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Ralph Dutli

Die Liebenden
von Mantua

Roman

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Der Autor dankt dem Deutschen Literaturfonds e. V.
für die Förderung seiner Arbeit an diesem Roman.

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ISBN (Print) 978-3-8353-1683-6
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2794-8
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2795-5

Hom ki ben aime tart ublie.

Wer wirklich liebt, vergisst erst spät.

Tristan der Narr,

Folie d’Oxford, 1205

 

 

 

Und ist nie das Meer

Ihnen so nah gekommen,

dass Sie tanzten?

Emily Dickinson

MANTUA EINS

VERFLUCHTER FRÜHLING

Siehst du den Riss in dem riesigen Turm da oben? Vom Dach her schlängelt er sich durch das dicke Gemäuer herunter bis zu den Dächern der niedrigeren Stadthäuser an der Piazza Mantegna. Eine schwarze Zickzacklinie hat sich in das schmutzige Rot der Ziegelsteine eingerissen. Sehr dekorativ, nicht wahr? Es ist die Handschrift eines Gottes, ein kleines Muster seiner herrischen, launisch verschnörkelten Handschrift. Bevor du fragst, wie der Gott heißt, verrate ich es dir: Er heißt Terremoto.

Manu muss sich jetzt über das Tischchen nach vorn beugen, um noch irgendetwas zu hören, weil der kleine Platz vor dem Café Miró summt wie ein Bienenstock vom vorabendlichen italienischen Palaver. Der Kellner hält artistisch das Tablett in die Höhe voller Tässchen und bauchiger Gläser, mal gelb, mal rot, mal abendsonnenorange. Er hat alles im Blick.

In der Erinnerung wird Manu Kaffeeduft für hundert Plätze und Räume einatmen, links, rechts, halluzinatorische Kaffeeduftschwaden, vom Palaver noch gesteigert, und er wird ein Gesumm wie von einem riesigen Bienenschwarm hören, der sich auf die Piazza verirrt hat. Es müsste bis in die stille Basilika Sant’Andrea da drüben dringen, wo hinter einer schmucklosen Grabplatte in der ersten Kapelle linker Hand die Gebeine des Malers Andrea Mantegna ruhen, heimgekehrt, sanft gewiegt von seinem Namenspatron. Ob er das Gesumm hören kann? Ob er ihr Palaver verstehen kann? Manu kann sein Kopfschütteln sehen.

Und weißt du was? Der Turm da wird irgendwann einstürzen, alle Häuser unter sich begraben und Schutt und Steine durch die umliegenden Straßen und Gassen jagen. Eine riesige Staubwolke wird aufsteigen, das Schreien und Stöhnen der verschütteten Menschen aber wird keiner hören, das gewaltige Gerumpel der roten Steine wird alles übertönen. Und was tun wir? Wir sitzen hier im Café und schlürfen unseren Espresso oder Amaretto und schauen hinauf zum schwarzen Riss, der schon jetzt vor unseren Augen breiter werden könnte, bis … es keine Piazza Mantegna mehr geben wird. Aus und vorbei.

Manu muss lächeln.

Jetzt erkenne ich dich wieder, Raffa, alles in Ordnung, du bist es.

Raffa schaut ihn fragend an.

Du warst schon damals ein … wie soll ich sagen, ein Katastrophiker, Katastrophologe, Katastrophopathetiker, weißt du noch? Aber wir haben dich durchschaut, mein Lieber: Wer permanent mit dem Schlimmsten rechnet, wird oft maßlos beglückt, nicht wahr? Als wollte ihn das Leben auch noch damit verhöhnen, dass es nie seinen Vorstellungen entspricht.

Raffa verzerrt das Gesicht zu einer Grimasse.

Ja, maßlos beglückt, darf ich lachen?

Manu ist es, der lacht, er wird sich später immer wieder über diesen unglaublichen Zufall wundern. Sie hatten in Paris nicht weit voneinander gewohnt, Boulevard Arago und Rue de la Tombe-Issoire, und sich jede Woche zwei- bis dreimal gesehen. Dann hatten sie sich aus den Augen verloren, der Gott des Erdbebens mag ahnen, warum, und ohne voneinander zu wissen drei Jahre gleichzeitig in Barcelona gelebt, fünfhundert Meter Luftlinie entfernt, ohne einander je über den Weg zu laufen, in keinem Supermarkt, in keinem Café der Ramblas oder Barcelonetas, wie ist das möglich? Wer steuert unsere Füße blind am andern vorbei? Und dann findet man plötzlich und unangekündigt wieder am unglaublichsten Ort zusammen?

Merkwürdig, dass wir uns hier in Mantua treffen. Eine Stadt, in der ich vorher nie war, du schaust zufällig zur Seite und in eines der Gesichter auf dem Platz vor dem Café Miró, das Gedächtnis zögert nur eine Sekunde lang, rüttelt ein bisschen und spuckt dir schon den Namen aus. Das ist doch … kaum zu glauben … doch … er ist es … aber sicher. Wir werden älter, aber unsere Gesichter erinnern sich noch vage an uns. Wie schön, hier in Mantua, genau ein Jahr nach dem Erdbeben, einem erprobten Katastrophenkenner zuzuflüstern, dass alle Freunde ihn für einen Glückspilz hielten.

Und du hattest dauernd die Zeilen von diesem Kanadier auf den Lippen, wie gingen sie schon wieder? There is a crack, a crack in everything – that’s how the light gets in.

Ja, es ist ein Riss, ein Riss in allem Schein! – so schwappt das Licht herein. Ich hatte für mein Leben noch eine andere Variante. Es ist ein Riss, ein Riss in allem jetzt – so kommt das Licht herein zuletzt … Wie du willst. Womit wir wieder bei deinem Riss da oben wären. Was machst du eigentlich in Mantua?

Durch diesen Riss wird kein Licht hereinschwappen. Ich schreibe eine Reportage über die Erdbebenschäden, für das letzte Magazin, das mir noch Brot zuwirft. Die gestressten Engel dort warten schon darauf. Sie drohen mir mit der Faust. Mantua, genau ein Jahr danach. Aber ich war schon dreimal hier. Und ich beobachte die Menschen, wie sie nach den heftigen Stößen und Zerstörungen wieder zum Alltag übergehen, als sei nichts wirklich Großes vorgefallen. Als ob der Alltag stärker wäre als die Apokalypse. Die maledetta primavera, so nannten sie ihn, den verfluchten Frühling vom Mai 2012, und doch sollte er sich rasch verflüchtigen. Wir haben immer schon den nächsten flüchtigen vor Augen.

Vielleicht ist nur so das Leben möglich? In der störrischen Sorglosigkeit? Im seligen Vergessen dessen, was uns sonst noch immerzu blühen könnte?

Natürlich vergessen sie es nicht, sie verdrängen es vielleicht. Und ein Unheil verdrängt das andere. Hier herrscht noch eine andere Göttin, verstehst du, die sich dem Gott Terremoto gerne anschmiegt: La Crisi. Die Fabrikschließungen draußen in den Vorstädten, in der Po-Ebene, die Zwangsräumungen, der lähmende Geldmangel, der verhindert, dass die Erdbebenschäden rasch behoben werden. Und ich, weißt du, beobachte hier den Auftritt dieses fabelhaften Götterpaares vor einer prachtvollen Renaissancefassade, in einer der vor kurzem noch reichsten und schönsten Städte Italiens. Gott und Göttin hatten es eilig, hier Residenz zu nehmen.

Die ganze Menschheit thront doch auf einer albernen, flatterhaften Vergesslichkeit. Hätte man dauernd das ganze Paket an möglichem Unglück vor Augen, man würde kopflos den raschen Ausgang wählen. Lass uns darauf trinken …

Es ist 4 Uhr 04, in der Emilia Romagna beginnt die Erde zu beben, das Epizentrum liegt nicht weit von hier, zwischen Modena und Mantua. Es ist der 20. Mai 2012. Ein Sonntagmorgen. Der Gott Terremoto ist erwacht. Er grollt, er lässt die Häuser wanken, lässt Mauern und Türme einstürzen, Balkone macht er wackeln, Tausende Kirchen und Paläste packt er mit der Faust, schreibt Risse in Decken und Gemäuer. Im Innern der Erde rumort es, Tiefe: sechs Kilometer unter der Erdoberfläche. Die Halbinsel wird noch immer vom afrikanischen Erdteil gegen Norden geschoben. Der Gott will den Stiefel stauchen, lässt die Platten aufeinanderkrachen.

Die Zeiger auf der nach oben offenen Richterskala besagen Sechskommanull – glaub mir, sagt Raffa, das ist ein gewaltiger Stoß. Am schlimmsten war es in einem Ort mit dem Namen Finale Emilia. Merk dir den Namen: FINALE.

Manu reckt triumphierend den Zeigefinger Richtung Basilika und versucht, ernsthaft auszusehen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht stoppt Raffa für einen Augenblick. Manu raunt:

Oho, nun bricht der Apokalyptiker wieder durch, der alten Rolle treu. Unser Joint venture Jeremia-Jesaja von der Rue de la Tombe-Issoire. Unser katalanischer Johannes auf Patmos im vierzehnten Stadtbezirk. Lass uns noch einen Kaffee …

Dem mittelalterlichen Uhrturm mitten im Städtchen Finale ist zunächst die eine Hälfte weggeborsten, das Zifferblatt mittendurch gebrochen. Die eine Hälfte hängt noch oben, die andere liegt unterm Schutt auf dem Boden. Der Turm der Zeit ist zerfetzt, die Zeit ist entzwei. Warte, ich zeige dir das Bild … Aber was du hier siehst, gibt es nicht mehr. Bei einem Nachbeben ist auch noch die andere Hälfte des Turms eingestürzt, nur ein Schutthaufen blieb übrig, hat beide Teile des Zifferblattes unter sich begraben.

Manus Lächeln ist verflogen, er muss jetzt etwas einwenden:

Die Zeit ist vielleicht eingestürzt, doch wird sie wieder aufstehen, glaub mir, und sich an andere Türme heften, aber ich muss an die Toten, Verletzten, Obdachlosen denken. An die einzig zählende Lebenszeit. Die Zeit an sich ist gegen sich selbst immun, sie ist ohnehin obdachlos, eine phänomenale unbehauste Landstreicherin.

Große Schäden in den Provinzen Modena und Ferrara, vereinzelte Todesopfer, Tausende werden obdachlos. Der herrische Gott Terremoto will seine Opfergaben. Das schwerste Beben seit fünfhundert Jahren. Neun Tage später, am 29. Mai 2012, folgt noch eines, Terremoto ist noch nicht satt, Magnitude 5,8 im Buch der Richter, Epizentrum bei Medolla, und es gab hundert Nachbeben in Norditalien. Die Halbinsel ist tektonisch wackelig. Mal kracht es dreißig Kilometer unter der menschlichen Zuckerschicht, mal nur neunhundert Meterchen. Das ist ganz nah bei unseren Herzen und Köpfen. Cara Italia!

Manu ist verblüfft und flüstert:

Du weißt aber Bescheid, das Erdbeben hat dich gepackt.

Ja, aber ich muss mich verbessern. Ich glaubte, die Menschen lebten hier auf einem Vulkan. Eben nicht. Mantua ist keine akute Erdbebenzone. Dass es hier zuschlug, kam unerwartet. Keine gewohnheitsmäßige Gefährdung, die drei Seen oder Seeabschnitte, die die Stadt umschließen wie ein pralles wassergefülltes Polster, sollen, das hat mir hier einer erklärt, die Stadt stabilisieren. Und dennoch ist es eingetroffen. Trotz des Polsters. Terremoto kümmert sich einen Dreck um das Polster.

Alles ist jederzeit unvorhergesehen. Und die Erdbebenzonen des Lebens, was meinst du, was die mit mir und mit dir angestellt haben?

Es war fast so stark wie vor vier Jahren, am 6. April 2009 in den Abruzzen, bei dem frühmorgendlichen Beben der Stärke Fünfkommanull bis Sechskommadrei, mit den dreihundert Toten, eintausendsechshundert Verletzten, den fünfzigtausend Obdachlosen.

Ich habe Bilder gesehen. Die Altstadt von L’Aquila. Die Folgen der Verwüstung sind noch längst nicht behoben. Die meisten Menschen leben noch heute im ewigen Provisorium am Stadtrand.

Manchmal glaube ich, die Erde will uns abschütteln von ihrem Buckel, wir machen hier zu viel Mist. Wir schwimmen auf einer unruhigen Erdplatte wie auf einem Floß. Ein Wunder, dass wir hier sind und plaudern wie in alten Zeiten.

Lass uns auf diesem Floß noch einen trinken. Cameriere!

Verona und andere Städte der Po-Ebene wurden vor neunhundert Jahren in Schutt und Asche gelegt, das nächste Mal, vierhundert Jahre später, traf es Ferrara am schlimmsten. Die Menschen glauben jedes Mal: Es wird jetzt wohl wieder vier- bis fünfhundert Jahre dauern, was kümmert’s mich, ich tute dann schon anderswo, mehr als hundert werd ich nicht …

Wir können das auch nicht von uns behaupten. Was suchst du hier wirklich? Mantua war doch keines der seismischen Großereignisse. Mantua ist nicht Haiti mit seinem Goudougoudou, Mantua ist nicht Kobe oder Fukushima. Hier ist doch ein prachtvoller Nebenschauplatz der Welt, eines der stilleren, abgelegenen Latifundien des Gottes Terremoto, vielleicht hat er hier nur gespielt, wer weiß.

Es ist ein Auftrag, Brotarbeit, aber es lehrt vielleicht einiges über die Gemütsverfassung der Menschheit. Und die Nebenschauplätze interessieren mich ohnehin. Die rot-weißen Bänder wurden sehr rasch abgerupft und die Absperrgitter um den großen roten Turm bald schamvoll beiseitegeschoben. Sie standen noch eine gewisse Zeit an den Hauswänden herum, dann waren sie plötzlich verschwunden. Der Palazzo del Podestà muss wegen der Schäden komplett restauriert werden, dort klaffen gewaltige Risse. Du fragst dich, wie der überhaupt noch aufrecht stehen kann. Der Durchgang zur Hinterseite, wo auf dem Wochenmarkt die bizarrsten High Heels, hirnrissige Tischtücher und kunterbunte T-Shirts verkauft wurden, ist noch gesperrt, aber wart’s nur ab, bald werden die Klamotten sich an keine Katastrophe mehr erinnern wollen. Der starrköpfige Alltag triumphiert, alle wollen wieder Geschäfte machen, der Klamottenmann, die Kaffeekrämer, die Geldwechsler, die Lieferanten der Schweinehälften, klar. Und weißt du was? Auch wir gehören zu den ewig Hoffnungsfrohen.

Du doch nicht, mach keine Witze.

Und was machst du in Mantua? Wie geht es Laure? Lebt ihr noch zusammen?

Manu überhört die Frage, versucht, einen Kellner herbeizurufen.

Eine Illusion zu glauben, es habe sich alles beruhigt. Alles längst kaputt, aber es wird schon nichts passieren. Die Menschheit ist sorglos bis zum Wahnsinn. Aber Terremoto ist ein unheimlicher Gott, der wieder zuschlagen wird. Schon das Wort jagt dir Angst ein, das deutsche Erdbeben scheint harmlos dagegen. Es schmeichelt eher deinem Mund, die Lippen tupfen nur leicht aufeinander. Das italienische Wort bricht mit monströs rollendem Doppel-R aus der Gurgel hervor. Es entspricht viel eher dem Katastrophen-Cocktail der Welt. Und auch wenn die Wörter ahnungslos sind, den TERROR hörst du mit.

Was sollten die Menschen denn tun? Die ganze Po-Ebene evakuieren? Oder eben reparieren, so gut es geht, und sich in den Trümmern einrichten? Die Menschheit hat genau das schon immer geübt. Flickwerk passt zu uns, genau darauf verstehen wir uns bestens. Der Mensch gewöhnt sich an alles, und wenn er einen Orden verdient, dann für seine Zählebigkeit. Gewöhnung wiegt sein Seelenheil. Stahlseile, Schuttberge, Trümmerhaufen, Rote Zone, Absperrbänder, stützende Eisenstangen, und wir schlängeln uns hindurch durchs Leben. Flickwerk und Slalom, darauf trinken wir noch einen. Das ganze Leben ist eine Erdbebenzone, wir wissen nie, wann es wieder losgeht. Wir täuschen uns selbst, übertölpeln uns beständig. Wir müssen irgendwie weiterstolpern.

Und Raffa wiederholt die überhörte Frage:

Und was machst du in Mantua? Wie geht es Laure?

DIE LIEBE NACH
SECHSTAUSEND JAHREN

Lass mich von was anderem … Erinnerst du dich an die Liebenden von Valdaro?

Nie gehört, irgendein Film könnte so heißen. Oder ein Schundroman? Keine Ahnung.

Sagt dir der Name Elena Menotti etwas?

Klingt nach Modedesign.

Nein, eine Archäologin, die am 5. Februar 2007 in Valdaro, einem Vorort von Mantua, ein jungsteinzeitliches Grab ausgegraben hat, das bei Aushubarbeiten für ein Fabrikgebäude entdeckt wurde.

Und du interessierst dich jetzt für diese Elena Menotti?

Aber nein, für das Grab beziehungsweise für den Inhalt. Zwei Skelette, die in inniger Umarmung gefunden wurden, vermutlich ein Mann und eine Frau, was erst durch die DNA-Analyse bewiesen werden musste. Eine sehr seltene Grablege, Kollektivbestattungen waren häufig, Einzelgräber gab es viele, aber nicht diese phänomenale Zweisamkeit. Die Gesichter einander zugekehrt, man glaubt ihr Lächeln zu sehen, zärtlich schützende Arme um den anderen gelegt, die Schenkel gekreuzt, ineinandergeschoben.

Mein Gott, zwei Skelette, die sich umarmen?

Hast du es damals nicht in den Zeitungen gelesen? Steinzeitpaar umarmt sich seit 6000 Jahren und Ähnliches. Da niemand wusste, wo auf der Welt Valdaro liegt, taufte man sie schlicht die »Liebenden von Mantua«. Gib mal die Wörter The Lovers of Mantova in dein frommes Streichelbrettchen ein. Dein Fingerkuppenmagnet soll sie hervorlocken. Sogar auf dem kleinen Leuchtschirmchen sind sie sofort erkennbar, unverkennbar: SIE. Ihr Bild gibt es in Dutzenden von Varianten und Schattierungen, aber sie sind immer klar dieselben, unmissverständlich ihre Haltung, einmalig, ein Wahrzeichen, ein unerschütterlicher Begriff aus der Jungsteinzeit. Als hätte alle zarte Liebe der Welt sich in diesem Paar verkörpern und Symbol werden wollen für alle vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Liebenden.

Raffa zieht die Augenbrauen hoch, sagt nichts, wartet ab, wie es weitergehen soll.

Manu schaut sich jetzt auf dem Platz vor dem Café um und sieht viele junge kataloggerechte Gesichter und ein paar handgemalte Greise, alle haben sie den Blick auf ihr Streichel- und Zupfplättchen gesenkt, selbst wenn sie sich gegenübersitzen und vielleicht zu einer lange verabredeten Redseligkeit hergekommen sind. Das Zwiegespräch dauert nicht lange an, rasch taucht jeder den Blick in seine eigene Blickfalle, die Gesichtsausdrücke sind leicht mürrisch oder nichtssagend, als müssten sie gleichgültig verhüllen, was die Fingerspitzen hervorkitzeln sollen. Das schweigende Gegenüber tut ohnehin dasselbe. Inbrünstige Schweigsamkeit, wo vor kurzem noch Palaver war. Mantegna schüttelt da drinnen wieder den Kopf.

Und Manu stellt sich vor, wie jetzt auf allen Bildschirmen gleichzeitig, genau wie bei Raffa, der ihm gegenübersitzt, automatisch und elastisch federnd das jungsteinzeitliche Liebespaar aus dem Dunkel auftaucht. Die jüngere Steinzeit ist im Café Miró eingetroffen. Und auf allen Gesichtern kann Manu deutlich die Verblüffung über dieses Bild sehen, das leichte Zurückweichen der Köpfe, das Hochziehen der Augenbrauen, das sich andeutende Lächeln, die ganze Mimik, die schieres Staunen meint.

Raffa versucht, durch eine kleine Grobheit den Zauber zu zerpulvern, und wirft Manu eine Vermutung zu:

Vielleicht zwei müde Rentner aus der Steinzeit, die mit der Zeit nicht mehr zu trennen waren, die Erdschichten sind nicht träge, sie schieben ineinander, was nie zusammengehörte, die Erde arbeitet, der Regen schmiert die Räder, vielleicht zwei uralte Zeitgenossen, die unweit voneinander bestattet wurden. Warum gibt es dieses Jahr so viele Mücken in der Po-Ebene?

Und er klatscht sich auf den Unterarm.

Sag mir, wie es Laure geht.

Nein, noch sehr jung waren sie, weil sie ein noch intaktes Gebiss hatten, wenig Spuren von Abnutzung, vermutlich kaum zwanzig Jahre alt. Seit Jahrtausenden lagen sie dort in der Nekropole von Valdaro, und dann führten sie 2007 als letztes Kunststück der verblüfften Welt die Zeitlosigkeit ihrer Liebe vor, ihre ureigene Liebesutopie. Sie waren sich sechstausend Jahre lang treu, verstehst du?

Ja, sicher, mit der Treue der Toten.

Und ein Ende ist nicht abzusehen. Sie wurden durch die Entdeckung als Paar gleichsam noch einmal geboren, sie sind aus dem Schoß der Erde hervorgegangen, zwei neugeborene Vieltausendjährige, uralt und forever young. Und sie haben ihren Ort gut gewählt, meinst du nicht? Mantua, eine Stadt, die sich für die Renaissance entschied, für die Wiedergeburt der Antike, die Stadt der Gonzaga-Dynastie, die Wirkungsstätte Mantegnas und anderer dreiäugiger Heroen. Und gerade hier also tauchen die beiden Steinzeiter aus der Erde. Ist das vielleicht ein Zufall?

Manu unterbricht seine Erklärungen, bemüht sich, eine nüchterne Miene aufzusetzen, sich nicht forttragen zu lassen. Er blickt Raffa geradewegs in die Augen, lässt ihn ein wenig ungeduldig werden, er soll zappeln am jungsteinzeitlichen Faden, dann fährt Manu fort:

Ich will herausfinden, was hinter ihrer Geschichte steckt, verstehst du. Wurden sie von ihren Clans geopfert, zur Versöhnung der Lebenden oder der Götter, oder waren sie Opfer einer Racheaktion, waren sie Selbstmörder, haben sie irgendwelche Pflanzensäfte getrunken, um gemeinsam dort hinüber zu gelangen? Konnten die Menschen ihnen nicht verzeihen, dass sie glücklich waren? Starb er zuerst, wurde sie getötet und in seine Arme gelegt? Ein ritueller Witwentod, bei dem nach dem Ableben des Gatten die Frau getötet und mit ihm ins Jenseits geschickt wurde? Totenfolge nennen das die Archäologen, uns schaudert bei dem Gedanken.

Also doch ein gewaltsamer Tod?

Es gibt bei den Liebenden von Mantua keine Spuren von Gewalt, keine eingeschlagenen Schädel, keine verzerrten Kiefer, keine Spuren eines heftigen Todeskampfes, nur dieses lächelnde Einander-Zugewandtsein der beiden kahlen Köpfe, diese verblüffende zärtliche Umarmung. Ein heiteres Bild geteilter Liebe. Aus der ewig andauernden Jungsteinzeit der Liebe.

Raffa, dem die Erdbebenzonen nahestehen, erkennt Manus alte Neigung zur irren Übertreibung, über die er sich schon damals lustig gemacht hatte:

Und jetzt wirst du mir hier schnurstracks Romeo und Julia aus der Jungsteinzeit vorspielen. Verona liegt ja gleich um die Ecke. Und was ist mit Laure?

Romeo war tatsächlich in Mantua im Exil, da hast du recht.

Aber diesen Quatsch wird dir doch keiner glauben. Vielleicht waren es schlicht Erdbebenopfer von damals. Die Erdbebenzone hat ein gutes Gedächtnis und ihre süßen kleinen Gewohnheiten. Sie flüstert: Passt nur auf, ich komme wieder!

Ach was, nicht Romeo und Julia. Aber eine trotzige Liebesutopie vielleicht. Die halbe Welt war 2007 gerührt, als würde sich endlich dank dieser Lektion aus dem Neolithikum das Geheimnis ewiger Liebe enthüllen.

Skelette, die sich ewig lieben?

Raffa schüttelt den Kopf und macht eine skeptische Grimasse. Manu holt zu einem blitzhaften Manifest aus:

Ein Liebespaar aus der Jungsteinzeit, zwei Individuen mit einer deutlichen Botschaft, die noch aus ihren Knochen, aus ihrem intakten Skelett spricht. Als eine Art Nachricht von der Menschheit.

Raffa gibt den Zweifler, den professionellen Skeptiker, um Manus Höhenflüge endlich zu stoppen. Er war Journalist, Reporter, Spezialist für Katastrophengebiete, kein Märchenerzähler. Hier ist das Café Miró, hier ist die Piazza Mantegna, hier ist nicht Marrakesch.

Nachricht von der Menschheit? Und du hast dir in den Kopf gesetzt, sie in einem steinzeitlichen Paar zu finden? Jetzt und heute, im Mai des Jahres 2013? Moderne Technologien haben längst neue Menschen geschaffen, wir sind schon längst nicht mehr die Alten, schau dich um – lauter Klone oder solche, die es werden wollen. Vielleicht sind wir auch schon welche, ohne es zu wissen. Lauter optimierte Organismen, die an ihren smarten Plättchen hängen. Hast du schon einmal vom Posthumanen Subjekt gehört? Das Individuum ist nicht mehr das Maß aller Dinge, mein Steinzeitprophet! Es hat einem gläsernen, nomadischen, nicht-individuellen Subjekt Platz gemacht. Es ist nicht mit sich selbst identisch, es ist kollektiv und kosmopolitisch, vielfältig mit anderen Subjekten vernetzt. Guck dich um …

Aber genau deshalb bin ich dem Steinzeitpaar auf der Spur, sagt Manu. Dem Menschenpaar, wenn du willst. Anonym wie der unbekannte Soldat. Aber dennoch unzweifelhafte Individuen. Mahnung und Quell des Lächelns, Liebesheilige, Liebeskünstler, zwei jungsteinzeitliche Künder der ewigen Sehnsucht nach der geteilten Zuneigung. Wenn aus dem Weltall, von irgendeinem Lichtjahre entfernten Stern, einer das Teleskop auf uns gerichtet hat, wird er sich wundern.

Er wird leider viel mehr eingeschlagene Schädel sehen. Lass mich damit in Ruhe, du Astronaut, ich mag keine utopischen Liebenden, die sich sechstausend Jahre lang lieben. Ich habe was besseres zu tun, als irgendwelchen Steinzeitskeletten nachzuträumen.

Raffa steht kurz auf, tritt in das Café Miró, um auf die Fliege zu zielen. Manu wendet den Kopf, blickt Raffa nach. Er sieht, dass der noch immer das Bein leicht nachzieht, seit seinem Vespa-Unfall damals in Paris, als die blinde Müllabfuhr ihm die Vorfahrt nahm und er auf die Straße geschleudert wurde. Er lag monatelang mit gelähmten Beinen in einer Klinik und musste dann das Gehen neu lernen. Sie feierten ihn als einen Auferstandenen.

Raffa kommt zurück, bleibt aber auf der Schwelle kurz stehen und sieht einen schlanken, schwarz gekleideten Mann, der in behutsamem Abstand um das Tischchen schleicht, an dem er vor wenigen Minuten mit Manu gesessen hat. Der Mann tut so, als ob er sich für die Kirche oder das gotische Haus interessiert, macht ein paar Schritte nach vorn und kommt dann zurück, dabei sieht Raffa klar, dass er Manu mehrmals fotografiert, ohne dass sein alter Kumpel es merkt. Der ist über ein Notizbuch gebeugt und macht mit einem Bleistift irgendwelche Kritzel. Der Mann bückt sich einmal, wie um seine Schnürsenkel zu binden, dabei dreht er den Oberkörper leicht ab und fotografiert Manu von unten, in einer flinken Bewegung.

Nanu, denkt sich Raffa. Er beobachtet eine Weile lang den Beobachter vom Eingang des Cafés aus, dann tritt er mit raschen Schritten auf den Platz hinaus und hin zu ihrem Tischchen, verscheucht damit die schwarze Erscheinung.

Wer war das denn, hast du irgendwelche Verehrer in Mantua, die dich posten wollen?

Wen meinst du, ich hab keinen gesehen, antwortet Manu, indem er sich umblickt. Niemand, nichts Auffälliges.

Ich habe dir was verschwiegen: Es sah zunächst tatsächlich so aus, als wären die jungen Menschen durch Pfeile umgekommen, eines gewaltsamen Todes gestorben. Eine Pfeilspitze fand man in der Wirbelsäule des Mannes, eine andere in der Seite des weiblichen Skeletts.

Also doch Romeo und Julia? Nein, die haben sich ja selbst …

Wart’s ab, vielleicht waren es keine Selbstmörder, vielleicht haben andere die Verschickung ins Jenseits für sie übernommen. Ich weiß es noch nicht, aber ich bin ihnen auf der Spur.

Du als Kommissar in einem Steinzeit-Tatort? Ich bitte dich! Du erzählst mir etwas von Liebesutopie und weißt schon, dass da auch noch Pfeilspitzen im Grab waren, die dem Idyll wohl ein Ende gesetzt haben? Und was ist mit ihnen nach der Entdeckung geschehen?

Erst wurden sie ausgegraben, aber nicht, wie es sonst geschieht. Normalerweise wird jeder Knochen sorgfältig entnommen, beschriftet und einzeln untersucht. Im Falle der Liebenden von Mantua wäre damit die ganze Bedeutung des Grabfundes zerstört gewesen. Die jahrtausendealte Umarmung, dieses sanfte Ineinandergeschobensein, der Bund wäre aufgelöst, alle Ewigkeit der Liebenden wäre im Nu zerstäubt. Menotti entschied also, die beiden nicht zu trennen, sondern das gesamte Erdreich, die ganze Grabhülle mit herauszuheben und so zu bewahren. Das Verfahren heißt Blockbergung, hab ich mir sagen lassen.

Und wie haben sie das geschafft, ohne die beiden Amanti doch noch versehentlich zu trennen? Ein Auseinanderfallen wäre doch ein Missgeschick gewesen für Romantiker wie dich.

Sei nicht zynisch. Der ganze Lehm- oder Erdblock, in dem sie ruhten, wurde herausgesägt, mit breiten Gurten herausgehoben und mit einem Kran ganz sanft in eine gelbe Holzkiste heruntergelassen. Dann wurde das Paket in ein archäologisches Laboratorium der Musei Civici nach Como verfrachtet. Dort wurden die üblichen Untersuchungen angestellt, DNA-Analyse, Röntgen, 3D-Laser-Scan und solche Dinge.

Und wo ist es jetzt, dein junges Paar, das Shakespeare erfunden hat?

Deshalb bin ich ja hier, um das herauszufinden. Im Museo Archeologico Nazionale di Mantova, wo es hätte ausgestellt werden sollen, ist es bis heute nicht angekommen. Jetzt ist Mai 2013, verstehst du? Das Gerücht flüstert von einem unrechtmäßigen Verschwinden. Dafür bin ich zuständig. Du für das Erdbeben, ich für das Steinzeitpaar und sein Gerücht.

Und bestimmt ruft dein Phantasma des liebenden Steinzeitpaares nach einem Roman, nicht wahr? Wie wär’s mit Die Liebenden von Mantua? Klingt auch in anderen Sprachen gut: The Lovers of Mantova oder Les Amants de Mantoue. Und dann werden dir natürlich die Mantuaner dankbar sein für Gli Amanti di Mantova. Sie werden dir lastwagenweise ihre trockenen, aber schmackhaften Torten schicken, du hast sie wohl noch nicht probiert, diese Erzeugnisse mit dem mürben Namen Sbrisolona. Sie werden dir ledergebundene Vergil-Ausgaben auf den Nachttisch legen, in allen Kirchen der Stadt ewig für dein armes Hirn beten, dir ihre hausgemachten Teigtäschchen nach Paris schicken … Oder dann Standardwerke über das Neolithikum an den Flüssen der Po-Ebene und am Alpensüdfuß. Wenn du magst, signiert von Elena Menotti.

Kannst du auch mal ernst sein, Erdbebenmann?

Weißt du irgendetwas von den andern? Gibt es Lebenszeichen, Geburtstagsgrüße, Neujahrswünsche? Wo leben sie heute, wer ist noch in Paris? Sag mir nur nicht, dass sie inzwischen schöner, reicher, erfolgreicher sind als wir. Wir waren ein phänomenales Nomadenhäufchen, ein Prachtprekariat, lange bevor es das Wort für uns gab. Wir segelten von Kleinjob zu Kleinjob, du im Taxi, ich von Zeile zu Zeile. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Selbstoptimierer geworden sind, Karriereberater, Personaltrainer, Paartherapeuten, Coachs für ausrangierte Esoteriker. Für jedes Seifenbläschen gibt es heute einen Coach. Mich wundert, dass die Hennen noch Eier legen ohne.

Manu zerbeißt eine dieser bitteren Schokoladebohnen, die auf dem Untertellerchen der Kaffeetasse liegen.

Das erzähle ich dir beim nächsten Mal, lass uns …

O. k., ich muss mich um mein Erdbeben kümmern, sagt Raffa.

Manu antwortet:

Ich habe gerade in diesem Palaver und Gläsergeklirr »Ich muss mich um meine Erdbeeren kümmern« verstanden. Wir verstehen in dem ganzen Wirrwarr um uns selten das Gleiche.

Und was ist mit …

Laure … Laure lebt nicht mehr …

Raffa reißt die Augenbrauen hoch, als wären alle Gläser und Tassen auf einmal von Tresen und Tischen gefegt worden.

Laure lebt nicht mehr … mit mir … Laure ist anderswo … ich weiß nicht, wo sie ist …

Raffa schweigt, er versucht, den Gesichtsausdruck seines Gegenübers zu deuten.

Manu bemerkt, als er in diesem Moment aufschaut, dass ein tapsiger Tourist auf der Piazza aufgetaucht ist, gemächlich hin und her geht, offenbar unschlüssig, was er zuerst knipsen will. Die wegen der Erdbebenschäden eingerüstete Fassade der Kirche Sant’Andrea? Oder den alten Wohnturm mit dem schwarz sich schlängelnden Riss? Das gotische Haus zu dessen Füßen? Der feiste Eisbär schleicht mehrmals hin und her, als bestünde Mantua einzig aus der Piazza Mantegna. Lachsfarbene verbeulte Hose, kobaltblaues Hemd, manche übertreiben die Auffälligkeit, um nur nicht aufzufallen. Manu sieht aus dem rechten Augenwinkel, dass er sich plötzlich auf den Hacken umdreht und sie beide, Manu und Raffa, am Tischchen fotografiert. Manu dreht rasch den Kopf, will protestieren, jetzt reicht’s aber, dem dicken Brillenträger etwas zurufen, doch es ist schon zu spät. Der Tourist ist schnurstracks in der Menge verschwunden.

Manu wird sich später – zu spät – an diesen lachsfarbenen Eisbären erinnern.

Lass doch diesen Idioten!

Raffa drängt zum Aufbruch, Manu steht ebenfalls auf, bezahlt hat er schon. Er habe ein wichtiges Treffen, sagt der Erdbebenreporter, aber sie könnten sich am übernächsten Tag gegen Abend noch einmal treffen, sagen wir vor der Rotonda di San Lorenzo, der romanischen Rundkirche, dem Nabel Mantuas, gleich neben dem Uhrturm? Raffa schlägt noch vor, nach einem Aperitif in eines der Lokale auf der Piazza delle Erbe zu gehen, oder in ein stilleres hinter der Kirche Sant’Andrea, wir werden sehen.

Ich werde pünktlich sein. Hast du schon einmal das typische Mantuaner Gericht gegessen?

Manu verneint, er kennt die Stadt nicht wie Raffa, er ist erst seit kurzem hier.

Hecht mit grüner Soße und Polenta. Luccio in salsa. Der Hecht kommt aus den Stadtseen, vielleicht aus dem Mincio-Fluss. Und als Vorspeise nehmen wir Tortelli di zucca, die Teigtaschen mit Kürbisfüllung. Du weißt schon, was die Mantuaner dir schicken werden, wenn …

Für einen Katastrophenmann liebst du das gute Essen aber sehr.

Übermorgen, gegen 18 Uhr, stehe ich vor der Rotonda.

WARTENDER MENSCH,
EIN ZETTEL IN DER HAND

Raffa erreicht pünktlich den Treffpunkt. Er geht vor der Rotonda auf und ab, mustert die Touristen, späht in Richtung Piazza Mantegna, als müsste Manu von dort kommen, wo sie sich zwei Tage zuvor zufällig getroffen und neu verabredet haben. Er geht in die Kirche hinein, ein Schmuckstück, ein Heiligtum der Rundheit. Zehn Säulen, romanische Rundbögen springen von einer zur andern. Es hätte ja sein können, dass Manu zu früh gekommen ist und sich ebenfalls im Innern umschauen will.

Manu kommt nicht. Zehn Minuten vergehen, eine Viertelstunde. Raffa hat die Kirche bereits wieder verlassen, will nicht an ein Vergessen denken. Beide hatten offensichtlich das Gespräch nach so vielen Jahren genossen, es hatte sich längst nicht erschöpft, es gab noch viel zu erzählen. Manu hatte keinerlei Überdrusssignale ausgesendet, hatte keine Eile, aufzubrechen. Nur dass er ein bisschen zu sehr besessen war von diesem Steinzeitphantom und dessen Verschwinden.

Die halbe Stunde vergeht. Manu kommt nicht. Raffa kramt in seiner Hosentasche nach dem Zettel mit Manus Handynummer, sie hatten vor dem Aufbrechen noch die Nummern ausgetauscht. Er wählt die Nummer. Keine Antwort. Aber auch kein Anrufbeantworter. Hat es mit dem italienischen Netz zu tun? Mantua als Funkloch? Unwahrscheinlich. Auch kein Klingelton, kein Besetztzeichen, gar nichts. Manus Handy bleibt stumm. Oder besser: Manus Mobiltelefon ist tot. Nicht einmal ein Rauschen aus dem Jenseits. Eine weiße Leere.

Die ganze Stunde ist schon vorüber. Raffa wartet noch immer. Es kommt immer mal vor, dass man sich um eine Stunde vertut, denkt er. Ach, du meintest achtzehn Uhr, entschuldige, ich hatte mir neunzehn Uhr gemerkt. Aber auch die nächste Stunde ist nicht gnädiger zu Raffa.

Sollte er versuchen, in Manus Hotel nachzufragen? Manu hatte den Namen genannt, es hieß Marchese oder ähnlich. Raffa kennt es nicht, aber er könnte sich durchfragen. Vielleicht ist es nicht in der Altstadt, oder es versteckt sich in einer der Falten des Labyrinths. Hier liegt alles nicht weit von allem, die Altstadt ist eine Walnuss, ein flink verwinkeltes Centro storico, die Gassen und Gässchen ein Geflecht aus Mittelalter und Renaissance, die Plätze, Durchgänge, Tunnelgewölbe führen dich im Kreis herum, spiegeln sich gern gegenseitig, du stehst dir immer wieder selbst erstaunt gegenüber. Hier verliert man ganz leicht die Orientierung, es gehört zu Mantuas Magie. Ja, eine Walnuss, oder die wirren Gänge unseres Gehirns …

Manu ist bestimmt mit seinen eigenen Recherchen beschäftigt, Raffa geht es genauso, zu tun hat er genug. Er ist nicht auf Urlaub hier, oder noch nicht, er wollte nach Erledigung des Auftrags ein paar freie Tage anhängen. Er fährt mit seinem Klapperauto nach draußen, besucht Dörfchen und Weiler, sieht wankende vereinsamte Kirchen in der Landschaft stehen, links und rechts des Po – von Stahlseilen umschlossen, wie nicht abgeholte übergroße Geschenkpakete verschnürt, mürbe rötliche Steine in kräftiger metallischer Umarmung. Verzwirnte Stahlseile der Heiligkeit, als wollten sich die sündig-schönen Kirchlein selbst kasteien. Nein, der Gott Terremoto will es so, und er weiß nichts von irgendeinem Christentum.

Raffa wartet und wartet. Gibt es einen Zeugen, einen Beobachter? Kaum. Es gibt nur das phänomenale Alleinsein eines wartenden Menschen. Nein, doch, halt, es gibt einen Zeugen. Vergil. Vergil der Voyeur. Vergil der Vigil, der Nachtwächter, der auch tags die Augen offen hält. Allgegenwärtige Überwachung aus der Antike, die hier alle Menschen abhört, eine National Security Agency, die in Hexametern spricht. Warum? Weil er überall ist. Vergil is watching you. In Mantua wird jeder ständig von den Blicken Vergils verfolgt. Ja, Vergil guckt von Nischen und Hochreliefs und Wappen verwundert herab auf den Fußgänger und Flaneur. Es ist seine Stadt, ganz klar, und er wird hier der Beobachter merkwürdiger Dinge. Virgilius Mantuanus poetarum clarissimus, so bezeichnet ihn die Inschrift auf dem Palazzo del Podestà. Der »berühmteste von allen Dichtern« staunt über die Dinge, die in seiner Stadt vorgehen. Vorzeitliche Liebespaare werden aus der Erde gehoben, fremde Menschen tauchen auf und verschwinden plötzlich wieder. Es wird hier vielleicht sogar Tote geben. Ja, Vergil, der allgegenwärtige Vergil, wundert sich und zieht die Augenbrauen hoch.

Vielleicht möchte er lieber in einem Wohnwagen leben, in einem Vorgarten oder Hinterhof eines der Vorstädtchen Mantuas. In Pietole zum Beispiel, fünf Kilometer südlich, das sich als sein Geburtsort empfiehlt, unter dem sich das antike Dörfchen Andes befunden haben soll. Gefunden wurde es nicht. Nicht jeder kann hoffen, von Archäologen aus der Erde gehoben zu werden. Pietole hat sich mit zwei anderen Örtchen zur Gemeinde Virgilio verbunden. Vergil ist ein Vorstädtchen geworden.

Aber nein, kein Vorstädtchenidyll. Er muss im Zentrum Mantuas residieren, segnende Dauerpräsenz, Botschafter aus dem Jenseits, jederzeit allgegenwärtig. Zeuge des Erdbebens und anderer tektonischer Ereignisse, Zeuge voller Halluzinationen.

Georgica III, 10-15: Als Erster will ich … wenn mein Leben ausreicht … die Musen … zurückkehrend von Aonischen Höhen … in mein Heimatland führen … als Erster will ich dir, Mantua … Palmen aus Idumaea überreichen … und auf der grünen Wiese am Fluss … einen Tempel aus Marmor errichten … wo der gewaltige Mincius … in trägen Windungen irrt … und seine Ufer mit zartem Schilf säumt …

An der Piazza Broletto, in einer mittelalterlichen Nische des Palazzo del Podestà, sitzt er mit seiner dekorativen Doktorenmütze am Schreibpult aus dem halluzinogenen dreizehnten Jahrhundert, mit frohen abstehenden Ohren, flankiert von zwei Halbsäulen, neben seiner Rechten ein Tintenschälchen, hebt den Blick und zeigt ein rätselhaftes Lächeln. Rasch wird der wackelige Stadtphallus wegen Erdbebenschäden dicht von Stahlplanken umgeben sein, Stahlarme umgreifen den hohen Turm, und Vergil in der Nische wird samt seinem Lächeln unter den Gerüsten und Plastikplanen verschwinden. Ein Erdbebenopfer. Sie werden Kunststoffe einschießen, Risse kitten, das Wahrzeichen stabilisieren, verfluchter Frühling, der noch lange nachhallt.

Vergil war hier nicht zu entgehen, er ist verstreut über die Halbinsel zwischen den drei Seen, er blickt als Büste, Relief und Statue herab auf das kaum erwachte Mantua, als sei er zugleich Urahn, ewiger Herrscher und sehr heutiger Bürgermeister. Auf dem Stadtwappen blickt er im linken oberen Feld des weißen Schildes, das ein rotes Kreuz vierteilt, wer will auf so einen Ahnherrn verzichten. Als Apotheose auf Marmor aus Carrara stehend die pompöse Monumentalstatue in Bronze auf der Piazza … wie heißt sie noch? Natürlich Piazza Virgiliana. Und die Mantuaner Akademie, gegründet von Kaiserin Maria Theresia, hat Napoleon eigenhändig zur Virgiliana umgetauft. Napoleon grüßt den Autor der Äneis! Salve, Imperator! Auch er weiß sich zu verbeugen. Vergil hat hier Archiv und Bibliothek und diverse Filialen, was will er mehr, und dennoch träumt er davon, sich zu verkleinern, er möchte einen bescheidenen Wohnwagen. Er hat immer sehr zurückgezogen gelebt.

Die Stadt hat Glück mit so einem, der sie auf die Weltkarte setzt. Vergil fliegt gern durch die Luft, er liebt nichts mehr als die Luft. Ein antikes Schwälbchen, ein Beobachtungsschwälbchen. Er liebt die Vogelperspektive auf das Leben, ein Wächter über Tag und Nacht. Permanent patenter Vigil. Und ja, ganz bestimmt hat er Raffa da unten stehen sehen vor der prächtigen Rotonda.

Raffa wartet noch immer. Haben Sie schon einmal einen wartenden Menschen beobachtet? Wie er zunächst unbesorgt und gutgelaunt wartet auf das erhoffte Treffen, leise lächelt und sich freut in seiner hochgestimmten Erwartung? Wie er sich jede Ungeduld verbietet, wie er sich bemüht, entspannt zu wirken auf den sicher bald Ankommenden?

Wie er allmählich öfter auf die Uhr schaut, erst auf die Armbanduhr, dann aufs Handy, dann hoch zum Uhrturm des Palazzo della Ragione, als ob sich dort die heutige Zeit ablesen ließe und nicht die astronomische Zeit der Renaissance und des Neolithikums.