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Vorträge und Kolloquien
Band 2

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Saul Friedländer
Den Holocaust beschreiben

Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte

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Inhalt

I.

Den Holocaust beschreiben.
Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte

Erlösungsantisemitismus.
Zur Ideologie der »Endlösung«

II.

Die Kinder von Bjelaja Zerkow.
Oder: Was wußten die Deutschen?

Historiker in extremer Lage. Ernst Kantorowicz
und Marc Bloch im Angesicht des Holocaust

III.

»Das Primärgefühl der Fassungslosigkeit bewahren.«
Saul Friedländer im Gespräch

Wahrnehmung, die Realität schafft.
Ein Gespräch über die Sozialpsychologie von Tätern

Bibliographie Saul Friedländer

Nachwort von Norbert Frei

Abkürzungen

Namenverzeichnis

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag GmbH 2007
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Sabon und der Univers
Umschlaggestaltung: werkraum.media, Weimar
Photo: Christian Faludi
Druck: Hubert & Co., Göttingen

ISBN (Print) 978-3-8353-0185-6
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-0671-4
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2518-0

Den Holocaust beschreiben

Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte

Der Gedanke, daß es notwendig sei, eine integrierte Geschichte des Holocaust zu verfassen, geht auf Debatten zurück, die Mitte der achtziger Jahre über die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust geführt wurden. Letztlich veranlaßte mich vor allem die Auseinandersetzung mit Martin Broszat dazu, 1990 die Arbeit an Das Dritte Reich und die Juden aufzunehmen1. Broszat hatte sich in seinem Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus2 gegen die traditionelle Schwarzweißdarstellung des »Dritten Reiches« gewandt, an deren Stelle ein Bild in abgestuften Grautönen treten sollte. Erst in unserem Briefwechsel3, den wir darüber führten, trat Broszats kaum verhüllter Subtext zutage, wonach die Wahrnehmung dieser Vergangenheit seitens der jüdischen Überlebenden zwar ebenso wie die ihrer Nachkommen »achtenswert« sei, aber doch eine »mythische Erinnerung« darstelle. Sie lege einer »rationalen« deutschen Geschichtsschreibung ein Hindernis in den Weg, was zu einer Vergröberung des historischen Diskurses führe. Diese Auffassung verewigte die intellektuelle Abtrennung der Geschichte der Juden von der deutschen Gesellschaft während der NS-Zeit und überließ ihre Bearbeitung bestenfalls jüdischen Historikern.

Mit dem Ansatz einer integrierten Geschichte wollte ich das Gegenteil beweisen: daß die zwei Geschichten in einem Gesamtbild zu schreiben möglich und die jüdische Dimension in eine integrierte historische Erzählung einzubeziehen war. Denn im Hinblick auf den professionellen Umgang mit dem Holocaust als Forschungsgegenstand ist eine Unterscheidung zwischen Historikern unterschiedlicher Herkunft nicht gerechtfertigt; vielmehr müssen sich alle Historiker, die sich mit diesem Thema befassen, über ihre unvermeidlich subjektive Herangehensweise im klaren sein: Sie müssen genügend selbstkritische Einsicht aufbringen können, um ihre Subjektivität unter Kontrolle zu halten.

Im folgenden gehe ich auf drei wesentliche Aspekte meiner Arbeit ein. Zunächst befasse ich mich mit dem Begriff einer »integrierten Geschichte des Holocaust« und wende mich dann einigen Entscheidungen hinsichtlich der Erzählweise und der Interpretation zu, die sich aus meinem Ansatz ergeben. Schließlich skizziere ich einige Probleme, die bei dieser Form der Geschichtsdarstellung auftreten können, sowie Fragen, die auch nach einem solchen Unternehmen unbeantwortet bleiben.

I.

David Moffie wurde am 18. September 1942 an der Universität Amsterdam zum Doktor der Medizin promoviert. Ein zu diesem Ereignis aufgenommenes Photo zeigt ihn mit den Professoren C. U. Ariens Kappers, seinem Doktorvater, und H. T. Deelmann, die zu seiner Rechten stehen, sowie dem Assistenten D. Granaat zu seiner Linken. Ein weiteres Mitglied des Lehrkörpers, das von hinten zu sehen ist, möglicherweise der Dekan der Medizinischen Fakultät, steht ihnen gegenüber auf der anderen Seite eines großen Schreibtisches. Im Hintergrund sind – etwas unscharf – die Gesichter einiger Menschen zu erkennen, die sich in dem kleinen Saal drängen – zweifellos Familienmitglieder und Freunde. Die Angehörigen des Lehrkörpers sind in ihre akademischen Festgewänder gekleidet, während Moffie und der Assistent einen Smoking und einen weißen Schlips tragen; an Moffies linkem Revers prangt ein handtellergroßer Stern mit dem Aufdruck »Jood«: Moffie war der letzte jüdische Student an der Universität Amsterdam in der Zeit der deutschen Besatzung; kurze Zeit später wurde er nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Ebenso wie zwanzig Prozent der niederländischen Juden überlebte er; der größte Teil der bei dieser Zeremonie anwesenden Juden ist aber umgekommen.

Die Photographie wirft einige Fragen auf. Wie war es beispielsweise möglich, daß die Zeremonie am selben Tag stattfand, an dem jüdische Studenten mit sofortiger Wirkung aus den niederländischen Universitäten ausgeschlossen wurden? Die Herausgeber des Bandes Photography and the Holocaust4 fanden die Antwort: Der letzte Tag des akademischen Jahres 1941/42 war jener 18. September 1942, ein Freitag; das Wintersemester begann am darauffolgenden Montag. Die dreitägige Zwischenzeit ermöglichte Moffies Promotion, obwohl der Ausschluß jüdischer Studenten bereits obligatorisch geworden war. Das bedeutet, daß die Universitätsbehörden sich bereit erklärten, den administrativen Kalender gegen die Intentionen des deutschen Erlasses anzuwenden. Diese Entscheidung spricht von einer Haltung, die seit Herbst 1940 an niederländischen Universitäten weit verbreitet war; die Photographie dokumentiert eine Form des trotzigen Eigensinns gegenüber den Gesetzen und Verfügungen des Besatzers.

Es gibt noch mehr zu sagen. Die Deportationen aus den Niederlanden begannen am 14. Juli 1942. Fast täglich verhafteten die Deutschen und die einheimische Polizei auf den Straßen der Städte Juden, um ihr wöchentliches Soll zu erfüllen. Moffie hätte an der öffentlichen akademischen Zeremonie nicht teilnehmen können, hätte er nicht eine der 17000 speziellen (und nur zeitweilig gültigen) Ausnahmebescheinigungen erhalten, welche die Deutschen dem Judenrat zugeteilt hatten. Indirekt evoziert das Bild somit die Kontroverse um die Methoden des Rates, mit denen er zumindest vorübergehend einige Juden Amsterdams schützte, die große Mehrheit der niederländischen und ausländischen Juden aber ihrem Schicksal überließ.

Allgemein betrachtet, sind wir Zeugen einer recht alltäglichen Feierlichkeit, bei der ein junger Mann die offizielle Bestätigung für sein erworbenes Recht erhielt, als Arzt zu praktizieren, Kranke behandeln und im Rahmen des Menschenmöglichen sein berufliches Wissen anwenden zu dürfen, um die Gesundheit seiner Patienten wiederherzustellen. Doch das an Moffies Jackett angeheftete »Jood« vermittelt eine völlig andere Botschaft: Die Schriftzeichen haben eine krumme, abstoßende und unbestimmt bedrohliche Form, die an das hebräische Alphabet erinnert und doch leicht entzifferbar bleiben sollte; sie waren eigens für diesen Zweck entworfen worden (und überall im deutschen Machtbereich ähnlich gezeichnet). Wie alle Angehörigen seiner »Rasse« auf dem gesamten Kontinent sollte der frisch promovierte Doktor der Medizin ermordet werden. Diese Aufschrift mit ihrer eigentümlichen Gestaltung läßt die auf der Photographie abgebildete Situation in ihrer Quintessenz sichtbar werden: Die Deutschen waren darauf versessen, die Juden als Individuen auszurotten und das auszulöschen, was der Stern und seine Inschrift repräsentierten: »den Juden«.

Wir vernehmen in dem Photo das kaum hörbare Echo eines wütenden Angriffs, der darauf zielte, jede Spur von »Jüdischkeit«, jedes Zeichen »jüdischen Geistes«, jeden Überrest jüdischer Präsenz (sei sie real oder imaginär) aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Geschichte zu tilgen. Zu diesem Zweck setzten die Nationalsozialisten auf ihrem Feldzug im Reich und im gesamten besetzten Europa alles ein: Propaganda, Erziehung, Forschung, Publikationen, Filme, Ächtungen und Tabus in allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen, ja jedes denkbare Verfahren der Austilgung und Ausmerzung: vom Umschreiben religiöser Texte oder Opernlibretti, denen ein Makel von »Jüdischkeit« anhaftete, bis zur Umbenennung von Straßen, deren Name an Juden erinnerte, vom Verbot von Musik oder literarischen Werken jüdischer Komponisten und Schriftsteller bis zur Zerstörung von Denkmälern, von der Ausschaltung »jüdischer Wissenschaft« bis zur »Säuberung« von Bibliotheken – und schließlich, nach dem berühmten Wort Heinrich Heines, von der Verbrennung von Büchern bis zur Verbrennung von Menschen.

So vermittelt eine einzige Aufnahme dem Betrachter eine Ahnung von einer Vielzahl an Interaktionen zwischen deutschen ideologischen Halluzinationen und ausgeklügelten Verwaltungsmaßnahmen, niederländischen Einrichtungen und individuellen Entscheidungen, jüdischen Institutionen und, im Mittelpunkt von allem, dem Schicksal eines einzelnen Juden. In Worte übersetzt, in seinem Kontext erzählt, auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen interpretiert, läßt sich das Photo als metonymische Repräsentation einer Geschichte mit vielen Facetten ansehen – als Anknüpfungspunkt einer integrierten Geschichte des Holocaust.

Eine solche Geschichte ist aus mehreren Gründen notwendig. Erstens läßt sich die Geschichte des Holocaust nicht auf deutsche Entscheidungen und Maßnahmen beschränken; sie muß vielmehr die Handlungen der Behörden, Institutionen und unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen in den besetzten Ländern und Satellitenstaaten einbeziehen. Zweitens ist es offenkundig, daß in jedem Stadium jüdische Wahrnehmungen und Reaktionen (ob kollektiv oder individuell) ein untrennbarer Bestandteil dieser Geschichte waren und wir sie somit im Hinblick auf eine allgemeine historische Darstellung nicht als separaten Bereich ansehen können. Und drittens verbessert eine Darstellung von Ereignissen, die sich gleichzeitig auf allen Ebenen und an verschiedenen Orten abspielten, die Wahrnehmung der Größe, der Komplexität und der wechselseitigen Verflochtenheit der gewaltigen Zahl von Komponenten dieser Geschichte.

Bei jedem einzelnen Schritt hing die Umsetzung deutscher Entscheidungen mehr oder weniger stark von der Gefügigkeit örtlicher Behörden in den besetzten Ländern und von der Unterstützung durch einheimische Polizeikräfte oder andere Hilfstruppen ab. Ohne die Beteiligung der französischen beziehungsweise der niederländischen Polizei wäre die Verhaftung der Juden in Paris und Amsterdam schwierig gewesen; ohne die mit Begeisterung durchgeführten und ausschließlich von Ungarn getragenen Festnahmeaktionen wäre es unmöglich gewesen, etwa 400 000 ungarische Juden in den Tod zu deportieren. Um reibungslos ausgeführt werden zu können, bedurften die Befehle aus Berlin auch der zustimmenden oder zumindest passiven Haltung der jeweiligen Bevölkerung, einschließlich der politischen, geistlichen und intellektuellen Eliten. Schließlich hing die Verwirklichung dieser Maßnahmen – wenngleich in geringerem Maße – davon ab, über welche Informationen die Opfer verfügten und ob sie deren Bedeutung begriffen. Sie hing ebenso von den Reaktionen ab, die nach Einschätzung der Verfolgten dazu geeignet waren, ihnen Zeitgewinn zu verschaffen, um der immer enger zugezogenen deutschen Schlinge zu entkommen.

Die Einbeziehung individueller Stimmen in die ohnehin facettenreiche Erzählung erweitert die Perspektive um eine neue, wesentliche Dimension. Einige dieser Stimmen begleiten die Geschehnisse durchgehend: die Tiraden, die Hitler von sich gab, ebenso wie diejenigen von Männern wie Himmler, Goebbels, Rosenberg und untergeordneten Vertretern des Regimes. Zugleich brachten Stimmen aus den unterschiedlichsten Bereichen der deutschen Gesellschaft – aus der Wehrmacht natürlich und den Reihen der Mörder von Sicherheitsdienst und Polizei – sowie aus allen Teilen des besetzten Europa das zum Ausdruck, was Menschen wußten, dachten, befürworteten und bisweilen kritisierten.

Von Bedeutung im Rahmen des großen Geflechts aus Initiativen, Unterstützung und Hinnahme ist das Ausmaß der Informationen über die Vernichtung der Juden, die schon früh in ganz Europa (natürlich auch in Deutschland) zur Verfügung standen5. »In Bereza-Kartuska«, schrieb der Zahlmeister der Reserve H.K. aus Brest-Litowsk am 18. Juni 1942 nach Hause, »wo ich Mittagsstation machte, hatte man gerade am Tage vorher etwa 1300 Juden erschossen. [...] Männer, Frauen und Kinder mußten sich dort völlig ausziehen und wurden durch Genickschuß erledigt. Die Kleider wurden desinfiziert und wieder verwendet. Ich bin der Überzeugung: Wenn der Krieg noch länger dauert, wird man die Juden auch noch zu Wurst verarbeiten und den russischen Kriegsgefangenen oder den gelernten jüdischen Arbeitern vorsetzen müssen.«6 Einige Monate später schrieb Soldat S. M., der auf dem Weg zur Front war, aus der Stadt Auschwitz: »Juden kommen hier, das heißt in Auschwitz, wöchentlich 7-8000 an, die nach kurzem den Heldentod, sterben.« Und er fügte hinzu: »Es ist doch gut, wenn man einmal in der Welt umher kommt.«7

In Minden hatten die Einwohner das Schicksal der aus ihrer Stadt Deportierten schon im Dezember 1941 erörtert und öffentlich davon gesprochen, daß Juden, die nicht arbeitsfähig seien, erschossen würden8. Einige Wochen später, im Februar 1942, notierte Bischof Wilhelm Berning aus Osnabrück, es gebe einen Plan, sämtliche Juden zu vernichten9. Schon sehr bald erreichte diese Information nicht nur die Bevölkerung der osteuropäischen Länder, sondern auch Behörden in neutralen Staaten, vor allem in der Schweiz und in Schweden, sowie zentrale religiöse und humanitäre Institutionen. Solches Wissen zu einem frühen Zeitpunkt – im Frühsommer 1942 –, als die Vernichtung schon systematische Form angenommen hatte, verleiht der Reaktion staatlicher Stellen im neutralen Europa ebenso wie der des Vatikans und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz eine zusätzliche Dimension.

In ihrem ebenso bekannten wie umstrittenen Buch Eichmann in Jerusalem legte Hannah Arendt einen Teil der Verantwortung für die Vernichtung der Juden Europas direkt auf die Schultern der verschiedenen jüdischen Führungsgruppen, der Judenräte10. Diese weitgehend unbegründete These machte aus Juden Kollaborateure bei der Vernichtung ihres eigenen Volkes. In Wirklichkeit war jeder Einfluß, den die Opfer auf den Verlauf ihrer eigenen Viktimisierung haben konnten, marginal, aber manche Interventionen fanden (mit welchem Ergebnis auch immer) in nationalen Kontexten statt. Wahrnehmbar war dies in Vichy, Budapest, Bukarest, Sofia, möglicherweise in Bratislava und natürlich in den Beziehungen zwischen jüdischen Repräsentanten und den alliierten und neutralen Regierungen. Überdies führte der jüdische bewaffnete Widerstand aber (zumindest bis Mitte 1944) auf besonders tragische Weise zur beschleunigten Vernichtung der verbliebenen jüdischen Sklavenarbeiter.

Bislang ist die jüdische Dimension in allgemeine Untersuchungen über diese Epoche kaum einbezogen worden. Und wenn in der hauptsächlich nichtjüdisch orientierten Geschichtsschreibung darauf angespielt wird, gibt es die Tendenz, vorwiegend auf institutionell-kollektives jüdisches Verhalten einzugehen: auf die Entscheidungen jüdischer Führungsgruppen oder auf einige der bekanntesten Widerstandsversuche. Doch von ihrer grundlegenden historischen Bedeutung her spielte sich die Interaktion zwischen den Juden in den besetzten Ländern und den Satellitenstaaten Europas, den Deutschen und der umwohnenden Bevölkerung hauptsächlich auf einer weit elementareren Ebene ab. Von Anfang an stellten alle Schritte, die einzelne Juden oder jüdische Gruppen unternahmen, um die Bemühungen der Nationalsozialisten zu stören, ein Hindernis, wie geringfügig es auch immer gewesen sein mag, auf dem Weg zur vollständigen Vernichtung dar: ob es darum ging, Beamte, Polizisten oder Denunzianten zu bestechen, Familien dafür zu bezahlen, daß sie Kinder oder Erwachsene versteckten, in die Wälder oder ins Gebirge zu fliehen, sich in kleine Dörfer oder in große Städte zurückzuziehen, zu konvertieren, sich Widerstandsgruppen anzuschließen, Lebensmittel zu stehlen oder sonst etwas zu tun, das zum Überleben führte. Auf dieser Mikroebene fand die grundlegende und fortlaufende Interaktion der Juden mit den Kräften statt, die bei der Durchführung der »Endlösung« am Werk waren. Auf dieser Mikroebene müssen jüdische Reaktionen und Initiativen untersucht und in die umfassende Geschichte integriert werden. Auf dieser Mikroebene ist ein großer Teil des Geschehens eine Geschichte von Individuen.

Die Vernichtung des europäischen Judentums auf der individuellen Ebene läßt sich aus der Perspektive der Opfer nicht nur auf der Basis von Aussagen vor Gericht, Interviews und Memoiren rekonstruieren, sondern auch mit Hilfe der ungewöhnlich großen Zahl von Tagebüchern und Briefen, die während der Ereignisse geschrieben und im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte aufgefunden wurden. Diese Tagebücher und Briefe schrieben Juden aller Länder, aller Lebensbereiche, aller Altersgruppen, die entweder unter unmittelbarer deutscher Herrschaft oder mittelbar in der Sphäre der Verfolgung lebten. Selbstverständlich müssen wir diese Überlieferungen mit derselben kritischen Aufmerksamkeit lesen und nutzen wie jedes andere Dokument; als Quellen für die Geschichte jüdischen Lebens während der Jahre der Verfolgung und Vernichtung bleiben sie jedoch unersetzlich.

Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Zeugen vertrauten ihre Beobachtungen der Verschwiegenheit ihrer privaten Aufzeichnungen an. Diese Zeugnisse schildern in allen Einzelheiten die Initiativen und die alltägliche Brutalität der Täter, die Reaktionen der Bevölkerung, das Leben und die Vernichtung der jüdischen Gemeinden. Aber sie halten auch die Welt des jüdischen Alltags fest, die im fortwährenden Wechsel von Verzweiflung, Gerüchten, Illusionen und Hoffnungen bestimmt ist – meist bis zum Ende. Die großen Ereignisse und viele alltägliche Vorfälle verschmelzen zu einem immer umfassenderen, wenn auch gelegentlich widersprüchlichen Bild.

»Mein lieber Papa, traurige Nachrichten. Nach meiner Tante bin ich an der Reihe fortzugehen.« So begann die hastig mit Bleistift geschriebene Postkarte, die die 17jährige Louise Jacobson am 12. Februar 1943 aus Drancy an ihren Vater in Paris schickte. »Ich bin sehr zuversichtlich«, fuhr sie fort, »so wie alle hier. Mach Dir bitte keine Sorgen, Papa. Erstens fahren wir unter sehr guten Bedingungen los. Ich habe in dieser Woche sehr, sehr gut gegessen. Ich habe nämlich eine Berechtigung für zwei weitere Pakete erhalten. Das erste stammt von einer Freundin, die schon deportiert worden ist, und das zweite von Tante Rachel. Und dann kam ja auch noch eins von Dir. [...] Wir fahren morgen früh ab. Ich bin mit Freunden zusammen, denn morgen werden sehr viele abgeholt. Ich habe meine Uhr und den Rest meiner Sachen bei zuverlässigen Leuten aus meinem Zimmer hinterlassen. Lieber Papa, ich küsse Dich hunderttausendmal von ganzem Herzen. Kopf hoch und bis bald (Courage et à bientôt), Deine Tochter Louise.«11 Am 13. Februar 1943 fuhr Louise in Transport Nr. 48 zusammen mit 1000 anderen französischen Juden nach Auschwitz ab. Eine überlebende Freundin, eine Chemieingenieurin, war während der Selektion mit ihr zusammen. »Sag, du bist Chemikerin«, hatte Irma geflüstert. Als Louise an der Reihe war und nach ihrem Beruf gefragt wurde, antwortete sie: »Studentin«. Sie wurde nach links, in die Gaskammer geschickt12.

Solche persönlichen Chroniken, solche individuellen jüdischen Stimmen sind die unmittelbarsten Zeugnisse von Ereignissen, die in anderen Quellen gewöhnlich nicht wahrgenommen werden. Sie bestätigen Ahnungen wie Blitzlichter, die Teile einer Landschaft erhellen, die uns vor vorschnellen Verallgemeinerungen warnen und die Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanziertheit durchbrechen. Häufig wiederholen sie lediglich, was bereits bekannt war, aber sie drücken es mit unvergleichlicher Eindringlichkeit aus. So kommentierte die junge Tagebuchschreiberin Elsa Binder in ihren Aufzeichnungen das Schicksal zweier Freundinnen, die am 12. Oktober 1941 in Stanisławów zusammen mit etwa 12000 weiteren Juden ermordet worden waren: »Ich hoffe, daß der Tod gut zu ihr [Tamarczyk] war und sie gleich geholt hat. Und daß sie nicht leiden mußte wie ihre Gefährtin Esterka, bei der man gesehen hat, wie sie erwürgt worden ist.«13 Ein weiteres Beispiel sind die ungeschickten Worte des zwölfjährigen Dawid Rubinowicz aus Kielce, der beschreibt, wie er im Wald unterwegs ist und auf der Straße zwei Juden erschossen werden. Einen Kommentar fügt er nicht hinzu14. Diese Art der Betrachtung erscheint als Quelle, als Einfühlung in die Ereignisse oftmals eindrücklicher als beispielsweise die hoch stilisierten, wunderbaren Tagebücher des Victor Klemperer.

Schließlich erweitert eine integrierte Darstellung die historische Wahrnehmung des Holocaust um eine wesentliche Dimension; sie braucht nicht transnational zu sein. Sie kann sich auf verschiedene Ereignisse beziehen, die gewöhnlich nicht miteinander verknüpft werden und die sich zu gleicher Zeit in ein und demselben Land abspielten.

Ende Dezember 1941 war die Vernichtung der Juden Europas bereits im Gang. Zur gleichen Zeit gab die Hauptvertretung der Deutschen Evangelischen Kirche, die Kirchenkanzlei, als Reaktion auf eine stark antisemitische Erklärung einer Reihe deutschchristlicher Kirchen eine Verlautbarung heraus, in der sie getauften Juden jegliche Solidarität versagte: »Der Durchbruch des rassischen Bewußtseins in unserem Volk, verstärkt durch die Erfahrungen des Krieges und entsprechende Maßnahmen der politischen Führung, haben die Ausscheidung der Juden aus der Gemeinschaft mit uns Deutschen bewirkt. Dies ist eine unbestreitbare Tatsache, an welcher die deutschen Evangelischen Kirchen nicht achtlos vorübergehen können. Wir bitten daher im Einvernehmen mit dem Geistlichen Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche die obersten Behörden, geeignete Vorkehrungen zu treffen, daß die getauften Nichtarier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinde fernbleiben.«15

Die Bekennende Kirche protestierte, aber ihr Protest war der einer Minderheit und machte keine Gegenmaßnahmen erforderlich. Wenige Wochen zuvor hatten mehrere katholische Bischöfe einen Text kursieren lassen, in der Absicht, Unterstützung für konvertierte deutsche Juden, die man in den »Osten« geschickt hatte, zum Ausdruck zu bringen. Die Mehrheit der Bischofskonferenz lehnte jedoch jeden derartigen Schritt ab, mochte er auch noch so zaghaft formuliert sein. Selbstverständlich gingen weder Protestanten noch Katholiken auf das Schicksal der nicht getauften Juden ein. Mit anderen Worten: Als die Deportationen aus Deutschland begannen – und vor allem, als die ersten Vernichtungsstätten in Betrieb genommen wurden –, konnten sich Hitler und seine Helfer auf die Passivität der einzigen Gegenkraft verlassen, die das Regime wegen seiner verbrecherischen Politik einst herausgefordert hatte.

Die Tatsache, daß die Entscheidung, alle Juden Europas zu ermorden, zur selben Zeit fiel, als die christlichen Kirchen erklärten, sich nicht einmal für getaufte Juden einzusetzen, zeigt den umfassenden deutschen Kontext der Frühphase der »Endlösung«. Dieser Kontext hat zudem sowohl tragische als auch ironische Bedeutung, denn zur selben Zeit feierten Juden im Reich und im gesamten besetzten Europa ihre bevorstehende Befreiung, weil die sowjetischen Verteidigungstruppen vor Moskau erste Erfolge verzeichneten. Nur in Wilna und etwas später in Warschau wurde winzigen Gruppen klar, daß die Vernichtung gerade erst anlief.

II.

Es mag ungewöhnlich sein, bei der Erörterung eines historischen Projekts, bei dem per definitionem alle Aufmerksamkeit der Begriffsbildung und Interpretation gelten sollte, Problemen der Erzählung Raum zu geben. Tatsächlich aber hätten diese Schwierigkeiten mein Unternehmen beinahe zum Scheitern gebracht. Wir haben es mit Ereignissen zu tun, die sich in Deutschland, aber auch in sämtlichen besetzten Ländern und Satellitenstaaten Europas und darüber hinaus abspielten. Wir haben es mit Institutionen und individuellen Stimmen, mit Ideologien und religiösen Traditionen zu tun. Keine allgemeine Geschichte des Holocaust kann der Interaktion dieser Vielfalt von Elementen gerecht werden, wenn sie diese nach Art eines Lehrbuchs isoliert nebeneinander darstellt. Wenn man das Schicksal einzelner Juden verfolgt, hauptsächlich der Verfasser von Tagebüchern, wenn man also eine Zeitspanne darstellt, die sich in den meisten Fällen vom Kriegsbeginn bis zu ihrem Lebensende erstreckt, wird eine chronologische Entfaltung des Gesamtprozesses unvermeidlich.

Plötzliche Schnitte in der Erzählung, gefolgt von abrupten Perspektivwechseln, sind Verfahrensweisen, die im Film, aber kaum in der Geschichtsschreibung üblich sind. Ich habe mich jedoch entschlossen, diese Methoden in meiner Arbeit zu verwenden, weil sie die einzig mögliche Lösung für ein anders nicht zu lösendes Dilemma darstellen. Mein Projekt erzwang überdies eine Rückkehr zur Chronik. Aber nicht zu einer Form – darauf hat Dan Diner hingewiesen – die, wie sonst üblich, am Anfang einer Beschäftigung mit einem historischen Gegenstand steht, sondern vielmehr an ihrem Ende16. Die Chronik blieb die einzige Zuflucht, nachdem ich andere Interpretationsrahmen ausprobiert und für unzulänglich befunden hatte. Allerdings schließt die chronologisch berichtende Darstellung parteiische Interpretationen nicht aus, und ebensowenig können Annahmen über den allgemeinen historischen Kontext des Holocaust – etwa die Krise des Liberalismus in Europa – ausgeschlossen werden. Es gilt also, allgemeine Thesen über den historischen Ort der Vernichtung der Juden innerhalb des breiten Spektrums der Zielsetzungen der Nationalsozialisten einzubeziehen.

Dieser Punkt führt mich zum Hauptproblem der Interpretation: zur zentralen Stellung des Holocaust in der Geschichte des Nationalsozialismus. Die Verfechter des Historisierungskonzepts betonten, die nationalsozialistischen Verbrechen seien zunächst wegen der Kriegsverbrecherprozesse in den Mittelpunkt der Geschichte des »Dritten Reiches« gerückt. Später seien – derselben Argumentation zufolge – die Konzentration auf die verbrecherische Dimension des »Dritten Reiches« und seine Schwarzweißdarstellung für eine volkspädagogische Geschichtsschreibung unabdingbar geworden; außerdem sei diese Schwerpunktsetzung das Ergebnis der »mythischen Erinnerung« der Überlebenden. Aus dieser Sicht schien 40 Jahre nach Kriegsende die Zeit reif, die verbrecherische Politik des Regimes in einen umfassenderen und differenzierteren Kontext zu stellen, in dem die Juden nicht notwendigerweise im Mittelpunkt standen.

Im Sinne dieses historiographischen Trends, dessen herausragender Vertreter derzeit Götz Aly ist, war die Verfolgung und Vernichtung der Juden Europas nur ein sekundärer Aspekt anderer Maßnahmen, die eigene Ziele verfolgten: beispielsweise die Herstellung eines neuen wirtschaftlichen und demographischen Gleichgewichts im besetzten Europa durch die Ermordung »überschüssiger« Bevölkerungsteile, die Neuverteilung und Dezimierung von Bevölkerungsgruppen zur Erleichterung der deutschen Ostkolonisation17. Oder die systematische Ausplünderung der Juden Europas diente dazu, wie kürzlich ausgeführt, den Krieg zu ermöglichen, ohne die deutsche Gesellschaft allzusehr zu belasten; genauer gesagt, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ziele von Hitlers Volksstaat nicht zu gefährden18. Eine Reihe dieser Interpretationen, insbesondere die letztgenannte, hat in Deutschland großes Echo gefunden.

Ein derartiger Ansatz kann jedoch keine Antwort auf grundlegende Fragen geben: Warum entschloß sich Hitler, die Juden zu vernichten, nachdem er sie aller Besitztümer beraubt hatte? Er hätte sie danach auch noch als Sklavenarbeiter ausbeuten können. Warum die »Mühe«, ihre Deportation und Vernichtung zu planen und umzusetzen? Warum entschied der »Führer« persönlich im Herbst 1943, die Deportation der Juden Dänemarks und Roms zu forcieren, obgleich beide Operationen mit großen Risiken behaftet waren (es hätte in Dänemark zu Unruhen kommen, der Papst hätte öffentlich Protest einlegen können) und ihr »Nutzen« gleich null war? Warum schlug Himmler die wiederholten, freilich keineswegs humanitär motivierten Bitten der Wehrmacht ab, jüdische Facharbeiter von der Vernichtung auszunehmen?

Warum deportierten die Deutschen im Juli 1944 die jüdischen Gemeinden der Ägäischen Inseln? Man verschiffte die Juden zunächst auf Lastkähne, die entlang der türkischen Küste fuhren, und trieb am Festland diejenigen Juden, die diesen tagelangen Transport überlebt hatten, in die Güterwagen, die nach Auschwitz fuhren. Das waren kleine, verarmte Gemeinschaften, denen man kein Geld rauben konnte. Nur die Vernichtung war das Ziel.

Der Reichsführer SS verlangte persönlich von Finnlands Ministerpräsidenten, das Land möge seine 30 bis 40 ausländischen Juden an die Deutschen ausliefern; noch wenige Tage vor der Befreiung von Paris wurden Hunderte jüdischer Kinder festgenommen und aus Frankreich nach Auschwitz abtransportiert. Die sekundäre Funktion, die der antijüdischen Politik von manchen Forschern zugeschrieben wird, paßt nicht zu diesen und anderen scheinbar marginalen, aber bezeichnenden Vorgängen. Der einzige Ansatz, der mir in einer integrierten Geschichte des Holocaust möglich erscheint, muß die Behandlung der Juden unmittelbar ins Zentrum der Weltanschauung des Regimes und seiner Strategien rücken.

»Im großen und ganzen kann man schon sagen«, notierte Goebbels Ende April 1944 nach einem langen Gespräch mit Hitler, »daß eine Politik auf weite Sicht in diesem Krieg nur möglich ist, wenn man von der Judenfrage ausgeht.«19 Diese Wahnvorstellung wurde von Hitlers engsten Mitarbeitern, von Dienststellen der Partei und des Staates, von Beamten und Technokraten auf allen Ebenen sowie von bedeutenden Teilen der Bevölkerung begeistert unterstützt und umgesetzt. Die »Logik«, die hinter dieser judenfeindlichen Leidenschaft stand, wurde von der Propaganda ständig wiederholt. Wie Jeffrey Herf gezeigt hat, zeichnete die Propaganda ein immer bedrohlicheres Bild »des Juden« als dem tödlichen und unbarmherzigen Feind des Reiches, der zu dessen Vernichtung entschlossen war20. So entschied sich Hitler in seiner halluzinatorischen Logik für die sofortige Vernichtung der Juden, als das Reich an beiden Fronten, im Osten wie im Westen, kämpfen mußte, ohne daß Hoffnung auf einen raschen Sieg bestand und erste Andeutungen der Niederlage erkennbar wurden. Andernfalls, so sah er es, würden die Juden wie angeblich bereits 1917/18 Deutschland und das neue Europa von innen heraus zerstören. Als sich die militärische Lage zuspitzte, wurde die Vernichtung bis zum äußersten beschleunigt.

III.

Obgleich eine integrierte Geschichte des Holocaust, wie ich sie vorgelegt habe, ihrem Wesen nach nicht darauf angelegt ist, neue Fakten zu entdecken, führt sie zu vergleichenden Fragestellungen und zeigt allgemeine Zusammenhänge, die wir sonst nur undeutlich wahrnehmen. Ich will in diesem letzten Teil meiner Ausführungen zu Fragen übergehen, die den singulären Charakter des Holocaust betreffen, und aus der Vielzahl der Probleme, die ungelöst bleiben, einige herausgreifen.

Consistoire