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Steven Bloom

Die menschliche Schwäche

Roman

Aus dem Englischen von Silvia Morawetz

WALLSTEIN VERLAG

Moses steigt vom Berg herab und sagt: Ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, ich hab Ihn auf zehn runtergehandelt. Die schlechte ist, Ehebruch ist noch dabei.

Ein alter jüdischer Witz

»Ruft laut! Denn er ist ja ein Gott; er ist in Gedanken oder hat zu schaffen oder ist über Land oder schläft vielleicht, daß er aufwache.« (Elia verspottet die Propheten Baals)

1 Könige 18,27

Who is Who in Heidelberg

Der Oberbürgermeister

Horst Leiter des Tourismusbüros und Schwiegersohn des Oberbürgermeisters

Trudhilde die Tochter des Oberbürgermeisters

Isolde die Frau des Oberbürgermeisters

Frau Müller die Köchin im Haushalt des Oberbürgermeisters

Hauptkommissar Spielmann Polizeichef

Antonio ein italienischer Kellner

Mrs. Stone eine Amerikanerin

Daniel der Sohn von Mrs. Stone

Sigi Spiess Mitglied des Stadtrats

Wolfgang Kesselring Mitglied des Stadtrats

Ingeborg Braut Mitglied des Stadtrats

Manfred Lösing Mitglied des Stadtrats

Erich von der Kleiner Mitglied des Stadtrats

Mechthild Meitner Mitglied des Stadtrats

Dr. Uwe Annecker Mitglied des Stadtrats

Professor Immanuel Cederbaum Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Heidelberg

Naomi Cederbaum Professor Cederbaums Frau und Romanschriftstellerin

Gertrud Hassenbecker eine Anwältin

Frau von Adelsheim eine Studentin

Ari Reich ein israelischer Importeur

Gerhard Kastanian fünfmaliger Kandidat um das Amt des Oberbürgermeisters

Professor Eisenberg ein Fulbright-Professor

Linda O’Brian eine Studentin

Mrs. Pipkorn eine Touristin

Bruni Stammgast des Go-Go

Johannes Gutfleisch ein städtischer Angestellter

Isaac Selasse ein äthiopischer Asylbewerber

1.

Das hat uns gerade noch gefehlt, sagte Horst.

Der Oberbürgermeister nickte.

Immer wieder sag ich, etwas weniger Mehl in die Knödel, sagte Isolde, aber glaubt ihr, sie richtet sich danach? Hört denn keiner mehr zu?

Bei der anderen, sagte Trudhilde, wußten wir wenigstens, woran wir sind.

Ein Homosexueller, von seinem Freund umgebracht, ist kein Problem, sagte Horst. Aber ein amerikanischer Tourist, auf dem Schloßgelände ermordet, ist eine ganz andere Geschichte.

Isolde schnalzte mit der Zunge.

Da er seine Brieftasche und eine teure Uhr noch bei sich hatte, sagte der Oberbürgermeister, sagt Hauptkommissar Spielmann, er stehe vor einem Rätsel.

Ich bin fertig, sagte Isolde. Alle anderen auch fertig? Soll ich den Nachtisch bringen lassen?

Genau so etwas könnte Heidelberg die ganzen Festspiele verhageln, sagte Horst. Das hat uns gerade noch gefehlt. Ich hab geschuftet wie ein Galeerensklave.

Über den Mord können wir beim Nachtisch sprechen, sagte Isolde. Ich hab Frau Müller gebeten, den Strudel ein bißchen leichter zu machen, aber für sie ist jede Bitte eine persönliche Beleidigung.

Alle schwiegen, während Frau Müller den Strudel auftrug. Als sie wieder gegangen war, seufzte Isolde tief.

Hat die Frau ein Alibi? sagte Horst.

Sie war mit ihrem Sohn in der Oper, sagte der Oberbürgermeister.

Wenn es doch die Frau wäre, sagte Horst.

Ist sie noch hier? sagte Trudhilde.

Sie muß so lange bleiben, bis sie die Überführung des Leichnams nach New York veranlassen kann, sagte der Oberbürgermeister.

Gibt es gar keine Verdächtigen? sagte Horst.

Anscheinend nicht, sagte der Oberbürgermeister.

Vielleicht könntest du mal mit ihr sprechen, Adolf, sagte Isolde.

Der Oberbürgermeister nickte.

Und die Tatwaffe? sagte Horst.

Wohl ein Dolch, sagte der Oberbürgermeister, obwohl sie ihn nicht gefunden haben.

Ein Dolch? sagte Horst.

Ein Dolchstoß in den Rücken, sagte der Oberbürgermeister.

Unerträglich, sagte Isolde und legte ihre Gabel ab.

Trudhilde berührte ihre Mutter am Arm.

Wenn nichts geraubt wurde, sagte Horst, was war dann das Motiv?

Wie gesagt, sagte der Oberbürgermeister, der Hauptkommissar gibt zu, daß er vor einem Rätsel steht.

Bestimmt genau das, was die Leute hören wollen, sagte Horst. Und die Frau lassen sie einfach gehen?

Sie war mit ihrem elfjährigen Sohn in der Oper, sagte der Oberbürgermeister.

Mit Logik kannst du den Leuten nicht kommen, sagte Horst. Lass sie den Eindruck gewinnen, in Heidelberg wäre man seines Lebens nicht mehr sicher, und die Stornierungen prasseln nur so herein.

Isolde schnalzte mit der Zunge.

Prasseln herein? sagte sie.

Ihr seid so unfaßbar ruhig, sagte Horst. Ein Tourist ist auf dem Schloßgelände ermordet worden, und ihr tut so, als ob das eine Lappalie wäre.

Was schlägst du vor? sagte der Oberbürgermeister.

Eine Untersuchung, sagte Horst. Eine umfassende und gründliche Untersuchung.

Glaubst du wirklich, Hauptkommissar Spielmann führt keine umfassende und gründliche Untersuchung durch? sagte der Oberbürgermeister. Glaubst du wirklich, daß irgend jemand einen Mord als Lappalie abtut?

Entschuldigung, sagte Horst. Es ist nur, ich kann das überhaupt nicht brauchen.

Was meinst du, Vater? sagte Trudhilde.

Der Oberbürgermeister trank seinen Cognac in kleinen Schlucken und tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab.

Ich glaube, sagte er, ich weiß nicht genug, um eine Meinung zu haben.

Vielleicht, sagte Trudhilde, wurde Dr. Stone von einem Rivalen um die Liebe seiner Frau ermordet.

Das wäre zu schön, sagte Horst. Etwas in der Art, und wir wären aus dem Schneider.

Duelle hätten nie verboten werden dürfen, sagte Isolde. Ein Dolchstoß in den Rücken ist so was Verlogenes.

Sie schob den Strudel mit der Kuchengabel an den Rand ihres Tellers.

Diese Frau, sagte sie, macht das doch mit Absicht.

2.

Sie hatte nicht mehr gewußt, warum sie weiter Bücher lesen sollte, die andere ihr zu lesen aufgaben, und weiter Kopfschmerzen ertragen sollte wegen Prüfungen, die andere ihr abzulegen rieten. Horst hatte natürlich keine Einwände gehabt. Ihr Vater war prinzipiell einverstanden gewesen, und ihre Mutter hatte ihr ein ledergebundenes Notizbuch geschenkt, dessen Blätter aus Pergament waren.

Sie hatte es in eine Schublade gesteckt und sich ein Notizbuch aus Recycling-Papier gekauft. Dann begab sie sich auf die Suche nach dem perfekten Café. Aber die Cafés waren entweder zu laut oder zu still, zu groß oder zu klein, zu voll oder zu leer. Entweder war die Musik zu aufdringlich oder es war zu verräuchert. Sie brachte kein Wort zu Papier. Und so stürzte sie sich, als springe sie einen Abgrund, in den Ehebruch. Oder, wie ihre Mutter gesagt hätte: in einen Abgrund?

Dabei war an ihrem Sexleben gar nichts verkehrt gewesen. Es war ihr nicht mal um Sex gegangen. Horst war der erste Mann, mit dem sie je zusammengewesen war, und sie hätte sich keinen Mann denken können, der zärtlicher, phantasievoller und aufregender gewesen wäre als genau der, den Kirche und Staat legitimiert hatten, neben ihr zu liegen.

Zungenschnalzend überquerte sie die Theodor-Heuss-Brücke. Ihr Leben war zu einem Klischee geronnen.

Sie schnalzte abermals mit der Zunge.

»Geronnen« war genauso schlimm wie »verhageln«.

Das Café war zu voll gewesen, zu laut, die Tische zu klein und zu dicht nebeneinander, sogar der Espresso war zu bitter, aber trotz wochenlang leer gebliebener Seiten kam sie immer wieder, bis ihr schließlich klar wurde, warum.

Antonio haßte Deutschland. Er haßte die kalten Winter und die noch kälteren Menschen. Er haßte das deutsche Essen. Mit einem Wortschatz von dreihundert deutschen Ausdrücken blieb ihm nichts anderes übrig, als brutal direkt zu sein.

Es war sehr leicht für sie gewesen, sich Horst überlegen zu fühlen. Die Ernsthaftigkeit, mit der er sich noch dem sinnlosesten Projekt widmete, die unbeirrbare Nüchternheit seines Denkens, sein immer wieder überraschendes Desinteresse an allem, was die Grenzen seines täglichen Tuns überstieg, und seine totale Arglosigkeit, was sie betraf, erlaubten es ihr, ein Gefühl von Überlegenheit zu empfinden, das unverdient war, wie sie wußte, das sie aber trotzdem nicht aufgeben wollte.

Sie hatte sich als Maria ausgegeben. Hatte sich zu einer Waise gemacht. Sie gab an, einen Job bei der Post zu haben, wo sie nachts Briefe sortierte. Von allem, was sie Antonio erzählt hatte, stimmte nur, daß sie Dichterin werden wollte.

Der Polizeibeamte am Empfang war jünger als sie. Er erkannte sie nicht, obwohl ihr Foto erst kürzlich in der Rhein-Neckar-Zeitung gewesen war: Darauf begrüßten sie und Horst eine Gruppe britischer Molekularbiologen. Sie war aber natürlich keine Prinzessin Diana. Vermutlich hätte der Mann ihr gegenüber, der sich mit einem kläglichen zotteligen Schnurrbart ein paar Jahre älter zu machen versuchte, nicht einmal ihren Vater erkannt.

Hauptkommissar Spielmann war ein großer schlanker Mann im Alter ihres Vaters, und bei dem Geschäftsanzug, den er trug, wäre niemand darauf gekommen, daß er ausgerechnet diesen Beruf ausübte.

Ich hoffe, ich verschwende nicht Ihre Zeit, sagte sie, aber als Vater uns von dem Mord im Schloßgarten erzählt hat, ist mir etwas eingefallen.

Meiner Erfahrung nach, sagte Hauptkommissar Spielmann, ist es am besten, wenn man seinen Gedanken freien Lauf läßt.

Vielleicht, sagte sie, war der Mörder Mrs. Stones Liebhaber.

Kommissar Spielmann lächelte.

Die Möglichkeit besteht natürlich, sagte er, aber vielleicht sollten Sie sich die Schnappschüsse ansehen, die Dr. Stone in seiner Brieftasche hatte.

Mrs. Stone war die hausbackenste Erscheinung, die sie je gesehen hatte. Sie hatte so dichtstehende Augen, daß sie gestört wirkte, ihre Nase war hexenhaft dünn, und ihr Kinn ragte so spitz vor wie … Trudhilde fiel kein passender Vergleich ein.

Auf dem nächsten, das sind Dr. Stone und sie, sagte Kommissar Spielmann.

Dr. Stone sah nicht besser aus. Er war bis auf ein dickes Haarbüschel knapp über der Stirn vollkommen kahl. Seine Nase war fleischig und von erhabenen Adern durchzogen, die Augen standen zu weit auseinander. Sein Kinn fiel fast ins Nichts ab.

Auf einem Foto saß ein normal aussehender Junge an einem Klavier und lächelte schief in die Kamera, und auf einem weiteren standen alle drei vor einem imposanten weißen Haus. Mrs. Stone hatte den Arm um Mr. Stones Schulter gelegt.

Verdorben ist, was der Verdorbene erspäht, dachte Trudhilde, so wie dem Gelbsüchtigen alles gelb gerät.

Schnell griff sie nach dem nächsten Schnappschuß. Eine grauhaarige Frau saß in einem Sessel, und neben ihr stand ein Mann mit Glatze und Schnurrbart, der einen Pullover mit Knopfleiste trug.

Den Mann habe ich schon einmal gesehen, sagte Trudhilde und tippte auf das Foto.

Sie reichte Hauptkommissar Spielmann die Brieftasche zurück.

Ist das sein Vater? sagte sie.

Ich nehme es an.

Das Gesicht kenne ich, sagte Trudhilde.

Sind Sie sicher? sagte Hauptkommissar Spielmann.

Fast, sagte Trudhilde. Aber persönlich kenne ich ihn nicht. Vielleicht ist es jemand Berühmtes.

Hauptkommissar Spielmann strich sich übers Kinn, eine Geste, die sie nicht erwartet hatte. Ihr Vater hatte keine nervösen Ticks.

Trudhilde schaute noch einmal das Foto an, und auf einmal kam ihr Dr. Stones Vater überhaupt nicht mehr bekannt vor.

Vielleicht irre ich mich auch, sagte sie.

In den Hügeln oberhalb von Heidelberg waren Touristen unterwegs, Frauen im Alter ihrer Mutter, die untergehakt spazierengingen, und Jogger mit verquälten Gesichtern. In den Hügeln oberhalb von Heidelberg wurde ihr Geist immer weit.

Sie überquerte die Theodor-Heuss-Brücke und stieg zum Philosophenweg hinauf. In den Tagen von Joseph Freiherr von Eichendorff, dem Ur-ur-urgroßvater ihrer Mutter, waren Dichter und vermutlich Philosophen diesen Weg hoch oberhalb des Neckars entlang gewandert, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf sinnend gesenkt.

Eine japanische Familie machte Aufnahmen der Stadt, als Trudhilde sich auf eine Bank setzte. Lastkähne und Ausflugsschiffe fuhren unter der Alten Brücke hindurch. Auf der Alten Brücke standen Menschen und fotografierten das Schloß.

Trudhilde machte die Augen zu und wollte ihren Geist weit werden lassen. Aber ihren Geist weit werden lassen hieß, wie sie wußte, sich nicht darum zu bemühen. Daran dachte sie gerade, als ihr einfiel, daß Professor Eisenberg, der Fulbright-Professor aus New York, erklärt hatte, Frankie Alpines Verlangen nach Morris Bobers Tochter Helen sei der Schlüssel zum Verständnis von Bernard Malamuds Roman Der Gehilfe.

Sie machte die Augen wieder auf und lächelte breit.

3.

1983 hatte Franz Schönhuber, ein ehemaliges Mitglied der SS, die Partei Die Republikaner gegründet. Jetzt, acht Jahre später, saß Sigi Spiess als einziger Republikaner im Stadtrat. Die anderen Mitglieder des Stadtrats wollten sich für das offizielle Foto nicht mit ihm zusammen ablichten lassen, und so war Spiess’ finster dreinschauendes Konterfei in der Rhein-Neckar-Zeitung abseits von den anderen erschienen.

Der Oberbürgermeister beobachtete ihn, als er sprach. Seine Augen waren die eines Leguans, seine Lippen die einer kleinen Schildkröte.

Nicht mehr lange, und wir haben Zustände wie in New York. Diejenigen Mitglieder, die den Aufwand, die Rhein-Neckar-Zeitung zu lesen, scheuen und sich nicht für die Sorgen der normalen, hart arbeitenden und ehrlichen Einwohner Heidelbergs interessieren, möchte ich auf ein paar Dinge aufmerksam machen.

Mit dicken Fingern nestelte er an der Schnalle seiner teuren Aktentasche. Obwohl er sich als Sprecher der einfachen Leute ausgab, bemühte er sich im Gegensatz zu vielen Mitgliedern der Partei der Grünen nicht, arm zu wirken.

Äthiopischer Asylbewerber greift Vermieter mit einem Messer an, rief Sigi Spiess. Jugoslawische Diebesbanden machen die Hauptstraße unsicher. Amerikanische Soldaten rauben Taxifahrer aus. Und so könnte ich weiter und weiter fortfahren.

Er kippte Zeitungsausschnitte aus seiner Aktentasche vor sich auf den Tisch.

Wir werden regelrecht belagert, rief er. Und jetzt ist ein amerikanischer Tourist auf dem Schloßgelände ermordet worden, und Sie wollen ausgerechnet über das Ozonloch debattieren.

Ich fürchte, Cosi können wir nicht mehr aufführen, sagte der Oberbürgermeister.

Er hörte zu.

Ganz deiner Meinung.

Er schüttelte den Kopf.

Demokratie ist umständlich, sagte er. Ich stimme dir vollkommen zu. Ich geb das Telefon mal an Trudi weiter. Vielleicht kann sie ja.

Tut mir leid, sagte Trudhilde, aber ich hab Horst versprochen, daß ich mir mit ihm Das Schweigen der Lämmer ansehe. Ich glaube, er traut sich alleine nicht. Frag doch mal Frau Krämer. Sie ist immer dankbar, wenn sie abends mal ausgehen kann.

Der Oberbürgermeister sah auf seine Uhr und hielt sieben Finger hoch.

Tut mir leid, sagte Trudhilde. Frag Frau Krämer. Amüsiert euch gut, ihr. Wenn nicht sie, frag Frau Schulz.

Laute Stimmen drangen aus dem Korridor herüber.

Ich muß jetzt mit Vater sprechen, sagte Trudhilde. Ich ruf morgen an.

Haben wir nur sieben Minuten? sagte sie, als sie aufgelegt hatte.

Sechs, sagte der Oberbürgermeister.

Ich hab mir die Fotos angesehen, die Dr. Stone in seiner Brieftasche hatte, sagte Trudhilde, und mir eingebildet, ich kenne seinen Vater.

Und, kennst du ihn? fragte der Oberbürgermeister.

Das kann vollkommen albern sein, sagte Trudhilde, aber ich bin sicher, Dr. Stone war Jude. Sein Vater sieht aus wie Bernard Malamud.

Die Stimmen im Korridor wurden noch lauter.

Spiess und Kesselring, sagte der Oberbürgermeister.

Was, wenn seine Ermordung etwas damit zu tun hat, daß er Jude war? sagte Trudhilde.

Ich schau besser mal nach, was da los ist, sagte der Oberbürgermeister.

Zwei Männer hielten Sigi Spiess an den Armen fest. Sein Gesicht war hochrot.

Für diese Beleidigung, schrie er, werden Sie vor Gericht bezahlen.

Zwei Frauen hielten Wolfgang Kesselring an den Armen fest. Sein Gesicht war ebenfalls hochrot.

Ingeborg Braut, die weißhaarige Vorsitzende der Freien Demokraten, kam auf den Oberbürgermeister zu.

Gab es nicht schon mal einen Fall, wo jemand wegen ungebührlichen Verhaltens ausgeschlossen wurde? sagte sie.

Der Oberbürgermeister nickte.

Eines Tages treffen wir uns woanders wieder, schrie Sigi Spiess.

Drohen Sie mir etwa? schrie Wolfgang Kesselring. Soll das eine Drohung sein?

Eines Tages, schrie Sigi Spiess, werden Sie dafür bezahlen.

Die beiden Frauen hatten Wolfgang Kesselring losgelassen. Sie hatten ihn bloß der Symmetrie willen an den Armen festgehalten. Kesselring war viel zu schwach, als daß er Sigi Spiess hätte angreifen können, den immer noch zwei Männer, ungefähr so groß wie er selbst, in Schach hielten.

Es gibt einen Rathaussaal, sagte der Oberbürgermeister, da ist die Akustik viel besser, und ich schlage vor, daß wir gleich dorthin gehen.

Als die anderen sich in Richtung Saal in Bewegung setzten, faßte Trudhilde ihren Vater am Arm.

Was meinst du? sagte sie.

Ich meine, sagte der Oberbürgermeister, es wäre unverantwortlich, die Möglichkeit außer acht zu lassen.

4.

Eines hatte Hauptkommissar Spielmann der Tochter des Oberbürgermeisters nicht erzählt:

Ungefähr sechs Stunden bevor Dr. Stone ermordet wurde, war ein äthiopischer Asylbewerber aus dem Flügel des Psychiatrischen Landeskrankenhauses in Wiesloch entwichen, in dem die gefährlichen Kriminellen untergebracht waren. Man konnte von diesem Krankenhaus zum Schloß gelangen, ohne einmal den Wald zu verlassen.

Isaac Selasse war verrückt genug zu vergessen, die Brieftasche seines Opfers zu stehlen, und verrückt genug, nicht einmal ein Motiv zu benötigen. Als Verdächtiger kam er zum jetzigen Zeitpunkt eigentlich nicht in Frage. Das war lediglich eine Hypothese, eine Vermutung. Spielmann hatte ihn dem Oberbürgermeister gegenüber nicht einmal erwähnt.

Die originelle Theorie von dessen Tochter war wohl das Produkt einer literarischen Phantasie. Und selbst wenn Dr. Stone Jude gewesen wäre, würde sich auch das höchstwahrscheinlich als irrelevant erweisen. Aber der Oberbürgermeister hatte recht. Es wäre unverantwortlich, nicht möglichst viel über Dr. Stone in Erfahrung zu bringen.

Spielmann warf einen Blick auf die bisherigen Ermittlungsergebnisse, die klar und hell auf seinem Computerbildschirm standen, und ermahnte sich, immer gut aufzupassen, mit wem er sprach.

Es tut mir sehr leid, Sie zu belästigen, Mrs. Stone, sagte er, aber ein, zwei Dinge würde ich Sie gern noch fragen.

Ich verstehe nicht, was Sie noch alles wissen müssen, sagte Mrs. Stone.

Es dauert nur ein paar Minuten, sagte Hauptkommissar Spielmann.

Können Sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? sagte Mrs. Stone.

Wir haben eine Theorie, sagte Spielmann so mitfühlend, wie er konnte, aber wir benötigen Ihre Hilfe. Ich könnte in einer Viertelstunde da sein.

Sie werden meinen Sohn beunruhigen.

Wir könnten uns im Hotelrestaurant treffen, sagte Spielmann.

Sagen Sie mir Ihre Theorie, rief Mrs. Stone.

Eine Theorie ist es genaugenommen noch nicht, sagte Spielmann.

Ich gebe Ihnen zehn Sekunden, dann lege ich auf, rief Mrs. Stone. Warum verfolgen Sie mich?

Es tut mir sehr leid, sagte Spielmann. Ich wollte nur … ich meine, ich wollte nur …

Ich lege auf, rief Mrs. Stone.

War Dr. Stone mosaischen Glaubens? sagte Spielmann.

Immanuel Cederbaum hatte den Krieg als Kind in England überlebt. Er hatte in Cambridge studiert und war nach Deutschland zurückgekehrt, um einen Lehrstuhl für Philosophie zu übernehmen. Einige Jahre später wurde er Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Heidelberg.

Der Oberbürgermeister hatte gleich von Anfang an das Gefühl gehabt, daß das ein Jude war, mit dem er zusammenarbeiten konnte. Das heißt, ein Jude, der ihm nicht schon daraus einen Vorwurf machte, daß er Deutscher war.

Professor Cederbaum war Gelehrter und Humanist; Jude war er hauptsächlich – er hatte einen Schriftsteller namens Mordechai Richler zitiert – »zum Zwecke der Verfolgung«.

Ich möchte weder Sie noch mich selbst beleidigen, hatte Professor Cederbaum bei ihrer ersten Begegnung gesagt, und mich in die etwas zweifelhafte Tradition des »Hofjuden« einreihen. Ich bin das einzige Mitglied der Heidelberger Jüdischen Gemeinde, das sowohl Deutscher als auch Professor ist. Daher hat man mich zum Vermittler bei den Behörden bestimmt.

Professor Cederbaum hatte auch davon gesprochen, daß er bereit sei, als »Aushängeschild« zu dienen, wann immer eines gebraucht wurde.

Zynismus ist mir in dieser Angelegenheit vollkommen fremd, sagte er, und darauf vertraue ich auch bei Ihnen.

Und deshalb war es Professor Cederbaum, der 1985 bei der Enthüllung der Alfred-Mombert-Statue zu den vier- oder fünfhundert Anwesenden sprach. Er sprach über den Tag im Oktober 1940, an dem die 322 Juden Heidelbergs auf dem freien Platz vor dem Hauptbahnhof zusammengetrieben wurden. Unter ihnen befand sich Alfred Mombert. Cederbaum las Momberts Gedicht »Die Blüte des Chaos« und mahnte, nur durch eine echte Verwirklichung humanitärer Prinzipien lasse sich verhindern, daß es noch einmal zu einer solchen Barbarei kommt.

Als der Standort der 1938 zerstörten Synagoge von einem Parkplatz in eine Gedenkstätte umgewandelt wurde, sprach Professor Cederbaum abermals. Er schloß mit einem Zitat von Theodor Adorno: »Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären.«

Es tut mir leid, Herr Oberbürgermeister, sagte die Sekretärin des philosophischen Fachbereichs, aber Professor Cederbaum hat gerade mit seiner Vorlesung begonnen.

Der Oberbürgermeister sah auf seine Uhr. In zwanzig Minuten sollte er in einem Altenheim in Kirchheim sein. Er kam sowieso schon zu spät. Mrs. Stone würde in sechsunddreißig Stunden abreisen. Schlimmstenfalls würde er sie selbst anrufen. Im allerschlimmsten Fall müßte Hauptkommissar Spielmann sich auf die Staatsmacht in Form der Polizei berufen.

Ich bin froh, daß ich Sie endlich erreicht habe, sagte der Oberbürgermeister. Ich fürchte, die Angelegenheit ist ein bißchen heikel. Wir haben Grund zu der Annahme, daß der Tourist, der im Schloßpark ermordet wurde, Jude war. Ist Stein ein jüdischer Name?

Möglicherweise, sagte Professor Cederbaum. Aus vielen Steins sind Stones geworden. Gibt es noch andere Anhaltspunkte für die Vermutung, daß er Jude war?

Es ist mir peinlich, sagte der Oberbürgermeister. Meine Tochter hat sich die Fotos angesehen, die Dr. Stone in seiner Brieftasche bei sich hatte, und glaubt, eine Ähnlichkeit zwischen dem Vater des Opfers und dem amerikanisch-jüdischen Schriftsteller Bernard Malamud zu erkennen.

Das muß Ihnen doch nicht peinlich sein, sagte Professor Cederbaum. Das ist eine Frage der Genpools, weiter nichts.

Wenn gesagt wird, jemand sehe aus wie ein Jude, klingt das wie ein Vorurteil, sagte der Oberbürgermeister.

Ein Vorurteil ist es nur, sagte Professor Cederbaum, wenn derjenige, der es sagt, damit eine Bedeutung verknüpft. Jemand kann genauso jüdisch aussehen, und das heißt im allgemeinen wie ein Jude aus Osteuropa, wie jemand japanisch aussehen kann.

Jedenfalls, sagte der Oberbürgermeister, hat Mrs. Stone, als Kommissar Spielmann sie fragte, ob ihr Mann Jude sei, gleich aufgelegt.

Wie lange bleibt sie noch? sagte Professor Cederbaum.

Bis morgen abend, sagte der Oberbürgermeister.

Ich werde sie aufsuchen, sagte Professor Cederbaum, und falls Dr. Stone Jude war, werde ich ihr anbieten, ein Kaddisch für ihn lesen zu lassen.

Ganz wohl ist mir dabei nicht, sagte der Oberbürgermeister.

Verstehe, sagte Professor Cederbaum. Ganz wohl ist mir dabei auch nicht.