin ich auch mit vielen Dingen dieser Zeit nicht einverstanden, aber ich schweige. Ich gebe dem Kaiser, was des Kaisers ist. Ich tue meine Pflicht! Ich bin Beamter! Mag die Welt treiben, was sie will ...« Damit ging er hinaus in sein Zimmer, wo er sich unter der grünen Lampe in seine Briefmarkensammlung vertiefte.

Ich saß ängstlich am Tisch und knotete an den Fransen der Decke. Wie immer hatte mein Vater die Entscheidung meiner Mutter überlassen. Er vertraute ihrem Instinkt in allen Fragen des »praktischen Lebens«, mit dem er möglichst wenig zu tun haben wollte.

Das ging bis zum Schlips, bei dessen korrekter Knotung er meiner Mutter auch rettungslos ausgeliefert war.

Wollte ihm diese über Fragen des Haushalts, der Bewirtschaftung des Gartens oder meiner Erziehung Vorschläge machen, sagte er stets: »Prinzipiell bin ich damit einverstanden, meine Liebe, tu was du willst.«

Dann ging er wieder in ernster Pflichttreue zu seinem Beruf und abends in stiller Heiterkeit zu seinen Liebhabereien. Das waren Briefmarken und Kommentare zu Reichsgerichtsentscheidungen.

Ich spähte nach meiner Mutter, die auf eine Decke rote und blaue Blumen zu sticken begann. Sie lächelte dabei, aber ich wußte nicht, ob es meinem Vater galt oder mir.

»Nun,« sagte sie plötzlich, ohne hochzublicken, »wie ist das mit Ferd. Willst du aufhören mit ihm zu spielen?«

»Nein!«, rief ich, »nein! Ich will bei ihm bleiben ...«

»So, du willst bei ihm bleiben,« wiederholte meine Mutter, »aber warum willst du bei ihm bleiben?«

»Weil ich ihn so furchtbar gern habe ... Und jetzt wo er allein ist, noch viel mehr.«

Da sah meine Mutter auf.

Ich wurde sehr rot und wußte nicht, wohin ich meine Hände legen sollte.

»Woher weißt du, daß du Ferd so gern hast?«

Ich war in einer verzweifelten Lage.

»Ach, Mutter ...«, sagte ich.

Sie aber saß vor mir, starr das Gesicht, die Augen von einer durchdringenden Bläue.

»Ich könnte ihn ...«

»Was könntest du ihn ... ? Sag‘ mir nur alles ...«

»Ich könnte ihn küssen ... !« Und schon lag ich vor ihr und suchte die verzeihende Wärme ihres Schoßes. Sie hielt mich sehr fest, als ich anfing zu weinen.

»Hast du ihn schon geküßt?«

»Nein, Mutter, nein, das würde er nie dulden!«

»Aber du hast ihn sehr lieb?«

»Ja, Mutter, beinahe wie dich ...«

Ich spürte sie lächeln.

Sie nahm ihre Stickerei und warf sie aufs Sofa.

»Wenn du ihn lieb hast, dann sollst du bei ihm bleiben.«

»Mutter!« rief ich und küßte ihre Hände.

»Will es dir jemand verbieten, so sagst du ihm, daß ich es dir erlaubt habe. Außerdem verständest du nichts von dem, was sie Ferds Vater vorwerfen. Das seien Sachen, die nur die Erwachsenen angingen, sie sollten sie auch gefälligst untereinander ausmachen. Du seist ein Bub und Ferd dein Freund.«

»Ja, aber«, sagte ich, in meinem Kopf sofort die Konsequenzen überschlagend, »der Haugwitz, dem Landrat sein Sohn, hat doch gedroht, er würde jeden, der trotzdem mit Ferd ginge, verhauen.«

»Das läßt er schon bleiben, wenn Ferd bei dir ist ...« Ich sprang hoch. Wie recht sie wieder hatte. Natürlich, was kann mir passieren, wenn Ferd mich schützt.

»Oh,« rief ich, »ich habe keine Angst! Sie sollen nur kommen! Ferd ist der Stärkste, der Schönste, der Größte von allen!«

»Ein kluger und gediegener Junge ist Ferd v. K.«, lächelte meine Mutter, »du kannst viel von ihm lernen ...«

»Ich will werden wie er! Ferd ist ein Held!!«

Dabei schlug ich in begeisterter Spreizung die Arme auseinander und traf mit der linken Hand eine halbgefüllte Teetasse, die mit dumpfem Knall auf dem Boden zersprang.

Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich. In ihrem Rahmen stand mein Vater. Hilflos in meiner Begeisterung, mit steif herabhängenden Armen starrte ich auf die Teelache.

Dumpf hörte ich die Stimme meines Vaters: »Du hast wieder den Parkettboden beschmutzt!«

»Ich war so begeistert ...«, stotterte ich.

Er ging auf mich zu. Ich wußte, darauf steht eine Ohrfeige. Der Parkettboden war der Stolz meines Vaters. Denn es gab sonst kein Parkett in unserer Stadt. Er hatte mir schon viele Ohrfeigen eingebracht.

An diesem Abend ereignete es sich, daß meine Mutter sich neben meinen Vater stellte, seine zornige Hand nahm und leise zu ihm sagte: »Laß ihn. Er war wirklich begeistert. Denk dir, er will ein Held werden! Dabei wird mehr als eine Teetasse zerbrechen! Und das auf dem Boden ist nicht schlimm. Ich putze es nachher wieder auf. Samstag werden sowieso alle Böden gescheuert. Dein Sohn aber scheint ein Temperament geerbt zu haben – mütterlicherseits ...« Und sie verbeugte sich vor ihm, lächelnd, aber ohne Bosheit. Kopfschüttelnd ging mein Vater in sein Zimmer zurück. »Macht, was ihr wollt!« hörte ich ihn sagen.

Ich lief zu meiner Mutter und wollte sie umarmen.

Sie aber kniete längst auf dem Boden, sammelte die Scherben und wischte mit einem Tuch den Tee auf.

»Du gehst jetzt ins Bett,« sagte sie, »und morgen früh lädst du den Ferd für Sonntag zum Kaffee ein. Es gibt Apfelstrudel.«

Ich konnte nicht sprechen. Leise auf den Fußspitzen schlich ich neben sie, kniete und küßte sie auf die Backe, dort, wo ihr Haar anfing.

In dieser Nacht war ich sehr glücklich und konnte lange nicht schlafen.

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Am nächsten Morgen in der großen Pause ging ich zu Ferd, der allein am nördlichen Zaun stand und sagte ihm: »Ferd, ich will dein Freund bleiben.« »So ...«, antwortete er, »warum?« Ich wurde rot. »Ich weiß es nicht, aber am Sonntag sollst du zu uns zum Kaffee kommen. Es gibt Apfelstrudel ...« Da lachte Ferd und legte seinen Arm um meinen Hals. Wir gingen durch den Hof. Um uns flüsterten die Gruppen. Es war ein erhabenes Gefühl.

Als es läutete und alle Schüler sich zum Einmarsch aufstellten, faßte ich Ferd am Ärmel, zog ihn an mich und flüsterte in sein Ohr: »Ich gebe dir alles, was du willst – selbst mein Leben!«

(Das mit dem Leben hatte ich in einem kleinen Jugendroman gelesen, wo Freundschaften immer so abgeschlossen wurden.)

Ferd lachte. »Behalt es für dich. Aber lehre mich radfahren!« Ich war beglückt. Radfahren war das einzige, was ich konnte und er noch nicht.

Acht Tage später konnte er es.

Seitdem waren wir täglich zusammen. Ich war stolz auf diese Freundschaft – denn sie stand gegen die Stadt, gegen das Gebot der Väter, gegen alles, was sich gehörte, wir waren gemieden, aber gefürchtet, wir beherrschten die Schulhöfe und Spielplätze, bald konnte auch ich boxen, jeder haßte uns, aber keiner konnte uns etwas tun. Auf meinen Vorschlag hin hatten wir noch die Volksschüler organisiert, die sehr stark, aber seither ohne Führung gewesen waren. Unter Ferds Führung schlugen wir dreimal im offenen Feld die Partei der »vornehmen Buben«, seitdem wurden die Volksschüler nicht mehr Bankerte gerufen, wir beherrschten die Straßen und hatten bald eine Fußballmannschaft gebildet, die unüberwindlich war. Die Volksschüler liebten Ferd sehr. Sie nannten ihn Kapitän und warfen die Mützen hoch, wenn er eine Ansprache hielt. Wir trugen kleine Stecken als Waffen, und als Abzeichen einen roten Tuchstreif am Arm. Wir hießen die »rote Garde«. Ich war in dieser Garde Trompeter.

Schön war diese Freundschaft. Denn jeder sprach von ihr.

Man hielt sie für einen Skandal.

Brosius nannte sie sozialistisch zersetzt.

Aber wir waren unüberwindlich.

Deshalb war es kein leeres Gerede, wenn Ferd beschlossen hatte, Leo zu schützen. Er konnte es. Die »rote Garde« war ihm ergeben.

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In diesen Tagen aber beschäftigte mich unausgesetzt ein Gedanke, der mit den Beziehungen unter uns Buben nichts zu tun hatte. Er galt dem, was alle Erwachsenen vor uns zu verbergen trachteten. Ich hatte oft bemerkt, daß sie ihre Gespräche jäh und wie ertappt abbrachen, wenn sie mich oder ein anderes Kind in ihrer Nähe sahen, daß ihre Worte, wenn ich das Zimmer verlassen mußte, sofort umschlugen, Farbe und Ton änderten, daß es Dinge zwischen ihnen gab, über die sie nur flüsterten oder nur mit den Augen zwinkerten, daß ihr Leben eine Ecke hatte, um die wir nicht sehen durften. Zwar hatte ich in der Schule auf Grund unbeholfener Zeichnungen älterer Jungen eine Ahnung von der Existenz verborgener Beziehungen bekommen, aber sie waren ungenau und in der Art, wie man sie erzählte, häßlich. Die Mädchen, die ich sah, verwirrten mich; denn ich wußte, daß sie anders sind als ich – wozu aber, das wußte ich nicht. Aktuell wurde diese Überlegung erst durch meinen Aufenthalt auf dem Gut. Ich beobachtete dort oft die Tiere und konnte nicht glauben, daß sie nur spielten, wie meine Mutter behauptete, wenn ich ihr erzählte, daß sie aufeinandersprangen. Da mir Ferd sehr kühl und sachverständig den Unterschied zwischen ihren Geschlechtern klar gemacht hatte und ich diesen auch bei den Menschen bestätigt fand, interessierte mich die Frage, ob und wie diese spielten, sehr. »Spielen« nannte ich es, denn das Geheimnis wäre noch quälender geworden, wenn ich kein Wort dafür gefunden hätte. Zuerst war es reine Neugier, ein kühles Wissenwollen des Sachverhaltes. Erregung, Angst und Scham traten erst hinzu, als mein Vater nach einem schüchternen Aufklärungsversuch sagte, dies zu fragen, sei unanständig.

Ferd stand diesen Dingen sehr kühl gegenüber. Aus Mädchen machte er sich nichts, und bei den Tieren war ihm alles selbstverständlich.

DAS GEHEIMNIS

Wir laufen auf das Gut zu. Es liegt breit und wuchtig in der dumpfen Spannung seiner schwarzen Äcker. Aus der Meierei steigt Rauch. Grün und feucht leuchten die Fensterläden des Herrenhauses. Zwischen dem Efeu glänzen die nassen Spinnengewebe. Hinter dem Nutzgarten auf der Bleiche taumeln auf einer Leine Hemden, vom Wind zu Figuren gebläht, die komisch sind, weil ihnen die Köpfe fehlen.

In den Ställen brüllen die Kühe. Wir hören die Pferde an den Leinen zerren. Von den Äckern tönt der Gesang der polnischen Arbeiterinnen. Träg und dunkel wie das Haar dieser Mädchen. Es ist vier Uhr und Kaffeepause.

In kegelförmigen Schwaden tanzen die ersten Schnaken über der Mistkaute, wo ein verrasster Hund nach Mäusen wühlt. Unter dem vorspringenden Dach der großen Scheuer springt ein Hahn eine blaugraue Henne an, die geduldig auf dem Boden weiterpickt.

Ich stoße Ferd.

»Siehst du den Hahn?«

Ferd wendet sich um. Ich bin sehr erregt und wage nicht hinzusehen. Ich dränge mich an ihn und flüstere: »Da ist es wieder, das Geheimnis!«

»Welches Geheimnis?«

»Dort!« deute ich und werde rot, denn es ist das erstemal, daß ich mit Ferd darüber spreche.

»Das ist doch kein Geheimnis!« lacht Ferd. »Das sehe ich jeden Tag. Wozu ist denn der Hahn da?«

»Ach Ferd« sage ich, »nicht wegen des Hahns – aber das hängt doch alles zusammen, bei den Hühnern, den Enten, den Pferden – den Menschen ...«

»Ja,« meint Ferd sehr gleichgültig, »das hängt wohl alles zusammen. Zwar weiß ich nicht genau, wie es bei den Menschen ist, aber es wird ähnlich sein ...« Er geht weiter und ist gar nicht erregt.

Ich halte ihn fest.

»Ferd!« rufe ich, »wann werden wir wissen, wie es bei den Menschen ist.«

Ferd bleibt stehen und denkt nach.

Er sieht plötzlich sehr alt aus.

»Ich glaube, das werden wir nie wissen.«

»Warum?«

»Weil es verboten ist, darüber zu sprechen.«

»Aber sie tun es doch!«

»Natürlich tun sie es und du wirst es auch einmal tun... Aber du wirst es niemand sagen, wie alle. Neulich hab‘ ich gesehen, wie unser Großknecht die Kathinka, weißt du, das blonde Mädchen aus der Meierei, um den Leib gefaßt hat, kurz nach Feierabend, und dann sind sie ins Gesindehaus geschlichen, als hätten sie etwas gestohlen, ich hinter her, und als sie im Großknecht seinem Zimmer waren, da hat er die Tür zugeriegelt. Ich habe gehorcht. Erst haben sie leise miteinander gesprochen und die Kathinka hat gelacht, dann war es plötzlich als fiele etwas um, ich hörte den Großknecht schnaufen als trüge er einen Maltersack, es stöhnte und lachte, aber alles war so mühselig – und dann hörte ich die Kathinka weinen. Weißt du, so wie der Wind manchmal ist, wenn er den Regen wider das Fenster treibt. – – – Der Großknecht ist nachher heruntergegangen und hat furchtbar auf die Kühe losgegeschlagen, weil sie bei der Fütterung gebrüllt haben. Und die Kathinka hat ihn tagelang nicht mehr angesehen ...«

»Ich glaube, die Menschen fürchten sich dabei.«

»Meinst du, es wäre etwas Schlimmes?«

»Vielleicht,« sagt Ferd, »warum würden sie es sonst verbergen?«

»Aber ich will es wissen!«, rufe ich, »und wenn es das Schlimmste ist!«

»Ich nicht«, sagt Ferd, »ich käme mir vor wie ein Hehler ...«

»Aber wir müssen es doch wissen, wenn wir ein Mädchen haben!«

»Ich will kein Mädchen!«

Das Wort sitzt wie ein scharfer Schnitt in der glasigen Luft.

Ferd steht unbeweglich. Sein Mund ist hochgezogen und sehr stolz.

»Ferd,« rufe ich, »wie kannst du das sagen. Ein Mädchen ist doch das Schönste, was es gibt ...«

Da lacht Ferd gräßlich los, sein Körper schüttelt sich, als treibe ihn ein innerer Krampf, er steht auf der roten Sandsteintreppe zum Herrenhaus, sein Gesicht ist unbeherrscht, er hat rote Flecken an den Schläfen, das Haar fällt ihm in die Stirn, seine schottische Kravatte ist verrutscht, er lacht, er ist außer sich vor Lachen.

»Hast du schon einmal gerochen, wie ein Mädchen riecht?«

»Nein,« sage ich, »riechen Mädchen?«

»Ja,« ruft er, »ich habe es gerochen, neulich als meine Kusine da war. Die schlief in meinem Zimmer, ich wurde ausquartiert. Am Morgen wollte ich mir einen Bleistift holen. Für die Zeichenstunde. Als ich anklopfte, ist sie fort. Ich gehe hinein und will mir den Bleistift nehmen. Aber als ich drinnen bin, sehe ich das Bett, ganz zerwühlt, und die Luft ist so dick und sonderbar süß, und ich hebe das Deckbett hoch, da schlägt es mir ins Gesicht, sauer und bitter und süß, alles durcheinander, und ach, ich breche mich bald, so eng und würgend war diese Luft, nicht schlecht, aber dick und fest, ich kann das nicht richtig sagen, ich hatte so etwas noch nie gerochen, und als ich auf den Boden sah, lag ein Tuch dort, und als ich das Tuch aufhebe, liegen lauter weiße Bauschen darunter, die waren dick voller Blut ...«

»Blut?« rufe ich begeistert, »hatte sie jemand überfallen und gestochen?«

»Nein, das war anderes Blut. Böses Blut, weißt du, so ein Blut, wie das Wasser im Sumpf ist. Und es roch wie fauler Kork ...«

Obwohl ich ihn nicht verstehe, schüttele ich mich.

»Ich bin fortgelaufen und habe den Bleistift vergessen. Auf dem Gang begegnete mir die Kusine. Sie sah aus wie alle Mädchen, freundlich und glatt. Ich hätte sie schlagen können, und als sie mich streicheln wollte, spuckte ich ihr in die Hand.

In der Zeichenstunde bekam ich einen Eintrag ins Klassenbuch, aber ich konnte doch nicht sagen, warum ich meinen Bleistift vergessen hatte. Am Mittag habe ich alles meinem Vater erzählt. Der hat mir gesagt, das sei etwas ganz Natürliches. Das hätte jedes Mädchen über sechzehn Jahren einmal im Monat fünf Tage lang ...«

»Deswegen will ich kein Mädchen!« sagt Ferd und springt zu mir herunter, »verstehst du das?«

Er legt seinen Arm um meine Schulter.

»Du sollst auch niemals ein Mädchen küssen! Schwörst du es mir?!«

Ich habe Angst vor ihm. Ich denke an meine Mutter und möchte alles nicht wissen, was mir Ferd gesagt hat.