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Mathias Middelberg

»Wer bin ich, dass ich über
Leben und Tod entscheide?«

Hans Calmeyer – »Rassereferent«
in den Niederlanden 1941–1945

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Inhalt

Anne Frank, Annes beste Freundin Jacqueline
und das »Calmeyern«

Hans Calmeyer

Die Judenverfolgung
in den besetzten Niederlanden

Registrierung der Juden

»Rassische Zweifelsfälle«

Calmeyers Entscheidungen
in den »rassischen Zweifelsfällen«

Die Entscheidungsstelle

Die SS fordert »Stopp«
für die Abstammungsprüfungen

»Portugiesische Israeliten«

»Mischehen«

Im Fadenkreuz der SS –
Ludo ten Cate und der »Centrale Dienst voor Sibbekunde«

»Abstammungsschwindel« –
die SS will die Calmeyer-Akten überprüfen

In Haft

Zurück ins Leben

Im Urteil der Nachwelt

Schindler oder Schwindler? – das Fazit

 

Anmerkungen

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Abbildungsnachweis

Dank

Personenregister

Anne Frank, Annes beste Freundin Jacqueline
und das »Calmeyern«

Amsterdam. Ein Mittag im Spätsommer 1941. Die Schule war aus. Zwei dreizehnjährige Mädchen radelten den Amsteldijk entlang nach Haus. Für beide war es der erste Schultag an ihrer neuen Schule, der jüdischen Mädchenoberschule, dem Jüdischen Lyzeum. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt. Keck hatte die zierliche Anne ihre neue Schulkameradin Jacqueline angesprochen: »Fährst du auch in diese Richtung?« Jacqueline nickte. »Dann können wir ja von jetzt an gemeinsam fahren! Ich heiße übrigens Anne, Anne Frank.« – So begann eine Freundschaft.

Anne lud ihre neue Freundin gleich zu sich nach Hause ein. Jacqueline lernte die Eltern, Otto und Edith, kennen, die ältere Schwester Margot und Annes schwarzen Kater Moortje. Anne zeigte Jacqueline ihre Bildersammlung mit Porträts von Filmstars, Prinzessinnen und Prominenten. Von jetzt an waren die Mädchen fast täglich zusammen. Die lebhafte, manchmal vorwitzige Anne und die eher zurückhaltende »Jacque« ergänzten sich gut. Anne vernachlässigte ihre anderen Freundinnen; sie war eifersüchtig, wenn Jacqueline sich mit anderen Mädchen verabredete. In ihr Tagebuch schrieb sie später: »Jacqueline van Maarsen habe ich erst auf dem Jüdischen Lyzeum kennen gelernt. Sie ist jetzt meine beste Freundin.«1 »Wie ein Liebespaar« waren die beiden, erinnerte sich Jacquelines Mutter Eline: »Was haben sie bloß alles ausgeheckt und miteinander zu tuscheln gehabt und telefoniert, den ganzen Tag, dabei wohnten die Franks keine drei Häuser von uns. Jeden morgen hat das Telefon geklingelt – und eine Viertelstunde später sahen sie sich ja schon wieder in der Schule. Aber sie hatten nie die Geduld, auch nur ein bisschen zu warten.«2

 

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Jacqueline van Maarsen 1942

 

Im Sommer 1942 – ein Jahr nach dem die Mädchen sich kennengelernt hatten – riss der Kontakt jäh ab. Die Franks waren plötzlich verschwunden – von einem Tag auf den anderen. Es war Krieg. Die Niederlande waren von deutschen Truppen besetzt. Hitler hatte das Land im Frühjahr 1940 überfallen. Jetzt wurden die Juden auch hier verfolgt. Schritt für Schritt vollzogen sich Entrechtung und Ausgrenzung. Wie in Deutschland wurden zuerst Berufsverbote erlassen. Jüdische Unternehmen wurden »arisiert«; jüdisches Eigentum wurde eingezogen. Schließlich waren auch ganz alltägliche Dinge wie Fahrrad- oder Straßenbahnfahren für Juden verboten. Anne Frank schrieb dies in ihrem Tagebuch sorgfältig auf:

»Ab Mai 1940 ging es bergab mit den guten Zeiten: erst der Krieg, dann die Kapitulation, der Einmarsch der Deutschen, und das Elend für uns Juden begann. Judengesetz folgte auf Judengesetz, und unsere Freiheit wurde sehr beschränkt. […] Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3–5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Frisör; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht auf die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und an anderen dem Vergnügen dienenden Plätzen aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, ebenso wenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben; Juden dürfen nach 8 Uhr abends weder in ihrem eigenen Garten noch bei Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und dergleichen mehr. […] Jacque sagt immer zu mir: Ich traue mich nichts mehr zu machen, ich habe Angst, dass es nicht erlaubt ist.«3

 

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Anne Frank 1942

 

Im Juli 1942 begannen die deutschen Besatzer schließlich damit, die Juden zu deportieren. Aufrufe zum »Arbeitseinsatz in Deutschland« wurden verschickt. Offiziell ging es um Zwangsarbeit. Das war aber nur Tarnung. Tatsächlich bedeutete »Arbeitseinsatz« Abtransport in die Mordfabriken, die Vernichtungslager in Polen, Auschwitz oder Sobibor. Als Annes Schwester, die gerade sechzehnjährige Margot, am 5. Juli 1942 den Aufruf erhielt, reagierten die Franks sofort. Die Familie tauchte unter. Über Monate schon hatte der Vater, Otto Frank, ein Versteck vorbereitet. Es war das Hinterhaus seines Bürogebäudes in der Amsterdamer Prinsengracht Nr. 263. Acht verfolgte Juden tauchten dort unter. Die Franks, Hermann und Auguste van Pels, ihr Sohn Peter und der Zahnarzt Fritz Pfeffer.

Von einer Freundin erfuhr Jacqueline van Maarsen: »Die Franks sind weg.« Es hieß, sie seien »abgereist in die Schweiz«. Jacque und die Freundin, Hannah Pick-Goslar, sahen nach. Und tatsächlich: Die Wohnung war leer. Nicht alles aber sah nach einer geordneten Abreise aus: Annes Bett war ungemacht. Und die neuen Schuhe, die sie gerade erst zum Geburtstag bekommen hatte, standen noch davor.4

Anne litt in ihrem Versteck. Das lebenslustige Mädchen vermisste ihre Freundinnen – und besonders Jacqueline, die sie später auch »Jopie« nannte. An die schrieb sie sogar einen »Abschiedsbrief«. Sie schickte ihn klugerweise nie ab, sondern schrieb ihn in ihr Tagebuch:

»25. Sept. 1942

Liebe Jacqueline,

ich schreibe dir diesen Brief um von dir Abschied zu nehmen, das wird dich vermutlich verwundern, aber das Schicksal hat es nun einmal nicht anders bestimmt, ich muss weg (wie du inzwischen natürlich schon längst gehört hast) mit meiner Familie, den Grund wirst du schon selbst wissen.

[…] Ich kann nicht an jeden schreiben, und darum tue ich es auch nur an dich. Ich nehme an, dass du mit niemanden über diesen Brief sprichst und von wem du ihn bekommen hast, auch nicht. […] Ich hoffe, dass wir einander bald wiedersehen, aber es wird vermutlich nicht vor dem Ende des Krieges sein. […]

Deine ›beste‹ Freundin Anne.

PS: Ich hoffe, dass wir bis dass wir einander wiedersehen, immer ›beste‹ Freundinnen bleiben.«5

Jacqueline musste nun morgens allein zur Schule fahren. Ihre Schulkasse wurde immer kleiner. Mehr und mehr jüdische Kinder verschwanden, wurden deportiert oder tauchten unter. Von Amsterdam aus wurden die Juden zunächst in ein »Durchgangslager« nach Westerbork in der Provinz Drenthe gebracht. Dort wurden dann die Transporte zusammengestellt. Am 15. Juli 1942 rollte der erste Deportationszug mit 1.135 Menschen von Westerbork nach Auschwitz. Von da an fuhr fast jede Woche ein Zug gen Osten. Die meisten Deportierten wurden in Auschwitz sofort vergast, die anderen arbeiteten sich zu Tode oder verhungerten. In Holland wusste man nichts Genaues. Aber viele ahnten, was sich abspielte. Gerüchte machten die Runde. Die Untergetauchten wurden in ihrem Versteck von Miep Gies, einer Mitarbeiterin in Otto Franks Büro, mit Informationen versorgt. Außerdem hörten sie das englische Radio. So hielt Anne im Oktober 1942 in ihrem Tagebuch fest:

»Nichts als traurige und deprimierende Nachrichten […] Unsere jüdischen Bekannten werden gleich gruppenweise festgenommen. Die Gestapo geht nicht im geringsten zart mit diesen Menschen um. Sie werden in Viehwagen nach Westerbork gebracht, dem großen Judenlager in Drente. Miep hat von jemandem erzählt, der aus Westerbork geflohen ist. Es muss dort schrecklich sein. […] Wenn es in Holland schon so schlimm ist, wie muss es dann erst in Polen sein? Wir nehmen an, dass die meisten Menschen ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasungen, vielleicht ist das noch die schnellste Methode zu sterben. Ich bin völlig durcheinander. Miep erzählt all diese Gräuelgeschichten so ergreifend und ist selbst ganz aufgeregt dabei. […]«6

Es war eine Frage von Tagen oder Wochen, dann wäre auch Jacquelines Familie zum »Arbeitseinsatz« aufgerufen worden. Die van Maarsens waren in Lebensgefahr. Es musste etwas passieren. – Schließlich war es Jacquelines Mutter, die die Dinge in die Hand nahm. Es gab noch einen anderen Ausweg als unterzutauchen: eine Abstammungsüberprüfung.

Die deutschen Besatzungsbehörden führten solche Prüfungen durch, wenn nicht klar war, ob jemand – im Sinne der Nazi-Rassendoktrin – überhaupt als »Jude« anzusehen war. Solche Fälle gab es, und sogar nicht wenige. Vor allem bei »Mischlingen«. Wenn jemand einen jüdischen und einen nicht-jüdischen Elternteil hatte, waren selbst die Nazis nicht immer sicher, ob sie den Betreffenden als Juden oder als »arischen Mischling« einstufen sollten. Die Nationalsozialisten hatten für diese »Grenzfälle« detaillierte Regeln aufgestellt. In Deutschland waren die berüchtigten Nürnberger Rassengesetze maßgeblich, das »Reichsbürgergesetz«7 und das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«8. In den Niederlanden erließen die deutschen Besatzer eigene Bestimmungen. Inhaltlich waren diese jedoch fast identisch mit den »Nürnberger Gesetzen«. Grundlegend für die Beurteilung war demnach nicht das religiöse Bekenntnis, sondern die »blutsmäßige« Abstammung. Die christliche Taufe machte einen Juden in den Augen der NS-Rassenfanatiker nicht zum »Arier«. Umgekehrt galt ein von »Ariern« gezeugtes Waisenkind auch nach einer Adoption durch jüdische Eltern weiter als »arisch«. Maßgeblich für den »Grad des Jüdischseins« war nach der NS-Doktrin die Anzahl der jüdischen Großelternteile. Bei drei oder vier jüdischen Großeltern galt der Betreffende als »Volljude« (»J 3« bzw. »J 4«). Das bedeutete Deportation. Bei zwei jüdischen Großelternteilen stand man »auf der Kippe«. War man Mitglied einer jüdischen Gemeinde oder mit einem jüdischen Partner verheiratet, galt man ebenfalls als »Volljude« (»J 2«). Alle anderen wurden als »Mischlinge« 1. oder 2. Grades (mit zwei bzw. einem jüdischen Großelternteil) eingeordnet. »Mischlinge« wurden zwar diskriminiert, aber nicht deportiert.

Jacqueline und ihre zwei Jahre ältere Schwester Christiane standen genau »auf der Kippe«. Vater Samuel van Maarsen war Jude. Väterlicherseits hatten die Mädchen damit zwei jüdische Großeltern. Mutter Eline war Christin. Mütterlicherseits gab es deshalb zwei »arische« Großeltern. Nach Lesart der Nazis waren Jacqueline und Christiane demnach »Mischlinge« mit zwei jüdischen Großeltern. Entscheidend war nun, ob die Mädchen der jüdischen Religionsgemeinde angehörten. Das war bei beiden der Fall. Die Eltern hatten dies bei der großen zwangsweisen Meldeaktion, die die Deutschen gleich zu Beginn des Jahres 1941 durchgeführt hatten, auch wahrheitsgemäß so angegeben. Die Reichsinspektion der niederländischen Bevölkerungsregister – das zentrale niederländische Meldeamt – hatte die Mädchen daher als »J 2«, d. h. als »volljüdisch mit zwei jüdischen Großelternteilen«, eingetragen. Das hätte Deportation bedeutet. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Aufruf zum »Arbeitseinsatz« gekommen wäre.

Da nahm Jacquelines Mutter allen Mut zusammen und sprach im Hauptquartier der SS in der Amsterdamer Euterpestraat, der heutigen Gerrit van der Veenstraat, vor. Sie sei Christin, sagte sie. Ihr jüdischer Mann habe ohne ihr Wissen ihre Kinder bei der jüdischen Gemeinde angemeldet. Tatsächlich seien Jacqueline und Christiane christlich erzogen worden. Die Registrierung der Kinder als »Nederlandsch-Israelietisch« (»N-I«) müsse deshalb korrigiert werden. Die SS-Leute in Amsterdam verwiesen Eline van Maarsen an eine Haager Dienststelle. In der Zentrale ihrer Besatzungsverwaltung, dem »Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete«, hatten die Deutschen eine besondere Instanz zur Klärung »rassischer Zweifelsfälle« eingerichtet. Sie wussten schon aus Deutschland, dass mit solchen »Zweifelsfällen« zu rechnen war. Der Reichskommissar hatte in einer Verordnung (VO) im Januar 1941 deshalb festgesetzt: »Bestehen Zweifel darüber, ob eine Person als ganz oder teilweise jüdischen Blutes anzusehen ist, so entscheidet hierüber auf Antrag eine vom Reichskommissar zu bestimmende Stelle.«9 Bei dieser »Entscheidungsstelle über die Meldepflicht aus VO 6/41« sprach Jacquelines Mutter nun vor.

Man riet ihr, die Geburts- und Taufurkunden ihrer »arischen« Großelternteile aus Frankreich zu besorgen. Außerdem solle sie die jüdische Gemeindezugehörigkeit ihrer Töchter gerichtlich überprüfen lassen. Erst wenn durch ein Gerichtsurteil festgestellt sei, dass die Kinder zu keiner Zeit Mitglieder der jüdischen Religionsgemeinschaft gewesen seien, könne entschieden werden. Das Amsterdamer Landgericht urteilte zügig, schon am 30. Juli 1942. Und die Entscheidung fiel positiv aus: Jacqueline und Christiane van Maarsen seien nach niederländischem Recht zu keinem Zeitpunkt Mitglied der jüdischen Gemeinde gewesen. Schließlich trafen auch die Taufurkunden aus Paris ein und Jacquelines Eltern wandten sich ganz offiziell an die Entscheidungsstelle. Unter dem 12. November 1942 schrieben sie an deren Leiter, den »hochwohlgeborenen sehr gelehrten Herrn Dr. Callmeyer«, dass ihre Kinder versehentlich als der jüdischen Gemeinde zugehörig registriert worden seien. Tatsächlich seien sie niemals Mitglied der »Niederländisch-Israelitischen Hauptsynagoge« gewesen. Das Amsterdamer Landgericht habe dies – das Urteil hatten die van Maarsens mit eingereicht – bestätigt:

»Nach Anlasz des Obenstehenden bitten die Unterzeichneten Sie höfl. befehlen zu wollen, dass die Eintragung obiger Kinder im Zivilstandsregister in Amsterdam in dem Sinne geändert wird, dasz darin statt ›Kerkelijke Gezindte N. I.‹ (Kirchengenossenschaft N. I.) gelesen werde: ›Kerkelijke Gezindte R. K.‹ (Kirchengenossenschaft R. K.), da beide Kinder römisch katholisch erzogen werden. «10

Nur wenige Wochen später wurde der Antrag positiv beschieden. Die Entscheidung datiert vom 14. Dezember 1942.11 Unterzeichner ist der adressierte Herr Calmeyer. Die Entscheidung stützte sich im Wesentlichen auf das Urteil des Amsterdamer Landgerichts. Eigene Nachforschungen stellte die deutsche Behörde nicht an. Eine Einsichtnahme in die jüdischen Gemeindebücher oder in andere Register, die leicht Klarheit hätte verschaffen können über die Religionszugehörigkeit der Kinder, fand nicht statt.

 

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Schreiben der Eltern van Maarsen an den
»hochwohlgeborenen sehr gelehrten Herrn Dr. Callmeyer«

 

Das Dokument war lebensrettend für »Jopie« und ihre Schwester. Aber auch Samuel van Maarsen, der jüdische Vater, war so geschützt. Jüdische Partner in so genannten »Privilegierten Mischehen« wurden nicht deportiert. »Privilegiert« war eine »Mischehe« nach den Nazi-Bestimmungen, wenn die Kinder als »arisch« oder zumindest als »Mischlinge« galten. Bei den van Maarsens war das jetzt der Fall. Sie überlebten. Die Brüder und die Schwester von Samuel van Maarsen und deren Familien hingegen wurden später alle deportiert und ermordet.

Jacqueline durfte den Judenstern, den gelben Davidstern aus Stoff, den alle Juden auf ihre Kleidung aufnähen mussten, jetzt abnehmen. Sie wechselte wieder an eine andere – jetzt »arische« – Schule.12 Anne aber ging ihr nicht aus dem Kopf. Jacqueline wähnte sie allerdings in der sicheren Schweiz. Anne wiederum erfuhr schon bald, dass die van Maarsens nun außer Gefahr waren. Und sie hörte auch, dass »Jopie« jetzt viel Hockey spielen konnte.13 An Heiligabend 1943 vertraute sie ihrem Tagebuch wehmütig an: »Ich glaube nicht, dass ich eifersüchtig auf Jopie bin. Aber ich bekomme dann eine so heftige Sehnsucht, auch mal wieder Spaß zu machen und zu lachen, bis ich Bauchweh habe.«14

Jacqueline erfuhr erst nach dem Krieg von Otto Frank, was wirklich geschehen war. Annes Vater war der einzige der Versteckten aus dem Hinterhaus Prinsengracht 263, der das Morden überlebt hatte. Otto war im Januar 1945 von der vorrückenden Roten Armee in Auschwitz befreit worden. Seine Frau Edith war zu diesem Zeitpunkt schon tot. Anne und Margot starben im März 1945, wenige Tage vor der Befreiung, im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Unterernährung und Typhus. Die anderen Bewohner des Hinterhauses, die dreiköpfige Familie van Pels und der Zahnarzt Dr. Pfeffer, kamen in anderen Nazi-Lagern ums Leben.

Jacqueline van Maarsen gehörte zu den Ersten, die Otto Frank nach seiner Rückkehr im Herbst 1945 in Amsterdam aufsuchte. »Er besuchte uns fast täglich und erzählte mir von Anne an der Prinsengracht und im Lager Westerbork, wo sie noch glücklich gewesen war, weil sie nach zwei Jahren endlich wieder draußen in der Sonne sein konnte.«15 1947 schenkte Otto Frank ihr ein Exemplar der Erstausgabe von Annes Tagebuch. An einen Erfolg des Buches mochte sie damals nicht so recht glauben. Wie viele wollte auch »Jopie« den Krieg und die schreckliche Zeit zunächst einfach hinter sich lassen. So brauchte es einige Jahre. Dann aber stellte sich der Erfolg ein, und heute ist Annes Tagebuch in mehr als sechzig Sprachen übersetzt und viele Millionen Mal verkauft. Anne Frank ist Identifikationsfigur und Personifizierung von Millionen anonymer Opfer der Judenverfolgung während des Zweiten Weltkrieges.16 Und »Jopie«, Annes beste Freundin, eine gefragte Zeitzeugin. Über die Zeit mit Anne Frank hat sie in drei Büchern berichtet.17

»Jopies« Überleben war kein Zufall. Abstammungsprüfungen wie bei den van Maarsens gab es Tausende in den Niederlanden. Die »Entscheidungsstelle über die Meldepflicht aus VO 6/41« prüfte bis Kriegsende mindestens 5.700 »rassische Zweifelsfälle«. Zwei Drittel dieser Verfahren wurden positiv beschieden, das heißt, die Registrierung der Antragsteller im Bevölkerungsregister wurde umgeändert von jüdisch auf »arisch« oder »arischer Mischling«. Der günstige Ausgang so vieler Verfahren sprach sich unter den Verfolgten rasch herum. »Von dem Juristen Hans Calmeyer wussten wir damals nicht«, erinnert sich eine andere »Arisierte«.18 »In Amsterdam, im Jahre 1942 raunte man einander allerdings zu, dass es die Möglichkeit zur ›Arisierung‹ gäbe, wenn man die Einordnung als Jude erfolgreich abstreiten könne, indem man nicht-jüdische Vorfahren nachweise.« Einige aber konnten auch mit dem Namen »Calmeyer« etwas anfangen. Vor allem unter den niederländischen Anwälten und im Lager Westerbork war bald bekannt, dass Calmeyer der Leiter der Stelle war, die Juden zu »Ariern« umdeklarieren konnte.19 Der Begriff »Calmeyern« wurde zu einem Synonym für Rettung und Überleben.

Der damals 39-jährige »hochwohlgeborene sehr gelehrte Herr Dr. Callmeyer« – tatsächlich übrigens ohne Doktortitel – war eher zufällig in die Position als Entscheider über »rassische Zweifelsfälle« gelangt. Hans Georg Calmeyer, gelernter Rechtsanwalt, war kein Nazi und auch kein Judenfeind. Im Gegenteil: Er war, wie Zeugen nach dem Krieg aussagten, »gegen die ganze Judengeschichte«.20 Calmeyer war noch nicht einmal Mitglied der NSDAP, was für jemanden in dieser Position eher ungewöhnlich erscheint. 1933 hatte man ihm – er hatte als Strafverteidiger Kommunisten vertreten – vorübergehend sogar die Anwaltszulassung entzogen. Und ausgerechnet dieser aus Sicht der Nazis mindestens »problematische« Calmeyer saß jetzt auf einer Art Richterstuhl, von dem aus er über die aus Sicht der Nationalsozialisten so bedeutende »Rassenfrage«, »Arier« oder Jude, entscheiden sollte.

Der hohe Anteil positiver Entscheidungen, aber auch der Ablauf der Prüfungen, lässt vermuten, dass Hans Calmeyer und seine Mitarbeiter bei den Abstammungsprüfungen nicht gerade streng urteilten. Immerhin hatten sich die meisten der mehr als 3.700 »Arisierten« zuvor noch selbst als von jüdischer Abstammung und der jüdischen Religion zugehörig registrieren lassen. Mit Nachforschungen aber nahm es die Entscheidungsstelle nicht so genau. Eigentlich hätte man sich an den strengen Vorgaben des Berliner Reichssippenamtes orientieren müssen, der Behörde, die in Deutschland für Abstammungsprüfungen zuständig war, quasi die Modell-Instanz für die Haager Entscheidungsstelle. – Tatsächlich hielt Calmeyer sich aber nur vordergründig an die Maßstäbe aus Deutschland.

Der Schluss liegt nahe, dass der Jurist auf seinem Posten weniger im Sinne der NS-Rassengesetze, sondern eher konträr dazu agierte. Zu dieser Auffassung gelangten in den 60er und 70er Jahren auch die bekannten niederländischen Historiker Jacques Presser21 und Louis de Jong.22 Calmeyer habe in vielen Fällen falsche Abstammungsentscheidungen getroffen und wider besseres Wissen Juden zu »Ariern« umdeklariert. Dadurch habe er, so Presser, »Hunderte« vor dem sicheren Tod gerettet, de Jong sprach sogar von »annähernd 3.000«. Israels Holocaust-Forschungsstätte Yad Vashem schloss sich diesen Wertungen an und zeichnete den deutschen Juristen 1992 mit dem Ehrentitel »Gerechter unter den Völkern« aus.23 Calmeyer habe unter Einsatz des eigenen Lebens knapp 3.000 Juden vor der Nazi-Verfolgung bewahrt.24 Der gelernte Rechtsanwalt hätte danach mehr Juden vor dem Holocaust bewahrt als jeder andere Deutsche während des Zweiten Weltkrieges.

Schon frühzeitig gab es aber auch Kritik an Calmeyer. Immerhin hatte er nicht nur viele positive, sondern auch 2.000 negative Abstammungsentscheidungen zu verantworten. – Und hatte er wirklich »gerettet«? Oder war er einfach nur nachlässig auf seinem Richterstuhl? Hatte er in den Abstammungsverfahren bewusst falsch entschieden oder wurde er durch clevere Antragsteller oder deren Anwälte schlicht getäuscht? Viele der Betroffenen, aber auch Augen- und Ohrenzeugen der Abstammungsverfahren berichteten nach dem Krieg nicht von Rettungstaten Calmeyers, sondern von aufwändigen Täuschungsmanövern, mit denen man die Beamten der Besatzungsbehörde überlistet habe. Die Deutschen seien mit erfundenen Geschichten von unehelichen Geburten, angeblichen »arischen« Erzeugern und gefälschten Tauf-, Geburts- oder Heiratsurkunden hinters Licht geführt worden. Auch Jacqueline van Maarsen spricht in ihren Erinnerungen von einer »List« ihrer Mutter, die die Deutschen nicht durchschaut hätten: »Mein Mann, ein Jude, hat mich ohne mein Wissen bei der jüdischen Gemeinde als Jüdin registrieren lassen«, habe Mutter Eline unter Hinweis auf ihre christliche Taufe den deutschen Beamten berichtet, »und jetzt sind meine beiden Kinder in Gefahr«. Das gespielte Entsetzen und die klare Distanzierung von ihrem jüdischen Mann hätten Eindruck gemacht. Die List sei erfolgreich gewesen.25 Die damals 26-jährige Janny Brandes-Brilleslijper, eine bekannte Widerständlerin, die später Anne Franks qualvolles Sterben in Bergen-Belsen bezeugt hat, berichtete ebenfalls von einem »Abstammungsschwindel« in ihrer Familie. Ihr Vater sei von einem niederländischen Anwalt »mit der falschen Behauptung aus dem Gefängnis geholt« worden, dass die Mutter Nichtjüdin sei.26 Die »Moffen«, so der damals gängige Schimpfname für die deutschen Besatzer, seien auf diesen Coup hereingefallen. Von einem »Herrn Calmeyer« oder einer Entscheidungsstelle, deren Mitarbeiter sich bereitwillig überlisten ließen, war nie die Rede.

Erst vor wenigen Jahren erneuerte deshalb der niederländische Historiker Coenraad Stuhldreher die Kritik an Calmeyer. Es gebe keinerlei Beweise dafür, dass der Jurist absichtlich falsche Abstammungsentscheidungen getroffen habe. Tatsächlich sei er ein »funktionierendes Rädchen« im Getriebe der Besatzungsverwaltung gewesen. Calmeyer habe »nicht anders gehandelt, als jeder andere legalistische deutsche Beamte an seinem Platz gehandelt hätte«. Er sei deshalb »mitschuldig am Holocaust«.27 Stuldrehers Fazit: »Calmeyer hätte besser verschwinden sollen.«28

Die Kontroverse um das Wirken des »Rassereferenten« erhielt weitere Nahrung, als eine Gutachterin des angesehenen Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD) in Amsterdam ebenfalls zu einer kritischen Bewertung gelangte. Zwar gebe es objektiv falsche Abstammungsentscheidungen, es sei jedoch nicht zu klären, ob Hans Calmeyer sich bewusst habe täuschen lassen oder ob er einfach überlistet wurde. Außerdem seien durch seine ablehnenden Entscheidungen auch Tausende in den Tod geschickt worden. Calmeyer sei zwar kein Nazi gewesen, habe aber willkürlich agiert. Als Widerständler könne man ihn deshalb nicht sehen.29

Wer hat nun recht? Ein deutsches Magazin brachte die Sache auf den Punkt: »Schindler oder Schwindler?«30 – Wer war dieser Hans Calmeyer? War er ein Retter, ein Held, der »Schutzengel der Juden«, als den ihn manche bis heute verehren31, oder war er schlicht ein Schreibtischmörder, der aus Laune oder Nachlässigkeit den einen oder anderen Todgeweihten passieren ließ? – Schindler oder Schwindler?

Hans Calmeyer

Hans Georg Calmeyer wurde als jüngster von drei Brüdern am 23. Juni 1903 in Osnabrück geboren.1 Es war ein konservativ-humanistisch geprägtes Elternhaus, in dem Hans heranwuchs. Vater Georg Rudolf Calmeyer war Richter. Er machte eine typische Justizkarriere mit häufigen Versetzungen, die ihn und die ganze Familie quer durch die preußischen Provinzen führten. Mutter Elisabeth entstammte der alteingesessenen Kaufmannsfamilie Abeken, die zur Oberschicht in Osnabrück zählte. Die Abekens waren das, was man heute »Bildungbürger« nennt. Vorfahre Bernhard Rudolf Abeken hatte in engem Kontakt zu Goethe gestanden und war in Weimar Hauslehrer der Kinder Friedrich Schillers gewesen.2 »Diesem Elternhaus«, berichtete Calmeyer später, »verdanke ich eine überdurchschnittlich vielseitige Erziehung.«3

Die Brüder Alfred und Rudolf (»Rudel«) waren deutlich älter, um vier und fünf Jahre. Hans blickte zu ihnen auf, nahm sie in vielem als Vorbild. Schon als Kind fiel er durch außergewöhnliche Intelligenz und ein hohes Maß an Sensibilität auf. Der Nachbarsjunge, Schulkamerad und schließlich lebenslange Freund Eberhard Westerkamp berichtete:

»Die drei Calmeyer-Jungens, von denen Hans der jüngste war, hatten von Hause aus ihre – später hervorstechende – besondere Intelligenz, Hans, für ein primitiveres Gemüt wie mich, seinen leicht genialischen ›Abekenschen Spleen‹ dazu; […] mit einer gewissen Sonderlingszumischung.«4

Diese »Sonderlingszumischung« blieb ein Leben lang. Als »Sonderling« oder als Einzelgänger, so wurde Calmeyer von vielen gesehen, so erkannte er sich auch selbst.

Wie seine Brüder erhielt auch der jüngste eine klassisch-humanistische Schulausbildung – am Osnabrücker Ratsgymnasium, am Domgymnasium in Naumburg und vier Jahre auch am Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Gnesen, in der damals noch preußischen Provinz Posen. Griechisch und Latein wurde da »gebimst«. Fast militärischer Drill bestimmte das Lernen. – »Eine fürchterliche Penne«, schrieb Calmeyer. »In diesem Kaiser-Wilhelm-Schwitzkasten wurde ich zum überzeugten Nichtpreußen.« Zugeben musste er aber: »Auf ostdeutschen Schulen war man den gleichen Jahrgängen im Westen und Süden um gute zwei Jahre voraus.«5

Ansonsten war Calmeyers Jugend behütet und unbeschwert. Eine heile Familienwelt – bis zum Ersten Weltkrieg. Das Kriegsjahr 1918 wurde auch für die Calmeyers zu einem Schicksalsjahr. Hans’ Brüder, der 21-jährige »Rudel« und der 20 Jahre alte Alfred, starben im belgischen Flandern den »Heldentod für Kaiser und Vaterland«. Im Abstand von nur vier Tagen erreichten den Vater zwei Todesnachrichten:

»Im Felde, den 26.IV.18

Mit aufrichtiger Trauer muss ich die traurige Pflicht erfüllen, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn Rudolf, der als Fahnenjunker in meiner Batterie diente, am 25.IV. abends gegen 9 Uhr gefallen ist. Er fiel bei den Kanonen in Feuerstellung in treuester Erfüllung seiner Soldatenpflicht durch den Volltreffer einer englischen Granate. Sie traf so unglücklich, dass ihm das rechte Bein vollständig, das linke Bein zum größten Teil abgerissen wurde. Auch der Unterleib war teilweise zerrissen.«6

Sohn Alfred versuchte mit paralleler Post, den Schmerz der Eltern wenigstens etwas zu dämpfen:

»Gestern Abend ist Rudel gefallen. Er hat einen wunderschönen Tod gehabt, hat bis zum Ende nicht die geringsten Schmerzen gehabt. Ein großer Splitter hat ihn in der Herzgegend getroffen. Die 5 Minuten, die er noch lebte, hat er besinnunglos gelegen. Sein Gesicht zeigt nicht die geringste Spur eines Leidens oder eines großen Schmerzes, ist auch gar nicht verletzt. […] Wie oft haben wir Soldaten uns einen solchen Tod gewünscht. Denn wir fürchten ja nicht den Tod, nur die Wunden. […] Dankbar müssen wir dem lieben Gott sein, dass er ihn so friedvoll und schmerzlos hat sterben lassen.«7

Für sich selbst stellte er in Aussicht:

»Die Ablösung steht unmittelbar bevor. Die Verluste sind zu groß. Und wir hier im Felde hoffen mit Bestimmtheit auf einen baldigen Frieden. – Ihr lieben, lieben Eltern bald komme ich auf Urlaub.«

 

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Schüler Calmeyer in Gnesen 1915

 

Dazu sollte es nicht mehr kommen. Stattdessen, nur vier Tage später, ein zweiter Brief:

»Nun hat der Soldatentod auch Ihren Ältesten dahingerafft. Am Sonntag haben wir den Jüngeren zur letzten Ruhe bestattet. Und so schnell sollte der Ältere folgen! […] Ich höre gemeldet, dass der Ärmste in der Feuerstellung einen Bauchschuss erhalten haben soll, dem er auf dem Transport zum Verbandsplatz erlegen ist.«8

Ein Schock, ein tiefer Schnitt für die ganze Familie – die Eltern zerbrachen fast daran. 1930 fuhr Calmeyer mit seiner Mutter ins nordfranzösische Sailly sur la Lys und besuchte die Gräber von Rudel und Alfred. Noch Jahre und Jahrzehnte später fühlte er sich von den verstorbenen Brüdern begleitet. »Sie blieben mir Instanz, durch fünf Jahrzehnte hindurch. Und immer wieder befragt die Jung-Gefallenen der kleine Hans.«9 Als 22-jähriger Student notierte er in seinem Tagebuch:

»Noch ist die Melodie meines Lebens nicht gefunden, noch finde ich zweierlei Menschen in mir, Rudel und Alfred, aber irgendwo klingen vielleicht schon ein paar Akkorde; mir selbst, diesen Blättern unfühlbar, unerkennbar, wächst ein Inhalt heran.«10

1946 hielt er fest:

»Die zwei älteren Brüder fallen Ende des Ersten Weltkrieges […], wirken aber in dem allein zurückbleibenden Jüngsten noch lange nach. Die disziplinierte Geistigkeit und logische Bestimmtheit des älteren Bruders begleiten ihn auf seinem Bildungsweg als Jurist, die musische Empfänglichkeit und Begabung des zweiten Bruders erschliessen ihm Dichtung und Musik, Rilke und Bach.«11

Im Februar 1922 bestand Hans Calmeyer sein Abitur. Dem Vorbild und Wunsch des Vaters folgend, entschied sich der 18-Jährige für das Jurastudium. »Ein ausgeprägtes Empfinden für Rechtlichkeit ist Erbgut der im hannoverschen Land bodenständigen Familie«, schrieb er später.12 Ein Semester in Freiburg, eines in Marburg, zwei in München, die restlichen vier im thüringischen Jena. Und wie der Vater wurde auch Hans Calmeyer zunächst Mitglied einer schlagenden Studentenverbindung. »In Freiburg, da trug er noch einen ›Stürmer‹ auf dem Kopf, war also Corpsstudent«, erinnerte sich ein Kommilitone.13 Es war das Corps Hasso Borussia im Kösener SC.14 Konservativ und vor allem national eingestellt waren diese Corps.

Auch an der Münchener Universität blieb Calmeyer seiner nationalkonservativen Orientierung zunächst noch treu. Mit seinem Freund Eberhard Westerkamp, mit dem er sich in München eine »Bude« teilte, besuchte er im Zirkus Krone »aus Neugier« eine »politische Massenversammlung« der damals noch jungen und unbedeutenden NSDAP. Hauptredner: Adolf Hitler, »von dem man so viel hörte hier in Bayern«.15 Bei alledem, so Westerkamp, »war unser nationalpolitisches Engagement gleich bleibend auf Hochtouren«. In München beteiligten sich die Studiosi an »freiwilligen militärischen Geländeübungen«. Calmeyer wurde sogar Mitglied des berüchtigten »Freikorps Epp«.16 »Innerhalb dieses Verbandes erfolgte die Ausbildung mit der Waffe der aktiven Maschinengewehrkompanie in München«, schrieb er. »Freikorps«, wie das des Franz Ritter von Epp, damals wehrpolitischer Sprecher der NSDAP, waren irreguläre Freiwilligentruppen, die sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg vielfach in Deutschland gebildet hatten. Sie rekrutierten sich überwiegend aus ehemaligen Soldaten, die in der – gemäß den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages – stark reduzierten Reichswehr keinen Platz mehr gefunden hatten. Diese Paramilitärs bildeten nun die sogenannte Schwarze, weil verbotene, Reichswehr. Politisch war die Ausrichtung streng konservativ bis extrem rechts. Ursprünglich nach der Novemberrevolution 1918 gebildet, um die neue Regierung des Rates der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert zu stützen, engagierten sich die Freikorps von Anfang an auch in paramilitärischen Auseinandersetzungen gegen sozialistische oder kommunistische Gruppen.17 Die Freikorpseinheiten bildeten das Reservoir, aus dem später Rechtsparteien wie die NSDAP und deren Wehrverbände, die SA und die SS, ihr Personal rekrutierten. Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, SA-Chef Ernst Röhm und Hitlers Rechtsberater Hans Frank – sie alle waren Mitglieder des Freikorps Epp.

 

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Kriegsversehrter an Rudolf Calmeyers Grab
im nordfranzösischen Sailly sur la Lys

 

Als Mitglied des Freikorps Epp erlebte Calmeyer auch den 9. November 1923 in München, den sogenannten Hitler-Putsch, Hitlers ersten – gescheiterten – Versuch, an die Macht zu gelangen. 1923 war ein Krisenjahr für die junge deutsche Demokratie: Rasende Inflation, Rekord-Arbeitslosigkeit, zahlreiche Streiks, Armut, Hunger und der Einmarsch der Franzosen ins Rheinland bestimmten das politische Geschehen. In diesem Chaos versuchten links- wie rechtsextreme Kräfte den Sturz der gewählten, aber wenig geschätzten Regierung. Hitler, als Vorsitzender der NSDAP und der angesehene Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff unternahmen, unterstützt von Freikorpseinheiten, einen Putschversuch von rechts.18 Der symbolische Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle geriet jedoch zum Misserfolg. Die bayerische Polizei verteidigte die amtierende Regierung und stoppte den Marsch. Hitler wurde verhaftet.

Calmeyer betonte später, er habe am 9. November nicht mitgemacht, sei nur Zuschauer gewesen. Der gescheiterte Putsch habe ihm vielmehr die Augen geöffnet:

»Der 9. November 1923 findet Calmeyer in München als Angehörigen einer Studentenkompanie der Schwarzen Reichswehr, nicht aber als Gefolgsmann Hitlers. Ja das Erlebnis dieses Tages trennt den manchmal schon bei Altersgenossen und Freunden als unheilbaren Idealisten und Juristen bezeichneten Aktivisten von vielen Freunden und endgültig vom Nationalismus, sei es nun der Prägung eines Kapp, eines Ehrhardt, eines Ludendorf(f) oder eines Hitler.«19

Ob der 20-Jährige tatsächlich nur zusah oder am Marsch auf die Feldherrnhalle beteiligt war, ist heute nicht mehr zu klären. Kommilitone Eberhard Westerkamp hat keinen Bericht hinterlassen. Das »hautnahe« Erleben des Hitler-Putsches muss Calmeyer jedoch nachhaltig beeindruckt haben. Mag er die Rechten, wie viele der damals jungen Generation, eine Zeitlang für Revolutionäre gehalten haben. Jetzt, nach dem gescheiterten Putschversuch, wandte er sich umso konsequenter ab. Der Student sympathisierte zwar weiter mit revolutionären Ideen, von jetzt an schlug das Pendel aber wohl eher nach links aus. Manche meinen, er sei fortan zum Anhänger der USPD, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, einer linken Abspaltung der Sozialdemokratischen Partei (SPD), geworden.20 Belege dafür gibt es allerdings nicht. Calmeyer selbst erklärte:

»Auslandsreisen nach Italien und der Schweiz und die das Studium abschliessenden zwei Jahre an der Universität Jena machen C. für seine Freunde zum ›unheilbaren Sozialisten‹. Seine Neigungen nähern ihn dem Tagebuch-Kreis, Leopold Schwarzschild, Tucholsky, Ossietzky.«21

Politisch passte Calmeyer zeitlebens in keine Schublade. Einer Partei gehörte er nie an. Freunde beschrieben ihn als »leidenschaftlichen Oppositionellen, der sich gerne auf die Seite der Schwächeren« schlug. Der Jurist habe es »geliebt zu opponieren und die sogenannte gute Gesellschaft, die vielfach aus reichlich verschlafenen und gleichgültigen Teilen des Bürgertums besteht, durch extravagante Ideen in Aufregung zu versetzen«.22 Schon seine äußere Erscheinung war individuell: In besonderer Weise achtete er auf seine Kleidung, statt Krawatte trug er Fliege und später nicht selten eine auffällige Baskenmütze. Nach außen Bonvivant, war Calmeyer im Denken Idealist, Querdenker, ein Stück weit »linker Rebell«23, aber auch von seinen konservativen Wurzeln nie losgelöst. Er konsumierte linksliberale Blätter wie die »Weltbühne« oder das »Tagebuch«, war zugleich aber Abonnent bürgerlicher Publikationen, z. B. der Vossischen Zeitung, der Zeitung des liberalen Bürgertums.24 Der »Freigeist« liebäugelte mit sozialistischen und pazifistischen Idealen, sammelte mit Leidenschaft aber auch Zinnsoldaten und behielt in seinem Bekannten- und Freundeskreis überwiegend Bürgerliche und Konservative. »Eigenwillig«, »widerspenstig«, »sonderlich« – so blieb Calmeyer seinen Zeitgenossen in Erinnerung. »So innig unsere jahrelange Spielkameradschaft war, so höchstpersönlich kontrastreich wurde die Freundschaft zwischen Hans und mir«, schrieb der konservative Eberhard Westerkamp.25

Im Februar 1924 verließ Calmeyer München und wechselte an seine letzte Studienstation ins thüringische Jena. »Unter so viel gelehrten Gesichtern und selbstbewussten Freunden dieser kleinen großen Stadt« fühlte sich der 21-Jährige »sehr unbedeutend«.26 Das Verbindungsleben hatte er aufgegeben, übernahm aber – »der Eitelkeit ist Genüge getan« – den Vorsitz in einer »Juristischen Vereinigung«.27 In dieser Funktion organisierte das »Juristenbaby«28 Lesungen oder Debattierabende für seine Kommilitonen. Schließlich rückte die Prüfung näher: »Die drohenden Examenssorgen […] Mir muss scheinbar immer erst das Wasser bis zum Hals gehen, bis ich schwimmen lernen will«, notierte er im Sommer 1925.29 Und zwei Tage vor der Prüfung: »Was nützt mir ein Erfolg? Ich werde tags darauf wieder denselben Weg gehen. Wie oft frage ich, ob es nicht besser sei, die Niederlage zu erleben, um zu lernen. Aber dann geht alles in mir hoch. Es ist furchtbar, 2ter zu sein.«30 Calmeyer wurde Erster. Sein Erstes Staatsexamen bestand er im Dezember 1925 am hannoverschen Oberlandesgericht in Celle mit der für Juristen herausragenden Note »gut«. Eberhard Westerkamp adressierte:

»Es ist klar: Du bist nun einmal der Begabtere […] Ich finde Dein Resultat glänzend: Große Arbeit ›Sehr gut‹, wie Du und Otto31 es kaltlächelnd geschafft habt, ist ein in Celle seit Menschengedenken nicht mehr dagewesenes Ereignis. Dazu kann man Euch tatsächlich gratulieren! Ihr würdet Eure Arbeiten wohl fast als Dr. Arbeiten einreichen können?«32

Die anschließende Referendarausbildung absolvierte Calmeyer in Celle, Naumburg, Köln und Berlin. 1929 starb drei Jahre nach seiner Pensionierung der Vater. Dennoch blieb die Referendarzeit in guter Erinnerung. Der 23-Jährige hatte seine große Liebe kennengelernt. 1926 in Berlin. Ruth Labusch, aus Dresden, zwei Jahre jünger, aus großbürgerlichem Hause:

»Und schließlich fuhr ich brav heim. Glücklich und dankbar. Denn inzwischen war Ruth in mein Bewusstsein getreten. Ob es besser gewesen wäre, wir hätten uns nicht wieder gesehen? Ihr mögt so denken, ich kann es nicht gut. […] Nein, diese Liebe bleibt das Größte, was das Jahr mir schenkte.«33

Anfang Januar 1930 wurde in Berlin geheiratet. Sohn Peter war da schon »unterwegs«. Die Assessorprüfung wenig später bestand der Jurist wie das erste Examen mit überdurchschnittlichem Ergebnis.

Calmeyers Interessenspektrum war breit gefächert. Die Juristerei war das berufliche Fundament. Daneben interessierten ihn Politik, Kunst, Kultur und vor allem Literatur. Er liebte das studium universale:

»Ich lade mich mit Gedankenmist, indem ich mich einen ganzen Nachmittag hinter Bücher, Zeitungen, Schriften setze. Mein Kopf ist bis zum Platzen gefüllt mit dem Krimskrams, aber ich brauche das. Mit entsetzlicher Gier schlinge ich alles hinunter: Kunst, Jugendbewegung, Politik, Literatur – ob ich es jemals verwende?«34

 

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Beim Segeln 1926

 

Calmeyers »Wunschtraum«, so sagte er später, war »die akademische Karriere«, allerdings nicht in der Juristerei, sondern in der Sozial- oder Politikwissenschaft. »Das geopolitische Seminar in München verdrängte fast das Studium der Rechte.« Von einem »Assistentenposten im geopolitischen Institut Prof. Mendelssohn-Bartholdys« an der Universität Hamburg habe er geträumt.35 Calmeyer war über die Lektüre der Institutszeitschrift Europäische Gespräche auf diese neue Einrichtung aufmerksam geworden. »Wirklich wohl mein Gebiet«, notierte er in seinem Tagebuch.36 Dieses welt- und friedenspolitische Forschungsinstitut, geführt von dem Völkerrechtler und Politikwissenschaftler Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, war damals eine Kaderschmiede außenpolitischer Vordenker. Weltgewandte Politik statt nationaler Beschränkung. Mendelssohn-Bartholdy, Urenkel des Philosophen, Enkel des Komponisten, hatte als Berater der deutschen Delegation die Versailler Friedensverhandlungen begleitet.37 Calmeyer liebäugelte für seine geplante Promotion bereits mit einem Thema aus dem Völkerrecht.38 Auch der diplomatische Dienst reizte ihn. In Berlin wandelte er andächtig vor dem Gebäude des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmstraße auf und ab und hatte »eine grenzenlose Neugier auf die Zukunft«.39

 

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Hans 1931

 

Realität jedoch verdrängte die Träumereien. »Heirat und großes Staatsexamen«, so Calmeyer, »machen ihn aber für zweieinhalb Jahre zum jungen Staatsanwalt in Mitteldeutschland«. Er hatte sich zunächst für die klassische juristische Karriere entschieden. Die Beurteilungen fielen gut aus. Assessor Calmeyer sei »besonders befähigt, gut beschlagen, sorgfältig und gewandt«:

»Wenn er mit der Erledigung seines Dezernats gelegentlich immer wieder in Rückstand gekommen ist, so ist das nicht auf Mangel an Fleiß, sondern darauf zurückzuführen, dass er sich mit den einzelnen Sachen noch etwas zu lange aufhält. Er wird niemals eine Sache leichthin erledigen.«40

 

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Ruth 1931

 

Die Arbeit als Staatsanwalt in Halle an der Saale machte Calmeyer aber nicht wirklich glücklich. Schon 1932 kehrte er der Sicherheit des Staatsdienstes den Rücken und zog »den freien Beruf des Anwalts einer Einspannung in die Enge einer Beamtenlaufbahn vor«. Im Übrigen habe sich »zu dieser Zeit in der Beamtenschaft die nationalsozialistische Welle schon auszuwirken« begonnen.41

Calmeyer ging zurück in seine Geburtsstadt Osnabrück. Die Verbindungen dahin hatte er nie abbrechen lassen. Im Gegenteil: Mit dem Tod der Brüder und dem des Vaters war die Verbindung zu seiner Mutter zunehmend enger geworden. In Osnabrück eröffnete der Jurist eine Anwaltspraxis. Die Advokatur gab ihm die »Befriedigung, sich sozial betätigen zu können«.42 Zu seinen Schwerpunkten zählte die Strafverteidigung. Calmeyer vertrat dabei auf Vermittlung der »Roten Hilfe Deutschland«, einer Selbsthilfeorganisation der Kommunistischen Partei, mehrfach auch Kommunisten. In den Verfahren ging es unter anderem um Körperverletzungsdelikte in Zusammenhang mit politischen Auseinandersetzungen, die die Betroffenen mit nationalsozialistischen Aktivisten ausgefochten hatten. Ein Fall beispielsweise betraf eine Schlägerei zwischen Kommunisten und SA-Trupps im Anschluss an eine Hitlerkundgebung in Osnabrück im Juli 1932.43

Nach der Machtübernahme im Januar 1933 wurden diese Mandate für Calmeyer zum Problem. Das politische Klima hatte sich rasch und grundlegend verändert. Die Nazis übten jetzt Rache – an Kommunisten und Sozialisten, aber auch an denen, die sie in deren Dunstkreis vermuteten. Bereits im Februar 1933 erging die »Verordnung zum Schutze von Volk und Staat«44, die sogenannte Reichstagsbrandverordnung. Damit wurden qua Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten die Grundrechte der Weimarer Verfassung ausgesetzt. Die Regierung erhielt umfassende Sondervollmachten »zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«. Das wahre Ziel dieser Verordnung: die möglichst zügige Ausschaltung aller Gegner der »nationalen Revolution«, also besonders von Kommunisten und Sozialisten. Wer als Anwalt Kommunisten verteidigt hatte oder dies sogar jetzt noch tat, stand nun selbst unter Verdacht, Kommunist zu sein, zumindest aber mit den Kommunisten zu sympathisieren. Calmeyer hielt das nicht ab. Er übernahm sogar neue Mandate, bei denen die »Genossen« bereits auf der Grundlage der neu erlassenen Verordnung angeklagt wurden. – Bedenken kamen aber auch ihm jetzt. Einem Anwaltskollegen flüsterte er auf dem Gerichtsflur zu: »Ich habe hier noch einige Kommunisten zu verteidigen. Kann man das jetzt eigentlich noch riskieren?«45

Die Frage war berechtigt. Und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Im April 1933 richtete ein Osnabrücker Einzelhändler – Calmeyer war bei ihm als Konkursverwalter eingesetzt worden – eine Dienstaufsichtbeschwerde an den Preußischen Justizminister. Der Vorwurf: Der Anwalt verwalte den Konkurs nicht ordnungsgemäß, im Kern aber: Calmeyer sei »marxistisch-kommunistisch eingestellt«. Er beschäftige jüdisches Personal; Sozialdemokraten und Kommunisten gäben sich in seiner Kanzlei »die Türe in die Hand« und: Calmeyer gelte als »Vertrauensmann der äußersten Linken und des Linksradikalismus«.

 

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Badeausflug

 

Zwar ließen sich Unregelmäßigkeiten im Konkursverfahren nicht feststellen, gleichwohl veranlasste der Präsident des zuständigen Oberlandesgerichts (OLG) Celle die »Prüfung des Rechtsanwalts Calmeyer im Hinblick auf Betätigung im kommunistischen Sinne«. Für den gerade 29-jährigen Berufsanfänger eine sehr ernste Angelegenheit. Wer sich als Anwalt »im kommunistischen Sinne« betätigte, dem drohte nach dem ebenfalls durch die Nazis neu erlassenen »Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft«46 der Entzug der Zulassung, praktisch also ein Berufsverbot.

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