image

Fritz Rudolf Fries

Alles eines
Irrsinns Spiel

Roman

 

 

 

image

 

Für Pauline

 

 

Was hat uns der Krieg schon Gutes beschert?

Das alles ist ganz schön, um davon zu erzählen …

Was wir brauchen, ist Frieden.

Miguel de Unamuno, Frieden im Krieg

Inhalt

TEIL I. Genieße den Krieg

Heimat, deine Sterne

Wenn sich die späten Nebel drehn

Hohe Nacht der klaren Sterne

Die dulle Griet

Ich vertraue dir meine Frau an

Mein schönes Fräulein, darf ich’s wagen

Big Week

Frau Schulz und Herr Manfred

Der Schule lange Zeit und Weile

A Media Luz

Hausgemeinschaft

Der Krater

TEIL II. Die Amerikaner kommen

American Patrol

Nationale Front

Inseln im Strom

Die Flucht

Be-bop ist da und wird bleiben

Der Onkel aus Amerika

Der Vater im Himmel

Air Lift Stomp (1)

Air Lift Stomp (2)

LIBERTY. Ein Zwischenruf

Air Lift Stomp (3)

Eingesponnen

Stromsperre

Trauer

TEIL III. Die Grenze

Quartett

Jehovas Zeuge

Die pädagogische Provinz

Drei Könige aus dem Morgenland

Die Liebe meiner Cousinen

Jacqueline

Die Agentur

Fernweh

Der Agent

Lores Grenzgang

Das Haus (1)

Tauwetter

Venceremos

Das Haus (2)

Endzeit (1)

Prager Ereignisse

Endzeit (2)

TEIL IV. Koda Pauline

Dank

Impressum

TEIL I

Genieße den Krieg

 

Der Propagandaminister verkündet: Genieße den Krieg,
denn der Frieden wird furchtbar. Wir applaudieren.

Heimat, deine Sterne

Meine Mutter erwachte mit einem Lächeln, und schaue ich heute zurück, weiß ich, wovon sie geträumt hatte. Ich bin die Erinnerung der Toten in meiner Familie geworden, und das heißt, ihre Erinnerung ist die meine, und ihr Leben ist in mir aufgehoben.

Meine Mutter erwachte mit einem Lächeln und erschrak: Erst jetzt hörte sie das Auf und Ab der Alarmsirene, die alle Schläfer in der Wohnung in die Gegenwart des Krieges riß. Meine Mutter drehte sich zu mir, ihre Hand berührte ein leeres Kopfkissen. In der Abwesenheit meines Vaters schlief ich in seinem Ehebett. In dieser Nacht zum Sonntag am 20. Februar 1944 aber nahm mein Vater, auf Urlaub aus Italien, seine alten Rechte wahr. Als Soldat hatte er seine Sinne so geschärft, daß er die Gefahr ahnte, ehe sie ihn treffen konnte. So war er auf den Beinen, bevor die Sirene auf dem Diakonissenhaus zu jaulen begann. Er fand sich nicht gleich zurecht, scheute sich, Licht zu machen, obschon meine Mutter jedes Fenster in der Wohnung verdunkelt hatte mit diesen schwarzen Jalousien, die wie ein Trauerflor aus empfindlichem Papier waren. Er wollte mich wecken, der ich auf jeden nächtlichen Alarm mit einer Attacke gewaltiger Nieskanonaden reagierte, und er fand mich auf einer Matratze im Zimmer meiner Großmutter liegend, in unschuldiger Umarmung mit meiner Cousine Concha, auf die ihre jüngere Schwester Clara ein wachsames Auge hatte. Die Wohnung mit ihren verstörten Schläfern glich einem Heerlager, und man konnte uns, wer immer sich da den Schlaf aus den Augen rieb und die Angst unterdrückte, in Zivilisten und Soldaten einteilen. Wir hatten zu Ehren der Urlauber die Familien zu Tisch geladen, an dem meine Großmutter Doña Amparo präsidierte, und da sie kein Wort Deutsch verstand, war es einfach, sie über den Ernst der Lage im Unklaren zu lassen; und warum ihr Lieblingssohn Paco fehlte, der im Vorjahr nach der Schlacht um Stalingrad für vermißt gemeldet worden war, wurde ihr von ihren Töchtern in immer neuen Geschichten erklärt. Ihre Töchter waren meine Mutter Consuelo, meine Tanten Teresa und Lore, das Schlußlicht der Familie, dem Alter nach hätte sie meine Schwester sein können. Und wie Bruder und Schwester stritten wir über alles und nichts, über die Kuh Audumblah aus der germanischen Göttersage wie über die Frage, wer denn nun den Krieg gewinnen werde, die Plutokraten oder unser Führer. Lore war für den Führer, und wir hatten ihr mit Mühe ausreden können, auf der Familienfeier ihre BDM-Uniform zu tragen. Ihr Bruder Alfredo war aus Bilbao gekommen, in deutscher Uniform, obschon keiner genau wußte, was er da unten, im Süden, in der Stadt meiner Großmutter tat. Er war ein Meister, wenn es galt, seine Schwester Lore zu ärgern, und er war ein genialer Nachahmer jeden Schauspielers. Seine beste Nummer war eine Imitation von Hitlers Redepathos, wie ich sie später bei Chaplin fand, und wir staunten über soviel Dreistigkeit im Schatten des Hakenkreuzes. Seine beste und riskanteste Nummer aber war seine Rolle als Groucho Marx in Duck Soap, besser bekannt unter dem Titel Die Marx-Brüder im Krieg, ein Film, den die Geschwister in Bilbao gesehen zu haben behaupteten. Buster Keaton, rief mein Onkel Alfredo und machte ein Pokerface. Stan Laurel und Oliver Hardy … Diesmal lächelte auch meine Großmutter, und Alfredo zitierte klassische Sätze aus ihren Filmen, welche sie selber für Spanien synchronisiert hatten. Und ihr Yankee-Spanisch war zu komisch. Esta cabra huele mal …! Ihr erinnert euch, die Szene, wo sie eine Ziege unterm Bett verstecken müssen. Lore und ich konnten nicht mithalten. Was wir im Kino Buenos Aires gesehen hatten, bevor wir heim ins Reich zogen, hieß Schneewittchen und die sieben Zwerge. War denn die böse Königin ein Sinnbild des aufkommenden Faschismus? Und ein Glubschauge wie Popeye, im Kampf mit Pluto, nichts als ein GI, der sich auf die Invasion in der Normandie vorbereitete? Und seine magere Olivia ein Abbild kommender Freiheit?

Aus dem neutralen Spanien gekommen war der junge Thaler, in der Uniform eines spanischen Freiwilligen an der Ostfront. Er war der Erbe einer mit deutscher Wurst und Gründlichkeit erfolgreich geführten Fleischerei in Bilbao, und er sah entsprechend rosig und gut genährt aus. Ich konnte ihn auf Anhieb nicht leiden, als ich merkte, wie er in seinem gebrochenen, von spanischen Wendungen verunsicherten Deutsch meiner Tante Lore den Hof machte. In welcher Entfernung von ihr hatte er die Nacht verbracht? Er hatte zu ihren Füßen gelegen, während sie in einem Sessel schlief.

Zu den Soldaten zählte in dieser Nacht mein Onkel Gustav, Teresas Mann, der an der Heimatfront seinen Dienst tat und sich von meinem Vater den italienischen Kriegsschauplatz am Gran Sasso und um Assisi erklären ließ.

Die Wohnung, in dieser Stunde nach Mitternacht, da die blauen und grünen Kachelöfen keine Wärme mehr ausstrahlten, war aufgeheizt vom Atem der Schläfer, und im Luftzug der offenen Türen schwebten die Düfte gerauchter Ramses-Zigaretten und zur Neige getrunkener Likörgläser. Alfredo war ein Kettenraucher. Wir Kinder bewunderten seine Kunst, die Kippe mit einer Stecknadel zu halten, um sie bis auf wenige Millimeter rauchen zu können. Ein anderes Kunststück bestand darin, ein Wort wie SPIRALE nur durch das Rollen der Augen zu artikulieren, oder deutsche Worte wie FEUER trotz falscher, spanischer Betonung – FEUER – raten zu lassen. Wir Kinder amüsierten uns und gaben ihm andere Aufgaben. – Auf dem grünen Filzteller des Grammophons lag die Platte, die immer wieder gespielt worden war, bis jeder den Text, den Marikka Röck sang, auswendig konnte.

Im Leben geht alles vorüber, auch das Glück, auch das Leid. Nutz die Zeit, laß uns heut glücklich sein 

Meine Tante Lore schaltete den Volksempfänger ein, sie war zuständig für die Luftlagemeldungen des Reichssenders Leipzig, und wir hörten eine Stimme wie aus der Tiefe des Grabes sagen: »… der Reichssender Leipzig schaltet nunmehr wegen Annäherung feindlicher Flugzeuge ab. Wir bitten unsere Hörer, ihr Empfangsgerät auf einen anderen deutschen Sender einzustellen.«

Das Radio, am Beginn des Medienzeitalters, war der unentbehrliche Ratgeber und Tröster einer jeden Familie. Mit Hilfe des Rundfunks hielt man die Volksgenossen am Gängelband der Propaganda und verabreichte ihnen den Süßstoff der Unterhaltung. Wunschkonzert, Kinderfunk. Märchenstunde. Hurrah, ich bin Papa! Heimat, deine Sterne … Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern … Sag zum Abschied leise Servus …

Mein Onkel Alfredo schlug vor, BBC London einzuschalten, aber keiner lachte. Ein Witz, der den Kopfkosten konnte. (Hier ist England, hier ist England, und dann der Paukenschlag aus Beethovens Fünfter Sinfonie: So klopft das Schicksal an die Tür.) Er half meiner Großmutter in ihren mottenzerfressenen Pelzmantel und es begann der Exodus in den Keller. Im Treppenhaus war längst das Gewitter der mit Sack und Pack, Kind und Kegel in den Keller ziehenden Mieter ausgebrochen. Wir wohnten in der ersten Etage, und wir schlossen uns langsam an, eskortiert von unseren Urlaubern, die ihre schnell übergeworfenen Zivilsachen trugen.

* * *

Meine Mutter verließ ungern ihren Traum. Die Sirene trennte sie mitten im Tanz mit einem Mann, den sie gar nicht kannte oder der ihr im Abstand von zwanzig Jahren verlorengegangen war. Getanzt hatten sie einen Tango, den wir gestern abend mehr als einmal gehört hatten. Adalbert Lutter & sein Orchester, Nächte am La Plata. Meine Mutter war achtzehn Jahre alt, trug ein weißes, mit roten Mohnblumen verziertes Kleid. Sie tanzten auf der Promenade von San Sebastian, unter den gelb staubenden Tamarindenbäumen, das unberechenbare baskische Meer mischte sich in die Musik und entfachte die Leidenschaft der Tänzer, in diesem Tango, der bei jeder Kehre eine andere Haltung verlangte, auch wenn das Tempo unverändert blieb, und von Begehren zur Abwehr wechselte und die Passion zu einem Guerillakrieg der Liebenden machte.

Wie in jedem Sommer erholten sich der Adel und das vermögende Bürgertum im milden Seeklima der Stadt. Das Dreimädlhaus meines Großvaters durfte nicht fehlen, meine Mutter, ihre beiden Schwestern Paquita und Teresa. An Lore war noch nicht zu denken, und in diesem Haus war kein Platz für sie, weshalb Alfredo sie das Hündchen, das Kätzchen, das Hausschwein der Familie nennen würde. Aus Protest trat Lore den Nazis bei, die in Bilbao mit einer Gulaschkanone und viel Gesang einrückten. Aber noch begleiten wir das Dreimädlhaus unter der Obhut einer Schwester meiner Großmutter – ich gebe zu, die Verzweigungen europäischer Adelshäuser sind nicht komplizierter als die Entwirrung dieser Familienbande. Consuelo, meine Mutter, ist beinahe zu zerbrechlich für die Attacken eines Tangos, der in La Plata den viel robusteren Argentiniern auf den Leib geschrieben wurde. Dagegen ist Paquita mehr eine Schaufensterpuppe, im Selbstgefühl einer Blondine weiß sie, daß mein Großvater sie bevorzugt und nach einem Mann für sie Ausschau hält. Sie hat Zeit, sie pflegt ihre Figur und spielt Tennis. Meine Tante Teresa würde gern etwas mehr Figur haben und also zunehmen. Es gelingt ihr nicht, und so neigt sie dazu, sich selber nicht allzu ernst zu nehmen. Sie sucht nach Beispielen einer ironischen Lebensführung, und entdeckt die schöne Literatur wie einen möglichen Ausgang in andere Welten.

Wer aber wacht über diese Mädchen, die mein Großvater mit nur wenig Taschengeld fürs teure San Sebastian ausrüsten konnte? Vermutlich eine Gouvernante im Rang eines Familienmitglieds? Mir hat sie einmal beibringen wollen, den Löffel aus der Tasse zu nehmen beim Trinken, und ich habe sie böse angefunkelt. Sie hielt auf Etikette, seitdem sie einen Liebhaber hatte, der Engländer war. Und somit sind wir beim Thema. Denn Tía Cucharita, Tante Löffelchen, wie sie genannt wurde, vertrat die Liebe des Herzens gegen jede Heirat der Vernunft. In Madrid hatte sie des Geldes wegen einen Juwelier geheiratet und sich im selben Jahr in seinen Angestellten, einen Engländer aus der Grafschaft Wales, verliebt. Die Mädchen ließen sich diese Geschichte immer wieder erzählen, in Gedanken an meinen Großvater, der die patriarchalische Moral der Zeit verkörperte, indes sie auf die Schläge ihres Herzens hörten, wenn sie die jungen Männer auf der Promenade beobachteten.

Wie in jedem Jahr genoß der Adel und sein Anhang die süße Trauer in Erinnerung an den frühen Tod der Königin Maria de las Mercedes. Sie war die Frau Alfonso XII. gewesen und nach fünf Monaten Ehe an Tuberkulose gestorben. Ganz Spanien beweinte sie, die eine Königin der Herzen gewesen war. Conchita Piquer, die Sängerin, verkündete noch Jahrzehnte später ihre Legende – vier Herzöge trugen den Sarg durch die Straßen von Madrid, und untröstlich war der König …

Sie hatten, sagte Tía Cucharita, ihre Liebe über alles gestellt, sie hatten geliebt wie zwei junge Leute aus dem Volke, gegen die Empfehlungen der Ärzte und der Politik … Die Liebe, das ist die Krankheit der Unvernunft, gegen die man sich nicht wehren kann …

Ein halbes Jahrhundert später studierte meine Cousine Clara Medizin und besiegte ihre Tbc in einem Leipziger Krankenhaus. Familiengeschichten sind wie Efeu, sie ranken und ranken ohne Ende, und indem sie den Stammbaum mit einem immergrünen Kleid umgeben, verstecken und vernichten sie ihn.

Tía Cucharita versuchte auf ihre Art, Familienpolitik zu machen. Sie suchte die Tänzer für dieses Dreimädlhaus aus, und es mußten nicht unbedingt Gigolos sein, wie sie das Ende des Ersten Weltkriegs aus der Schar arbeitsloser Offiziere hervorbrachte. Sie waren nicht so adrett und gebügelt wie die weiß uniformierten Matrosen aus dem deutschen Schulschiff, das neulich in Bilbao vor Anker ging, aber sie waren die besseren Tänzer.

Tía Cucharita brannte mit ihrem Engländer durch, ein Skandal, der in der Familie vertuscht wurde. Beide gingen nach London, und als der nächste Krieg merry old England bedrohte, verhalf ihr Bruder, Tío Salus, beiden zu einer Schiffskarte nach Buenos Aires, an den Strand des Rio de la Plata.

Meine Mutter, im Zwischenreich des Erwachens, hatte zur Liebe des Herzens zurückgefunden, ohne sich an ihren Tänzer erinnern zu können. An die Geschichte von der unglücklichen Königin Maria de las Mercedes – el rey no tiene consuelo –,dachte sie, als mein Vater sie fragte, in welchem Madrider Hotel sie auf ihrer Hochzeitsreise wohnen sollten – Hotel Alfonso XII., sagte meine Mutter ohne zu zögern, und mein Vater erschrak ein wenig, als er das Hotel mit seinen kostbaren Glasfenstern von Maumejean und die edle Einrichtung sah. Die Rechnung würde hoffentlich sein Schwiegervater begleichen, als Ersatz für eine Mitgift. Auf ihrer Hochzeitsreise schlief meine Mutter das erste Mal mit meinem Vater, und also begänne meine Geschichte im Hotel Alfonso in Madrid, in der noblen Gegend am Retiro. Aber Ich, bekanntlich, ist ein Anderer, und dieses Ich ist nichts als der Buchhalter der Familie, der sich das Recht nimmt, die Seiten der Familienchronik vor- und zurückzublättern. Die Platte mit der Piquer schickte uns Tante Paquita nach dem Kriege. Von Spanien aus gesehen war die Ostzone ein zweites Sibirien, wo die Gefühle erkalteten und die in dicker Kleidung verpuppten Menschen nicht fähig waren, den Tango à la Nächte am La Plata zu tanzen.

Als meine Mutter zu ihrem Tango zurückfand, geschah das in der Wohnung des aus dem Krieg unversehrt zurückgekehrten Knopfhändlers Kießling, der unser Nachbar war. Er hatte ein Grammophon mit Schalltrichter und einer Handkurbel. Aber es ließ sie kalt. Träume sind unwiederholbar.

* * *

Gestern, während die anglo-amerikanischen Bomber in einer konzertierten Aktion sich auf den Beginn ihrer Großen Woche, Big Week, vorbereiteten, gestern wurde auch getanzt. Den Tango beherrschte keiner so richtig, Alfredo parodierte die Art, wie Groucho Marx für sich tanzt, mit Augenaufschlag und verdrehten Beinen, ein Hosenbein übers Knie gezogen, die Finger streichen über den Schnurrbart, wir Kinder lachten, und Consuelo und Teresa erinnerten ihren Bruder daran, wie sie nach jeder Kinovorstellung in Bilbao zu Hause in Streit geraten waren – über die Handlung, die Haarfarbe der Heidinnen, und hatten sie während der Vorstellung kaum eine Miene verzogen und auch keine Träne vergossen, so weckten sie nun die schlafenden Eltern mit ihrem Gelächter“ Die eine Szene mit Groucho, der sich als Arzt ausgibt und in Wahrheit nur ein Pferdedoktor ist, ihr erinnert euch, er kramt während einer Operation buchstäblich in den Innereien seiner Patientin, und er räumt sie aus, während er verkündet: Das braucht sie nicht, das kann weg, das taugt nicht …

Ich kann mich an so einen Film nicht erinnern, sagt mein Onkel Gustav, dem die wiederholte Erwähnung des Namens Marx Unbehagen bereitet. Wohl aber, fährt er fort und bittet meinen Vater um Bestätigung seiner Worte, wohl aber hatten wir, Jonas und ich, euch Mädchen oft ins Kino begleitet, um euch dann bei euren Eltern abliefern zu können, in der Hoffnung, unsere Verlobung mit euch von einer anständigen Mitgift regaliert zu sehen.

Er sagt: regaliert und spielt damit auf die unterschwellige Familiensprache an, die sich aus spanischen Worten und deutschen Prä- und Suffixen zusammensetzt.

Dafür, sagt mein Vater, bekamen wir einen Teil der schwiegerelterlichen Möbel und Teppiche, als euer Vater seine Geschäfte aufgab und sich in seine Phantasien zurückzog.

Vater macht der Kopf drehen, sagt Teresa und übersetzt wörtlich das spanische dar vueltas a Ia cabeza, sich den Kopf zerbrechen.

Ich habe nie verstanden sagt mein Onkel Gustav, der seine Gedanken und Gefühle so ordentlich beherrscht wie seine Büroarbeit bei Mayer & Weichelt, ich habe nie verstanden, warum euer Vater von einem Tag zum andern alles aufgab. Zugegeben, das Geld machten die anderen, dieser Lipperhaide etwa, der im ganzen Baskenland den Eierhandel organisierte und Millionär wurde.

Das stimmt nicht, widerspricht Lore, es war nicht Lipperhaide, ich muß es ja wissen, ich bin mit einem seiner Söhne in die Deutsche Schule gegangen.

Thaler gibt sich neutral und schweigt.

Er hatte sich, sagt meine Mutter, doch alles überlegt. Seine Geschäfte gingen bergab, die deutsche Kolonie von Bilbao gehörte den Neureichen, und Vaters aus Deutschland importierte Werkzeuge und Maschinen wollte in Spanien keiner mehr haben.

Teresa bestätigt und sagt: Und wer hätte uns geheiratet, wenn wir ganz arme Mädchen gewesen wären?

Mein Vater und mein Onkel Gustav protestieren, und Lore übersetzt schnell für meine Großmutter, wovon denn hier die Rede ist. Teresa läßt sich nicht beirren. Und da, sagt sie, fiel dem Vater ein, wie er sich selber und uns vor dem Schlimmsten bewahren konnte. Er lancierte das Gerücht seiner künftigen Erfindungen.

Damals, ergänzt meine Mutter, kam das Wort auf: vivir del cuento, was leider nicht heißt »vom Konto leben«, sondern im Märchen, in der Phantasie leben.

Teresas und Consuelos Ehemänner schauen sich an. Sie müssen zugeben, daß sie auf die Taktik meines Großvaters hereinfielen. Der bastelte an seiner Wunderwaffe, die freilich kein Interesse fand, da sie eine Maschine war, in Friedenszeiten zu gebrauchen. Absichtlich ließ er, kamen die künftigen Schwiegersöhne zu Besuch, phantastische Blaupausen auf dem Tisch liegen, mit Zahlen gespickte Ungetüme, halb Mondrakete, halb fledermausartige Luftschiffe oder von Panzerglas geschützte Tauchboote zur unterhaltsamen Erkundung des Meeresbodens. Und sprach er davon? Wohl nur in verlegenen Andeutungen, und nur die lesehungrige Teresa hätte seine Entwürfe als Plagiate aus den Zukunftsromanen eines Jules Verne deuten können. Doch das Gerücht dieser Erfindungen machte die Runde durch Bilbao, und das Gespenst der Utopie nahm Gestalt an. In der Deutschen Schule versuchten die Lehrer, Lore auszufragen. Dein Vater, sagten sie, wie man hört, wird er bald eine gewaltige Erfindung machen. Du weißt vielleicht, daß der deutsche Konsul sich im Reich für ihn nach Geldgebern umsieht …

Der deutsche Konsul, sagt mein Onkel Gustav, war ein Österreicher und hieß Wakonigg.

Vaconi, sagt meine Großmutter. Er war ein Freund der Familie.

Vivir del cuento. Die Söhne meines Großvaters blieben unbeeindruckt, es ließ sie kalt, was der Alte sich da zusammenphantasierte. Er hatte sich nie um ihre Ausbildung gekümmert. Jetzt kümmerten sie sich nicht um seinen Spleen, der selbstverschuldeten wirtschaftlichen Misere mit Hilfe einer lenkbaren Montgolfiere zu entkommen. Alfredo ging zur Legion Condor, Paco als Volontär in eine deutsche Autofirma. Mein Großvater, denke ich, überzeugte am Ende nur sich selber von der Verwertbarkeit seiner Erfindungen. Er verkaufte das Haus in Amorebieta, verschenkte ein paar Möbel und Teppiche an seine Töchter, und auf deren Hochzeit hielt er eine Rede über die geistige Mitgift, die er seiner Familie vermachte, und das meinte Begeisterungsfähigkeit, Phantasie, Vertrauen in die eigene Leistung. Der Geist, sagte er, weht, wo er will, und er ist wie der ruhmreiche Ritter Don Quijote ein Widersacher des Materialismus … Dann trennte er sich von seiner Ehefrau und zog in ein Städtchen am Rhein.

Lore übersetzt und übersetzt. Meine Großmutter aber bleibt ungerührt. Sie sitzt am Tisch regungslos, ein Denkmal der Trauer, ihr erloschener Blick gibt keine Erinnerung preis.

* * *

Meine Mutter geht in die Küche, während die anglo-amerikanischen Bomberverbände den Kanal überqueren. Ein Kaffee-undKuchen wird die erhitzten Gemüter beruhigen, danach ein Likörchen. Die Wohnung, die man uns als sogenannten Rückwanderern zugewiesen hat, trägt die Spuren der Mieter vor uns. Die Küche ist schmal, ein Wasserrinnsal netzt den Ausguß, der vom Wasserstein wie Perlmutt glänzt. Das Licht kommt von der Tür zum Balkon, und es zieht den Blick an auf die parzellierte Weite hinter dem Haus, auf die Schrebergärten, auf den Fußballplatz, auf das Freibad am Rande des Leutzscher Waldes, der von Kanälen durchzogen wird und das Villenviertel schützend umgibt. In den Baracken am Rande des Bades hausen die polnischen und holländischen Zwangsarbeiter. Das Haus ist ein Eckhaus, um 1900 gebaut schließt es die Häuserzeile, die sich, von Seitenstraßen unterbrochen, die TheodorFritzsch-Straße entlang zieht. Wir sind die »Neunziger«, meine Tante Teresa und ihre Familie die »Sechsundachtziger«, die mit uns Leutzschern nichts gemein haben, weil vor ihrer Haustür, so sagen wir, praktisch der Stadtteil Lindenau beginnt. Das kann unter uns Kindern im -Winter zumal zu Territorialstreitigkeiten führen, wenn die eine und die andere Partei die Rodelbahn beansprucht. Im Sommer, zum Indianerfest Tauchschern, erreicht der Krieg seinen Höhepunkt, und Trapper wie Horschte oder Harry sind unsere ernannten Vertreter, die dafür sorgen, daß die Enkelkinder des Juden Zitrin als zu skalpierende Rothäute gelten. Wohin sie den Juden Zitrin gebracht haben, wissen wir nicht, und wer es weiß, sagt es uns nicht. Seine halbjüdische Tochter Sarah (eigentlich heißt sie Inge) ist mit ihrem Geliebten, der unmöglich der Vater ihrer Kinder sein kann, in unser Haus gezogen. Bei Alarm braucht sie die Genehmigung des Luftschutzwarts, um sich im Keller in Sicherheit bringen zu können.

Meine Mutter öffnet die Speisekammer und weiß, daß wir für die nächste Zeit nicht hungern müssen. Thaler hat einige Wurstsorten seines Vaters im Koffer gehabt, die sich gut vertragen mit der Pferdewurst, die mein Vater aus Italien mitgebracht hat, zu den anderen Delikatessen aus dem »Führerpaket«, auf das ein Soldat Anrecht hat, kommt er auf Urlaub. Sie schneidet ein paar Scheiben vom italienischen Weihnachtskuchen ab, der mit Butter verrührte Puderzucker bleibt am Messer kleben, und sie kann der Versuchung nicht widerstehen, die Krümel abzupflücken und sich in den Mund zu schieben.

Sie kommt zurück und deckt mit Lores Hilfe den Tisch. Zur Feier des Tages ist sie einverstanden, das geblümte Kaffeeservice aufzubauen, ein Hochzeitsgeschenk von Tante Löffelchen.

 

Wir hätten, sagt mein Onkel Alfredo zu meinem Vater, wir hätten uns um neunzehndreißig, etwa, schon in Madrid kennenlernen können. Und hätten der Stadt den Kopf verdreht.

Mein Vater lacht. Sein Bruder war nach Amerika ausgewandert und er nach Spanien. Warum? Keine Ahnung. Womöglich weil die Fahrkarte von Karlsruhe nach Madrid billiger zu haben war. Die Sprache hatte er über Nacht gelernt. Seine deutschen Gewohnheiten verdrängt. Niemand nahm ihm ab, ein Deutscher zu sein. Er wohnte in Nähe des Hotels Florida in einem Hospiz für katholische junge Männer. In der Karwoche führten sie die Passion Jesu Christi auf.

Du? sagt mein Onkel Gustav. Welche Rolle haben sie dir denn gegeben?

Mein Vater möchte sich nicht erinnern. Mir? sagt er. Ich habe einen der Soldaten gespielt, der Christus den Essigschwamm reicht. Natürlich hatten wir den Schwamm mit Cazalla oder Sherry getränkt, so daß der Mann am Kreuz nicht genug bekam und wir fürchten mußten, er würde seinen Text vergessen: Herr, warum hast du mir das angetan? Dann sagte er noch: Es ist vollbracht, und schlief seinen Rausch aus.

Thaler bekreuzigt sich und sagt: Mein Vater, warum hast du mich verlassen, das hat er gesagt.

Ich würde am liebsten, sagt Alfredo, den Judas gespielt haben, der steckt im Heilsplan wie die Wanze im Kopfkissen und riskiert, für eine gute Sache zerquetscht zu werden.

Und hattest du nicht, fragt mein Onkel Gustav, und Teresa kann ihn nicht daran hindern, hattest du nicht jeden Tag Gelegenheit dazu, etwa im Hotel Florida?

Meine Mutter gießt den Kaffee ein, guter, echter Bohnenkaffee, den sie seit Weihnachten versteckt hat, und sie gießt den grünen Likör in die Gläser, und wir Kinder spähen nach einer passenden Gelegenheit, mit unserer Zunge die geleerten Gläser sauber zu lecken. Hotel Florida, denke ich heute, zu einer Zeit, da ich noch nicht existent war; ergo kann ich mich als Geist an der Bar aufhalten, zu etwa dieser Nachmittagsstunde. Alfredo, der hier ein Rendezvous hat mit einer Amerikanerin, die viel zu alt für ihn ist, weshalb er sie an Ernest Hemingway abtreten muß, Alfredo gerät in diesem Eldorado der Agenten zwischen die Fronten Der spanische Krieg steht unmittelbar bevor, und das Land wird zum Sandkasten für die europäischen Kräfte, die den nächsten und großen Krieg vorbereiten und zunächst einmal ihr Material und ihre künftigen Gegner testen wollen. Ein wenig so, wie vor einer Corrida der Stier gekitzelt und geneckt wird, um zu sehen, ob er bereit ist für den Tod am Sonntag nachmittag um fünf Uhr.

Der gut aussehende junge Mann an der Bar gewinnt das Vertrauen der einen und der anderen Seite. Am Ende wird er nicht wissen, in wessen Diensten er diesen und jenen Auftrag angenommen hat.

Hätte er sich in den Dienst Hemingways gestellt, denke ich, oder André Malrauxs, der hier an jedem Nachmittag zum Cocktail einladet, in Sorge, ob die in Cochin China von ihm geklauten und auf dem Pariser Kunstmarkt angebotenen Kunstschätze das nötige Kleingeld für diese Eskapaden und für seine neue Liebe bringen werden; Alfredo hätte der Sekretär des chilenischen Konsuls Pablo Neruda werden können, und ich hätte in späteren Jahren mit seiner Hilfe eine Biographie des Dichters geschrieben.

Nichts von alledem. Er kannte keine Zeile der hier trinkenden und diskutierenden Autoren. Und als er uns an jenem Nachmittag ihre Namen nennt, können auch wir sie nicht einordnen. Die wenigen Bücher, die meine Großmutter aus Bilbao mitgebracht hatte und immer wieder las, waren Romane von Pìo Baroja, die Novellen des Cervantes und ein Buch, das En poder de Barba Azul hieß – In Blaubarts Gewalt. Ich habe sie alle gelesen.

* * *

In späteren Jahren kannte ich die Autoren im Florida besser und sah sie in ihrer Rolle im spanischen Krieg. Hemingway, damals ein Korrespondent amerikanischer Zeitungen, überragte sie alle. Er überrundete mit seinen praktischen Vorschlägen die ideologischen Bedenken seiner Kollegen Malraux und Neruda. Eine gemeinsame Lesung im Hotel Florida? Unsinn. Es galt, einen Sanitätszug zwischen Madrid und der Ebro-Front zu organisieren.

Malraux war vor der Stadt der Pilot einer Flugzeugstaffel, die den anrückenden General Franco in Schach hielt. No pasarán! Zu den Cocktailnachmittagen kam er ins Florida in Begleitung seiner Frau Clara Goldschmidt, die sich seine Liebe mit Josette Clotis teilen mußte. Malraux nahm die Liebe als unvermeidliches Übel; aus Indochina hatte er nicht nur die Skulpturen der Khmer mitgebracht, auch ihre stoische Gelassenheit, die Kunst, gleichzeitig anwesend und abwesend zu sein, im Gespräch sich Sätze auszudenken für die Bücher, die er schreiben wollte. Seine Kollegen Gide, Mauriac und der Papst der surrealistischen Bewegung, Breton, hatten ihn davor bewahrt, in Phnom Pen wegen Kunstraub zu drei Jahren Gefängnis verurteilt zu werden. Wichtiger als Gerechtigkeit, hatten sie argumentiert, ist es, den Bestand der französischen Nationalkultur zu garantieren, und dieser junge Mann ist eine Hoffnung.

Alfredo ließ sich von Esther Goldschmidt und von Malraux überreden, Artikel über die bedrohte spanische Republik für die französische Presse zu schreiben, Artikel, die nie erschienen. Er gab die Artikel weiter an Hemingway und in einer spanischen Fassung an Neruda, und eines Tages tauchte im Florida ein deutscher Journalist auf, dessen Name nicht überliefert ist, und bat um einen Artikel in deutscher Sprache. So geriet mein Onkel Alfredo zwischen die Fronten, und als er sich nicht zu helfen wußte und Madrid nicht zu halten war, verabschiedete er sich von seiner Schwester Paquita und schloß sich dem Übervater, dem General, an, und die Cocktailtrinker aus dem Hotel Florida zogen sich hinter die Linien zurück, allen voran Hemingway, der die notwendige Kargheit seiner Depeschen zu einem Stilprinzip seiner Shortstories und Romane machte und die in späteren Jahren Teresas und meine bevorzugte Lektüre wurden.

Sprach man damals im Florida über Literatur? Kaum. Literatur macht man, das Reden darüber ist Sache der Leser, der Kritiker und Akademiker. Der Autor spinnt seinen Faden, denke ich, der Leser webt sich daraus etwas, das ihm paßt, ihm zu groß oder zu klein ist. Die Freiheit des Autors ist grenzenlos, er hat ja seine Figuren in der Hand – bis sie ihr Spiel mit ihm treiben. Am Ende blickt er mit der gleichen Skepsis auf seine Gestalten wie meine Großmutter, wenn sie in unserer Familienrunde auf ihre Kinder und Kindeskinder sah. Was eigentlich hatte sie mit uns zu tun? Hatte sie uns so gewollt, wie wir nun waren? Hatte ein Anderer uns so gewollt? Doch, ein wenig besser geht es dem Autor in seiner Gottähnlichkeit, er schafft seine Figuren nach seinem Ebenbild und ergo nach dem kosmischen Prinzip: Energie verwandelt sich in Masse, Masse in Energie.

* * *

Der Krieg ist der Vater aller Dinge, hatte ein Philosoph gesagt, der vermutlich wie Diogenes nie aus seiner Tonne herausgekommen war. Mich inspirierte der Luftkrieg zu einem Kunstwerk. Ich nannte es »Die Katastrophe von Hamburg«, eine Buntstiftzeichnung, die ich meinem Vater schenkte. In gewaltigen Farbspritzern detonieren die Bomben des alliierten Geschwaders über der Stadt. Wie Kreuze hängen die Flugzeuge am Himmel. Am Boden lodern Flammen, in denen brennende Menschen verschwinden. Alles in allem eine Zeichnung im expressionistischen Stil, der Mensch, wie die Expressionisten meinten, ein Nichts, hingespuckt ins Nichts. Der Krieg lehrt den Glauben an den Nihilismus. Mein Vater lobte die Zeichnung. Diesmal hatte ich nichts dazu geschrieben, keine Worte in Liebe wie in meinen Briefen an ihn, und die er mir zurückschickte, die falsch geschriebenen Worte eingekreist. Das fand ich beleidigend, buchhalterisch, als schickte er mir eine Mahnung wegen einer unbezahlten Rechnung aus den Tagen seiner Arbeit bei Gerster & Söhne, Karlsruhe, Fahrräder en gras. Eine Sohnesliebe in den engen Stiefeln der Orthographie? Ich nahm es ihm übel. Dennoch, als er vor wenigen Tagen an der Haustür klingelte und ich öffnete, umarmte mich ein fremder Mann. Der mich an seine graugrüne Uniform drückte, an diesen groben Stoff, der mich an das Büßergewand eines Heiligen in meiner Katechetenfibel denken ließ. Ein Fremder, der Einlaß forderte. Auf ihn war ich neugierig. – Meine Cousinen bewunderten meine Kunst, Concha ohne Vorbehalt, Clara mit skeptischem Blick aus ihrer Kinderbrille. Die Darstellung war ihr viel zu bunt, und der Zeichner hatte es leicht gehabt, sich aus dem Inferno zu retten, indem er es darstellte.

Clara würde meine Kritikerin bleiben. Den Naturwissenschaften ergeben, machte sie sich lustig über das Stellvertreterdasein der Künstler, Literaten. Sie krochen bestenfalls unter die Röcke ihrer Großmütter, um die Vergangenheit zu studieren, ließen die Personnage ihrer Erfindungen stellvertretend für sie handeln, übermalten den Blick aus dem Fenster mit eigenen Farben. Und wurden dafür, daß sie die Welt auf den Kopf stellten, auch noch gelobt, mit Preisen bedacht und in die Unsterblichkeit gehoben, nur weil sie angeblich einen Epochenstil kreierten. Die Zeit, argumentierte meine kluge Cousine, unsere Zeit brauche andere Helden, und wenn schon Phantasie, dann für die Entwürfe einer besseren Zukunft. Schriftsteller, geht in die Forschungslabore und an die Drehbank! Einmal entdeckte ich, daß sie ihre Polemik aus dem Zettelkasten meines Archivs haben mußte, aus einem Bericht vom Besuch des sowjetischen Schriftstellers Tretjakow in Berlin, wo er zum Entzücken der deutschen Kollegen das Ende des psychologischen Romans verkündet hatte und die Einreihung der »Ingenieure der Seele« in die Produktion der Fünfjahrespläne. Dann fiel er in Ungnade, und einer vaterländischen Kunst stand auch in der Sowjetunion nichts mehr im Wege.

Auch meine Cousine widerrief ihre Ansichten, spätestens als sie in den Fieberdelirien ihrer Tbc-Erkrankung den Surrealismus eines Dali und die LSD-Delirien eines »Naked Lunch« für sich entdeckte und in ihrem Unterbewußtsein die Kunst gegen die Medizin siegte, und so söhnten wir uns aus.

Früh ging ich zu Collagen über, schnitt aus Zeitungen Fotos und Schlagzeilen und mischte alles auf einem neutralen Blatt Papier. So wurde ich, ohne es zu wissen, ein Kollege von Schwitters und Hannah Höch. Ich klebte die disparaten Nachrichten und Bilder des Jahres 1943 zu einem Rebus zusammen: 10. JULI: LANDUNG DER ALLIIERTEN AUF SIZILIEN. MUSSOLINI VERHAFTET. NEUE DURCHFÜHRUNGSBESTIMMUNGEN FÜR KZ-EXEKUTIONEN. WEHRMACHTSANGEHÖRIGE ERHALTEN BEZUGSSCHEINE FÜR BORDELLBESUCH. 12. FEBRUAR: IN DRESDEN WIRD DER FILM »EIN WALZER MIT DIR« URAUFGEFÜHRT. 18. FEBRUAR: AUFSTAND IM WARSCHAUER GHETTO. 22. FEBRUAR: GESCHWISTER SCHOLL ZUM TODE VERURTEILT. FRAUEN UND MÄDEL: MELDET EUCH ZUR ARBEIT BEIM NÄCHSTEN POSTAMT. SCHÜLER AB 15 WERDEN LUFTWAFFENHELFER. 2. APRIL: RÜHMANN IM LUSTSPIELFILM ICH VERTRAUE DIR MEINE FRAU AN … Aufgelockert das alles mit Fotos lachender Schauspielerinnen und Schauspieler, da mir weder von Schlemmer, der im April in BadenBaden stirbt, noch von Jackson Pollocks Ausstellung »Art of this Century« im New Yorker Guggenheim Museum Abbildungen zur Verfügung standen. Doch bleibt die Frage, hätte die Kunst die Nachrichten ad absurdum geführt oder die Nachrichten die Kunst? Ein Neunjähriger wie ich wäre mit dieser Frage überfordert gewesen. Aber den Erwachsenen an jenem Nachmittag hätte man sie auch nicht stellen dürfen. Meine Cousine Clara ahnte als sie meine Collagen sah, welche Alibifunktion wohl die schönen Frauen in dieser Olla Podrida, in diesem Leipziger Allerlei, haben sollten.

Wenn sich die späten Nebel drehn

Die Fliegenden Festungen näherten sich dem Deutschen Reich, als meine Mutter noch einmal in die Küche ging, um das Abendbrot vorzubereiten. Sie hätte gern eine Paella angeboten, aber es fehlten die unumgänglichen Zutaten wie Paprikaschoten, Rind- und Schweinefleisch, allenfalls hätte sie ein Ei gefunden, das hart gekocht und in Scheiben geschnitten den Reistopf geschmückt hätte –, und so begnügte sie sich, die Ölsardinenbüchsen aus dem Führerpaket zu öffnen, das Kommißbrot in Scheiben zu schneiden, die italienische Wurst dazuzulegen und Thalers spanische Blutwurst auf einem Teller zu arrangieren, wobei sie sich zurückhalten mußte, nicht davon zu kosten.

Eine Philosophie der Nationalgerichte böte sich hier an, eine Theorie zum Thema wes Brot ich eß, des Lied ich singe –, an jenem Abend kam es höchstens zu einer virtuellen Speisung über die entbehrten Gerichte der baskischen Küche, die vom Huhn zum Thunfisch wechselt, vom gebackenen Hirn zur gebratenen Sardine und zum in gelber Soße schwimmenden Stockfisch, von der süßen roten zur pikanten grünen Paprika und dann zum Nachtisch aus Vanillecreme, vom Weizen zum Mais, vom Weißbrot zum Fladenbrot, von der gelben Butter im grünen Salatmantel zu den Süßigkeiten aus Honig und Mandel. Die verlorene Heimat ist die von Kind auf gewohnte Nahrung.

Meine Großmutter trank nur stark gesüßten Pfefferminztee, den meine Mutter in ihrer ungeheizten Küche vorbereitete. Aus dem Aroma des Tees, herb und süß, steigt über die Jahre die Erinnerung an Erkältungskrankheiten, an Schnupfen und Halsschmerzen, an die süße Lust, umsorgt zu werden und in den Schlaf der Genesung zu fallen. Wir Kinder, die wir uns bei den Gesprächen der Erwachsenen langweilten, belagerten die Küche und wurden beauftragt, Gläser und Tassen ins Wohnzimmer zu tragen, wo Lore das Ohr an den Volksempfänger hielt, der vom Eindringen feindlicher Verbände in den reichsdeutschen Luftraum raunte, ohne vorhersagen zu können, in welcher Richtung sich die anglo-amerikanischen Verbände bewegten. Elloro de Lore, spottet Alfredo, Lores Papagei.

Wir saßen im schummrigen Wohnzimmer, das für mich das Jahr über die Geheimnisse der Weihnachtszeit bewahrte. Die Soldaten unter uns, in diesem Krieg in einer Phalanx stehend, mißtrauten dennoch einander. Denn wer von ihnen stand in der Etappe und wer in vorderster Linie? Meine Großmutter, obschon sie so gut wie kein Wort Deutsch verstand, hörte genau hin und wußte, wovon die Rede war.

Und so begannen die Soldaten, sie mit ihren Lügengeschichten zu beruhigen. Paco in Stalingrad? Er war, keine Frage, am Leben. In Gefangenschaft? Gut möglich. Aber – am Leben. Dem Kessel entronnen. Vor dem Erfrieren bewahrt. Beschützt vom eisernen Willen seiner Kameraden durchzuhalten.

Ich beeilte mich, in meinem Archiv die passende Schlagzeile zu finden: LUFTWAFFE UNTERSTÜTZT DEN HELDENKAMPF IN DEN RUINEN VON STALINGRAD. Januar 1943.

Man könnte, gab Alfredo nach einigem Zögern zu bedenken, sich vorstellen, seine leidenschaftliche Gesinnung, sein Durst nach Gerechtigkeit habe ihn verleitet, den Wahnsinn des totalen Krieges vor Augen, zu den Russen überzulaufen.

Niemals! rief mein Onkel Gustav empört aus. Niemals! Da kennt ihr ihn schlecht. Hat er nicht die Roten zur Genüge in Spanien kennengelernt?

Meine Tante Teresa versuchte einmal mehr, ihn an diesem Abend zurückzuhalten.

Denn jetzt umkreisten die Gespräche, wie wir ahnten und verschwiegen, die schlimme Wahrheit. Paco hatte sich gegen seine Verhaftung durch einen Rotarmisten gewehrt und war erschossen worden.

Heute denke ich, meine Großmutter wußte es. Ihr Schmerz zerriß die Lügenschleier und zeigte ihr das Bild des im Stalingrader Schnee liegenden Sohnes. Vielleicht, daß in ihrer Vorstellung der Tote immer jünger und so dem Leben zurückgegeben wurde, und von Tag zu Tag fand sie mehr Trost an diesem Bild eines wiedergeborenen Kindes.

Jung Thaler, der ein weiches Herz hatte, genährt von zuviel deutscher Butter und spanischem Chorizo, hörte diesen Gesprächen mit ängstlichem Gesicht zu. Da er den Jahren nach zwischen den Erwachsenen und uns Kindern stand, beobachteten wir ihn sehr genau. Er übernahm ein gut Teil unserer Ängste, ohne deshalb unser Mitgefühl zu bekommen. Wir sahen, wie seine rosige Stirn sich mit Schweiß überzog. Er griff in seinen Hemdkragen, berührte die Amulette an seinem Hals, die sein Beichtvater in Bilbao ausgesucht und mit Weihwasser benetzt hatte, winzige Skapulette, die in kleinen Beuteln steckten und vermutlich Abbilder der Heiligen Jungfrau von Begoña und dem heiligen Ignazius von Loyola waren.

Auch sonst war Thaler für den russischen Winter vorbereitet. Seine Mutter hatte ihm eine baskische Bergsteigerausrüstung eingepackt, mit der man die Schneestürme und Eiswinde des Pagasarri überleben oder die Felsen der Pyrenäen bewältigen konnte in den Fußstapfen der Schmuggler wie der Flüchtlinge, die aus Franco-Spanien nach Frankreich entkamen, oder aus Deutschland in der Hoffnung, in Portugal das rettende Schiff nach Übersee zu finden. Thaler hatte für uns Kinder die Wollmütze übergezogen, die nur die Augen freiließ – später trugen die Kämpfer der ETA ähnliche Bedeckung, wenn sie öffentlich auftraten und unerkannt bleiben wollten. Die Mütze, Pasamontañas genannt – »Um über den Berg zu kommen« –, verwandelte ihn auf unheimliche Weise. Kein Russe würde dieser bedrohlichen Maske standhalten können. Zur Ausrüstung gehörten die genagelten Stiefel, mit denen man über das russische Eis wie auf Engelsflügeln getragen wurde und die auf dem Parkett des Moskauer Kremls ein scharfes Geräusch machen würden wie von Panzerketten. Leider würde Thaler für einen Besuch im Kreml zu spät kommen. Die deutschen Truppen befanden sich auf dem Rückzug, und mein Vater und mein Onkel Gustav trösteten ihn, wenn sie versicherten, weiter als bis Brest-Litowsk (ich beeilte mich, eine Abbildung dieses Frontabschnitts aus meinem Archiv zu holen) würde er nicht reisen müssen. Und eine spanische Abteilung Freiwilliger ohne Fronterfahrung würde man in die Verwaltung der rückwärtigen Dienste stecken, wo sie den Landsern mit etwas Musik und der Ausgabe von Getränken den Krieg so angenehm wie möglich machen könnten.

Genieße den Krieg, sagte mein Onkel Alfredo (während er bei sich dachte, man werde diese grünen spanischen Jungs samt ihren Amuletten in vorderster Front verheizen), genieße den Krieg, denn der Frieden wird furchtbar.

Singen, sagte Thaler, könnte ich schon. Er intonierte ein baskisches Lied, das meiner Großmutter ein Lächeln entlockte – Gora, Euskadi, um dann auf deutsch zu singen: Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern, keine Angst, Ros’marie …!

Lore verzog keine Miene.

Wir Kinder fanden auch das nicht komisch. Auch wir sangen, wenn wir Angst hatten.

Taler, Taler, sangen wir, du mußt wandern, von einem Ort zum andern …

Thaler, der wie jeder Baske, ob er nun deutsche Vorfahren hatte oder nicht, gutes Essen und Gesang liebte, glaubte, mit uns in einen Wettbewerb treten zu müssen, und schmetterte: »Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, öffnen die Mädchen die Fenster und die Türen ––– tschimm bumm tschimm bumm.« Die Soldaten unter uns ließen es sich nicht nehmen, den Kehrreim im Takt auf die Tischplatte zu klopfen. TSCHIMM BUMM TSCHIMM BUMM! Um Thaler von der Bühne jenes Abends zu verdrängen, bestürmten wir Kinder Lore, ihr Kellerkostüm anzulegen, ihre Schutzkleidung nach Anweisung des Luftschutzwarts. Meine Großmutter verstand unsere Bitte und schüttelte den Kopf. Es würde Unglück bringen, die bösen Geister, welche die Bombenflugzeuge begleiteten, würden auf unser Haus zeigen und auf die abwehrbereite Lore.

Der von meiner Großmutter eingeschleppte Aberglaube war von zweifacher Herkunft. Er berief sich auf eine private Familienerfahrung, nach der, sollte zufällig im Radio der beliebte Pasodoble El Relicario zu hören sein, der Musik ein Unglück folgen würde. Noch heute überzieht mich eine Gänsehaut, wenn ich das schmissige, für eine Stierkampfarena passende Musikstück höre. Noch heute fürchte ich, Fieber zu bekommen, wenn mir beim Händewaschen Wasser in den Ärmel läuft, und noch heute halte ich Jodtinktur für ein Universalheilmittel gegen Husten, Schnupfen oder Herzklopfen. Und woher jene Manie, auf dem Teller einen kleinen Rest übrigzulassen, vielleicht um böse Geister zu versöhnen? Wir Kinder paßten auf und räumten die Teller leer, ehe sie abgetragen wurden. Aus tieferen Schichten aber kamen die Sprichwörter, die etwa davor warnten, an einem Dienstag weder zu heiraten noch zu verreisen. An einem Dienstag hatten wir im vorigen Jahr die Wohnung in Leutzsch verlassen, um uns auf dem Lande vor den Bomben in Sicherheit zu bringen. Wir kamen nicht weiter als bis zum eingeschneiten Leutzscher Bahnhof. Davon später mehr. Die Sprichwörter, versetzt mit Zitaten aus deutschen Gedichten, die meine Mutter auswendig konnte, waren ein Kapital, das nicht abnahm, so sehr die Familie es auch auszugeben versuchte.

Lore ließ sich auf einen Kompromiß ein. Sie zeigte, was sie stets griffbereit hatte und im Alarmfall anziehen würde: Strickjacke und lange ausgebeulte Hosen; eine zweite Jacke, dazu Mantel, Schal und Wollmütze, Luftschutzbrille (um die Stirn zu tragen), Hängetasche, darin Ausweispapiere und Geld, eine Taschenlampe, Kerzen, Streichhölzer, Verbandszeug, Taschentücher, ein Handtuch, das naß gemacht ihr Gesicht vor Rauch und Staub schützen würde …

Und keine Pariser gegen etwaige Vergewaltigungen? fragte mein Onkel Gustav, und Lore funkelte ihn aus ihren schwarzen Augen an. Die anderen Soldaten verkniffen sich ein Lächeln.

Meine Cousinen sahen mich an. Ich flüsterte meinem Vater ins Ohr, was denn das sei, ein Pariser. Er zerstreute mit einer Handbewegung den Rauch seiner Zigarette und sah mich nachdenklich an. Dann flüsterte er mir ins Ohr, es ist ein Überzieher, zum Schutz. Ich gab die Erklärung weiter an meine Cousinen, und wir verstanden, es mußte eine Art Pasamontañas sein, wie Thaler uns soeben vorgeführt hatte.

* * *

Die italienische Front beschäftigte alle. Mein Vater kam aus Italien, und ehe er seine Beobachtungen mitteilen konnte (ich zeigte ihm warnend ein Zeitungsblatt mit der Schlagzeile FEIND HÖRT MIT!), sagte mein Onkel Gustav: Der Italiener, das weiß man, ist von Natur ein Verräter.

Ich frage mich heute, wie er das meinte. Vermutlich hatte er nie Macchiavelli gelesen über die Politik des Möglichen, auch Diplomatie genannt. Als junger Mann hatte er Italien bereist im Auftrag einer deutschen Firma. Wurden die Verträge, die er machte, nicht eingehalten, wie es der Verräter Badoglio gerade vormachte, indem er unseren Bündnispartner, den gewaltigen Duce Mussolini, verhaften ließ?

Am 12. Mai beschließen die Alliierten, in Italien zu landen, am 12. Juli besetzen sie Sizilien. Mussolini wird verhaftet und im September von deutschen Fallschirmjägern aus seiner Bergfestung befreit. Wir hatten die Bilder in der Wochenschau gesehen, und wie der senkrecht landende und startende »Fieseler Storch« ihn wie ein märchenhafter Vogel Greif durch die Lüfte trug, hin zu einer Begegnung mit unserem Führer.

SS-Hauptsturmführer Otto Skorceny befreit mit neun Mann den Duce: Mani in alti! ruft er den verdutzten Carabinieri zu, die ihn bewachen. Als er vor Mussolini steht, sagt er: Duce! Der Führer schickt mich, Sie zu befreien. Er sagt es ein wenig atemlos, schließlich ist er gerade über eine Mauer gesprungen, und mit Hilfe seiner Leute hat er einen drei Meter hohen Vorbau erklommen. Das Leben schreibt die besten Theaterstücke.

Alfredo ließ es sich nicht nehmen, die Begegnung nachzuspielen, die Augen verdrehend und sich, in der Rolle Mussolinis, auf den Bauch klopfend, Pasta e Spaghetti! zu rufen. Zwei Irre in einem Königsdrama von Shakespeare.

Nachdem die Ingleses, sagte mein Onkel Alfredo, nun wieder im sachlichen Tonfall, in Afrika unserem Rommel den Marsch geblasen haben, sind die Americanos am Zuge und ziehen sich den italienischen Stiefel an.

Mein Vater nickt. Er hatte sich gern nach Italien versetzen lassen. Aus Verona schickte er meiner Mutter mehrere Meter Stoff für ein Kleid, ein bunter Stoff wie für eine Hochzeitsreise, bedruckt mit blauen Vergißmeinnichtblümchen. Aber nun saß er in einem Unterstand am Gran Sasso, vor sich das weite Tal wie eine Naturbühne, in Erwartung der Schauspieler, von denen man nicht wußte, ob sie Romeo e Giuletta spielen werden oder den Untergang Trojas.

Der Italiener, sagt mein Onkel Gustav (und ich wundere mich, welchen er meint), ist der geborene Schauspieler. Wie soll man da wissen, wer er wirklich ist? Da lobe ich mir die Geradlinigkeit unserer Spanier. (Diesmal meinte er sie alle, den Caudillo inbegriffen, der doch in seiner Außenpolitik ein Fuchs war aus der Schule Macchiavellis.)