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Schuld und Schulden

Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945

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I. Die Anfänge der Entschädigungsdiskussion
bis zum Kriegsende

Auch die Diskussion der Entschädigung und Rehabilitierung für NS-Verfolgte kannte keine Stunde Null, denn entsprechende Vorschläge entstanden schon lange vor dem Ende des NS-Regimes. Dazu gehörten zunächst deutsche Überlegungen im innerdeutschen Widerstand und im Exil, aber auch in der sowjetischen Gefangenschaft. Einen weiteren wichtigen Diskussionsstrang bildeten jüdische Entschädigungspläne. Und schließlich schlossen auch die alliierten Nachkriegsplanungen zum Teil Überlegungen zur Entschädigung von NS-Verfolgten ein. Doch existierte dabei weder eine einheitliche Sicht auf die Verfolgungsvorgänge, noch ergaben sich daraus zwangsläufige Antworten. Was führte also dazu, dass in unterschiedlichsten, über den ganzen Erdball verstreuten Milieus eine Diskussion über die künftige Entschädigung und Rehabilitierung von NS-Verfolgten aufkam? Welche Perspektive auf die NS-Verfolgung war damit jeweils verbunden? Und welche Vorstellungen von der Zukunft nach dem Ende des NS-Regimes ergaben sich daraus?

1. Wiedergutmachung gegen Kollektivschuld:
Deutsche Konzeptionen in Widerstand,
Exil und Gefangenschaft

Aus heutiger Sicht erscheint es als selbstverständlich, dass die Wiedergutmachung vor allem eine Reaktion auf die Verfolgung der Juden war. Tatsächlich entstanden die ersten diesbezüglichen Überlegungen aber aus dem Kontext der politischen Verfolgung im »Dritten Reich«. So verfasste eine Widerstandsgruppe um den ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten Hermann Brill bereits Ende 1936 – wenige Monate nachdem das NS-Regime mit der Olympiade einen Höhepunkt seiner internationalen Anerkennung gefeiert hatte –, in Berlin unter hochkonspirativen Bedingungen ein Manifest, das als Programm einer als »Deutsche Volksfront« firmierenden linken Widerstandsgruppe gedacht war. Der Aufruf forderte neben »Sturz und Vernichtung der Diktatur« auch »Recht und Gerechtigkeit für alle: Befreiung der politischen Gefangenen, Abschaffung der Blutjustiz, Sühne für die begangenen Verbrechen, Wiedergutmachung des begangenen Unrechts«1. Eine erweiterte und kommentierte Fassung der »Zehn Punkte« wurde unter dem Titel »Freiheit« 1937 und 1938 verbreitet.2 Dieser Entwurf wie auch andere von der linken Opposition in den späten dreißiger Jahren formulierte Entwürfe wollten vor allem einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat wiederherstellen. Forderungen nach »Wiedergutmachung« bezogen sich dabei in erster Linie auf die politische Verfolgung der Parteien und Gewerkschaften. Die fortschreitende gesellschaftliche Ausgrenzung und Entrechtung der Juden in Deutschland blieb dagegen in einer auf die Unterdrückung der politischen Opposition konzentrierten Wahrnehmung weitgehend unbeachtet.

1938 konnte die Gestapo die »Deutsche Volksfront« aufdecken und ihre Mitglieder verhaften. Brill knüpfte jedoch in der Gefangenschaft, die ihn 1943 in das Konzentrationslager Buchenwald führte, an seine früheren Aktivitäten an: Er organisierte und leitete das Buchenwalder Volksfront-Komitee, das mit dem von den Kommunisten initiierten Internationalen Lagerkomitee konkurrierte und im Mai 1944 die »Buchenwalder Plattform« formulierte. Diese Grundsätze für die Zeit nach dem Sturz des nationalsozialistischen Regimes enthielten auch Überlegungen für die »Entschädigung der Opfer des Terrors«3. Auch nach der Befreiung Buchenwalds rivalisierten die beiden Lager-Untergrundorganisationen: Während sich die Kommunisten zum Führungsanspruch der KPD-Politiker im Moskauer Exil bekannten, veröffentlichten die Sozialdemokraten am 13. April 1945 im Namen des »Bundes demokratischer Sozialisten« das Buchenwalder Manifest »Für Frieden, Freiheit, Sozialismus«. Das Manifest forderte abermals Wiedergutmachung für die individuellen Opfer des Terrors sowie auch für die vom »Dritten Reich« überfallenen Länder. Im Vordergrund stand aber die geplante gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Umwälzung in Deutschland im Sinne eines demokratischen Sozialismus.

Zwar unterschieden sich die Nachkriegspläne des sozialistischen und sozialdemokratischen innerdeutschen Widerstands in letzterer Hinsicht erheblich von denen des konservativen Widerstands. Doch befasste sich auch der Verschwörerkreis des 20. Juli intensiv mit der Frage der Bestrafung und Wiedergutmachung der nationalsozialistischen Verbrechen nach dem erhofften Sturz des Regimes. Einen wesentlichen Anstoß dazu hatte die Radikalisierung der Judenverfolgung geliefert. Die Nationalsozialisten hatten in den Augen der Verschwörer die falsche Antwort auf die richtige Frage gegeben.4 Anfänglich waren solche Überlegungen, wie sie etwa bei Generaloberst Ludwig Beck und Carl Friedrich Goerdeler nachweisbar sind, noch vom Ziel einer Rückkehr zu der Vorkriegspolitik gegenüber den Juden ausgegangen: Auch sie betrachteten die Existenz einer »Judenfrage« als selbstverständlich und teilten damit den antisemitischen Basiskonsens der deutschen »Volksgemeinschaft«. Doch wünschten sie diese in Zusammenarbeit mit der Völkergemeinschaft zu lösen und zugleich die besonders kritikwürdigen antijüdischen Maßnahmen wieder zurückzunehmen.

Unter dem Eindruck der Vernichtung der europäischen Juden entfiel schließlich der ursprünglich formulierte Anspruch, gemeinsam mit dem Ausland an der »Lösung der Judenfrage« mitzuarbeiten. Sowohl die Kreisauer als auch Goerdeler wollten nicht allein die Judenverfolgung aufheben, sondern auch zumindest die deutschen Juden entschädigen. Am Ende dieser Diskussionen stand die für den Fall eines erfolgreichen Staatsstreichs am 20. Juli 1944 verfasste Regierungserklärung Goerdelers. Diese distanzierte sich von der nationalsozialistischen Rechtsbeugung und kündigte die Bestrafung der Täter und die Aufhebung diskriminierender Bestimmungen an. Die Konzentrationslager sollten aufgelöst, die Unschuldigen entlassen und Schuldige dem ordentlichen gerichtlichen Verfahren zugeführt werden. Überdies plante Goerdeler, dem deutschen Volk die sofortige Einstellung der Judenverfolgung, »die sich in den unmenschlichsten und unbarmherzigsten, tief beschämenden und gar nicht wiedergutzumachenden Formen vollzogen« habe, anzukündigen. »Wer«, so Goerdeler, »geglaubt hat, sich am jüdischen Vermögen bereichern zu können, wird erfahren, daß es eine Schande für jeden Deutschen ist, nach einem unredlichen Besitz zu streben.«5 Neben außenpolitischen Gesichtspunkten spielte auch ein konservativer beziehungsweise militärischer Moralkodex eine zentrale Rolle: »Ehre« und »Schande« erschienen in den Begründungen dieser Maßnahmen als Leitmotive, und so zielten Bestrafung und Wiedergutmachung auf individuelle Schuldige und damit zugleich auf einen Scheidungsprozess: Der deutsche Staat und die deutsche Nation sollten durch einen Prozess der Selbstreinigung wieder unbefleckt auferstehen und damit jene Kontinuität sichern, die durch die bekannt gewordenen alliierten Nachkriegspläne gefährdet schien.

Bedeutende Teile der deutschen Opposition, besonders der Linksparteien, versuchten nach 1933 ihre politische Tätigkeit im Ausland fortzusetzen, wobei sich mehrere Emigrationszentren bildeten. Während der letzten Kriegsjahre, als sich der alliierte Sieg immer deutlicher abzeichnete, veröffentlichten verschiedene Emigrantengruppen Konzepte, um sich für die Nachkriegszeit politisch zu positionieren. Besonders aktiv war die Exil-SPD, die seit 1942 unter wachsendem Druck stand, zu den deutschen Verbrechen Stellung zu beziehen. Die von Hans Vogel geführte SPD-Exilleitung rückte jedoch zumeist ihre eigene Rolle als erstes Opfer der NS-Verfolgung in den Vordergrund. Dies diente nicht allein der Selbstrechtfertigung, sondern auch dem Versuch, vansittaristische Vorstellungen zurückzuweisen, wonach das ganze deutsche Volk pauschal schuldig sei und deshalb einen Rachefrieden auferlegt bekommen müsse. Als etwa der Jüdische Weltkongress im November 1943 Vogel aufforderte, zu den politischen Konsequenzen aus der nationalsozialistischen Judenverfolgung Stellung zu nehmen, antwortete dieser zurückhaltend, dass künftig die Wiederherstellung der staatsbürgerlichen Gleichheit angestrebt sei. Zugleich müssten sich die Juden nach ihrer Rückkehr nach Deutschland aber durch ihr Verhalten würdig erweisen, indem sie lediglich progressive und demokratische Kräfte in Deutschland unterstützten. Auch gegenüber dem Jewish Labor Committee in den USA lehnte er es im April 1944 ab, festzustellen, was eine gerechte Entschädigung für die an den Juden begangenen Verbrechen sei.6

Die doppelte Tendenz sozialdemokratischer und sozialistischer Nachkriegsentwürfe, einerseits von der eigenen Verfolgungserfahrung auszugehen und andererseits große Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit (und -bereitschaft) des deutschen Volkes zu nehmen, lässt sich auch an den 1944 vorgelegten Gedanken zur Wiedergutmachung zweier Exilgruppen in Schweden feststellen, an denen unter anderem auch der spätere Bundeskanzler Willy Brandt beteiligt war. Die dort vorgeschlagene Wiedergutmachung in Gestalt der Entschädigung der NS-Verfolgten und der Mitwirkung am Wiederaufbau der zerstörten Länder sollte gleichermaßen der angestrebten Selbstreinigung Deutschlands als auch der Rückgewinnung des Vertrauens anderer Völker dienen.7

Ähnliche Zielsetzungen prägten aber auch die ausführlichen Entwürfe der Arbeitsgemeinschaft »Das demokratische Deutschland« in der Schweiz zur Nachkriegsgestaltung Deutschlands. In Gesellschaft mit dem ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten, Staatsanwalt und künftigen bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner befanden sich dort auch der ehemalige preußische Ministerpräsident Otto Braun, der frühere deutsche Reichskanzler Joseph Wirth, der ehemalige Reichstagsabgeordnete Heinrich Ritzel sowie der katholische Schriftsteller Jakob Kindt-Kiefer.8 Seit 1943 verfasste dieser Honoratioren-Klub eine Vielzahl von Memoranden zur Nachkriegsgestaltung Deutschlands. Diese Vorschläge teilten mit anderen deutschen Entwürfen nicht nur die Ablehnung einer deutschen Kollektivschuld.9 Hinzu kam die starke Fixierung auf ihr eigenes Verfolgungsschicksal sowie die Begrenztheit der angestrebten Wiedergutmachung. Zudem sahen diese Pläne allesamt vor, die als nichtnationalsozialistisch angesehene Bevölkerungsmehrheit zu schonen. Die Entschädigungsdiskussionen der deutschen Exilgruppen offenbaren somit ein Dilemma: Einerseits schloss die angestrebte gesellschaftliche Neuordnung nicht nur die Bestrafung der Täter, sondern auch die Entschädigung der Opfer zwingend ein. Andererseits sollten aber die Kosten einer solchen Entschädigung weder den Spielraum für die gesellschaftspolitischen Zielsetzungen der Emigranten einengen noch ihren politischen Führungsanspruch diskreditieren. Dies galt umso mehr, als die Frage im engen Zusammenhang mit der Reparationsproblematik gesehen wurde und damit das Gespenst des Versailler Vertrages aktualisiert wurde: Die deutschen Exilpolitiker fürchteten nichts mehr als das Odium der »Erfüllungspolitik«.

Dies galt allerdings für den kommunistischen Widerstand nur begrenzt: Nach der deutschen militärischen Katastrophe in Stalingrad hatten KPD-Emigranten in der Sowjetunion einen neuen Anlauf gestartet, deutsche Soldaten an der Ostfront propagandistisch zu beeinflussen. Mitte 1943 wurde schließlich auf sowjetische Initiative das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) gegründet, zu dessen Präsidenten der kommunistische Emigrant Erich Weinert gewählt wurde.10 Auf seiner Gründungsversammlung am 12./13. Juni in Krasnogorsk nahe Moskau verabschiedete das NKFD ein in den Grundlinien von sowjetischer Seite vorgegebenes »Manifest an die Wehrmacht und das deutsche Volk«. Dieses wurde auch zur Basis des im September ins Leben gerufenen Bundes Deutscher Offiziere (BDO). Um das in der Wehrmacht und der deutschen Bevölkerung verbreitete Misstrauen gegen die deutschlandpolitischen Ziele der Sowjetunion zu bekämpfen, postulierte das Manifest einen kompletten Katalog bürgerlicher Freiheiten. Während Kriegsgewinnler enteignet werden sollten, sollte rechtmäßig erworbenes Eigentum nach Hitlers Sturz wiederhergestellt werden, und dazu gehörte auch die »Rückgabe des durch die nationalsozialistischen Machthaber geraubten Hab und Guts an die Eigentümer«. Zudem forderte das Manifest die »sofortige Befreiung und Entschädigung aller Opfer des Hitlerregimes«11. Eine an das Offizierskorps der Wehrmacht gerichtete Analyse dieses Manifests, die das Oberkommando der Wehrmacht im Oktober 1943 verteilen ließ, geiferte: »Damit würde also der Jude in Deutschland wieder freie Hand bekommen.«12

Das mit einem schwarz-weiß-roten Rand versehene Manifest wurde in über 6,5 Millionen Exemplaren in den deutsch besetzten Gebieten, im Deutschen Reich sowie unter deutschen Kriegsgefangenen verbreitet.13 Die Rücksichtnahmen auf die Empfindlichkeiten bürgerlicher Kreise nahmen allerdings in dem Maße ab, in dem die militärische Lage Deutschlands hoffnungsloser wurde und somit die Option eines innerdeutschen Aufstands an Bedeutung verlor. Gegen Kriegsende wurde das NKFD immer stärker zum Sprachrohr der sowjetischen Reparationsforderungen, die oft mit einem pädagogischen Umerziehungsimpuls verbunden wurden. Die ehemaligen Wehrmachtsoldaten sollten nun ihre Bewährung »an der Front der Wiedergutmachung«14 finden, und dies meinte die Erfüllung der auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam gefassten Reparationsbeschlüsse. Demgegenüber traten die Belange der in Deutschland geschädigten NS-Verfolgten gänzlich in den Hintergrund. Fraglos spricht dies dafür, dass es sich bei Letzteren lediglich um eine zeitweise taktische Konzession gehandelt hatte. Gilt dies auch für alternative Überlegungen im Umfeld der kommunistischen Emigration in Lateinamerika?

Deutsche Kommunisten schufen 1941 in Mexiko die Bewegung »Freies Deutschland« sowie eine gleichnamige Zeitung. Während sich das Moskauer NKFD mit deutschen Kriegsgefangenen auseinandersetzen musste, die einen Querschnitt durch die deutsche Bevölkerung – freilich ohne Juden – darstellten, traf die relativ kleine Gruppe kommunistischer Emigranten in Mexiko auf eine mehrfache Überzahl jüdischer Emigranten. Überdies bildete nicht zuletzt die Ferne von Moskau eine wichtige Voraussetzung für eine eigenständige Diskussion jüdischer Angelegenheiten. So erörterten deutsche Kommunisten im mexikanischen Exil intensiv die Entschädigung der deutschen jüdischen NS-Verfolgten nach dem Ende des Krieges.15

Zentral dafür wurde Paul Merker, mit dem 1942 ein Mitglied des Politbüros der KPD nach Mexiko gelangt war. Dieser brach mit einer langen Tradition kommunistischer Faschismusanalysen und rückte den Antisemitismus von der Peripherie in das Zentrum seiner Argumentation. In seinem im Oktober 1942 im Freien Deutschland veröffentlichten Artikel »Hitlers Antisemitismus und wir« forderte er für die Zeit nach dem Kriege nicht nur die Schaffung eines jüdischen Nationalstaats und die radikale Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland, sondern auch die Wiedergutmachung des den deutschen Juden zugefügten moralischen und wirtschaftlichen Schadens.16 Die Verantwortlichen für die Vertreibung und Verschleppung der Juden, aber auch diejenigen, die sich an jüdischem Eigentum bereichert hätten, sollten vor ein Sondergericht gestellt werden. Vertriebene deutsche Juden sollten nicht allein automatisch ihre Staatsangehörigkeit zurückerhalten, vielmehr müsse der deutsche Staat auch die Kosten für die Rückkehr nach Deutschland oder – falls sie dies wünschten – die Ausreise in ein anderes Land bezahlen. Sowohl Rückkehrer als auch diejenigen, die im Ausland bleiben wollten, würden für die erlittenen wirtschaftlichen Schäden entschädigt werden – freilich nur »im Rahmen der eingeschlagenen wirtschaftlichen Orientierung«. Schließlich sollten die Rückwanderer umfassende Unterstützungsleistungen zu ihrer wirtschaftlichen und sozialen Wiedereingliederung erhalten.17

Merkers Artikel, der auch als Sonderdruck in Südamerika, Großbritannien, Australien, Südafrika und Palästina verbreitet wurde, löste zahlreiche Diskussionen aus, die 1943 auch in den Spalten des Freien Deutschland ausgetragen wurden. Dies bewog ihn dazu, seine Auffassung zu verdeutlichen. Um die volle und gleichberechtigte wirtschaftliche und gesellschaftliche Wiedereingliederung der nach Deutschland zurückkehrenden Juden zu erreichen, müsse unter dem kommenden demokratischen Regime sämtliches geraubte jüdische Eigentum an den Staat zurückgegeben werden, der dann die Entschädigung vorzunehmen habe. Zudem rechtfertigte er auch die Privilegierung der Juden im Rahmen der vorgeschlagenen Wiedergutmachung. Anders als die Juden, die als eine »schutzlose nationale, religiöse oder kastenmäßige Minderheit« verfolgt worden seien, führten die antifaschistischen Widerstandskämpfer freiwillig und aus Überzeugung einen Kampf gegen das Hitlerregime: »Die Entschädigung der antifaschistischen Kämpfer ist jede gewonnene Schlacht und der schließliche Sieg, die Errichtung einer demokratischen Macht.« Dabei schränkte Merker ein, dass ausländische Juden zwar das gleiche moralische Recht auf Wiedergutmachung besäßen, doch müsse diese durch einen kommenden Friedensvertrag erfolgen.18 So begriff er den geplanten Gesellschaftsumbau im sozialistischen Sinne und die Entschädigung und Rückerstattung jüdischen Eigentums nicht als Widerspruch, sondern als sich gegenseitig ergänzende Elemente.

Die unterschiedlichen Gruppen, die bereits während des Krieges an Szenarien für eine künftige Wiedergutmachung der NS-Opfer arbeiteten, kommunizierten vielfach miteinander. So distanzierte sich Merker im mexikanischen Exil von Vorschlägen des SPD-Parteivorsitzenden Hans Vogel, die weniger auf die Juden als vielmehr auf die politisch Verfolgten zielten. Nicht nur sei die von diesem geforderte Wiederherstellung der Rechtsgleichheit für die Juden viel zu gering. Vielmehr verkenne diese Forderung auch den »fundamentalen Unterschied […], der zwischen dem Schicksal der antifaschistischen Politiker, die Hitler zum Opfer fielen, und dem Schicksal der von dem Nazismus gequälten jüdischen Bevölkerung« bestehe.19 In erster Linie hatte Merker im Exil aber auf die Nachkriegsplanungen des Jüdischen Weltkongresses reagiert.20 Ziel der Bewegung »Freies Deutschland« in Mexiko, so Merker später, sei es gewesen, zum Sprachrohr jener jüdischen Emigranten zu werden, die von den Gaben jüdischer Hilfsorganisationen lebten und nunmehr fürchteten, dass sich der Jüdische Weltkongress dafür später am Eigentum der deutschen Juden schadlos halten wolle. Deshalb seien sie für eine individuelle Entschädigung durch die deutsche Regierung und gegen eine kollektive Entschädigung zugunsten des Jüdischen Weltkongresses eingetreten.21 So standen die im mexikanischen Exil entworfenen Wiedergutmachungsvorschläge Merkers im Horizont jener bereits vor Kriegsende aufbrechenden Kontroversen um eine individuelle beziehungsweise kollektive Entschädigung der verfolgten Juden.

  1   Druck der »Zehn-Punkte« in: Brill, Strom, S. 16 f.; siehe auch Overesch, Brill, S. 254-262.

  2   Druck: Brill, Strom, S. 61-87; siehe dazu auch Overesch, Brill, S. 260.

  3   Brill, Strom, S. 90 u. 94; vgl. auch Overesch, Brill, S. 289 f.

  4   Vgl. dazu Dipper, Widerstand, S. 349-380.

  5   »Regierungserklärung«. Anlage zu Bericht Ernst Kaltenbrunners an Martin Bormann, 5.8.1944, in: Spiegelbild einer Verschwörung, S. 149.

  6   Glees, Exile Politic, S. 174 ff.; vgl. auch Röder, Exilgruppen.

  7   Siehe auch Nachkriegspolitik der deutschen Sozialisten, S. 12. Für diesen Abschnitt beanspruchte später Willy Brandt die geistige Urheberschaft. Siehe Brandt, Links, S. 361.

  8   Hoegner, Außenseiter, S. 173 ff.; Mittenzwei, Exil, S. 311.

  9   Gesetz zur Sühne nationalsozialistischer Verbrechen (Gesetz Nr. 5), Nl Hoegner, IfZ-Archiv, ED 120, Bd. 20; Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Gesetz Nr. 6), ebenda. Siehe auch Hoegner, Außenseiter, S. 182 u. 185.

10   Müller-Enbergs, Manifest, S. 93-103; vgl. auch Scheurig, Freies Deutschland, S. 44 f.; Petrick, »Freies Deutschland«, S. 32 f.; Ueberschär, Nationalkomitee, S. 31 ff.

11   »Manifest an die Wehrmacht und das deutsche Volk«, Druck: Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee, S. 265-268, hier: S. 267.

12   Sondernummer der vom Oberkommando der Wehrmacht (OKW) herausgegebenen »Mitteilungen für das Offizierskorps« zum Moskauer Komitee »Freies Deutschland«, Oktober 1943, Druck: Ueberschär (Hrsg.), Nationalkomitee, S. 269-278, hier: S. 272.

13   Siehe dazu Petrick, »Freies Deutschland«, S. 44.

14   Herbert Kolbe, »An der Front der Wiedergutmachung«, in: FD, 16.8.1945.

15   Siehe von zur Mühlen, Alternative, S. 169-180; Kießling, »Wiedergutmachung«, S. 67-76; ders., Widerstreit, S. 117-132; Herf, Antisemitismus, S. 635-667; ders., Erinnerung, S. 54-86; Hartewig, Zurückgekehrt, S. 278-282.

16   Paul Merker: Hitlers Antisemitismus und wir, in: FD (Mexiko), Jg. 1, Nr. 12 (Oktober 1942), S. 9 ff.; vgl. dazu auch Herf, Erinnerung, S. 63-66; Hartewig, Zurückgekehrt, S. 279 ff., Meining, Judenpolitik, S. 53-58.

17   Merker, Hitlers Antisemitismus, S. 11.

18   Paul Merker: Das Echo. Diskussion über »Hitlers Antisemitismus und wir«, in: FD (Mexiko), 2. Jg., Nr. 4 (März 1943), S. 3.

19   Paul Merker: Brief an einen Freund. Die Bewegung Freies Deutschland und die Zukunft der Juden, in: FD (Mexiko), 3. Jg., Nr. 5 (April 1944), S. 6 ff., hier: S. 7.

20   Schreiben Paul Merkers an die Zentrale Kontrollkommission des ZK der SED vom 1.6.1956, Druck: Herf, Antisemitismus, S. 658.

21   Ebenda.

2. Jüdische Wiedergutmachungspläne
zwischen Universalismus und Zionismus

Der Pluralität jüdischer Individuen und Organisationen entsprach die Vielfalt ihrer Antworten auf die Ermordung der europäischen Juden. Uneinigkeit bestand dabei nicht nur über die für notwendig gehaltene Form einer Entschädigung, sondern auch darüber, ob eine materielle Wiedergutmachung überhaupt eine adäquate Antwort auf die Verbrechen an den Juden sein könne. Die Entstehung jüdischer Wiedergutmachungsforderungen seit 1939 in verschiedenen Zentren jüdischen Lebens war nicht nur abhängig von der jeweiligen politischen Perspektive, sondern auch von der zunehmenden Radikalisierung der Judenverfolgung.1 So entstanden die ersten diesbezüglichen Überlegungen unter dem Eindruck des von den Nationalsozialisten verursachten jüdischen Flüchtlingsproblems. Nicht zuletzt trug dazu der Umstand bei, dass sich unter den aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei geflohenen Juden zahlreiche Juristen befanden, von denen einige ihr Fachwissen nun auf diesem Gebiet einsetzten. Solche Überlegungen fanden nicht im luftleeren Raum statt. Vielmehr wurden sie schon während des Krieges intensiv kommuniziert und diskutiert, da die Autoren in der Regel in intellektuellen und politischen Netzwerken verankert waren, deren Knotenpunkte vor allem in den USA, in Großbritannien und Palästina lagen. Vor einem sich verändernden Horizont der Bedrohung und Vernichtung jüdischen Lebens in Europa ging es somit nicht allein darum, jüdische Antworten und Positionen zu finden, sondern auch die Zustimmung jüdischer Meinungsführer zu gewinnen und schließlich auch die westlichen Alliierten für dieses Problem zu sensibilisieren.

Der enge Zusammenhang mit dem jüdischen Flüchtlingsproblem prägte auch das früheste bekannte dezidiert jüdische Entschädigungsprojekt. Im Oktober 1939, bald nach dem deutschen Angriff auf Polen, unterbreitete der 1936 nach Großbritannien emigrierte deutsche Zionist und Sozialarbeiter Schalom Adler-Rudel mehreren jüdischen Persönlichkeiten ein Memorandum zur Frage der Entschädigung der vom NS-Regime verfolgten deutschen Juden.2 Adler-Rudel diskutierte die Frage im Horizont des nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Systems des Minderheitenschutzes in multiethnischen Staaten. Dabei berücksichtigte er jedoch nicht, dass die deutschen Juden in Deutschland keinen völkerrechtlichen Minderheitenstatus besaßen. Freilich hielten es die von Adler-Rudel Angesprochenen damals ohnehin für unklug, materielle Forderungen an das Deutsche Reich zu richten, das sich 1939 noch auf den Höhepunkt seiner Macht zubewegte.

Unabhängig davon begannen aber bald nach Kriegsbeginn auch im Umkreis der Jewish Agency for Palestine sowie amerikanischer jüdischer Organisationen Diskussionen über künftige jüdische Entschädigungsansprüche.3 Eine zentrale Rolle spielte das im Februar 1941 in New York gegründete Institute of Jewish Affairs. Leiter dieser vom Jüdischen Weltkongress und anfänglich auch vom American Jewish Committee getragenen Einrichtung waren die aus Litauen kommenden Brüder Jacob und Nehemiah Robinson. Die beiden inspirierten auch Nahum Goldmann, der den Jüdischen Weltkongress und die Jewish Agency repräsentierte, die jüdischen Entschädigungsforderungen erstmalig einer breiteren jüdischen Öffentlichkeit zu unterbreiten. Als Reaktion auf die Ausweitung der nationalsozialistischen Judenverfolgung stellte Goldmann in seiner Eröffnungsansprache auf der panamerikanischen Konferenz des Jüdischen Weltkongresses in Baltimore im November 1941 die Entschädigungsfrage in den Rahmen des Reparationsproblems. Dabei weitete er die Forderungen auf das europäische Judentum aus und behauptete zugleich deren Vorrang gegenüber allen anderen Reparationsforderungen.4 Das war zu diesem Zeitpunkt eine kühne Forderung, die sich weder mit völkerrechtlichen Gepflogenheiten noch mit den politischen Realitäten vertrug.

Als Reaktion auf die Verbreitung der Nachrichten über die Ermordung der europäischen Juden intensivierten sich seit 1943 die jüdischen Entschädigungsinitiativen. Das mittlerweile bekannt gewordene Ausmaß der Zerstörungen schloss nunmehr den Gedanken an eine Rückkehr zu den früheren Verhältnissen immer mehr aus – das europäische Judentum galt zumal aus zionistischer Perspektive bereits zu diesem Zeitpunkt als unrettbar verloren. Deshalb gewannen vor allem Überlegungen an Bedeutung, neben individuellen Forderungen auch einen kollektiven Anspruch im Namen des jüdischen Volkes zu stellen.5 Besonders intensiv gediehen solche Pläne in Palästina im Umfeld der Jewish Agency. Georg Landauer, vormals ein führendes Mitglied der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, erörterte in einem im September 1943 verfassten Memorandum die Möglichkeit »eines jüdischen Entschädigungsanspruches«, wobei er sich freilich auf deutsche Juden beschränkte. 1944 veröffentlichte schließlich Siegfried Moses gleichfalls in Palästina eine Studie über Jewish Post-War Claims. Der vormalige Präsident der Zionistischen Vereinigung für Deutschland stützte den kollektiven jüdischen Entschädigungsanspruch darauf, dass er alle aus Deutschland emigrierten Juden als Angehörige einer Nation betrachtete, die sich seit 1933 mit Deutschland im Krieg befände.6 Zudem schloss auch für ihn die Tatsache des Massenmords eine bloß individuelle Lösung nunmehr aus. Das jüdische Volk in seiner Gesamtheit sollte deshalb berechtigt sein, als rechtmäßiger Erbe erbenlosen Eigentums getöteter Glaubensgenossen oder vernichteter jüdischer Gemeinden und Einrichtungen aufzutreten. Ähnlich wie Landauer betrachtete auch er die Jewish Agency als legitimen Repräsentanten.7

Der Gedanke eines globalen jüdischen Anspruches prägte auch eine 300-seitige Studie, die Nehemiah Robinson Ende 1944 veröffentlichte.8 Auch er schloss eine Wiederherstellung des Status quo ante für die Juden in Europa nach dem Krieg aus. Im Gegensatz zu allen anderen Verfolgtengruppen könnten Juden sich ihr Leben künftig nicht mehr an ihren früheren Plätzen einrichten. Deshalb unterschied er »restaurative« Maßnahmen, zu denen er vor allem die individuelle Rückerstattung und Entschädigung zählte, von »konstruktiven« Maßnahmen. Letztere bezeichneten Anstrengungen, den Verfolgten ein neues Leben fern ihrer ehemaligen Heimat aufzubauen. Dies sollte mittels einer globalen Entschädigung für das jüdische Volk finanziert werden.9

Die für die künftige Entwicklung der jüdischen Wiedergutmachungsforderungen zentralen Arbeiten von Georg Landauer, Siegfried Moses und Nehemiah Robinson stimmten somit in einigen zentralen Punkten überein: Erstens unterschieden sich ihnen zufolge die jüdischen Entschädigungsansprüche wesentlich von denen aller anderen Verfolgtengruppen. Zweitens besaß ihnen zufolge das jüdische Volk als Ganzes einen kollektiven Entschädigungsanspruch. Und schließlich forderten sie übereinstimmend, dass eine zentrale jüdische Instanz geschaffen werden müsse, die nicht allein legitimiert wäre, einen solchen globalen Anspruch zu erheben, sondern auch dazu, das erbenlose jüdische Vermögen zu beanspruchen.

Freilich teilten nicht alle von jüdischer Seite entwickelten Überlegungen zur Entschädigungsfrage einen solchen kollektiven jüdischen Ansatz. Alternativ dazu wurden Auffassungen entwickelt, welche die individuellen Forderungen der deutschen Juden in den Mittelpunkt stellten, ohne dies in einen gesamtjüdischen Zusammenhang zu setzen. Dafür stehen etwa die Vorschläge, die der ehemalige badische Richter Hugo Marx in seinem 1944 in New York erschienenen Buch The Case of German Jews vs. Germany vorlegte.10 In eine ähnliche Richtung zielten auch die Auffassungen des Juristen Bruno Weil, eines ehemaligen Vorstandsmitglieds des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der bis zu seiner Emigration nach Argentinien 1935 unter anderem als Rechtsberater der britischen und der französischen Botschaft in Berlin für Fragen des Versailler Vertrags tätig gewesen war. Bereits seit 1941 beschäftigte er sich mit der Frage der künftigen Wiederherstellung individueller Rechte und Entschädigungsforderungen an die Achsenmächte.11 Weil vertrat eine strenge Unterscheidung zwischen individueller Entschädigung und kollektiven Forderungen der Staaten. 1943 initiierte er die Gründung der in New York eingetragenen »Axis Victims League«.12 Die von ihm angestrebte Zusammenarbeit mit großen jüdischen Organisationen scheiterte vermutlich an einer Mischung aus persönlichen Ressentiments und ihrer Abneigung gegen eine Verbindung mit der Sache der deutschen Juden.13

Seit Dezember 1943 veranstaltete die Axis Victims League in New York eine Reihe von Konferenzen, wo Grundsätze einer künftigen Wiederherstellung von Rechten und der individuellen Entschädigung von Verfolgten der Achsenmächte diskutiert wurden. Unter den Mitgliedern dominierten vor allem jüdische Emigranten, die es nach Südamerika verschlagen hatte. Im Gegensatz zu den Plänen im Umfeld des Jüdischen Weltkongresses und der Jewish Agency lag der Schwerpunkt hier auf den individuellen Forderungen. Dabei wurde der Kreis ausdrücklich nicht auf Juden beschränkt. Ähnlich wie die von Julius B. Weigert geleitete »American Association of Former European Jurists«, an deren Gründung Bruno Weil gleichfalls beteiligt war, war die Axis Victims League keine genuin jüdische Organisation, wenngleich die Mitglieder in erster Linie verfolgte Juden aus Deutschland und Europa waren. Während sich die Aktivlegitimation dieser Organisationen darauf stützte, dass sie individuelle Verfolgte vertraten, waren weder der Jüdische Weltkongress noch die Jewish Agency Verfolgtenvertreter im engeren Sinne. Letztere stützten ihre Legitimation darauf, dass der nationalsozialistische Terror dem jüdischen Volk insgesamt gegolten habe. Hinter diesem Gegensatz stand die große Frage, wer die vielen Millionen ermordeter Juden vertreten sollte, die keine individuellen Ansprüche mehr erheben konnten.

Im letzten Kriegsjahr nahmen die jüdischen Bemühungen zu, Einfluss auf die alliierte Nachkriegspolitik gegenüber Deutschland zu gewinnen. Die wichtigste politische Aktion zu diesem Zweck war die War Emergency Conference des Jüdischen Weltkongresses in Atlantic City Ende November 1944. Dort trafen 269 Delegierte zusammen, die jüdische Gemeinden aus 40 Staaten repräsentierten.14 Im Zusammenhang der Erörterung der jüdischen Nachkriegsperspektiven in Europa wurde auch die Forderung nach Entschädigung und Rückerstattung bekräftigt, wobei Goldmann erneut den kollektiven Anspruch des jüdischen Volkes auf das Eigentum der ermordeten Juden hervorhob.15 Am Ende verabschiedete die Konferenz eine Resolution, die auf den vor allem von Siegfried Moses, Georg Landauer und Nehemiah Robinson entwickelten Prinzipien beruhte. Sie beinhaltete erstens den Grundsatz der individuellen Entschädigung und Rückerstattung aller Schäden, welche die jüdischen Gemeinden und einzelne Juden im Einflussbereich der Achsenmächte erlitten hatten. Zweitens wurde ein kollektiver Anspruch auf das Erbe der ermordeten Juden im Namen des jüdischen Volkes festgeschrieben. Dieser sollte in erster Linie dem Aufbau Palästinas als jüdischer Heimstätte dienen. Zu diesem Zweck sollte eine International Jewish Reconstruction Commission gegründet werden.16 Auf diese Weise war zugleich die Jewish Agency ihrem seit 1943 nachdrücklich verfolgten Anliegen, selbst zum Träger eines jüdischen Reparationsanspruchs an Deutschland zu werden,17 einen Schritt näher gekommen.

Diese Verbindung der globalen jüdischen Wiedergutmachungsansprüche mit der Idee eines jüdischen Nationalstaates in Palästina hatte jedoch bei der Erarbeitung der Resolution erhebliche Schwierigkeiten bereitet. So hoffte etwa das American Jewish Committee, eine bedeutende amerikanische nichtzionistische jüdische Organisation, bis 1945 zunächst noch darauf, die Zukunft der Juden nicht durch den Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina, sondern durch die universelle Anerkennung der Menschenrechte, die von den Vereinten Nationen garantiert werden sollte, zu sichern.18

Bald nach Kriegsende versuchte eine Gruppe jüdischer Organisationen – neben dem Jüdischen Weltkongress die Jewish Agency und die American Jewish Conference –, bei der US-Regierung Gehör für ihre Forderung nach einem Reparationsanteil für das jüdische Volk zu finden. Die vor allem von Chaim Weizmann und Nahum Goldmann vorangetriebene Initiative zielte auf finanzielle Ressourcen zur Rehabilitierung und Ansiedlung jüdischer NS-Verfolgter in Palästina.19 Ähnliche Vorstöße bei US-Außenminister James Byrnes unternahm im Namen des American Jewish Committee auch der amerikanische Ölmagnat Jacob Blaustein. Im Gegensatz zu den oben genannten jüdischen Organisationen wollte er aber den für das jüdische Volk geforderten Reparationsanteil treuhänderisch durch die Vereinten Nationen verwalten lassen.20 Darin verriet sich erneut die größere Distanz seiner Organisation zur Verknüpfung der jüdischen Entschädigungsforderungen mit zionistischen Zielsetzungen.

Auch in Vorschlägen, welche die American Association of Former European Jurists und die Axis Victims League im März sowie im Mai 1945 an das State Department und die Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco gerichtet hatten, war ausschließlich von der individuellen Rückerstattung und Entschädigung die Rede gewesen. Dabei umfasste das Spektrum der Geschädigten alle aus Gründen der Rasse, Nationalität, Sprache, des Glaubensbekenntnisses, der Religion und der politischen Überzeugung erlittenen Verfolgten, und zwar gleichermaßen in Deutschland, Italien und Japan.21 Bei Kriegsende standen sich somit auf jüdischer Seite ein individualistisch-universalistischer Ansatz und ein zionistisch-kollektivistischer Ansatz scharf gegenüber, wobei freilich mancherlei Zonen des Übergangs existierten. Entscheidend für deren weiteres Schicksal war vor allem, in welcher Weise es diesen gelang, in den Interessenhorizont der alliierten Mächte einzutreten, in deren Händen die Zukunft Deutschlands nach Kriegsende zunächst lag.

  1   Siehe v.a. Sagi, Wiedergutmachung, S. 21-34.

  2   Adler-Rudel, Vorzeit, S. 202 ff.

  3   Sagi, Wiedergutmachung, S. 21-34.

  4   Goldmann, Leben, S. 372. Siehe auch ders., Nehemiah Robinson, S. 8; Wells, Politik, S. 150-161.

  5   Siehe beispielsweise Munz, Restitution, S. 373.

  6   Moses, Post-War Claims, S. 77. Siehe auch bereits Moses, Wiedergutmachungsforderungen (1943). Ähnlich auch Gillis u. Knopf, Reparation Claims (1944).

  7   Moses, Post-War Claims, S. 80.

  8   Robinson, Indemnifications.

  9   Ebenda, S. 244 ff.

10   Marx, Case.

11   Siehe etwa Bruno Weil an Henry A. Atkinson, 21.5.1942, anbei »Draft Statement regarding Reparation of Individual Rights«, CJH, LBI-Archiv, Bruno Weil Collection I, b. 21, f. 79.

12   Moses, Geschichte, S. 6.

13   Siehe dazu und zum Folgenden Goschler, Wiedergutmachung, S. 44 f.

14   Siehe War Emergency Conference; Kubowitzki, Unity, S. 221-235.

15   Text der Rede Goldmanns, in: War Emergency Conference, S. 11.

16   War Emergency Conference, S. 27, 36 ff.

17   Siehe dazu Adler-Rudel, Vorzeit, S. 210 ff.

18   To the Counsellors of Peace, hier v.a. S. 275 f. Vgl. auch Goldschmidt, Legal Claims.

19   Chaim Weizmann to the Secretary of State, 20.9.1945, in: FRUS 1945 III, S. 1302-1305; siehe auch Kubowitzki, Unity, S. 270 f.

20   Blaustein an Byrnes, 17.10.1945, CJH, YIVO-Archiv, RG 347, AJC-Records, GEN-10, b. 281.

21   Julius B. Weigert an Edward R. Stettinius, 23.3.1945. Anlage: »Instrument providing for the settlement of claims arising from Nazi and Fascist persecutions«, NARA, RG 59, 462.11/3-2345; Vorschlag für ein Gesetz im besetzten Deutschland betr. »Cleansing of Civil Service and Liberal Professions, Reinstatement and Compensation«, in: Pamphlet IV of Axis Victims League Inc., New York 1945, S. 13-40.

3. Die Alliierten und die Entschädigung der NS-Verfolgten

Bis 1945 prägte die Erfahrung des Zustroms etwa einer halben Million deutscher Flüchtlinge, die meisten davon Juden, mehr als alles andere die Vorstellung der Welt vom nationalsozialistischen Terror. Für die Aufnahmeländer bildeten diese Menschen eine schwere wirtschaftliche und soziale Belastung, nicht zuletzt für deren durch die Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise zerrütteten Arbeitsmärkte. Die Berichte über die grausamen antijüdischen Ausschreitungen in Wien nach dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 brachten schließlich US-Präsident Roosevelt dazu, im Juli eine internationale Konferenz in Evian einzuberufen, auf der die Vertreter von 33 Staaten die Einrichtung des Intergovernmental Committee for Refugees in London beschlossen. Es sollte sich um Personen kümmern, die wegen ihrer politischen Anschauungen, religiösen Überzeugungen oder rassischen Herkunft aus dem Deutschen Reich emigriert waren oder dies vorhatten. Damit reagierte die Völkergemeinschaft darauf, dass die unfreiwillige Emigration erhebliche wirtschaftliche und soziale Probleme verursachte und zudem die öffentliche Ordnung der Einwanderungsländer störte. Der Leiter der amerikanischen Delegation, Myron Taylor, hatte zuvor die sozialen Konsequenzen der erzwungenen Emigration mit den Folgen eines mit den Mitteln des Dumping geführten Handelskrieges verglichen.1 Die praktischen Konsequenzen der Konferenz von Evian blieben freilich zunächst gering. Als indirekte Folge erweiterte die Auseinandersetzung mit dem Problem der erzwungenen Emigration jedoch nicht nur die Kenntnis der nationalsozialistischen Verfolgung im Ausland, sondern schuf dort auch das Bewusstsein einer eigenen unmittelbaren Betroffenheit.

Während des Krieges griff der nationalsozialistische Terror nicht nur räumlich immer weiter aus, sondern steigerte sich bis zum Völkermord. Mit einer gewissen Verzögerung drang dies auch an die alliierte Öffentlichkeit. Die stärksten Reaktionen lösten die Nachrichten über die Vorgänge in den besetzten Gebieten bei den Exilregierungen dieser Länder und einigen jüdischen Organisationen aus. In der amerikanischen und britischen Regierung herrschte dagegen häufig eine gewisse Reserve gegenüber Berichten über Massenmorde im Osten,2 teils aufgrund von Misstrauen gegen Gräuelpropaganda, teils wegen der damit verbundenen Herausforderung an die menschliche Vorstellungskraft und manchmal vielleicht auch wegen eigener antisemitischer Gefühle. Und schließlich trug die Anwesenheit vieler Emigranten dazu bei, dass die Vorgänge im Vorkriegsdeutschland einen wichtigeren Platz in der Vorstellung einnahmen als der aktuelle Genozid.3

Bis Kriegsbeginn war noch erfolglos versucht worden, Druck auf das Deutsche Reich zur Linderung des Drucks auf die dort verfolgten Minderheiten auszuüben. Nach Kriegsausbruch wurden die Verhandlungen jedoch abgebrochen. Auf alliierter Seite wurde fortan die endgültige Lösung des Flüchtlingsproblems mit der erfolgreichen Beendigung des Krieges verknüpft. Auf der Flüchtlingskonferenz auf den Bermudas im April 1943 sprach US-Außenminister Cordell Hull schließlich ausdrücklich von »Personen, die vor der Verfolgung aus religiösen, rassischen und politischen Gründen fliehen«4. Erstmals erschien hier die Definition der NS-Verfolgten, die später konstitutiv für die Wiedergutmachung wurde.

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