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Heinrich Detering

Bertolt Brecht
und Laotse

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Legende

Als »der Chinese« ist Bertolt Brecht von Zeitgenossen und Nachgeborenen zuweilen bezeichnet worden, im Blick auf seine lebenslange Auseinandersetzung mit Gestalten, Texten und Denkfiguren der chinesischen Literatur und Philosophie. China interessiert Brecht bekanntlich als Schauplatz des weltgeschichtlichen Kampfes einer sozialistischen Revolution gegen eine überalterte Feudalgesellschaft, gegen imperialistische Fremdmächte und kapitalistische Ausbeutung.1 Es interessiert ihn als Ort einer kulturellen Tradition, die von jeher durch eine »Synthese« von Kunst und Didaxe und deren Kunst durch entsprechende Verfahren distanzierender »Verfremdung« bestimmt gewesen sei.2 Es interessiert ihn bereits ab 1920 um der sozialen, moralischen und geschichtsphilosophischen Ambivalenzen der konfuzianischen, mohistischen und taoistischen Traditionen willen. Und es beschäftigt ihn immer wieder – und vielleicht doch am umfangreichsten – als zuweilen umformend aufgenommene, nicht selten auch vergleichsweise äußerlich bleibende Maske einer exotischen Verfremdung des Eigenen, marxistische Chinoiserie. Vor allem aber beschäftigt es ihn über Jahrzehnte hinweg als Ursprungsort von Denkweisen, die für seine aus der westlichen Geschichtsphilosophie gewonnenen Prinzipien eine fortdauernde Provokation bedeuten, Verheißung und Versuchung zugleich. Die provozierendste dieser Denkweisen trägt in der Kultur- und Religionsgeschichte den Namen »Taoismus«; ihr legendenhafter Gründer heißt Laotse.

In den ersten Tagen des September 1920 vermerkt der zweiundzwanzigjährige Dichter Bertolt Brecht in kurzer Folge die erste Lektüre eines taoistischen Romans – Alfred Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun – und die erste namentliche Begegnung mit dem Urheber des Taoismus selbst. Dieser Laotse, notiert Brecht, stimme in staunenerregender Weise »mit mir überein«. Achtzehn Jahre nach dieser ersten Begegnung, nach lebens- und werkentscheidenden Wendungen, in denen der frühere Gegner aller geschichtsphilosophischen Sinngebung sich zum erklärten Marxisten gewandelt hat, und inmitten des Kampfes, den der außer Landes Gejagte schreibend gegen die Barbarei führt – achtzehn Jahre später kehrt Brecht in einem seiner bedeutendsten Gedichte zu Laotse zurück. Es ist Die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration, geschrieben 1938 im dänischen Svendborg, im Exil. Als »eines der Schlüsselgedichte« dieses Autors gilt die »Legende« – weil sie, wie Jan Knopf in Kindlers Literaturlexikon feststellt, »eines der berühmtesten Gedichte Brechts« ist;3 weil sie, wie Roland Jost im Brecht Lexikon resümiert, »Kerngedanken und Haltungen anführt, die in B[recht]s gesamtem Werk immer wieder thematisiert werden«;4 weil sie, wie Antony Tatlow im Brecht-Handbuch urteilt, eines der »originellsten Gedichte[ ] B[recht]s« ist. Und nicht zuletzt einfach deshalb, weil sie zu den »schönsten [Gedichten] des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache« gehört.5

So einhellig die Hochschätzung des Textes, so beiläufig das Interesse an seinem Gegenstand. Der überwiegende Teil der Untersuchungen, die diesem epochalen Text seit 1939 gewidmet worden sind, hat den philosophischen Prämissen und den praktischen Handlungsanweisungen, die sich mit dem Namen des »alten Weisen« und dem Buch Taoteking verbinden, erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Weithin unbezweifelt galt lange Zeit der Satz, dass die Wirkungskraft und die Wirkungsabsicht dieses Textes wie der Svendborger Gedichte insgesamt begründet seien in Brechts letztlich unerschütterlicher »Gewißheit […] von der Stärke des Volkes und dem Sieg des Sozialismus«.6 Diese einst für die Brecht-Auslegung der DDR verbindliche Deutung, die sich verführerisch leicht auf manche Selbstaussagen Brechts berufen konnte, ist auch in der neueren Beschäftigung mit diesem Werk mehr oder weniger umstandslos auf den sozialistischen mainstream bezogen worden. Auch wenn bis heute noch immer eine angemessen umfangreiche und differenzierte Untersuchung der Svendborger Gedichte fehlt (wie wiederum Jan Knopf konstatiert,7 der dann selbst eine der wichtigsten neueren Interpretationen skizziert hat),8 so gilt die Sammlung doch jedenfalls als Ausdruck eines ungebrochenen politischen Kampfeswillens, gerade dank der in ihr ausgesprochenen und überwundenen Anfechtungen und selbstkritischen Befragungen. Und mit ihr die Legende vom Taoteking. Dass es in ihr um den Aufweis einer »historischen Notwendigkeit (nicht nur) angesichts […] des Faschismus« gehe, setzt Roland Josts Artikel ebenso selbstverständlich voraus, wie sie derjenige von Jan Knopf zu den Gedichten zählt, »die auf neue Weise die Geschichte nach Lenins Motto ›Wer – wen?‹ befragen«. Antony Tatlow, der beste Kenner des ›chinesischen‹ Brecht, gehört zu den wenigen, die bei der Einordnung des Gedichts in die großen geschichtsphilosophischen Erzählungen schon seit den siebziger Jahren zur Vorsicht gemahnt haben.

Schon der Gedanke, dass es überhaupt eine Kontinuität geben könnte zwischen den Tagebuchnotizen des jungen Brecht und dem Gedicht aus dem Exil, musste in dieser Perspektive irreführend, wenn nicht abwegig erscheinen. Hatte nicht Brechts zögernd begonnene, dann immer entschiedener betriebene Hinwendung zum Marxismus gegen Ende der zwanziger Jahre sein Schreiben in eine sehr klare Dichotomie von Vorher und Nachher getrieben? Ergab sich daraus nicht eine scharfe Trennlinie zwischen dem jungen Wilden der zwanziger Jahre, der eine »Deutung der Geschichte als eines letzten Endes sinnlosen Kreislaufs« vertrat, und dem politischen Kämpfer, der diese Deutung ein für alle Mal »überwunden« habe?9 Hatte nicht erst die »Konversion«10 den ideologisch ungefestigten Vitalisten und Nietzsche-Verehrer, dessen amoralischer Nonkonformismus zuweilen sogar »schlimm […] ausarten« konnte in »antibolschewistische« Kritik,11 verwandelt in jenen politischen Theoretiker und Prosaisten, Lyriker und Stückeschreiber, der seine Dichtung dann mustergültig als gesellschaftlich eingreifendes Handeln proklamierte und praktizierte? Weil dies eine offene und keineswegs bloß rhetorische Frage ist, deshalb geht es im Folgenden um eine der spannungsvollsten Kontinuitäten im Denken und Schreiben des vormarxistischen und des marxistischen Brecht: um die jahrzehntelang fortdauernde Provokationskraft jener Lehren, die sich für ihn seit 1920 mit dem Namen des Laotse verbunden haben.

Die Legende vom Begründer des Taoismus nimmt auch und gerade in Brechts ›chinesischem‹ Werkkomplex eine zentrale, in mehrfacher Hinsicht singuläre Stellung ein.12 Gestalten, Denkbewegungen und Handlungsanweisungen einer spezifischen chinesischen Tradition werden hier ernsthafter beim Wort genommen als in Brechts Werk zumeist. Hier stehen, über das verbindende Sujet der Emigration hinaus, die metaphysischen Prämissen des Taoismus, seine daraus abgeleiteten praktischen Lebenslehren und sein Verhältnis zur Geschichtsphilosophie in Rede. Und hier konvergieren poetische Verfahren, Themen, Motive, die sich in diesem Werk seit der Frühzeit beobachten lassen. Fundamental ist diese Auseinandersetzung, weil das Gedicht in größerer Konsequenz als sonst irgendwo bei Brecht eine Grundspannung artikuliert und austrägt, die sein Schreiben über Jahrzehnte hin untergründig mitbestimmt und die gerade im nie ganz gelungenen Versuch ihrer Auflösung poetisch fruchtbar geworden ist. Sie in ihren Ursprüngen, ihren Modifikationen und ihrer Produktivität zu erfassen, ist Ziel dieser Studie. Wie läse sich der Satz vom »Schlüsselgedicht«, wenn zu den in ihm zur Sprache kommenden »Kerngedanken und Haltungen«13 ernstlich auch diejenigen des Taoismus gehörten?

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»Laotse, der das Reich verläßt, übergibt sein Werk Tao te king dem Grenzwächter«. Chinesische Zeichnung aus Richard Wilhelms »Taoteking«-Übersetzung.

Wer eine Antwort auf diese Frage finden will, muss vom Laotse-Gedicht ausgehen und wird wieder bei ihm ankommen. Dazwischen aber ist ein Weg zurückzulegen, der durch das weitläufige und noch immer nur unvollständig erschlossene Gelände des Brecht’schen Taoismus führt. Das schließt einige Umwege in die Voraussetzungen und Begleitumstände dieses Taoismus ein: in die Quellen, die Brecht benutzt hat, ihre kultur- und diskursgeschichtlichen Prägungen und die Beziehungen zwischen ihnen; in die philosophischen, literarischen, politischen Zeitumstände, in denen er mit taoistischen Gedanken und Schreibverfahren konfrontiert worden ist und in denen er selbst begonnen hat, sie sich anzueignen. Diese Wege führen in eine intellektuelle Konstellation, in der sein Taoismus kein Einzelfall ist, sondern Teil einer Generationserfahrung, in der Laotse dem kritischen Beobachter Max Weber geradezu als ein »Mode-Philosoph« erscheint. Um Brechts Taoismus zu verstehen, bedarf es einer genauen und geduldigen Lektüre seines berühmten Gedichts. Und umgekehrt: Um dieses Gedicht zu verstehen, bedarf es einer genauen und geduldigen Rekonstruktion der Wege, die zu ihm geführt haben und von denen manche lange vor Brecht beginnen.

*

In den folgenden Kapiteln wird das von Margarete Steffin im Svendborger Exil angefertigte, von Brecht dann eingehend überarbeitete Typoskript eine wichtige Rolle spielen, mitsamt den im Brecht-Archiv erhaltenen Notizen und Entwürfen. Am Anfang aber soll der Text in der von Brecht 1939 in den Svendborger Gedichten veröffentlichten Fassung stehen, dreizehn durchnummerierte Strophen.

Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration

1

Als er siebzig war und war gebrechlich

Drängte es den Lehrer doch nach Ruh

Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich

Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.

Und er gürtete den Schuh.

2

Und er packte ein, was er so brauchte:

Wenig. Doch es wurde dies und das.

So die Pfeife, die er immer abends rauchte

Und das Büchlein, das er immer las.

Weißbrot nach dem Augenmaß.

3

Freute sich des Tals noch einmal und vergaß es

Als er ins Gebirg den Weg einschlug.

Und sein Ochse freute sich des frischen Grases

Kauend, während er den Alten trug.

Denn dem ging es schnell genug.

4

Doch am vierten Tag im Felsgesteine

Hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:

»Kostbarkeiten zu verzollen?« – »Keine.«

Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: »Er hat gelehrt.«

Und so war auch das erklärt.

5

Doch der Mann in einer heitren Regung

Fragte noch: »Hat er was rausgekriegt?«

Sprach der Knabe: »Daß das weiche Wasser in Bewegung

Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.

Du verstehst, das Harte unterliegt.«

6

Daß er nicht das letzte Tageslicht verlöre

Trieb der Knabe nun den Ochsen an

Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Föhre

Da kam plötzlich Fahrt in unsern Mann

Und er schrie. »He, du! Halt an!

7

Was ist das mit diesem Wasser, Alter?«

Hielt der Alte: »Intressiert es dich?«

Sprach der Mann: »Ich bin nur Zollverwalter

Doch wer wen besiegt, das intressiert auch mich.

Wenn du’s weißt, dann sprich!

8

Schreib mir’s auf! Diktier es diesem Kinde!

So was nimmt man doch nicht mit sich fort.

Da gibt’s doch Papier bei uns und Tinte

Und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort.

Nun, ist das ein Wort?«

9

Über seine Schulter sah der Alte

Auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh.

Und die Stirne eine einzige Falte.

Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu.

Und er murmelte: »Auch du?«

10

Eine höfliche Bitte abzuschlagen

War der Alte, wie es schien, zu alt.

Denn er sagte laut: »Die etwas fragen

Die verdienen Antwort: »Sprach der Knabe: »Es wird auch

schon kalt.«

»Gut, ein kleiner Aufenthalt.«

11

Und von seinem Ochsen stieg der Weise

Sieben Tage schrieben sie zu zweit.

Und der Zöllner brachte Essen (und er fluchte nur noch leise

Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit).

Und dann war’s soweit.

12

Und dem Zöllner händigte der Knabe

Eines Morgens einundachtzig Sprüche ein.

Und mit Dank für eine kleine Reisegabe

Bogen sie um jene Föhre ins Gestein.

Sagt jetzt: kann man höflicher sein?

13

Aber rühmen wir nicht nur den Weisen

Dessen Name auf dem Buche prangt!

Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.

Darum sei der Zöllner auch bedankt:

Er hat sie ihm abverlangt.

»Hat er was rausgekriegt?«

Der Ursprung der Legende, die den Kern von Brechts Gedicht bildet, verliert sich im Dämmerlicht einer noch halb mythischen Frühgeschichte. Sie galt schon als uralt, als der große konfuzianische Geschichtsschreiber Se Ma Tsien sie im 2. vorchristlichen Jahrhundert aufschrieb, in einer Epoche, in der die konfuzianisch begründete Stärkung der kaiserlichen Zentralgewalt gegen die aufbegehrenden Feudalherren erneut zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen führte und es Grund genug gab, eine Zunahme der Bosheit im Lande zu beklagen und an Wege in die Emigration zu denken.14 Brecht las sie in der Nacherzählung, die der Übersetzer Richard Wilhelm seiner deutschen Ausgabe des Buches Taoteking voranstellte. Dieser angesehenste deutsche Sinologe seiner Zeit war nach einem Studium in Tübingen und einer lebensbestimmenden Freundschaft mit dem späteren religiösen Sozialisten Christoph Friedrich Blumhardt 1899 als Pfarrer und Missionar in die deutsche Kolonie in Tsingtau gegangen; 1924 ist er als Gelehrter nach Deutschland zurückgekehrt, an die Frankfurter Universität. Wilhelm hat für den Verlag Eugen Diederichs neben dem I Ging und den taoistischen Werken des Dschuang Dsi und des Liä Dsi 1911 auch die einundachtzig Sprüche Laotses übersetzt, unter dem Titel Das Buch des Alten vom Sinn und Leben – keineswegs als Erster, aber mit der weitaus größten Resonanz.15 In seiner Einführung zu dieser Übersetzung nun erzählt Wilhelm die Anekdote folgendermaßen:

Als die öffentlichen Zustände sich so verschlimmerten, daß keine Aussicht auf Herstellung der Ordnung mehr vorhanden war, soll Laotse sich zurückgezogen haben. Als er an den Grenzpaß Han Gu gekommen sei, nach späterer Tradition auf einem schwarzen Ochsen reitend […], habe ihn der Grenzbeamte Yin Hi gebeten, ihm etwas Schriftliches zu hinterlassen. Darauf habe er den Taoteking, bestehend aus mehr als 5000 chinesischen Zeichen, niedergeschrieben und ihm übergeben. Dann sei er nach Westen gegangen, kein Mensch weiß wohin.16

Etwas später malt Wilhelm auch die Verschlimmerung der öffentlichen Zustände genauer aus:

Das Volk seufzte zwar unter dem Druck seiner Oberen, aber es hatte nicht mehr die Kraft zu einer energischen Willenstat […] tiefgreifende Unwahrhaftigkeit hatte alle Verhältnisse durchfressen, so daß nach außen hin Menschenliebe, Gerechtigkeit und Moral noch immer verkündigt wurden als hohe Ideale, während im Innern Gier und Habsucht alles vergifteten. Bei solchen Zuständen mußte jedes Ordnen die Unordnung nur mehren.17

Auch wenn diese Geschichte erklärtermaßen so legendenhaft bleibt wie ihr vermutlich auf volkstümliche Mythenbildungen zurückgehender Held, und auch wenn das Taoteking zweifellos eine sehr viel längere und verwickeltere Entstehungsgeschichte gehabt hat – sie fasst doch zusammen, was Brecht über die Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration wissen wollte und gebrauchen konnte. Die zweiseitige chinesische Zeichnung, die den Alten auf dem Ochsen im Felsgesteine zeigt (samt Knaben und gestikulierendem Zöllner) und die in späteren Ausgaben weggefallen ist, hat Brecht offensichtlich als Bildvorlage gedient (s. hier S. 8 f.).18

So weit der plot, das äußere Geschehen, das der Exilant Brecht aus der chinesischen Tradition aufgreift.

»Doch der Mann in einer heitren Regung / Fragte noch: ›Hat er was rausgekriegt?‹« Tatsächlich wird Laotses Lehre in Brechts Gedicht zwar knapp, aber sehr präzise veranschaulicht. Was der emigrierende Lehrer »rausgekriegt« hat, das wird resümiert in der einen, zentralen Erkenntnis,

Daß das weiche Wasser in Bewegung

Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.

Du verstehst: Das Harte unterliegt.

So einfach dieser Satz klingt, so komplex sind die Vorstellungen, die in ihn einmünden. Und sie sind dichter in die Textur der Brecht’schen Dichtung eingewoben, als es zunächst den Anschein hat.

In einundachtzig poetischen Sprüchen lehrt ›der‹ oder ›das‹ Taoteking (in neuerer, annähernd phonetischer Schreibung: Dau-De-Djing), das ›kanonische Buch‹ (»king«) also, was es auf sich hat mit »Tao«, dem ›Weg‹, und »Tê«, der ›Lebenskraft‹ und rechten Verhaltensweise; und der Name des Weisen, der auf diesem Buche prangt, benennt keine individuelle Gestalt, sondern umschreibt einen Typus: »Laotse«, den »Alten Weisen«.19 Reich an prägnanten poetischen Bildern und dialektischen Wendungen, vertritt es eine mystisch-monistische Metaphysik und eine daraus abgeleitete, aus Prinzip prinzipienlose Ethik von situativer Geschmeidigkeit. Das fließende, sich entfernende und zurückkehrende, in seiner Schwäche unüberwindlich starke Wasser aber, das nicht festzuhalten, unbegrenzt und im stetigen Wandel doch immer mit sich selbst identisch ist: von jeher hat die Tradition dieses Bild als das zentrale Gleichnis, ja geradezu als die Summe der taoistischen Philosophie zur Geltung gebracht. Es veranschaulicht jenes zugleich dynamische Seinsprinzip des Kosmos, das immerfort »strömt und ruht«. Mit dem Begriff des »Tao« (oder: Dao, Dau) ist es nur behelfsweise-metaphorisch auf den Begriff gebracht; sein Wesen kann immer nur umschrieben werden in den Unsagbarkeitstopoi und Paradoxien mystischer Rede.

Wörtlich bedeutet das chinesische Wort Tao: »Weg«. Richard Wilhelms Übersetzung gibt es mit »SINN« wieder (stets in diesen absichtsvoll verfremdenden Großbuchstaben), in ausdrücklichem Bezug auf Goethes Faust und dessen Bemühungen um die Übersetzung des »λóγος« (logos) im Prolog zum Johannesevangelium: »Im Anfang war der Sinn.« Immerhin erscheint auch umgekehrt in chinesischen Bibelübersetzungen, darauf weist Wilhelm hin, der griechische Begriff des λóγος als »Tao«.

Auch der komplementäre zweite Begriff der taoistischen Metaphysik wird bei Brecht präzise ins Bild gebracht. Dem ursprungs- und endlosen Strömen des »Tao« nämlich sollte, so lehrt Laotse weiter, eine bestimmte menschliche Verhaltensweise antworten, eine ›virtus‹, eine »Tê«. Sie ist im Grunde nichts anderes als eine Fortsetzung der Dynamik des Tao selbst, und sie besteht im Wu-wei, dem »Nichtwiderstreben«, dem »Nichthandeln«. Dieses Nichthandeln aber ist, in aller paradoxen und dialektischen Zuspitzung, gerade diejenige Weise des Handelns, die der Beschaffenheit des Kosmos einzig gerecht wird. Denn das Tao, so lehrt Laotse,

ist ewig ohne Handeln,

und nichts bleibt ungewirkt.20

Das Nicht-Handeln üben:

so kommt alles in Ordnung.21

Also: »der Berufene […] wagt nicht zu handeln.«22 Eben indem er nicht eingreift in den Gang des Tao, folgt er dem Lauf des Wassers: überlässt sich ihm; und dieses Lassen ist der Grund seiner Gelassenheit. Indem er nicht handelt, wandelt er sich und seine Welt und besiegt mit der Zeit selbst den mächtigen Stein. Aus dieser Grundeinsicht können sich entschieden politische Konsequenzen ergeben, deren Provokationskraft für die Lektüre des späteren, zum Marxisten gewordenen Brecht nicht leicht zu überschätzen ist:

Darum spricht ein Berufener:

Ich handle nicht, und das Volk wandelt sich von selbst.

Ich liebe die Stille, und das Volk wird von selber recht.

Ich habe keine Geschäfte, und das Volk wird von selber reich.

Ich habe keine Begierden, und das Volk wird von selber einfach.23

Der Einzelne, der »dem Volk« dienen will: er sollte eben um des Volkes willen am besten »nichts unternehmen«, sondern in der Stille geschehen lassen, was auch ohne ihn seinen Lauf nimmt. Wu-wei ist, als Nicht-Eingreifen, ein Handeln im Einklang mit dem Tao als dem schöpferischen Urgrund des Seins, dessen Beschaffenheit – wie Brecht bei Wilhelm lesen konnte – »immer im Flusse« ist: »Es wandelt im Kreise und kennt keine Unsicherheit.«24 Wer das verstanden hat, der, so lehrt der 7. Spruch des Taoteking in Richard Wilhelms Übersetzung,

[…] setzt sein Selbst hintan,

und sein Selbst kommt voran.

Er entäußert sich seines Selbst,

und sein Selbst bleibt erhalten.25

So siegt »das Weiche […] über das Harte« und »das Schwache […] über das Starke«.26 Wer den Wechsel von Güte und Bosheit, von Systole und Diastole lange genug erlebt hat, der wird sich danach für keine der beiden Seiten mehr entscheiden, sondern sich dem Wechsel entziehen und den Schuh schnüren, der wird eingehen in die ewige Bewegung des stehenden Jetzt. Nicht mehr nach dem Guten wird er sich sehnen, sondern nach Ruh. Indem er zu weichem Wasser wird, bricht er den mächtigen Stein. Das aber gilt auch umgekehrt: Indem er den Stein bricht, wird er zu Wasser.

Hier zeigt sich die entscheidende Differenz zwischen dem taoistischen und dem heraklitischen Wasser-Bild, mit dem es allzu leicht verwechselt wird. Hier geht es nicht lediglich um die Einsicht, dass alles fließt, sondern um die wahrhaftig weltverändernde Kraft des Flusses, der zu widerstreben unklug, in die ›nichthandelnd‹ einzuwilligen hingegen ein Gebot der Klugheit ist. Anschließbar ist es deshalb leichter an bestimmte Auffassungen von Karl Marx als an die Maximen Heraklits – so weit jedenfalls, wie es um eine Welt-Anschauung geht, die »jede gewordene Form im Flusse der Bewegung […] auffaßt«. Mit diesem Bild beschreibt Marx seinen Begriff einer materialistischen Dialektik;27 und so gelesen, wie es da steht, steht es dem Laotse nicht fern. (Auch wenn sich aus seiner Interpretation dann, wie Brecht selbst hervorheben wird, sehr unterschiedliche Konsequenzen ergeben können.)

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