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Annemarie Schimmel

Friedrich Rückert

Lebensbild und
Einführung in sein Werk

Herausgegeben von
Rudolf Kreutner

 

 

 

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Inhalt

Einleitung

 

Das Leben des dichtenden Gelehrten

 

Das Werk des gelehrten Dichters

 

Bibliographische Hinweise

Rückerts Werke

Sammlungen

Weiterführende Literatur

Einleitung

Wer Philolog und Poet ist in Einer Person, wie ich Armer,

Kann nichts besseres tun, als übersetzen wie ich …

Was philologisch gefehlt ist, vergibst du poetischer Freiheit,

Und die poetische Schuld schenkst du der Philologie.

Mit diesen Versen, die Friedrich Rückert zu seiner Übertragung der »Makamen des Hariri« schrieb, hat er seine Größe und seine Grenzen angedeutet – die Doppelbegabung als Dichter und Sprachgelehrter hat es ihm versagt, auf jedem der beiden Gebiete den Ruhm zu erlangen, den er verdient hätte.

Im Bewußtsein deutscher Leser – sofern die heutige Jugend ihn überhaupt noch kennt – ist er als reimfroher Sänger ansprechender, gemütvoller Liebeslieder und weitverbreiteter Stammbuchverse eingegangen; auch kannte man ihn früher als patriotischen Dichter der »Geharnischten Sonette« in den Freiheitskriegen von 1813 bis 1814. Manche seiner Gedichte sind fast Volkslieder geworden. Wer weiß noch, daß einige der reizendsten Kinderlieder von Rückert stammen, so das »Sommerlied von den grünen Vögelein« und die Geschichte »Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt«? In der Schule sang man in früherer Zeit wohl noch »Der alte Barbarossa« und in der Kirche das schöne Adventslied »Dein König kommt in niedern Hüllen«. Fast zersungen wurde das in Italien gedichtete Schwalbenlied »Aus der Jugendzeit«, in Chidhers Zitat:

Und aber nach fünfhundert Jahren

Kam ich desselbigen Wegs gefahren,

wurde ebenso sprichwörtlich wie:

Es ging ein Mann im Syrerland,

Führt’ ein Kamel am Halfterband …

Unter den Orientalisten aber gibt es manch einen, der Rückerts unerhörte Leistung poetischer Übertragungen aus einem halben Hundert Sprachen als schöngeistig abtut oder Einzelheiten bekrittelt, die sich aus der damaligen Lage orientalistischer Studien ergaben, ohne zu begreifen, daß Rückerts Übersetzungsleistung dem Deutschen einen Schatz geschenkt hat, den keine andere Sprache besitzt. Manche werden bedauern, daß Rückert – wie er seine Poesie in Zehntausende von Gedichten zersplitterte – auch in der Wissenschaft kein geschlossenes Werk veröffentlicht hat, etwa eine Poetik der orientalischen Sprachen, oder daß er seine aus zahllosen Anmerkungen zu seinen Übertragungen erkennbare Kenntnis islamischer Geschichte und indischer Kultur nicht zu kulturhistorischen Werken zusammengefaßt hat. Wer die Vertonungen Rückertscher Lieder durch Schubert, Schumann, Loewe und Mahler – um nur die wichtigsten zu nennen – liebt, wird bedauern, daß seine fast unübersehbare literarische Produktivität es schwer, fast unmöglich macht, die Perlen in seiner Lyrik zu finden und recht aufleuchten zu lassen. Und noch liegen gewaltige Konvolute wissenschaftlicher Arbeiten und Übertragungen in Rückerts winziger Handschrift in seinem Nachlaß, Arbeiten, die in einer heute von technischen Erleichterungen wie Schreibmaschine und Xerographie, von Möglichkeiten von Forschungsstipendien und Studienreisen verwöhnten Gesellschaft als Wunderwerke wissenschaftlicher Askese erscheinen müssen.

Als Friedrich Rückert 1866 starb, hatte sich das geistige Klima in Deutschland, das einer Begabung wie der seinen gewisse Entfaltungsmöglichkeiten bot, geändert; wer etwas von orientalischer Poesie lesen wollte, nahm Bodenstedts harmlos flache »Lieder des Mirza Schaffy« zur Hand, und die Orientalisten wandten sich historisch-kritischen Studien und Editionen von Texten zu; niemand aber hätte wagen können, beide Gebiete so zu beherrschen wie Rückert. So wurde er wenn nicht vergessen, so doch in den Hintergrund gedrängt durch die Entwicklung der deutschen Dichtung und der europäischen Philologie, die immer stärker zur Spezialisierung überging.

Rückert selbst wußte, daß es ihm an der Fähigkeit mangelte, ein großes, geschlossenes Gesamtwerk zu schaffen. Mit Recht hat er sein Leben, und das bedeutete für ihn auch sein Werk, mit einem Teppich verglichen:

Ein Teppich scheinet mir mein Leben,

Und immer sticket meine Hand;

An welcher Stell’ ich auch mag weben,

Am obern oder untern Rand;

Zuletzt, wo so viel Kleinstes

Sich still verband, entstand

Ein Großes Allgemeinstes.

In der Tat kann Rückerts wissenschaftlich-poetische Doppeltätigkeit wohl am besten unter diesem Bilde gewürdigt werden, das auch den orientalischen Vorstellungen sehr nahe ist, und leicht wird einen falschen Eindruck von seinem fast unübersehbaren Werk gewinnen, wer einzelne Fäden aus dem Teppich zieht und das Ganze aus den Augen verliert.

Dieses Büchlein möchte versuchen, vorsichtig den äußeren Mustern des Teppichs und den verschiedenen Kett- und Einschlagfäden nachzugehen, um eine der erstaunlichsten Gestalten der deutschen Geistesgeschichte der Vergessenheit zu entreißen und vielleicht dazu anzuregen, sein Werk von neuem zu lesen, sei es genießend, sei es wissenschaftlich forschend. Rückert verdient es.

Das Leben des dichtenden Gelehrten

Am 16. Mai 1788 wurde Friedrich Rückert in Schweinfurt, »der lieben Stadt mit dem garstigen Namen«, geboren – ein Jahr vor der Französischen Revolution, zwölf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung Amerikas, zu einer Zeit, da die deutsche Literatur ihren Höhepunkt erreicht hatte, da Goethe und Schiller wirkten und Herder, »der universellste poetische Sinn für alle Welt-Poesie«, wie Rückert ihn später nennen sollte, von der Weltliteratur träumte. Neue Impulse waren aus dem Orient nach Europa gekommen; nach Jahrhunderten blinden Hasses gegen den Islam hatte die Aufklärung zur Formung eines neuen Orientbildes mitgeholfen, und die französische Übersetzung der Märchen von 1001 Nacht durch Antoine Galland zu Beginn des 18. Jahrhunderts inspirierte ungezählte Dichter, Musiker und Maler, die nun von einem romantischen Morgenland träumten. Die Arbeiten der britischen Orientalisten von Fort William in Kalkutta ebenso wie die Übersetzertätigkeit der Wiener Orientalisten und die ersten sachlichen Studien arabischer Grammatik und Literatur durch J. J. Reiske in Deutschland und Silvestre de Sacy in Frankreich veränderten die geistige Welt ähnlich wie die Revolutionen die politische Umwelt.

Friedrich Rückerts Vater war als Jurist aus dem thüringischen Hildburghausen nach Schweinfurt gekommen und hatte sich dort verheiratet; Friedrich, der älteste Sohn, erinnerte sich im Alter besonders des »wohlassortierten Spielwarenladens« nahe seinem Geburtshaus. 1792 ging sein Vater als Oberamtmann nach Oberlauringen; die Eindrücke aus jener Zeit hat Rückert 1829 in seinem Zyklus »Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmannsohns« poetisch erzählt und dabei gestanden, daß er damals noch nicht Goethe und Schiller gekannt habe, sondern:

Ich kost’ im Kosegarten,

Schon matt von Matthison,

Und schwor zu Gleims Standarten …

Beim Pfarrer lernte er alte Sprachen und liebte es, seine Aufgaben in feiner Kalligraphie in selbstverfertigten bunten Farben zu schreiben: Schon hier zeigt sich jene Vorliebe für das Kalligraphische, Dekorative, das seine Dichtung der orientalischen Poesie so verwandt macht – spricht doch auch Hermann Hesse von seiner »Kalligraphie in der Poetik«. Musik und Malerei dagegen blieben ihm ziemlich fremd – nicht, daß er sie nicht gemocht hätte, aber seine musikalische Begabung sollte sich eher in Worten ausdrücken, die dann von den großen Meistern der Musik verarbeitet wurden:

Was von Musik und Malerei

Wie wenig oder viel es sei,

Mir wohnet bei,

Das steckt in meinen Liedern!

schrieb er später. – Der Vierzehnjährige wurde auf das Schweinfurter Gymnasium eingeschult, wo er sich vor allem klassischen Studien widmete, aber auch von Herders soeben erschienenem »Cid« begeistert war, jenem Cid,

Der entsprungen

Aus dem Doppelelement

Morgen-abendländischer Begeisterungen.

1805, mit siebzehn Jahren, schloß der fleißige junge Mann seine Schulzeit ab und bezog die Universität Würzburg, um dem Wunsche des Vaters entsprechend Jura zu studieren. Doch lag ihm dieses Gebiet nicht, und schon ein Jahr später findet man ihn mit dem Studium von Sprachen und Mythologie beschäftigt; er hörte ein Kolleg über Horaz, der ihm bis an sein Lebensende lieb und teuer blieb, und begann 1807 mit dem Hebräischen, das noch während seiner Würzburger Zeit im Erlernen des Syrischen und Persischen eine sinnvolle Ergänzung finden sollte – alles in allem eine solide Grundlage für seine späteren orientalistischen Studien. Da die Geisteswissenschaften in Heidelberg besser vertreten waren als in Würzburg, begab sich der Student 1808 für ein Semester dorthin, begeistert von den Vorlesungen Heinrich Vossens über griechische Metrik, »denn der Herr hört feiner als zehn Nachteulen zusammen«, wie er entzückt einem Freunde berichtet. (Viele Jahre danach sollte Rückert ein amüsantes Lobgedicht auf die Aischylos-Übersetzung seines alten Lehrers Voß verfassen.) Rückert selbst war mit einem ähnlich feinen Gefühl für Metrik begabt, und so gelang es ihm später, komplizierte arabische, persische und indische Metren zu identifizieren und auch dem Deutschen anzuverwandeln; in seinen letzten Lebensjahren widmete er sich besonders der griechischen Metrik. In Heidelberg beeindruckten auch Creuzers Vorlesungen über Mythologie den Studenten, der sich damals an ersten Gedichten versuchte. Es könnte sein, daß er in Creuzers Vorlesungen auch den mit ihm gleichaltrigen Joseph von Eichendorff getroffen hat, der in einem Altersaufsatz die romantisch-gärende Stimmung dieser Universität farbig geschildert hat und dessen Lebensweg seltsame Parallelen zu dem Rückerts zeigt – bis hin zu den späten Jahren, da beide Dichter als Geheimräte in Berlin weilten.

Nach Würzburg zurückgekehrt, setzte Rückert seine Studien fort, nahm aber auch lebhaft an den neuen politischen und philosophischen Bewegungen teil, die in Deutschland in diesen Jahren der napoleonischen Kriege erwachten. Die Lektüre von Fichte, Schleiermacher und Ernst Moritz Arndt erregte und begeisterte ihn und trug gewißlich zu seiner Formung als bewußter Deutscher bei. Gespräche mit seinem Vater, den er auf langen Spaziergängen in und um Ebern begleitete (wie Wandern, vor allem in der fränkischen Heimat, ihn bis ins Alter erfreute) mögen manche Gesichtspunkte geklärt haben. Durch Freunde wurde er mit den Freimaurern bekannt und am 3. Mai 1810 in die Loge in Hildburghausen aufgenommen.

1811 finden wir Rückert in Jena, wo er seine Dissertation »De idea philologiae« – eine in ungewöhnlich lebendigem Latein geschriebene Arbeit von 82 Seiten – verteidigte. In ihr wies er, bei aller Bewunderung für das Griechische, auf die Fähigkeit der deutschen Sprache hin, als ideales Übersetzungsmedium zu dienen. Damit sind Gedanken angeschlagen, um deren Verwirklichung Rückert sich sein ganzes Leben lang bemühte. Die gelehrten Professoren waren freilich skeptisch, die Studenten dagegen feierten den geistig so wagemutigen jungen Dozenten.

Doch verschwand dieser junge Dozent schon im Frühjahr 1812 aus Jena, nachdem er einen Kurs über Mythologie gelesen hatte, und widmete sich zunächst ganz der Dichtkunst, »darinnen alles Äußerliche, Irdische untergehen muß«. In der Tat quollen in jenem Sommer die Gedichte fast überreich: der Tod einer jungen Freundin, Agnes Müller, im Juni ergab die gut vierzig Sonette »Agnes’ Totenfeier«; aber nur wenig später verliebte der Dichter sich in die Gastwirtstochter Marie Elisabeth Geuß in Baunachgrund, deren Kosenamen Marilies er in Amaryllis umformte – in der großen Menge (mehr als 70!) von leidenschaftlichen Sonetten, die er ihr widmete, zeigt das bekannteste, das mit ihrem von amara, »bitter«, abgeleiteten poetischen Namen spielt, schon alle Eigenheiten seiner Sprachkunst:

Amara, bittre, was du tust, ist bitter …

Voraus kommt eine Bitterkeit gegangen,

Zwo Bitterkeiten gehn dir zu den Seiten,

Und eine folgt den Spuren deiner Füße.

O du mit Bitterkeiten rings umfangen,

Wer dächte, daß mit all den Bitterkeiten

Du doch mir bist im innern Kern so süße.

Freilich war sich der Dichter der geradezu absurden Situation in dieser Beziehung durchaus bewußt und schrieb im Rückblick 1827:

Aus Ginster flocht’ ich manche Palmenkrone,

Spinnwebe wob ich oft zu Zauberbanden …

Zur gleichen Zeit aber wird in vielen von Rückerts Gedichten ein volksliedhafter Ton vernehmbar, der auf seine eifrige Lektüre von »Des Knaben Wunderhorn« zurückgehen dürfte. Zu erwähnen ist hier besonders das reizende Liedchen:

Zwölf Freier möcht’ ich haben, dann hätt’ ich genug,

Wenn alle schön wären und alle nicht klug …

Auch versuchte sich Rückert 1812 erstmals am Schauspiel – sein in acht Tagen geschriebenes harmloses Stück »Der Scheintod« nimmt eines der seit dem 18. Jahrhundert so beliebten Themen vom Hofe des Kalifen Hārūn ar-Raschīd auf. Daß Bagdad dabei an den Euphrat statt an den Tigris verlegt wird, ist ein kleiner Schönheitsfehler.

Die Neigung des jungen Dichters, der in der Poesie damals seinen »eigentlichen Lebenszweck« sah, zu Verkleinerungen und verspielten Versen, wie sie auch von orientalischen Dichtern so geliebt werden, ist besonders deutlich in dem später von Carl Loewe vertonten entzückenden Gedicht »Kleiner Haushalt«, in dem das »Schätzchen Tausendschön« in seinem sonderbaren Häuslein besungen wird:

… Wasserjüngferchen das flinke,

Holt mir Wasser, das ich trinke …

Alles hat mir unbezahlt

Schmetterling mit Duft bemalt …

Schönen Wagen

Hab’ ich bestellt,

Uns zu tragen

Durch die Welt.

Vier Heupferdchen sollen ihn

Als vier Apfelschimmel ziehn …

Und wenn sie uns werfen vom Wagen herab,

So finden wir unter Blumen ein Grab.

ein Gedicht, dessen letzte Zeile seltsam auf eines der schönsten »Kindertotenlieder« mit dem Kehrreim »unter Blumen und Klee« vorauszudeuten scheint, ebenso wie auf das Ghasel:

Meinen Schreib- und meinen Eßtisch hab’ ich unter Blumen,

mit der Schlußzeile:

Und im luft’gen Heer der Toten trab’ ich unter Blumen,

und noch eines seiner letzten Gedichte sieht das Menschenkind als »verwelkte Blume«, die unter Rasen und Blumen »mitten darunter« blüht. Denn das Gartenmotiv, das Leben (und Sterben) unter Blumen ist immer zentral für den Dichter geblieben.

Auch ist Rückerts Tendenz zu lehrhaften Versen bereits in jenen frühen Jahren deutlich; sein Gedicht:

Ich habe geklopft an des Reichtums Haus;

Man reicht mir ’nen Pfennig zum Fenster hinaus,

mit seinem wiederum von Todessehnsucht bestimmten Schluß ist wohl das bekannteste Beispiel dafür und ist in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts oft zitiert worden.

Die Jahre 1812 und 1813 waren aber eigentlich keine Zeit für romantische oder sentimentale Gedichte: die Freiheitskriege in Deutschland erregten die Gemüter, und Rückert dachte wohl auch daran, sich als Freiwilliger am Kampf gegen Napoleon zu beteiligen. Angeblich wurde er von seinen Eltern seiner schwachen Gesundheit wegen davon abgehalten; aber ein Brief vom 7. März 1813 an seinen Freund Christian Stockmar, der später Berater von Prinz Albert von Coburg und von Queen Victoria wurde, enthüllt den Grund seiner Nicht-Teilnahme wohl deutlicher: »Ich sage mir oft, daß das Dichten mein einziges Handeln ist, und nicht das Handeln …«

In der Tat, Handeln im normalen, »weltlichen« Sinne des Wortes war nicht Rückerts Stärke – hatte er doch bereits die Möglichkeit, ein Lehramt am Hanauer Gymnasium anzunehmen, ausgeschlagen, nachdem er ganz kurz im Januar 1813 dort aufgetaucht war (was seinem Vater allerlei Verdruß bereitete). Der Vater ließ seinen Ältesten freilich gewähren, und wenn Rückert ihm nach seinem Tode 1831 nachrief:

Meinem Vater muß ich’s danken, …

Daß er meine Poesie

Nie begriff, und gleichwohl Schranken

Des Verbots ihr setzte nie …

so hat er sich doch seiner Frau gegenüber bedeutend kritischer ausgesprochen und bitter über die »verfehlte Erziehung, vorzüglich durch fehlende väterliche Autorität«, geklagt, die ihn zu einem so sonderbaren Menschen gemacht habe.

Zunächst aber versank der junge Mann tiefer und tiefer in der Poesie, und da seinen Eltern, die drei kleine Mädchen verloren hatten, 1810 noch ein Nachkömmling, Marie, geboren war, schrieb er für das Schwesterchen seine »Fünf Märlein zum Einschläfern«, unter denen die Geschichte »Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt« und »Vom Büblein, das überall hat mitgenommen sein wollen« mit seinem Kehrreim:

Wenn nur was käme,

Und mich mitnähme!

am bekanntesten wurden. Später nahm Rückert diesen Ton noch einmal auf in dem singbaren »Sommerlied von den grünen Vögelein«.

Rückert besuchte von Ebern aus seine Freunde, den greisen Kirchenliederdichter, Superintendent Christian Hohnbaum, in Rodach, das er in einer schönen Elegie verewigte, und vor allem den reichsfreiherrlichen Truchseß Christian von Wetzhausen auf der Bettenburg nahe Hofheim in den Haßbergen – beides Beziehungen, die auch durch die folgenden Generationen sein ganzes Leben lang gepflegt wurden und die in der Zeit von 1812 bis 1813 wohl zu seiner politischen Formung beitrugen, da der Truchseß von einem großen Kreis politisch und kulturell tätiger einflußreicher Freunde umgeben war. Da er nicht handelnd in die Freiheitskriege eingreifen konnte, tat er es durch seine »Zeitgedichte«, unter denen die »Geharnischten Sonette«, 1814 gedruckt, am bekanntesten sind. »Freimund Raimar«, wie sich der Dichter in dieser Zeit nannte, war imstande, das Sonett aus einem eleganten Liebesgedicht in ein scharf geschliffenes Kampflied umzuformen, und noch immer liest man mit Bewegung das berühmteste dieser Gedichte:

Was schmied’st du, Schmied? »Wir schmieden Ketten, Ketten.«

Ach, in die Ketten seid ihr selbst geschlagen!

Was pflügst du, Bau’r? »Das Feld soll Früchte tragen.«

Ja, für den Feind die Saat, für dich die Kletten.

Was zielst du, Schütze? »Tod dem Hirsch, dem fetten.«

Gleich Hirsch und Reh wird man euch selber jagen.

Was strickst du, Fischer? »Netz dem Fisch, dem zagen.«

Aus eurem Todesnetz wer kann euch retten?

Was wiegest du, schlaflose Mutter? »Knaben.«

Ja, daß sie wachsen und dem Vaterlande

Im Dienst des Feindes Wunden schlagen sollen.

Was schreibest, Dichter, du? »In Glutbuchstaben

Einschreib’ ich mein und meines Volkes Schande,

Das seine Freiheit nicht darf denken wollen!«

Der Jammer über das Schicksal der aus Hamburg vertriebenen Flüchtlinge schlug sich nieder in dem Zyklus »Die Gräber von Ottensen«, und die Friedenssehnsucht, die nach der Not der napoleonischen Kriege die deutschen Staaten durchwehte, bildete für immer eine wichtige Komponente Rückertscher Dichtung. Jean Paul freilich, dem er seine »Deutschen Gedichte« geschickt hatte, weil er die romantische Phantasie dieses Dichters zunächst sehr bewunderte, hatte ihn »kahl abgefertigt«; später hat Rückert ihn boshaft charakterisiert als einen, der

Das wunde Herz methodisch als Zitrone

Zum letzten herben Tropfen ausgedrückt …

 

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Auf der Bettenburg den 15.ten Juny 1817 ad viv.

del. Krazeisen, Dr. Friedrich Rückert.

Stadtarchiv Schweinfurt, Sammlung

Dr. Rüdiger Rückert, A II 47-77.

 

Durch seine politische – für Spätere oft nur schwer nachvollziehbare – Dichtung war Friedrich Rückert in jenen Jahren immerhin so bekannt geworden, daß er im Dezember 1815 als Mitredakteur des Cottaschen »Morgenblattes für gebildete Stände« nach Stuttgart berufen wurde, wo seine anfänglich innige Freundschaft mit dem um ein Jahr älteren Ludwig Uhland durch politische Meinungsverschiedenheiten ein wenig abkühlte – jahrzehntelang aber litt er darunter, daß man ihm Uhland als Dichter vorzog, so daß er noch 1836 schrieb: »Aber meinen Sie im Ernste, ich sollte einen auf’s Maul schlagen, der sagt, ich sei ein größerer Dichter als Uhland, da dieser auch keinen geschlagen, der ihn den größeren genannt?« – Besonders wertvoll war in Stuttgart für den jungen Dichter die Vertiefung seiner Freundschaft mit Karl August Freiherr von Wangenheim, dem Kurator der Universität Tübingen und Freund von Rückerts Gönner, dem Freiherrn Truchseß. Der damals zweiundvierzigjährige Wangenheim, dem Rückert die Stelle bei Cotta eigentlich verdankte, hat farbig beschrieben, wie der hochgewachsene Rückert in seiner altdeutschen Tracht in Stuttgart unliebsames Aufsehen erregte und wie ihm die »deutschen Bart- und Kopfhaare unbeschadet der deutschen Gesinnung geschoren« werden mußten. Durch die Redaktionsarbeit am »Morgenblatt«, die dem Dichter freilich wenig lag, lernte er zahlreiche Schriftsteller kennen und korrespondierte eine Zeitlang besonders mit Friedrich de la Motte Fouqué, dem Herausgeber des »Frauentaschenbuches«, heute nur noch als Dichter des Märchens »Undine« bekannt. Ihm schrieb er 1816: »Ich komme immer mehr darauf, in der Poesie die eigene Freude höher anzuschlagen als den Beifall der Leute, die so selten wissen, was sie eigentlich mit der Poesie anfangen sollen.« Seltsam genug: nur wenig früher hatte Eichendorff an Fouqué, der sein Werk »Ahnung und Gegenwart« veröffentlicht hatte, ebenfalls einen »bekennenden« Brief über seine Haltung zu Leben und Literatur geschrieben.

Rückert arbeitete in diesen Jahren an epischen Stoffen, vertiefte sich in die Lieder der Minnesänger, und schrieb drei tendenziöse Napoleon-Schauspiele. Auch das Lied »Der alte Barbarossa« gehört in diese Zeit: In ihm ist Rückerts Hoffnung auf ein geeintes deutsches Reich (nicht das Reich des 1815 geformten Deutschen Bundes) verschlüsselt ausgedrückt, und es nimmt damit gewissermaßen seine unveröffentlichten »Kaiserlieder« von 1848 bis 1849 voraus. Das Miterleben der durch Krieg, Aufstände und Naturkatastrophen bedingten Hungersnot 1816-17 ließen ihn auch Verse schreiben, die zwar künstlerisch nicht sehr hoch stehen, aber für seine Anschauung wie für seine Arbeitsweise aufschlußreich sind: Schillers bekannte Hymne: »Windet zum Kranze die goldenen Ähren …« wird in einen Lobgesang auf die »nährenden Ähren« und die Bedeutung der Arbeit,

Wie sie entringt