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Sonja Valentin

»Steine in Hitlers Fenster«

Thomas Manns Radiosendungen
Deutsche Hörer! (1940 – 1945)

 

 

 

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Die vorliegende Arbeit wurde ermöglicht
durch die großzügige Unterstützung
der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

 

 

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Das Foto zeigt Thomas Mann 1948 in Pacific Palisades.
©Keystone/Thomas-Mann-Archiv/Florence Homolka
Druck: Hubert & Co, Göttingen
gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier
ISBN (Print) 978-3-8353-1696-6
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2813-6
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2814-3

Inhalt

I.    Einleitung

 

II.  Die Macht am Mikrophon

Psychologische Kriegsführung im Äther

1. »Hier ist England!« – Der Deutsche Dienst der BBC

2. Rundfunk und Propaganda im Nationalsozialismus

3. Die Zusammenarbeit zwischen Thomas Mann und der BBC

4. Die Deutsche Hörer!-Sendungen als Instrument der psychologischen Kriegsführung

5. »Meine eigene Stimme« – Thomas Mann spricht selbst

 

III. »Where I am, there is Germany«

Thomas Manns Situation als Emigrant

1. Thomas Mann im amerikanischen Exil

2. Der Anspruch auf Repräsentanz deutscher Kultur

3. »Ich habe ihn gekannt, geliebt und verehrt«
Thomas Mann und Franklin Delano Roosevelt

4. Der Briefwechsel mit Agnes E. Meyer

5. Bekenntnis zur Politik: Die Bedeutung des Briefwechsels für Thomas Manns Deutsche Hörer!-Sendungen

6. Robert Gilbert Vansittart und Black Record (Exkurs I)

 

IV. »Es ist die Stimme eines Freundes«

Thomas Mann am Mikrophon

1. Die Radiosendungen Deutsche Hörer! von Oktober 1940 bis Mai 1944

2. Analyse der Reden (I)

3. »Wider den undeutschen Geist«
Die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 als Ausdruck nationalsozialistischer Kulturpolitik (Exkurs II)

4. Analyse der Reden (II)

5. Zusammenfassung

 

V. »Was soll man ihnen sagen?«

Thomas Manns letzte Reden an seine deutschen Hörer

1. Die Sendepause zwischen Mai 1944 und Januar 1945

2. Gründe für die Wiederaufnahme der Sendungen

3. »Wir wollen von Schuld nicht reden«
Die Deutsche Hörer!-Sendungen von Januar bis Mai 1945

 

VI. »Du hast einen anderen Geist als wir«

Der Disput um Thomas Manns Rückkehr nach Deutschland

1. Die »große Kontroverse«: Thomas Mann im Streit mit den Vertretern der »inneren Emigration«

2. »Kommen Sie bald zu Rat und Tat«. Walter von Molo bittet Thomas Mann um Rückkehr nach Deutschland

3. »Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe«
Thomas Manns Brief nach Deutschland

4. Frank Thieß und die »innere Emigration«

5. Das zerschnittene Tischtuch:
»Abschied von Thomas Mann«

6. Gottfried Benns »Antwort an die literarischen Emigranten« (Exkurs III)

7. Thomas Manns letzte Deutsche Hörer!-Sendung und die Zuspitzung der »großen Kontroverse«

8. »Man gönne mir mein Weltdeutschtum …«
Analyse der Radioansprache vom 30. Dezember 1945

 

VII. »Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?«

Reaktionen auf Thomas Manns BBC-Reden

1. Hass und Gehässigkeit: deutsche Intellektuelle gegen Thomas Mann nach 1945

2. Thomas Mann, ein »unwissender Magier«?

3. Reaktionen auf Deutsche Hörer!

3.1 Stimmen aus Deutschland

3.2 Stimmen aus Großbritannien

3.3 Stimmen aus den USA

 

VIII. Schlussbetrachtung

 

Literatur

Dank

Register

I. Einleitung

Die Politik? […] Nun ja, sie liegt einem wie Centnerlast auf der Brust; aber interessant und spannend ist es ja auch wieder damit, und wenn Recht behalten glücklich machte, so müsste ich sehr glücklich sein, denn wie es mit dem ›National-Sozialismus‹ gehen würde, darin habe ich vollkommen Recht behalten …

Thomas Mann1

Als Thomas Mann am 7. Oktober 1941 diese Zeilen an die deutsch-amerikanische Journalistin (und seine Mäzenin) Agnes E. Meyer schrieb, hatte er bereits zwölf Radioreden für den Deutschen Dienst der BBC verfasst und die meisten davon in Los Angeles in einem Tonstudio aufnehmen lassen. Seine monatlichen Ansprachen richteten sich an alle Deutschen, die es trotz Androhung schwerster Strafen wagten, Programme der BBC zu empfangen.

Die Deutsche Hörer!-Sendungen gehören zu den wichtigsten psychologischen Waffen, die Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs gegen Hitler-Deutschland einsetzte, und über einen Zeitraum von fast fünf Jahren stellte sich Thomas Mann bereitwillig in den Dienst der britischen Propagandapolitik.

Dass er diesen Dienst oft als Belastung empfand und häufig über den Zeitaufwand klagte, den das Schreiben und Sprechen der »Messages« verlangte, soll nicht den Blick darauf verstellen, dass er seine Arbeit für die BBC ernst nahm und sehr engagiert ausübte. Gab sie ihm doch Gelegenheit, auch im amerikanischen Exil den Kontakt zu seiner Leserschaft in Deutschland aufrechtzuerhalten und gleichzeitig politisch zu wirken.

Die Formulierung »Steine in Hitlers Fenster« stammt aus einem Brief, den Thomas Mann am 31. Juli 1943 an den österreichischen, 1938 nach England emigrierten Schriftsteller Felix Braun schrieb. Er berichtet ihm darin von seinem aktuellen Romanprojekt, Doktor Faustus:

[…] eine moderne Musiker-Geschichte, aber eine sehr sonderbare, in die auch die deutsche Traurigkeit mit hineinkommt. Das geschieht mit der rechten Hand. Mit der linken werfe ich unermüdlich Steine in Hitlers Fenster. Aber die eine weiss, was die andere tut.2

Diese Sätze beschreiben sehr plastisch das für Thomas Mann charakteristische Selbstverständnis während der Zeit seines amerikanischen Exils: Er sah sich als Schöpfer bedeutsamer literarischer Werke, der sich gleichzeitig politisch aktiv im Kampf gegen Hitler und den Nationalsozialismus engagierte. Diese beiden Aspekte seiner schriftstellerischen Tätigkeit standen für ihn nicht im Widerspruch. Seine Deutsche Hörer!-Sendungen gehören zu den großen und schwergewichtigen »Steinen«, mit denen Thomas Mann auf Hitler zielte. Diese besondere Ausdrucksform seines politischen Engagements während des Zweiten Weltkriegs gilt es zu untersuchen und die Radioreden als wichtigen Bestandteil seines Gesamtwerkes zu würdigen.

Im Gegensatz zu Thomas Manns Romanen, seinen Erzählungen und Essays haben seine Rundfunkbotschaften in der Forschung nur marginale Aufmerksamkeit erfahren und wurden eher negativ als positiv bewertet. Die Deutsche Hörer!-Sendungen finden zwar Erwähnung in biographischen Darstellungen3, im Zusammenhang mit Thomas Manns Politik-Verständnis4, seinem Verhältnis zu Deutschland5 und Amerika6, doch eine umfassende Untersuchung fehlte bislang. Die vorliegende Arbeit begegnet diesem Desiderat und zeigt, dass es sich bei den Radiosendungen nicht um Reden »von […] kalter Besserwisserei« (Werner Bergengruen7), um »Predigten« (Klaus Harpprecht8), »absolute Missgriffe« (Günter Scholdt9) oder »Ansprachen […], die den Faschismus mit denselben Mitteln bekämpften, mit denen (Thomas Mann) die Republik verklärt hatte« (Walter Boehlich10), handelt.

Im Mittelpunkt steht die detaillierte Analyse der Deutsche Hörer!-Sendungen, die sich ihrer Entstehung, ihren zentralen Themen, Intentionen und ihrer sprachlichen Gestaltung widmet. Damit grenzt sie sich von zwei Publikationen ab, die sich ebenfalls mit den BBC-Reden Thomas Manns beschäftigen:

Matthias Wolbolds Dissertation, Reden über Deutschland. Die Rundfunkreden Thomas Manns, Paul Tillichs und Sir Robert Vansittarts aus dem Zweiten Weltkrieg (Münster 2005), präsentiert drei unterschiedliche Redner, die sich öffentlich propagandistisch äußern, und vergleicht sie vor dem Hintergrund zeitgenössischer Faschismustheorien. Anders als Thomas Mann hatte Paul Tillich eine spezifische, klar definierte Zielgruppe. Mit seiner Reihe »Meine deutschen Freunde!« wandte er sich in den Jahren 1942 bis 1944 mit wöchentlichen, vom amerikanischen Sender Voice of America ausgestrahlten Sendungen an die protestantische Opposition in Deutschland. Die Rundfunkreden Robert Vansittarts, 1940 in englischer Sprache unter dem Titel Black Record erschienen, richteten sich dagegen an ein britisches Publikum, dem erklärt wurde, warum Deutschland ein idealer Nährboden für den Faschismus und für einen »Führer« wie Hitler sei.

Die unterschiedlichen Adressaten der Rundfunkreden lassen einen Vergleich zwischen Thomas Mann, Paul Tillich und Robert Vansittart nur sehr begrenzt zu, wenn man über die Grundprämisse hinausgehen möchte, dass es sich bei allen Verlautbarungen um Propaganda handelt.11

Auch die Dissertation von Martina Hoffschulte, »Deutsche Hörer!« Thomas Manns Rundfunkreden (1940 bis 1945) im Werkkontext (Münster 2002), besitzt einen anderen thematischen Schwerpunkt als die vorliegende Arbeit und beinhaltet lediglich eine Einzelanalyse einer Radiosendung. Die Autorin zieht für ihre umfangreiche Untersuchung die Rede vom 10. Mai 1945 anlässlich der Kapitulation Deutschlands exemplarisch heran, doch diese Ansprache kann nicht als repräsentativ gewertet werden, da mit dem Ende des Krieges die bisherige propagandistische Funktion der Radiosendungen und die damit verbundenen Intentionen ihres Sprechers obsolet geworden waren.

Thomas Mann sendete von Oktober 1940 bis November 1945 insgesamt 58 Rundfunkreden nach Deutschland und, zusätzlich, Mitte Oktober 1942 eine Ansprache an die »Amerikaner deutscher Herkunft« als Teil eines vom United States Office of War Information (OWI) initiierten Programms. Diese 59 Reden sollen im Folgenden eingehend untersucht werden.12 Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf ihrem politischen Gehalt und der damit verbundenen propagandistischen Funktion, doch auch die besonderen ästhetisch-literarischen Qualitäten der Texte sollen gewürdigt werden.

Auf die Zusammenarbeit zwischen Thomas Mann und der BBC wird ausführlich eingegangen. Unter der Fragestellung, welche Interessen die BBC verfolgte, indem sie Thomas Mann als Sprecher engagierte, und welche Motive der Dichter hatte, sich für die britische Propaganda zu betätigen, werden Dokumente aus dem Archiv der BBC in Caversham (bei London) einbezogen und ausgewertet.

Thomas Mann stellte sich freiwillig und bewusst in den Dienst der BBC und betrat damit neues Terrain, das es ihm ermöglichte, sich als politisch agierender Schriftsteller im Kampf gegen den Faschismus zu präsentieren. Auf die Schwierigkeiten, die sich dabei für ihn aus dieser Verbindung der Rolle des Literaten mit der des Propagandisten ergaben, wird ebenso eingegangen wie auf seine besondere Lebenssituation im amerikanischen Exil.

In den Deutsche Hörer!-Sendungen spiegelt sich Thomas Manns ambivalentes Verhältnis zu Deutschland: Einerseits verstand er sich als Repräsentant der deutschen Kultur und der Tradition eines besseren Deutschland und brachte dies auch gegenüber seinen Hörern unmissverständlich zum Ausdruck, andererseits verzweifelte er zunehmend daran, dass die breite Mehrheit der Deutschen gewillt zu sein schien, dem Hitler-Regime bis in den Untergang zu folgen.

Es zeigt sich in den Reden auch Thomas Manns Interesse, sich in seiner neuen amerikanischen Heimat zu etablieren, Anerkennung als Autor und Publizist im kulturellen Feld zu erreichen und sich damit von anderen deutschen Exilautoren abzugrenzen. Es soll auch der Einfluss nachgewiesen werden, den Thomas Manns Wunsch, amerikanischer Staatsbürger zu werden, auf die Reden hatte. Entsprechend gilt der »doppelten Richtung«, in die er seine Rundfunkbotschaften sendete, bei der Analyse der Reden besondere Aufmerksamkeit.

Der Aspekt der Selbstinszenierung spielt bei Thomas Manns Rundfunkaktivitäten eine wichtige Rolle. Anders als bei seinen öffentlichen Vorträgen in den USA hatte er im Tonstudio keinerlei Kontakt zu seinen deutschen Hörern, konnte die unmittelbare Wirkung seiner Worte nicht überprüfen und musste sich sein Publikum imaginieren. Aus dieser besonderen Sprechersituation erwuchs eine bestimmte Haltung, die Thomas Mann vor dem Mikrophon einnahm. Auch Widersprüche und Unstimmigkeiten innerhalb der Reden gilt es aufzuzeigen.

Neben Dokumenten aus dem BBC-Archiv werden auch private Äußerungen Thomas Manns in Tagebüchern und Briefen, die im Zusammenhang mit seinen Deutsche Hörer!-Sendungen stehen, ausgewertet, da sie dem vertiefenden Verständnis der Radioreden dienen. So lassen sich auch vorhandene Diskrepanzen zwischen seiner Rolle als Schriftsteller und Publizist im Dienste der britischen Kriegspropaganda und ihm als Privatperson aufzeigen. Auffällig ist, dass die Haltung Thomas Manns, die er gegenüber seinen deutschen Hörern einnimmt, bisweilen erheblich von den Überzeugungen, die er im privaten Kontext äußert, abweicht. Dabei kommt seiner Korrespondenz mit Agnes Elisabeth Meyer eine maßgebliche Rolle zu. Thomas Manns Briefe an seine amerikanische Mäzenin stellen eine Art Kommentar zu den Reden dar und geben Aufschluss über seine sich während des Krieges verändernde Einstellung zu Deutschland und den Deutschen, zu seinem Hass auf Hitler und seiner Bewunderung für Franklin D. Roosevelt. Ferner wurden Dokumente im Thomas-Mann-Archiv in Zürich13 eingesehen. Den engen Zusammenhang zwischen Thomas Manns Rundfunkaktivitäten und seiner Auseinandersetzung mit den Vertretern der »inneren Emigration« nach 1945 aufzuzeigen ist ein weiteres Ziel dieser Arbeit. Thomas Manns in den Radioreden wiederholt vorgebrachte Forderung, alle Deutschen sollten sich zu den nationalsozialistischen Verbrechen bekennen und dafür die notwendige moralische Verantwortung übernehmen, ist als Hauptursache für den Streit, der als »große Kontroverse« in die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur einging, zu betrachten.14 Thomas Manns Deutsche Hörer!-Sendungen hatten auf den Verlauf dieser von allen Parteien leidenschaftlich geführten öffentlichen Debatte erheblichen Einfluss.

Auch die für den deutschen Schulddiskurs besonders relevante Radioansprache vom 30. Dezember 1945, in der Thomas Mann sagt: »Aber eben als Deutscher, der tief empfindet, daß alles, was deutsch heißt, in die furchtbare nationale Gesamtschuld eingeschlossen ist, kann ich mir nicht erlauben, an der Politik der Sieger eine Kritik zu üben«15, wird vor dem Hintergrund der anderen Deutsche Hörer!-Sendungen eingehend interpretiert und bewertet. In diesem Zusammenhang soll untersucht werden, ob der Anteil der BBC-Reden Thomas Manns an der »großen Kontroverse« nicht größer ist als bisher angenommen.

Das letzte Kapitel der Arbeit beschäftigt sich mit der zeitgenössischen Rezeption der Deutsche Hörer!-Sendungen in Deutschland, Großbritannien und den USA.

Vor dem Hintergrund der Frage, ob Thomas Manns Ansprachen mehr waren als »sinnlos verlorene Liebesmüh für Deutschland«16, werden unter anderem Briefe von deutschen Hörern ausgewertet, die Aufschluss darüber geben, welche Resonanz seine Radioreden während des Krieges erfuhren. Verschiedene Stimmen aus Großbritannien und ein Vergleich zweier Rezensionen zur amerikanischen Druckausgabe von »Listen, Germany!« aus den Jahren 1943 und 1946 zeigen, wie unterschiedlich und kontrovers die Reaktionen auf Thomas Manns Rundfunkaktivitäten für die BBC waren.

II. Die Macht am Mikrophon
Psychologische Kriegsführung im Äther

1. »Hier ist England!« – Der Deutsche Dienst der BBC

Die psychologische Kriegsführung ist im wesentlichen eine Hilfswaffe. Sie kann von sich aus keine Siege erringen. Sie muß innerhalb der Grenzen der nationalen Politik funktionieren und diese Politik widerspiegeln, selbst wenn sie schlecht oder dumm ist.

Hugh Carleton Greene1

Die British Broadcasting Corporation wurde 1922 als privatrechtliches Unternehmen gegründet und ist seit 1927 eine öffentlich-rechtliche Institution. Der deutschsprachige Dienst der BBC existierte ab September 1938 und stellte am 31. März 1999, relativ unbeachtet von der Öffentlichkeit, seine Arbeit ein.2

Die erste Sendung wurde am 27. September 1938 ausgestrahlt, zu der Zeit, als mit dem Münchener Abkommen der britischen Regierung die Gefahr eines bevorstehenden Krieges bewusst wurde. Jede Sendung begann mit folgender Ansage: »This is London calling in the European Service of the BBC. London calling Europe!« Daran anschließend: »Hier ist England! Hier ist England! Hier spricht der Deutsche Dienst der BBC!«

Der Abspann war gleichlautend mit ausführlicher Angabe der Sendezeiten und Wellenlängen. Als akustische Kennmarke erklangen von September 1938 bis zum 27. Juni 1941 die Anfangstakte von Jeremiah Clarkes Komposition Trumpet Voluntary; vom 28. Juni 1941 bis zum 8. Mai 1945 gab es zu Beginn jeder Sendung die dreimalige Wiederholung der ersten vier Noten von Beethovens 5. Symphonie, gespielt auf einer Pauke.3 Das Gesamtprogramm des Deutschen Dienstes dauerte zu Beginn etwas weniger als vier Stunden pro Tag und wurde ausgestrahlt in Sendeblöcken von 15 bis 30 Minuten. Alle Sendungen wurden in eine der folgenden Kategorien eingeteilt: Nachrichten (»news«), Hintergrundberichte und Dokumentationen (»features«), Ansprachen (»talks«).

Während die Feature-Sendungen hauptsächlich satirisch im Ton und in ihrer sprachlichen Gestaltung unkonventionell waren, sollten die Ansprachen (»talks«) seriös und anspruchsvoll sein. Um Propaganda ging es in beiden Fällen, doch den Ansprachen lag eine andere Propagandastrategie zugrunde, auf die im Folgenden noch näher einzugehen sein wird.

Erfunden von BBC-Regisseuren, genossen die »broadcast talks« seit der Gründung der BBC im Jahr 1922 einen hohen Stellenwert und spielten bis in die 1960er Jahre eine zentrale Rolle in allen Programmbereichen der Rundfunkanstalt. Sie trugen maßgeblich bei zur exzellenten Reputation, die die BBC im Hinblick auf Glaubwürdigkeit und Neutralität in der Berichterstattung weltweit genoss.4

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs waren die BBC-Redakteure hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen der unterschiedlichen Sendeformate bereits sehr erfahren.5 Leonard Miall, damals ein junger Angestellter, der später als Redakteur und Mitglied der »British Political Warfare Mission« in den USA für Thomas Mann ein wichtiger Ansprechpartner sein sollte, führte 1939 den Begriff »news-talk« ein.6 Der Begriff stand für Nachrichtenkommentare zu aktuellen Themen. Von 1939 bis 1945 wurden »talks« und »news-talks« bei der BBC zu politischen, sozialen und militärischen Themen von bekannten Sprechern präsentiert, darunter Sefton Delmer, ehemaliger Berliner Korrespondent des Daily Telegraph, Lindley Fraser7 sowie die späteren Politiker Richard Howard Stafford Crossman und Patrick Gordon-Walker.

Von allen Sprechern, deren Worte die BBC während des Krieges nach Deutschland sendete, war Thomas Mann zweifellos der berühmteste.8 Unabhängig von seinem weltweiten Bekanntheitsgrad als Schriftsteller und Nobelpreisträger genoss er aufgrund seines demonstrativen Protestes gegen Hitler-Deutschland Glaubwürdigkeit und Respekt.

Spätestens 1937, mit der Veröffentlichung seines Briefes an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn9, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und in vielen Ländern verbreitet wurde, war bekannt, welchen Standpunkt Thomas Mann eingenommen hatte.

Für die folgende Untersuchung der Deutsche Hörer!-Sendungen als wichtiger Bestandteil der britischen Kriegspropaganda sollen die maßgeblichen Ziele und Schwerpunkte des deutschsprachigen Programms der BBC hier vorgestellt werden. Die Richtlinien, festgehalten in einem Dokument vom 3. September 194010, galten auch für die Reden, mit denen Thomas Mann sich am britischen Ätherkrieg gegen Hitler-Deutschland beteiligte. Inwieweit er sich an die Vorgaben hielt oder davon abwich, gilt es anhand der einzelnen Deutsche Hörer!-Sendungen zu überprüfen.

Layout of BBC broadcasts in German

There are four main objects in foreign broadcasting in time of war:

(1) to convince the audience that we are likely to win; (2) to make them want us to win; (3) to undermine the listener’s morale by confusing him, and (4) to invite listeners to passive and, later on, to active resistance. […]

The primary purpose of the broadcasts is to fulfil the first two objectives, […] to convince the Germans that we are going to win the war and to make it seem desirable or at any rate tolerable that we should do so. No hard and fast distinction can be made between news and other forms of propaganda, but on the whole news is the primary means of convincing the Germans, first that they may lose, and later on that they will lose.

In addition to this, the news can help to build up a new point of view in the listener. […]

If we are to convince the Germans that we have a tolerable or even workable alternative for Europe, this must be done by means of programmes designed to re-educate the listener in Western European modes of thought and to put before him an alternative to the Nazi view of the world.11

Who are the broadcasts meant for?

Clearly this sort of propaganda is meant for those who are likely converts to our point of view or will have influence on the course of events before and after the German collapse.

They include army officers, party officials, government officials, people occupying responsible positions in industry, skilled workers, […] farmers and, as important as any of the other classes, the women of Germany who have a common interest in the safety of their menfolk.

The optimum listening time

The strain and danger of listening to foreign broadcasts in Germany has probably been exaggerated, but is certainly considerable.12

[…] As a general rule a quarter of an hour or 20 minutes at the most is probably the most effective. In the early morning for reasons which are common to all countries […], 10 minutes is probably the maximum effective period, i. e. 5 minutes news plus 5 minutes talk.13

Differentiation of Appeal

Each programme period must contain at least some news in the strict sense of the word but in many cases a short news summary may be more effective than a full news bulletin, and leave space for other forms of propaganda. […] Talks, discussions, news commentaries, feature programmes and music, […] all have their place in a balanced programme. […] Good material can often be used several times over in programmes directed to different sections of the audience.

 

Im Zusammenhang mit den zielgruppenspezifischen Sendeformaten ist ein Hinweis wichtig, der sich auf die Deutsche Hörer!-Sendungen und die nach Einschätzung der BBC optimale Ausstrahlungszeit der Ansprachen beziehen lässt:

The »intelligentsia« period from 12.30 to 1 and from 2.45 to 3 would be primarily designed for upper middle class listeners who have or had strong ties with traditional Western European civilisation. In addition to the news commentary of the ordinary kind, they would contain news of a more specialised kind […]. The remainder of these periods would be devoted to talks14, discussions, features, book reviews and musical programmes designed to re-educate the listener in civilised ways of thought. […]

The period from 10.15 (pm) to 10.30 (pm) corresponds with 12.15 to 12.30 German Summer Times. It must be supposed that the audiences that stay up for this period are tougher and keener than most. This period gives a chance of appealing to the élite who will make the next German revolution and who, we hope, will run the country afterwards. […] Listeners at this time of night can be assumed to be more sympathetic to the allied cause than those at other times.15

Es wird im Einzelnen noch zu zeigen sein, welche der von der BBC hier programmatisch vorgegebenen Richtlinien sich in Thomas Manns Deutsche Hörer!-Reden wiederfinden und welche davon abweichen.

2. Rundfunk und Propaganda im Nationalsozialismus

In einer Diktatur sind die Medien, insbesondere die Massenmedien, ein entscheidendes machtpolitisches Instrument. Die Nationalsozialisten verwandten viel Mühe auf eine möglichst umfassende Nachrichtenkontrolle im deutschen Presse- und Rundfunkwesen.

Es gehörte zu den zentralen Aufgaben des Propagandaministers Joseph Goebbels zu entscheiden, welche Informationen der Öffentlichkeit in welchen Formulierungen zugänglich gemacht werden sollten. Täglich einberufene Ministerkonferenzen waren dafür das wichtigste Instrument bei Presse und Rundfunk. Den propagandistischen Wert des Rundfunks hatte Goebbels früh erkannt: »Was die Presse für das neunzehnte, das wird der Rundfunk für das zwanzigste Jahrhundert sein; man könnte auf ihn das Wort Napoleons dahin variieren, dass der Rundfunk die achte Großmacht darstellt.«16

Goebbels verkündete im März 1933, kaum zwei Wochen nach seiner Ernennung zum Propagandaminister, er halte den Rundfunk »für das allermodernste und für das allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument, das es überhaupt gibt«. Es dürfe in Zukunft in Deutschland kein Ereignis von politisch-historischer Tragweite geschehen, an dem das deutsche Volk nicht über Rundfunk teilnehme.

Dem Rundfunk kam auch deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil er eine Schwachstelle im nationalsozialistischen Propagandasystem bildete: Während es vergleichsweise einfach war, die deutsche Bevölkerung von der ausländischen Presse und dem internationalen Filmangebot abzuschneiden, gelang dies beim Rundfunk nicht. Das Informationsangebot aus dem Ausland war nicht völlig zu kontrollieren, weil sich Radiosender zwar stören, aber nicht völlig abdrängen ließen.17 Um ihr Nachrichtenmonopol zu sichern, mussten die Nationalsozialisten den Empfang ausländischer Sender also verbieten. Die immer wieder propagierten Begründungsversuche lassen sich auf den Satz des bis 1937 amtierenden Reichssendeleiters Eugen Hadamovsky zusammenfassen: »Wenn um das Leben des Volkes gekämpft wird, hat keiner das Recht, dem Feind zuzuhören und seine Nachrichten zu verbreiten.«18

Um über die Stimmung in der deutschen Bevölkerung zuverlässig informiert zu sein, hatte die nationalsozialistische Regierung einen aufwendig organisierten Spitzelapparat aufgebaut. Seit Dezember 1939 erschienen mehrmals wöchentlich umfangreiche Berichte unter dem Titel »Meldungen aus dem Reich« des Sicherheitsdienstes (SD) der SS.19 Diese Mitteilungen aus den Bereichen »Allgemeines«, »Kulturelle Gebiete«, »Volkstum«, »Recht und Verwaltung«, »Wirtschaft« und »Einzelmeldungen« sind als eine Art Frühwarnsystem zu betrachten, mit dessen Hilfe die NS-Führung auf Zeichen von Unmut oder auf erste oppositionelle Bewegungen reagieren konnte. Für diese Arbeit ist insbesondere der Bereich »Kulturelle Gebiete« relevant, weil er neben dem einleitenden Abschnitt über »Aufnahme und Auswirkung der allgemeinen Propaganda-, Presse- und Rundfunklenkung« für die jeweils vorangegangenen Tage auch den Punkt »Stimmen zum Rundfunk« beinhaltete.20 Der Quellenwert der darin protokollierten Informationen ist als hoch einzustufen, da dem SD im Interesse strategischen Herrschaftskalküls daran gelegen war, ungeschönte Berichte zu liefern. Dass diese Berichte im Verlauf des Krieges immer negativer ausfielen, stieß in einflussreichen Parteikreisen auf Abwehr und führte dazu, dass die »Meldungen aus dem Reich« im Sommer 1943 eingestellt wurden. Danach gab es nur noch gelegentliche »SD-Berichte zu Inlandsfragen«, die im Sommer 1944 ihr Ende fanden.21

Im Zusammenhang mit Thomas Manns Deutsche Hörer!-Sendungen sind die geheimen Lageberichte des SD erwähnenswert, weil sie beweisen, dass die Zahl der Hörer feindlicher Sender während der Kriegsjahre beständig wuchs.

Zu Beginn des Krieges, in den Jahren 1939 und 1940, waren die Nachrichten über die Siege der deutschen Wehrmacht als Propaganda noch völlig ausreichend, um für eine positive Resonanz bei der deutschen Bevölkerung zu sorgen. Die Meldung des SD, die am 3. Juni 1940 nach der Kapitulation Belgiens erfolgte, bestätigt, »dass die allgemeine Propagandalenkung gegenwärtig die ungeteilte Zustimmung des deutschen Volkes findet. […] Es besteht gegenwärtig ein absolutes Vertrauen zur gesamten Nachrichtenübermittlung«22

Auf britischer Seite konnte man diesen deutschen Propagandaerfolgen wenig entgegensetzen. So musste das BBC Overseas Department, das unter anderem mit der Überwachung der deutschen Rundfunkprogramme betraut war23, am 8. Juli 1940 in einem Bericht zugeben: »Hitler’s predictions have come true while those of the Allies have not and this has greatly damaged the prestige of British news.«24

Für die nationalsozialistische Propaganda trat die erste kritische Phase jedoch schon 1941 mit dem Beginn des Russlandfeldzuges ein. Am 25. August 1941 heißt es im Bericht des SD:

Zur Aufnahme der Gesamtberichterstattung der Presse und des Rundfunks im Osten wird gemeldet, dass die Erfolgsberichte keine rechte Begeisterung aufkommen ließen. Stark sei nach wie vor die Frage nach unseren Verlusten.25

Mit der Kapitulation der 6. Armee im Februar 1943 in Stalingrad geriet die nationalsozialistische Propaganda in eine Krise. Auch Goebbels’ Sportpalast-Rede vom 18. Februar, in der er publikumswirksam den »totalen« Krieg verkündete, konnte nicht verhindern, dass die Glaubwürdigkeit des deutschen Nachrichtenwesens drastisch sank. In den SD-Berichten spiegelte sich die zunehmende Skepsis wider, mit der die deutsche Bevölkerung auf die propagandistischen Anstrengungen ihrer Führer reagierte. Am 8. Juli 1943 heißt es zum Beispiel, dass »gewisse Vorurteile, z. B. die Ansicht, dass die Propaganda nicht oder nur einen Teil der Wahrheit sage, […] sich in weiten Teilen des Volkes regelrecht festgesetzt« habe (Meldungen 1984, Bd. 14, S. 5446). Auch wenn genaue Angaben fehlen, vermittelt der SD-Bericht vom 8. Juli 1943 einen Eindruck von der Bedrohung, die das Abhör-Problem für die nationalsozialistische Regierung darstellte:

Die Meldungen weisen […] auf die Tatsache hin, daß das Abhören ausländischer Sender offensichtlich seit Monaten stark zugenommen hat. […] Es gebe zwar niemand zu, daß er ausländische Sender höre, häufig werde aber in politischen Gesprächen darüber diskutiert, daß in England das Abhören deutscher Sender nicht verboten sei und daß die unzureichende Information des deutschen Volkes durch Presse und Rundfunk die Volksgenossen geradezu der Feindpropaganda in die Arme treibe. (Meldungen 1984, Bd. 14, S. 5447)

Wie eine Bankrotterklärung der nationalsozialistischen Propagandapolitik ist demnach die Mitteilung am 21. Oktober 1943 zu sehen, in der festgestellt wird, »dass sich die Bevölkerung ihr Bild der Lage unabhängig von den öffentlichen Führungsmitteln aus für sie erreichbaren ›Tatsachen‹ formt« (Meldungen 1984, Bd. 15, S. 5904).

Offensichtlich war es auch in einem totalitären, gleichgeschalteten Massenkommunikationssystem nicht möglich, den Informationsfluss zu monopolisieren und die Deutungshoheit über die empfangenen Nachrichten zu behalten.26

Vor diesem Hintergrund kommt dem Einfluss ausländischer Rundfunkprogramme, allen voran des Deutschen Dienstes der BBC, bei der Schwächung nationalsozialistischer Propagandaaktivitäten eine wichtige Rolle zu.

3. Die Zusammenarbeit zwischen Thomas Mann und der BBC

Da rufen alle jungen Theoretiker im Chor, der Dichter habe sich zu engagieren – doch wenn er es tut, und seit Büchner hat keiner es so konsequent getan, dreißig Jahre lang, wie Thomas Mann; dann soll er es nicht mit dem technisch hörbarsten Mittel tun – das war im Krieg die BBC –, sondern fürs Bücherbord, versteckt im Rosinenteig der »Belletristik« – als wisse heute noch irgendwer, wie die abzugrenzen ist.

Rolf Hochhuth27

Thomas Manns Radiobotschaften, die von der BBC in den Jahren 1940 bis 1945 nach Deutschland gesendet wurden, sind eine öffentliche, politische Stellungnahme zum Krieg und zum Nationalsozialismus und bezeugen den Willen des Schriftstellers, aus seinem amerikanischen Exil gegen das zu protestieren, was im Namen Deutschlands durch Hitler und dessen Regime geschah. Unter den zahlreichen Äußerungen, mit denen Thomas Mann wiederholt sein Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen charakterisiert hat, nehmen seine Radioansprachen für die BBC eine besondere Stellung ein. Sie gaben Anlass für eine Reihe von heftigen Auseinandersetzungen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, von denen die »große Kontroverse«, Thomas Manns Disput mit Vertretern der so genannten »inneren Emigration«28, die stärkste Wahrnehmung in der Öffentlichkeit erfuhr und mit ihren Konsequenzen für die Entwicklung der deutschen Nachkriegsliteratur die bedeutsamste war.29

Die vom Deutschen Dienst der BBC einmal im Monat ausgestrahlten insgesamt 59 Radiosendungen30, die unter dem Titel Deutsche Hörer! bekannt wurden, boten Thomas Mann Gelegenheit, aus dem amerikanischen Exil direkte Ansprachen an seine deutschen Landsleute zu schicken, motiviert von der Hoffnung, Einfluss ausüben und sie zur Erhebung gegen Hitler und das nationalsozialistische Regime aufrufen zu können. In seinem Vorwort zur ersten gedruckten Ausgabe der Radioansprachen im Jahr 1942 schrieb er:

Ich glaubte, diese Gelegenheit, hinter dem Rücken der Nazi-Regierung, die, sobald ihr die Macht dazu gegeben war, mich jeder geistigen Wirkungsmöglichkeit in Deutschland beraubt hatte, Kontakt zu nehmen – und sei es ein noch so lockerer und bedrohter Kontakt – mit deutschen Menschen und auch mit Bewohnern der unterjochten Gebiete, nicht versäumen zu dürfen […]. (DH, 7)

Es ist anzunehmen, dass die Initiative für die Radiosendungen nicht von Thomas Mann selbst, sondern von Erika Mann ausging, die sich im Sommer 1940, während der Angriffe der deutschen Luftwaffe auf Großbritannien, in London aufhielt und Rundfunkbeiträge für die BBC produzierte.

In seinem Brief an Agnes E. Meyer vom 12. August 1940 berichtet Thomas Mann mit offenkundiger Missbilligung von der bevorstehenden England-Reise seiner Tochter:

Angeblich geht sie für die »Nation« und andere Blätter, in Wirklichkeit aber, unter uns gesagt, ich bitte darüber zu schweigen, auf Wunsch und Betreiben des britischen Informations-Ministeriums, d. h. Duff Coopers, der […] einen Narren an ihr gefressen hat, und dem sie wahrscheinlich den deutschen broadcast reformieren soll. Die Engländer sind so dumm, so dumm, sie können sie schon brauchen. Und muss man ihnen nicht helfen, wie man kann? Schickt ihnen destroyers! Ich gehe mit gutem Beispiel voran und schicke ihnen meine Tochter.31

Alfred Duff Cooper (1890-1954), Schriftsteller und Politiker, war 1940/41 »Minister of Information« im Kabinett von Churchill und hatte Erika Mann bei einer Begegnung in Chicago versichert, dass ihre Dienste für die englische Propaganda willkommen seien. In einem Brief an Cooper vom 16. Mai 1940, geschrieben in New York, erinnert Erika Mann ihn an seine Worte und bekräftigt ihren Wunsch, nach England zu gehen:

Sehr geehrter Mr. Duff Cooper,

[…] wie ich Ihnen in Chicago sagte, glaube ich, daß ich für die deutschsprachigen Rundfunksendungen aus London nützliche Dienste leisten könnte. Denn obgleich mir bewußt ist, daß »Reden« Ihnen möglicherweise gar nicht mehr wichtig erscheint, meine ich noch immer, daß gewisse Resultate erhofft werden können, falls und wenn die richtigen Leute diese kranke Nation in der richtigen Weise ansprechen. Natürlich weiß ich nicht, wen Sie inzwischen mit dieser Rundfunkarbeit betraut haben mögen und ob er (oder sie) ebenso gut geeignet wäre wie ich oder sogar noch besser. Auf jeden Fall möchte ich Sie wissen lassen, daß ich mich Ihnen gern zur Verfügung stellen würde.32

Thomas Manns Wahrnehmung mochte eine andere sein, doch der Brief zeigt, dass der Wunsch, in England für den Deutschen Dienst der BBC tätig zu werden, von Erika Mann ausging. Duff Cooper gab sein Einverständnis, schickte ihr eine offizielle Einladung, und im August 1940 flog Erika Mann nach London, um bei der Zusammenstellung der deutschsprachigen Sendungen der BBC mitzuarbeiten. Sie durfte auch eigene Beiträge schreiben und sprechen und konnte sich davon überzeugen, dass ihre Worte in Deutschland Gehör fanden. Rückblickend, in lakonischem Ton, schrieb sie am 9. November 1940 an Lotte Walter:

Wieviel ich dort »geleistet« habe, weiß ich nicht. Neun Dinger an die Säue habe ich hingelegt und der Deutschlandsender sowohl als der »V. B.«33 und Lord Haw Haw34 haben protestiert. Das freut und ehrt einen ja denn auch wieder und will doch wohl beweisen, daß manch einer hingehört hat, als ich plapperte.35

Für Anna Zanco Prestel steht fest, dass es Erika Mann war, die ihren Vater überhaupt darauf brachte, das Radio als Medium für seine Interessen zu nutzen, und bei der BBC entsprechende Vorgespräche führte.36 Dokumente, die diese These bestätigen, ließen sich nicht finden, doch es ist anzunehmen, dass Erika Mann ihrem Vater von dem Erfolg ihrer Propaganda-Aktivitäten berichtet und damit sein Interesse an einer Tätigkeit für die BBC geweckt hat.

Innerhalb der BBC wurde Thomas Manns Name von Anfang an genannt, als es darum ging, nach Kriegsbeginn den German Service, das deutschsprachige Programm des Senders, zu erweitern. Bis es jedoch zur konkreten Zusammenarbeit und zu der Sendereihe Deutsche Hörer! kommen sollte, waren komplizierte transatlantische Verhandlungen notwendig. Im Folgenden sollen die Schritte von der ersten Kontaktaufnahme zwischen Thomas Mann und der BBC bis hin zur Ausstrahlung der ersten Radiosendung nachgezeichnet werden. Die Chronologie der Ereignisse orientiert sich zum einen an dem detaillierten, akribisch recherchierten Aufsatz von J. F. Slattery »Thomas Mann und die B.B.C. Die Bedingungen ihrer Zusammenarbeit 1940-1945«37 und zum anderen an Dokumenten, die bei den Materialrecherchen im Archiv der BBC in Caversham gefunden wurden. Auch ausgewählte Dokumente aus dem Thomas-Mann-Archiv in Zürich kommen hinzu, anhand deren die Erwartungen der BBC und deren Erfüllung bzw. auch Nichterfüllung durch Thomas Mann dargestellt werden sollen.

Slattery analysiert die Radioansprachen Thomas Manns im Verhältnis zu den Intentionen und Vorstellungen der BBC, wie sie von verschiedenen Mitarbeitern der BBC schriftlich dokumentiert wurden. Seine Ausgangsfragen sind dabei folgende: »Was hat die englische Radiogesellschaft von Thomas Mann erwartet, erhofft, verlangt? Und hat er ihren Wünschen entsprochen?«38

Wichtig ist die Prämisse: Sämtliche Wünsche und Absichten der BBC spiegelten die Propagandapolitik der britischen Regierung in der Kriegszeit wider.39

Thomas Mann hat seine Radiosendungen Deutsche Hörer! nicht selbst erfunden, und er hat sie auch nicht im Alleingang umgesetzt. Als Autor und Sprecher seiner Reden war er Teil eines Programm-Konzeptes, das von den verantwortlichen Redakteuren des Deutschen Dienstes der BBC entwickelt und von der britischen Kriegsregierung als Propagandamaßnahme gebilligt worden war.

Vor dem Hintergrund dieser Bedingungen ist die Frage zu verstehen, die den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bildet: Welche Interessen verfolgte die BBC mit der Entscheidung, Thomas Mann als Autor und Sprecher für Radiosendungen nach Deutschland zu engagieren? Der Deutsche Dienst der BBC, der die Reihe Deutsche Hörer! ab Oktober 1940 ausstrahlte, stand zunächst unter der Aufsicht einer amtlichen britischen Organisation, des »Department of Enemy Propaganda«, das nach dem in London liegenden Verwaltungsgebäude »Electra House« genannt wurde. »Electra House« gehörte zunächst zum Auswärtigen Amt, wurde jedoch später der »Political Warfare Executive« unterstellt.40

In anderen Worten: Thomas Manns Rundfunkbotschaften, gesprochen und aufgezeichnet in Amerika, nach London übermittelt und von dort nach Deutschland und in andere deutschsprachige Länder gesendet, waren fester Bestandteil der britischen Propagandapolitik während des Zweiten Weltkriegs.41

Man bediente sich bewusst des Literatur-Nobelpreisträgers, der in den USA als »the greatest living man of letters«42 galt und über ein ausgesprochen hohes symbolisches und kulturelles Kapital43 verfügte und der selbstbewusst von sich behauptete: »Where I am, there is Germany«.44 Thomas Manns Anspruch, im Exil als Repräsentant deutscher Kultur aufzutreten, sowie seine Überzeugung, dem »anderen«, nicht-nationalsozialistischen Deutschland eine glaubwürdige Stimme geben zu können, bewogen ihn dazu, sich auf die Zusammenarbeit mit der BBC einzulassen. Seine Intentionen, die persönlichen ebenso wie die politischen, passten zu den Propagandainteressen, die die BBC nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Sinne der britischen Regierung verfolgte.

Dass die Kooperation nicht frei von Spannungen und Unstimmigkeiten war, ist ebenso bekannt wie die wachsende Skepsis, mit der Thomas Mann die Wirkung seiner Reden beobachtete. Warum er seine Radiobotschaften an die deutschen Hörer zwischen Mai 1944 und Januar 1945 aussetzte, um sie dann wiederaufzunehmen, gilt es ebenfalls eingehend zu untersuchen. Die Gründe für die Unterbrechung sind zum einen in der veränderten weltpolitischen Lage zu suchen (ein Sieg der Alliierten über Deutschland war deutlich abzusehen), zum anderen in der persönlichen Lebenssituation Thomas Manns, der im Juni 1944 die lang ersehnte amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt und verunsichert war, welche Haltung er gegenüber den Deutschen in seinen Ansprachen zukünftig einnehmen sollte.

In seinem Brief an Agnes E. Meyer vom 7. Januar 1945 offenbart sich diese Unsicherheit:

B. B. C. London wollte durchaus, daß ich die Sendungen wieder aufnähme […]. Ich habe nachgegeben, aber es ist schwierig und zeitraubend. Was soll man ihnen sagen? In dem Wunsch nach Frieden und Wiederaufbau, der […] sie sehr beschäftigt, kann man sie bestärken. Nur sollen sie toller Weise die Vorstellung haben, die Alliierten hätten für den Wiederaufbau der zerbombten Städte aufzukommen! Es sieht höchst sonderbar und schwer verständlich in diesen Köpfen aus.45

Obwohl Thomas Mann bei der Gestaltung seiner Rundfunkbotschaften weitgehend freie Hand gelassen wurde, konnte auch er sich über bestimmte Vorgaben nicht hinwegsetzen, da in letzter Instanz nicht er, sondern die auftraggebenden Redakteure der BBC für die Inhalte der Sendungen verantwortlich waren. Zu den von Thomas Mann nur widerstrebend akzeptierten Richtlinien gehörte die zeitliche Begrenzung seiner Ansprachen auf zunächst fünf, später acht Minuten. Diese Vorgabe war der Sendestruktur des deutschsprachigen Programms der BBC geschuldet und ließ sich von Thomas Mann zu seinem Leidwesen nicht beeinflussen.46

Im Tagebuch äußerte er regelmäßig seinen Unmut über die zeitliche Limitierung bei seinen Deutsche Hörer!-Ansprachen. So notierte er am 28. Mai 1941: »[…] Der Tag gehörte der deutschen Sendung für morgen, vormittags notizen- und nachmittags diktatweise, worauf wieder bis zur Dürftigkeit gestrichen werden mußte. Entschluß, dies so nicht weiter zu tun.«47 Offenbar lenkte er doch ein, denn am folgenden Tag heißt es: »[…] Gegen Mittag nach Hollywood, zuerst zum National Broadcast, wo ich die Sendung nach Deutschland mit neuen Kürzungen auf die Platte sprach.«48

Wiederholt taucht das Problem der Zeitvorgabe und Thomas Manns Unwilligkeit, sich daran zu halten, in den Notizen und internen Mitteilungen der Programmverantwortlichen bei der BBC auf. In einem Telegramm des BBC-Vertreters in New York (W. M. Newton) an Cyril Connor (European Liaison, BBC London) vom 15. Juni 1941 heißt es:

THOMAS MANN FINDS FIVE MINUTES INADEQUATE ANY IMPORTANT THEME HENCE HURRIED DICTION49 RECENTEST TALK STOP MANN PROPOSES LEEWAY WITHIN TEN MINUTES STOP DOST AGREE50

Am Rand des Telegramms befinden sich folgende handschriftliche Bemerkungen: »(R. L.) Miall says can accommodate 8 minutes only (Mr. Craddock)«; »O.E.I.D. states: Minimum time from N. Y. is 10 minutes.«51

Es sollte jedoch nicht zu einem Kompromiss kommen, da das Sendeformat des Deutschen Dienstes der BBC einen derartig variablen Spielraum bei der Länge einzelner Sendungen nicht zuließ.

Zum Verständnis der Programmstruktur des Deutschen Dienstes und der Entschiedenheit, mit der man bei der BBC auf der Einhaltung der zeitlichen Vorgaben insistierte, mag der folgende Auszug aus einer internen Mitteilung von Lindley Fraser vom 4. Dezember 1942 sein. Sie bezieht sich auf die bevorstehende Weihnachtsansprache Thomas Manns:

Some time ago we cabled requesting that Mann’s talks should be shortened. Last month’s was only 5 ½ minutes, a length that we can manage to handle. This month’s is longer again – well over 6 minutes. Would it be possible to represent strongly to Thomas Mann that by increasing the length of his talks beyond 5 ½ minutes, he makes it difficult to the point of impossible for us to give them the coverage we want. […] Our object is to carry each talk of his in every main programme – but we cannot do this with the existing congestion of news unless he restricts himself to 5 minutes.52

Die Tatsache, dass beim Deutschen Dienst der BBC den aktuellen Nachrichten höchste Priorität eingeräumt wurde, wirkte sich auf die Länge aller anderen Sendungen aus. Um das Vorhaben, Thomas Manns Deutsche Hörer!-Sendungen jeweils am Ende eines Hauptnachrichten-Blocks zu positionieren, überhaupt umsetzen zu können, bedurfte es der strikten Einhaltung der vereinbarten Höchstdauer auf Seiten des Sprechers.

Die Diskussion um die Länge von Thomas Manns Ansprachen war damit allerdings noch nicht beendet. Am 7. Dezember 1942 schickte Basil Thornton, der Leiter des deutschsprachigen Dienstes der BBC (German Manager), einen Brief an die BBC-Vertretung in New York und bat darum, dass Thomas Manns Beiträge zukünftig die Länge von 5 ½ Minuten nicht überschreiten mögen, weil es sehr schwierig sei, sie in einem Programmblock unterzubringen, dessen Gesamtsendezeit nur 15 Minuten betrage und im Wesentlichen aus Nachrichten bestehe. Thornton formulierte es in diesen Worten:

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