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Walter Manoschek

»Dann bin ich ja ein Mörder!«

Adolf Storms und das Massaker
an Juden in Deutsch Schützen

WALLSTEIN VERLAG

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Inhalt

Einleitung

Die ersten Judenmorde der SS-Division »Wiking« in Polen und der Ukraine im Juli 1941

Adolf Storms Einsatz an der Ostfront

Antisemitische Maßnahmen in Ungarn

Jüdische Arbeitskommandos

Deportationen bis Juli 1944

»Leihjuden«: Die Todesmärsche der ungarischen Juden im Herbst 1944

Die ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen beim Bau des Südostwalls

Die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter in Deutsch Schützen

29. März 1945: Das Massaker in Deutsch Schützen

Die Todesmärsche ungarisch-jüdischer ZwangsarbeiterInnen auf österreichischem Gebiet

Die Todesmärsche im Kontext der nationalsozialistischen »Endphasenverbrechen«

Das Schicksal der »Strasshofer Austauschjuden«

Die Organisation der Todesmärsche nach Mauthausen und Gunskirchen

Fluchten

Der Marsch von Deutsch Schützen nach Hartberg

Der Todesmarsch von Hartberg nach Mauthausen und Gunskirchen

Verbrechen der Waffen-SS-Division »Wiking« an ungarischen Juden beim Südostwallbau

Adolf Storms und das Kriegsende

Dachau: Vom KZ zum US-Internierungslager

Adolf Storms im Internierungslager Dachau

Der Volksgerichtsprozess gegen die HJ-Führer

»Ich hatte mit diesen Erschießungen überhaupt nichts zu tun.« Der Geschworenenprozess gegen HJ-Bannführer Alfred Weber

Das Auffinden des Massengrabes 1995: Kriegsgrab oder Tatort?

»Mit etwa 12 Kubikmeter Fertigbeton wäre das Problem gelöst«

»Hier hausen Adolf und Enkel«

»Dann bin ich ja ein Mörder!«

»Ermittlungen gegen mutmaßlichen NS-Verbrecher«

Gelogen? – Verdrängt? – Vergessen? – oder die Grenzen des Sagbaren

Adolf Storms: Ein ganz gewöhnlicher Nazi?

Elfriede Jelinek über den Film »Dann bin ich ja ein Mörder!«

Abkürzungen

Quellen und Literatur

Einleitung

Leitstern unserer Untersuchungen ist letztlich nur ein einziges Wort: »Verstehen«.

Marc Bloch, kurz vor seiner Ermordung durch die Nazis1

 

Es war nicht schwer, Adolf Storms zu finden. Der Name des ehemaligen SS-Unterscharführers stand im deutschen Telefonbuch. Er lebte seit 60 Jahren unbehelligt an derselben Adresse in einer Kleingartensiedlung am Rande von Duisburg. Zeugenaussagen und Prozessunterlagen beschuldigten ihn, an einem nahezu vergessenen Massaker an Juden in Österreich beteiligt gewesen zu sein.

Im November 2009 erhob die Staatsanwaltschaft Dortmund gegen Adolf Storms Anklage wegen Mordes und Beteiligung am Mord. Dem damals 90-jährigen ehemaligen Mitglied der Waffen-SS-Panzer-Division »Wiking« wurde vorgeworfen, am 29. März 1945 gemeinsam mit zwei anderen SS-Angehörigen in einem Waldstück im burgenländischen Deutsch Schützen zumindest 57 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter ermordet zu haben. Darüber hinaus wurde der pensionierte Fahrdienstleiter der Deutschen Bahn beschuldigt, im Anschluss an das Massaker beim Marsch von etwa 450 jüdischen Zwangsarbeitern von Deutsch Schützen nach Hartberg einen nicht mehr gehfähigen Juden mit einem Genickschuss erschossen zu haben.

Nach Deutsch Schützen, einer kleinen österreichischen Gemeinde direkt an der ungarischen Grenze, waren ab Beginn des Jahres 1945 etwa 500 jüdische Männer aus Ungarn zur Zwangsarbeit deportiert worden. Sie verrichteten Schanzarbeiten für den Bau einer Reichsschutzstellung, dem sogenannten Südostwall, eines Grabensystems, das von der Slowakei entlang der österreichisch-ungarischen Grenze bis nach Slowenien verlief und das Vordringen der Roten Armee auf reichsdeutsches Gebiet verhindern sollte. Die in Deutsch Schützen eingesetzten Juden waren eine Gruppe von insgesamt mehreren zehntausend Juden und Jüdinnen aus Ungarn, die entlang der österreichisch-ungarischen Grenze Grabungsarbeiten verrichten mussten. Als Ende März 1945 die Front bereits unmittelbar an der Grenze verlief, gab der Reichsführer-SS Heinrich Himmler den Befehl, alle beim Südostwallbau eingesetzten Juden und Jüdinnen ins KZ Mauthausen zu treiben, um sie nicht in die Hände der Roten Armee fallen zu lassen.

Im Juli 2008 flog ich nach Duisburg, um mit Adolf Storms persönlich Kontakt aufzunehmen. Ich läutete an seiner Haustür, stellte mich vor und fragte ihn, ob er bereit wäre, mit mir ein Interview über seine Kriegsvergangenheit zu führen. Zu meiner Verblüffung stimmte er dem zu und bat mich ins Haus. Es blieb nicht bei diesem einen Gespräch. Insgesamt 15 Stunden interviewte ich ihn vor laufender Kamera über seine Kriegserlebnisse und über das Massaker in Deutsch Schützen.

Als wir im September 2008 die Gespräche beendeten, war es Adolf Storms klar, dass die Beweislast gegen ihn erdrückend war. Doch wir sprachen nie über die Konsequenzen. Rechnete er nicht damit, dass ich die Staatsanwaltschaft einschalten würde? Hatte er mich mit dem unbeirrten Beharren auf seine Erinnerungslücke belogen oder ist nicht vielmehr seine Bereitschaft zum Gespräch als ein verstecktes Geständnis zu interpretieren? Oder versuchte er mich als »Testperson« für seinen möglichen Mordprozess zu missbrauchen? Korrespondiert seine Nicht-Erinnerung an die Morde nicht auffallend mit dem allgemeinen Nicht-Erinnern daran, dass in den letzten Kriegswochen auf offener Straße und vor den Augen der österreichischen und deutschen Bevölkerung auf den Todesmärschen in die auf reichsdeutschem Gebiet liegenden KZ Zehntausende jüdische und nichtjüdische Häftlinge erschossen wurden, verhungerten oder vor Erschöpfung zugrunde gingen? Von diesem letzten Akt des Holocaust und des Vernichtungswahns, ausgeführt von KZ-Personal, Waffen-SS, Zivilisten, lokalen Volkssturm-, HJ-, Gendarmerie- und Polizeieinheiten vor der Haustüre, wollte die Bevölkerung nichts gewusst haben?

Die Gespräche mit Adolf Storms sowie mit Johann Kaincz und Fritz Hagenauer – zwei tatbeteiligten HJ-Führern – bilden das Ausgangsmaterial für dieses Buch. Der Inhalt beschränkt sich nicht auf die Rekonstruktion des Tatgeschehens in Deutsch Schützen. Beginnend mit den Judenmorden der SS-Division »Wiking« in Polen und der Ukraine und der handlungsleitenden Ideologie der Waffen-SS wird die Kriegsgeschichte von Adolf Storms im Ostkrieg nachgezeichnet und rekonstruiert, wie er im März 1945 nach Deutsch Schützen gelangte und dort auf die 500 jüdischen Zwangsarbeiter traf. Deren Anwesenheit war das Ergebnis der antisemitischen Politik Ungarns zum einen und den Deportationsanstrengungen von Adolf Eichmanns Sondereinsatzkommando. Der überwiegende Teil der nicht nach Auschwitz deportierten ungarischen Juden und Jüdinnen wurde an die österreichisch-ungarische Grenze getrieben und verrichtete ab Winter 1944/45 Sklavendienste als Schanzarbeiter am Südostwall. So auch Ernö Lazarovits, Moshe Zairi und Ladislau Blum, die aus ihrer Sicht das Leben und das Überleben des Massakers in Deutsch Schützen bzw. des Todesmarsches ins KZ Mauthausen beschreiben.

Dieser multiperspektivische Ansatz sowohl von Opfer- als auch von Täterseite ermöglicht eine dichte Beschreibung des Geschehens.

Nach Kriegsende gelangte Adolf Storms ins US-Internierungslager Dachau und kehrte 1947 nach Duisburg zurück, wo er eine biedere Beamtenkarriere bei der Deutschen Bundesbahn absolvierte und erst 2009 von der Justiz wegen Mordes angeklagt wurde. Hingegen standen die zum Tatzeitpunkt 16-jährigen HJ-Führer bereits 1946 vor einem österreichischen Gericht und wurden wegen Beihilfe zum Mord zu Haftstrafen verurteilt. Ihr ehemaliger Vorgesetzter, HJ-Bannführer Alfred Weber, tauchte nach Kriegsende unter und wurde erst 1956 vor Gericht gestellt. Er hatte gemeinsam mit Adolf Storms und zwei weiteren unbekannten SS-Männern die Ermordung aller 500 Juden beschlossen. Ein österreichisches Gericht sprach Weber frei.

1995 wurde das Massengrab in Deutsch Schützen entdeckt. Doch statt strafrechtliche Ermittlungen gegen die Täter einzuleiten, beschränkte sich das österreichische Innenministerium darauf, eine Gedenktafel aufzustellen. Über das Massaker schien nun endgültig Gras zu wachsen. Erst der Student Andreas Forster stieß im Frühjahr 2008 beim Studium von Prozessakten auf den Namen Adolf Storms. Ihm ist es zu verdanken, dass 63 Jahre nach der Tat Adolf Storms gefunden, das Verbrechen nochmals juristisch aufgerollt, dieses Buch geschrieben und ein Dokumentarfilm gedreht werden konnte.

Stefanie Mürbe danke ich für die professionelle und konstruktive Betreuung seitens des Verlages, Hartmut Schönfuss für die orthographischen Korrekturen und Yad Vashem (Jerusalem) für die Gewährung eines viermonatigen Stipendiums zur Fertigstellung des Buches.

Mein besonderer Dank gilt Hannah Stippl, die sowohl das Buch als auch den Film von Anfang an begleitet hat. Ihre Kommentare, Anregungen und Kritik waren mir eine große Stütze. Sie hat immer an das Buch- und Filmprojekt geglaubt. Insbesondere auch in jenen Phasen, in denen mich mein Mut im Stich zu lassen drohte. Ihr ist dieses Buch gewidmet.

Die ersten Judenmorde der SS-Division
»Wiking« in Polen und der Ukraine
im Juli 1941

Adolf Storms hatte bereits eine typische nationalsozialistische Karriere hinter sich, als er am 1. März 1942 der Waffen-SS beitrat. Als Mitglied bei der Allgemeinen SS seit Oktober 1941, als gottgläubiges2 NSDAP-Mitglied seit Januar 1942, bedeutete sein freiwilliger Beitritt zur Waffen-SS, dass er dem NS-Regime auch mit der Waffe in der Hand im ideologisch exponiertesten Teil der kämpfenden Truppen dienen wollte.3 Er wurde Schütze bei der 8. Kompanie des SS Schützen Regiment 10, Westland, der 5. SS-Division »Wiking«.

Zu diesem Zeitpunkt war die Division bereits seit acht Monaten im Kampf gegen die Sowjetunion eingesetzt. Mit Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 hatte sie die deutsch-sowjetische Demarkationslinie überschritten und am 30. Juni die Stadt Lemberg erreicht. Nachdem in den Lemberger Gefängnissen mehrere Hundert Opfer des sowjetischen Geheimdienstes entdeckt worden waren, hatte die ukrainische Bevölkerung ein Judenpogrom initiiert, das von den eintreffenden Wehrmachtsverbänden und einem Vorkommando des Sonderkommandos 4b der Einsatzgruppe C ausgeweitet wurde. Insgesamt wurden etwa 4000 Juden erschlagen oder erschossen, wobei sich Soldaten des Regiments »Westland« der SS-Division »Wiking« an diesem Massenmord eifrig beteiligten.4 Offensichtlich betrieben die SS-Soldaten das Judenpogrom als Freizeitvergnügen. So notierte der in Lemberg stationierte Generalstab der 17. Armee lakonisch: »Einzelne Angehörige der Division gehen inzwischen auf Juden jagen (sic!).«5

Im 130 Kilometer entfernten Tarnopol, wo etwa 18.000 Personen als Juden galten, spielten sich fast zur gleichen Zeit ähnliche Gewaltorgien gegen die jüdischen Bewohner ab, in die andere Einheiten der Division »Wiking« involviert waren. Unmittelbar nach der deutschen Besetzung der Stadt fand man die Leichen einiger Hundert Ukrainer und einiger deutscher Soldaten, die der sowjetische Geheimdienst NKWD kurz vor dem Abzug der Roten Armee ermordet hatte. Daraufhin setzten Ukrainer ein Judenpogrom in Gang, das von deutscher Seite tatkräftig unterstützt wurde. Tagelang wurden die jüdischen Einwohner der Stadt durch die Straßen getrieben. Während das Sonderkommando 4b der Einsatzgruppe C gezielt mindestens 127 jüdische Intellektuelle erschoss, ermordeten Soldaten der SS-Division »Wiking« gemeinsam mit Wehrmachtsangehörigen und einheimischen Zivilisten wahllos Hunderte von Juden. Im Bericht der Einsatzgruppe hieß es dazu: »Die durchziehenden Truppen, die Gelegenheit hatten, diese Scheusslichkeiten und vor allen Dingen auch die Leichen der ermordeten deutschen Soldaten zu sehen, erschlugen insgesamt etwa 600 Juden und steckten ihre Häuser an.«6

Dr. Aaron O., der das Morden überlebt hatte, beschrieb in einer Zeugenaussage nach dem Krieg den Ablauf der Mordaktion in Tarnopol:

Ukrainer, die sofort nach dem Einmarsch bewaffnet worden waren und die Deutschen unterstützten, holten die Juden aus den Wohnungen. Mehrere hundert Juden wurden in den Gefängnishof getrieben. Das geschah unter Schlägen und Misshandlungen. Dort mussten sie die Leichen, die die Russen zurückgelassen hatten, ausgraben. Die jüdischen Einwohner wurden zu Unrecht beschuldigt, an dem Tod dieser Opfer schuldig zu sein. Die Arbeitenden wurden misshandelt. Es wurden Handgranaten aus den Fenstern unter sie geworfen und zuletzt wurden sie erschossen. Das geschah nicht nur mit Billigung, sondern auch unter Mitwirkung deutscher Soldaten. Dazu kamen weitere Aktionen. Juden wurden aus den Häusern geholt und zu bestimmten Sammelplätzen getrieben. Solche Sammelplätze waren große Keller und Höfe, aber auch Synagogen, die eben eine größere Anzahl von Menschen aufnehmen konnten. Dort wurden sie erschossen. Eine der größten Schandtaten war die Vernichtung von mehreren hundert Juden in der Synagoge Jankeles. Die Synagoge wurde in Brand gesteckt. Die Juden, die sich durch die Flucht retten wollten, wurden zusammengeschossen. Mein einziger Bruder kam auch in dieser Synagoge ums Leben. Ich habe seine Leiche später dort gefunden. Auch mein Vater kam bei der Aktion um.7

In dem Gebiet zwischen Lemberg und Tarnopol hinterließ die SS-Division »Wiking« im Sommer 1941 eine blutige Spur der Vernichtung. So etwa in der Kleinstadt Zborow, wo sie Anfang Juli 1941 eine Massenerschießung durchführte. Ein Bericht der Einsatzgruppe C vermerkte dazu: »In Zborow von der Waffen-SS als Vergeltungsmaßnahme für die Greuel der Sowjets 600 Juden liquidiert.«8

Wenig später erschossen Angehörige der Division »Wiking« gemeinsam mit Einheiten des Einsatzkommandos 5 Ende Juli zumindest 1000 Juden in Berditschew.9 Das ideologische Feindbild vom »jüdischen Bolschewismus« wurde von Angehörigen der SS-Division »Wiking« schon in den ersten Tagen nach dem Überfall auf die Sowjetunion in konkrete Mordtaten umgesetzt.

Die hier beschriebenen Verbrechen an Juden zu Beginn des Russlandfeldzuges sind mit größter Wahrscheinlichkeit nur ein Ausschnitt von Taten, die diese SS-Einheit im Laufe ihres dreieinhalbjährigen Einsatzes an der Ostfront verübt hat. Da bisher die Einsatzgeschichte der Division »Wiking«, ebenso wenig wie die fast aller anderen 38 SS-Divisionen mit insgesamt etwa einer Million Soldaten,10 kritisch aufgearbeitet ist, lassen sich die von ihren Angehörigen begangenen Verbrechen nur punktuell erfassen. Erst in der Endphase des Krieges finden sich wieder Verbrechensspuren von Angehörigen dieser Division.11 Die 5. SS-Division »Wiking« hatte mit dem Judenmord bereits in den ersten Tagen nach dem Überfall auf die Sowjetunion begonnen.

Durch das Fehlen der Aufarbeitung der meisten Einsatzgeschichten der SS-Divisionen hält sich in der Öffentlichkeit zumTeil bis heute hartnäckig der hauptsächlich von SS-Veteranen selbst geschaffene Mythos, die Waffen-SS sei nicht in den Vernichtungsprozess gegen die europäischen Juden involviert gewesen. Dass die Waffen-SS vom Nürnberger Militärgerichtshof zur verbrecherischen Organisation erklärt wurde, ist bis heute kaum in das öffentliche Bewusstsein gedrungen. Wurden Kriegsverbrechen der Waffen-SS thematisiert, so gingen sie kaum über die Erwähnung weniger Einzeltaten hinaus.12 Doch geht die Dimension der von Verbänden der Waffen-SS begangenen Verbrechen weit über diese Taten hinaus. Cüppers stellt dazu resümierend fest: »Nachweislich haben fast alle SS-Divisionen Massenverbrechen begangen. Sie setzten mit dem Angriff auf Polen ein und dauerten bis in die letzten Tage des NS an. Die verschiedensten Divisionen beteiligten sich an der Ermordung der europäischen Juden, sie verübten im Zuge der ›Partisanenbekämpfung‹ Verbrechen gegen die nichtjüdische Zivilbevölkerung, erschossen als ›minderwertig‹ erachtete Menschengruppen wie Sinti und Roma, als ›Asiaten‹ diskreditierte Sowjetsoldaten oder farbige Armeeangehörige der Westalliierten.«13

Die Waffen-SS-Angehörigen verstanden sich als politische Soldaten und als Weltanschauungskrieger. Wer freiwillig der Waffen-SS beitrat, tat es aus nationalsozialistischer Überzeugung. Er musste nicht erst zum Antisemiten und zum Antibolschewisten erzogen, und es mussten ihm nicht mehr die Grundlagen der NS-Weltanschauung vermittelt werden. Vielmehr hatte die Ausbildungs- und Erziehungsarbeit zum Ziel, einen »selbstlosen, fanatischen, bis zum äußersten einsatzbereiten und auch in Krisen unerschütterlichen politischen Soldaten«14 zu formen. Die kämpfende Truppe sollte sowohl soldatisch tüchtig als auch weltanschaulich gefestigt sein. Der Hass auf den Feind war der Motor für deren mörderische Effizienz. Durch die weltanschauliche Schulung, so der Kommandeur der 10. SS-Panzer-Division »Frundsberg«, Lothar Debes, »soll jeder Mann zu einem fanatischen Hasser erzogen werden. […]. Der unbändige Haß gegen jeden Gegner, sei er Engländer, Amerikaner, Jude oder Bolschewist, der jeden unserer Männer zu höchsten Taten befähigen muß.«15 In den Schulungsmaterialien war der wesentlichste Punkt des nationalsozialistischen Antisemitsmus in einem Satz zusammengefasst: »Wenn wir den Juden aus unserem Volkskörper ausscheiden, so ist das ein Akt der Notwehr.«16

Als »Akt der Notwehr« tituliert, war damit für SS-Männer die Judenverfolgung und -vernichtung moralisch nicht verwerflich, sondern als Verteidigungshandlung zum »Schutz des deutschen Blutes« legitimiert. Diese nationalsozialistische Moral sollte für die SS-Angehörigen kein abstrakter Glaubenssatz sein. Die Zielvorstellung formulierte der Chef des Rasse- und Siedlungshauptamts, Richard Walther Darré, in dem Leitsatz: »Die SS-Männer sollen nicht vom Nationalsozialismus wissen, sondern ihn leben.«17

Bei der Vermittlung von Judenhass ging es nicht um konkrete Handlungsanleitungen zum Judenmord. Vielmehr hatte die Schulung nach dem Beginn der europaweiten »Endlösung der Judenfrage« im Sommer 1941 die Aufgabe, die Vernichtungspraxis zu legitimieren und längst vorhandene und vermittelte antisemitische Grundanschauungen und Denkmuster zu verstärken und zu verinnerlichen, wobei die physische Vernichtung zumindest unterschwellig immer gegenwärtig war.18 Die ideologische Indoktrination diente dazu, bei den SS-Männern eine grundsätzliche Akzeptanz für eine als naturgesetzliche Notwendigkeit aufgefasste Judenvernichtung zu erreichen, die hinsichtlich der anzuwendenden Mittel und Methoden flexibel und für situativ unterschiedliche Praktiken offen blieb.

Aufgrund ihrer militärischen und weltanschaulichen Ausbildung waren die Waffen-SS-Angehörigen in der sozialen Praxis multifunktional einsetzbar. Entgegen den nach dem Krieg von den ehemaligen Waffen-SSlern verbreiteten Legenden, bestand die Waffen-SS nicht nur aus militärischen Verbänden. Seit August 1940 gehörte auch das Wach- und Verwaltungspersonal der KZ zur Waffen-SS, wobei sich die KZ-Mannschaften aus der Waffen-SS selbst rekrutierten. Zwischen den Kampfeinheiten der Waffen-SS und den SS-Wachmannschaften in den Lagern fand eine ständige Fluktuation statt. Kriegsverwendungsfähige Angehörige des Lagerpersonals wurden zur kämpfenden Truppe versetzt und umgekehrt kriegsversehrte SS-Männer zur weiteren Verwendung in die KZ abkommandiert. Von den etwa eine Million Waffen-SS-Angehörigen verrichteten ungefähr 60.000 in den KZ ihren Dienst. Schätzungsweise ein Drittel dieser Männer war zwischenzeitlich zumindest vorübergehend auch in den militärischen SS-Verbänden eingesetzt gewesen.19 Ebenso rekrutierten sich die berüchtigten vier mobilen Einsatzgruppen, die den vier Heeresgruppen der Wehrmacht im Osten folgten, zu einem erheblichen Teil aus Waffen-SS-Angehörigen. So stammten im Sommer 1941 etwa 340 der insgesamt 990 Mann starken Einsatzgruppe A aus der Waffen-SS.20 Ihre Aufgabe war es, die Gebiete hinter der Front systematisch von Juden zu »säubern«. Allein vom Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 bis zum Jahresende ermordeten die vier insgesamt etwa 3000 Mann starken Einsatzgruppen etwa 500.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder.

Auch die militärischen Formationen der Waffen-SS waren in den Judenmord involviert. Wie beschrieben war die Division »Wiking« bereits in den ersten Wochen nach dem Überfall auf die Sowjetunion beim Judenmord aktiv.

Als Adolf Storms im Frühjahr 1942 zur Division stieß, hatte diese Einheit nachweislich bereits mehr als 1000 Juden ermordet.

Adolf Storms Einsatz an der Ostfront

Als Adolf Storms im Frühjahr 1942 bei seiner Einheit, der 8. Kompanie des Schützen-Regiments Westland der SS-Division »Wiking« in der Sowjetunion eintraf,21 lag diese seit Herbst 1941 in Abwehrschlachten im Donezbecken und am Fluss Mius in der südlichen Ukraine. Bis zum Spätfrühling 1942 blieb die »Wiking« in diesem Raum und führte einen Stellungskrieg.

Rostow, die Hafenstadt am Asowschen Meer, war strategisch wichtig, da sie das Einfallstor für die Einnahme der dringend notwendigen Erdölgebiete im Kaukasus war. Ende Juli 1942 begann die Kaukasusoffensive mit dem Angriff auf Rostow, an dem auch die Division »Wiking« beteiligt war. Für Storms war das seine Feuertaufe als SS-Schütze. Am 24. Juli wurde Rostow erobert und die Division unter dem Kommando des SS-Brigadeführers Felix Steiner drang weiter bis zur Erdölstadt Maikop vor, um dort die Erdölquellen zu sichern. Das Einsatzkommando 11 (EK 11) der Einsatzgruppe D rückte gemeinsam mit der Division »Wiking« vor, »die deswegen auffiel, weil sie relativ wenig Gefangene machte und Zivilisten einfach von Panzern überrollen ließ, also in ihrer Profession ebenso brutalisiert war wie die Männer des (Einsatz-)Kommandos.«22 Die enge Zusammenarbeit der Frontdivision »Wiking« mit dem EK 11 umfasste die Spionage- und Partisanenbekämpfung, wobei das EK 11 einen eigenen Vernehmungsbeamten zum Ic-Dienst, der Abwehrabteilung der SS-Division, abstellte.23 Ob diese Vernehmungen durch ein Mitglied des EK 11 auch der Ausfilterung von jüdischen Gefangenen dienten, lässt sich nicht nachweisen, ist allerdings sehr wahrscheinlich. Denn wie in allen anderen Orten war auch in Maikop die Ermordung der dort ansässigen Juden eine der ersten Tätigkeiten von Einheiten der Einsatzgruppe. In Maikop war es ein Teilkommando des EK 11, das mit dem Morden beauftragt war. Nach bewährter Manier hatte sich die ortsansässige jüdische Bevölkerung nach einem Plakataufruf zwecks »Umsiedlung« an einem festgelegten Tag beim ehemaligen NKWD-Gebäude zu melden. Dabei konnte sich das Teilkommando Kubiak auf bereits vorgefertigte Listen der Ortskommandantur der Wehrmacht stützen. Mit ihren Gepäckstücken in der Hand traten die Juden in das Innere des Gebäudes, wo sie vorerst verhört wurden und sich anschließend in einem Nebenraum entkleiden mussten, um dann nackt in einen kleinen Hof geführt zu werden. Dort wartete bereits ein Gaswagen auf sie. Von einer starken Wachmannschaft umstellt, bestiegen sie einzeln den Wagen. War der Wagen voll, verschloss ein Wachtposten die Tür, der Motor wurde vom Fahrer angelassen und nach einigen Minuten bewegte sich das Fahrzeug in Richtung des anliegenden größeren Hofes. Dort angekommen, waren die Insassen bereits erstickt und wurden in eine im Hof liegende Grube hineingeworfen. Auf diese Art und Weise wurden zumindest 200 jüdische Bewohner von Maikop ermordet. Die übrige jüdische Bevölkerung wurde zu einem außerhalb der Stadt gelegenen Exekutionsort gebracht, wo die Opfer an bereits ausgehobenen Gruben erschossen wurden.24

Das Regiment Westland sicherte einstweilen stützpunktartig in einem weiten Radius die Ölquellen von Maikop. Mitte September 1942 wurde die Division von Truppenverbänden der 17. Armee abgelöst und rückte weiter in den Ostkaukasus vor, wo sie mit dazu beitragen sollte, die wichtige Ölstadt Grosny zu erobern. Am 28. September erfolgte der Angriff der Panzerabteilung der Kampfgruppe Westland. Sie stieß auf erbitterten Widerstand. In ihrem Gefechtsbericht hieß es: »Feindliche Panzer sind vor uns, und der Gegner deckt uns mit Stalinorgel-Feuer ein. Das Regiment Westland hat schwere Verluste. […] An ein Vorwärtskommen ist hier nicht zu denken, zumal es von russischen Bombern und Jägern amerikanischen Typs wimmelt.«25

Bei diesen Kämpfen im Ostkaukasus wird auch Adolf Storms am 29. September 1942 durch ein Explosivgeschoss am Oberschenkel schwer verwundet. Nach mehrmonatigem Lazarettaufenthalt kam Storms nach Klagenfurt, wo seit Beginn des Russlandfeldzuges das Feldausbildungsbataillon 5 der Division »Wiking« lag und die SS-Freiwilligen ihre Grundausbildung erhielten. Als das Ausbildungsbataillon 1943 von Klagenfurt nach Ellwangen/Jagst (Baden-Württemberg) verlegt wurde, zog Storms mit und wurde als Ausbildner eingesetzt. Nachdem er wieder frontverwendungsfähig war, kehrte er als Ausbildner zum Feldersatzbataillon 5 und später als Waffenmeister zu seiner zwischenzeitlich in die 5. SS-Panzergrenadier-Division »Wiking« umbenannten Einheit an die Ostfront zurück.26

Das Jahr 1943 war für die Division »Wiking« geprägt von Abwehrkämpfen. Das Heft des Handelns war längst an die Rote Armee übergegangen. Die harten Rückzugsgefechte erstreckten sich oft über Hunderte von Kilometern. Über den mittleren Don ging es zurück nach Charkow. Im September 1943 begann die große Abwehrschlacht am Dnjepr. Die Dnjepr-Linie konnte nicht gehalten werden. Ende September zog das Regiment Westland bei Tscherkassy über den breiten Strom, an dem es schon im August 1941 gekämpft hatte – doch diesmal in umgekehrter Richtung.

Ende Januar 1944 gelang es der Roten Armee die 1. und 2. Ukrainische Front mit insgesamt etwa 255.000 Soldaten zu vereinigen und damit die Heeresgruppe Süd unter Generalfeldmarschall Erich von Manstein einzukesseln. Im Kessel von Tscherkassy befanden sich etwa zehn Divisionen der 8. Armee, darunter auch die SS-Division »Wiking«, insgesamt etwa 56.000 Soldaten. Unter ihnen war auch Adolf Storms. Nachdem er eine Gruppe von SS-Rekruten im Feldausbildungsbataillon auf den Kampfeinsatz vorbereitet und an die Front gebracht hatte, waren sie direkt in den Kessel von Tscherkassy geraten.

Der Kessel umfasste anfangs etwa die Fläche Belgiens. Deutsche Entsatzangriffe scheiterten am Feindwiderstand. Die Absicht der Roten Armee war es, genau ein Jahr nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad den Kessel von Tscherkassy zu einem zweiten Stalingrad werden zu lassen.

Der Kessel wurde systematisch eingeengt. Die Umgruppierungen im Kessel wurden immer schwieriger, da alle Wege wegen des Schlammes grundlos geworden waren. Auch die Benutzung des Feldflugplatzes war wegen des schlammigen Bodens nicht mehr möglich, sodass weder Material ein- noch Verwundete ausgeflogen werden konnten. Die Eingekesselten waren am Ende ihrer Kräfte. Mitte Februar 1944 war der Kessel auf sieben × acht Kilometer geschrumpft, sodass kaum noch alle Fahrzeuge darin Platz fanden.

Nachdem keine Aussicht mehr bestand, mit eigenen Kräften den Kessel zu öffnen, befahl der Chef der Heeresgruppe Süd, Erich von Manstein, den Ausbruch. Am Morgen des 17. Februar 1944 begann der Ausbruchsversuch. Alles überflüssige Material wurde vernichtet, um es nicht dem Gegner zu überlassen. Nur Panzer, Geschütze und geländegängige Fahrzeuge wurden mitgenommen. Um das Überraschungsmoment zu wahren, wurde der Ausbruch mit entladenen Gewehren und ohne Artillerievorbereitung gestartet. Rasch traf der Ausbruchsversuch auf Feindwiderstand. In den Tagesmeldungen einer der eingeschlossenen Divisionen wird der Ausbruchsversuch beschrieben:

17. 2. 1944

Am Morgen um 4.30 Uhr bleibt der eigene Angriff vor der Höhe 239,0, die der Treffpunkt mit den Entsatztruppen sein soll, im schweren feindlichen Abwehrfeuer liegen. Hier hat der Gegner eine starke Verteidigung mit Panzern aufgebaut. Ein Durchkommen ist aussichtslos, denn eigene schwere Waffen sind wegen des ungünstigen Geländes nicht mitgekommen.

Weit nach Osten ausholend fand die Führung der Angriffsspitze dann einen Weg, der weniger Widerstand bot. Aber auch hier gab es neue Schwierigkeiten. Der Gniloi-Tikitsch, ein Fluß, der noch Hochwasser und Eisschollen führt, muß bei der eisigen Kälte und unter immer stärker werdendem feindlichen Feuer durchschwommen werden. Leider wird er vielen Soldaten, die schon die Rettung vor Augen haben, noch zum Grab. Am anderen Ufer geht es dann völlig durchnässt in eisiger Kälte weiter. Die Bekleidung ist im Augenblick steif gefroren, sodaß man Arme und Beine nur mühsam bewegen kann. Immer stärker wird auch das feindliche Artillerie- und Panzerfeuer, und der Weg bis zu den eigenen Linien erscheint endlos weit.

Der Strom der nachfolgenden Truppenteile folgt diesem von den Angriffsspitzen gebahnten Weg wie eine riesige Schlange. Wo der Feind den Marsch aufhalten will, weicht sie zur Seite aus oder kämpft das Hindernis nieder, um dann wieder ihren Weg weiter fortzusetzen.

Den ganzen Tag über kämpft sich die Kesselbesatzung zu den eigenen Linien durch, die nur bis an den Ortsrand von Lissjanka, einige Kilometer südwestlich des vorgesehenen Treffpunktes, vorgekommen sind.

Die letzten Nachhuten erreichen erst in der Nacht des 18. 2. 1944 die rettenden eigenen Auffanglinien.

Wenn auch alles Material verlorengegangen ist, der größte Teil der Menschen konnte gerettet werden.27

Seine Einkesselung in Tscherkassy blieb im Gedächtnis von Adolf Storms tief verankert:

STORMS: Dann war der Kessel hinter uns zugemacht. Dann waren wir da drinnen, mit denen.

AUTOR: Mit dem ganzen »Jungfutter«?

STORMS: Ja.

AUTOR: Und von diesen Jungs werden nicht sehr viele überlebt haben? Den ersten Kampfeinsatz da drinnen im Kessel?

STORMS: Nein, da haben nicht viele überlebt. Von den Jungs nicht und von den Offizieren auch nicht.28

Der Ausbruchsversuch aus dem Kessel gestaltete sich auch für ihn infernalisch:

STORMS: Es sind sehr, sehr viele dabei gefallen. Viele Kameraden.29 Dann war es auch schwierig, wie wir so weit durch waren. Da mussten wir einen Fluss, den Gniloi-Tikitsch, überqueren. Er war nicht sehr breit, aber er hatte Eis. Und Steilufer. Auf der anderen Seite, da ging es hoch. Hinter der Höhe, da war man dann in Sicherheit. Aber da mussten sie erstmal durch. Viele haben noch versucht, Bäume zu fällen und umzulegen, dass sie über den Fluss kommen. Andere haben versucht reinzuspringen, um durchzukommen. Auf der anderen Seite war das Steilufer. Da kamen sie nicht hoch. Viele haben sich ausgezogen. Das Eis trug nicht, um so da rüberzukommen. Sie haben gemeint, wenn sie sich ausziehen, dann können sie besser schwimmen. Das stimmt allerdings nicht.

AUTOR: Wie haben Sie es geschafft?

STORMS: Ich bin da durchgeschwommen an einer Stelle. Auf der anderen Seite bin ich hochgekommen. Dann über die Hügel drüber weg. Dahinter war man in Sicherheit. Da war dann, glaube ich, die SS-Division Leibstandarte Adolf Hitler, die uns von der Seite entgegenkam, um uns zu helfen.30

Der Kessel von Tscherkassy und der erfolgreiche Ausbruch gehörten für Adolf Storms mit zu den prägendsten Erinnerungen an den Ostkrieg. Emotional und detailreich schildert er dieses Kriegserlebnis, in dem er sich ständig in Todesgefahr befand. Kurz danach, am 12. März 1944, wird Storms zum SS-Unterscharführer befördert und erhält das Eiserne Kreuz 2. Klasse.31

Die Division wurde zur Auffrischung in die Etappe nach Lublin zurückgezogen, ehe sie wieder in Białystok und im Dreieck von Bug und Weichsel zum Einsatz kam. Ende 1944 wird die Division nach Ungarn verlegt, um den von sowjetischen Panzerarmeen um Budapest gebildeten Einschließungsring zu sprengen. Zu diesem Zeitpunkt ist Adolf Storms bei seiner Einheit in der Funktion eines Waffenmeisters tätig. Der Entsatz der ungarischen Hauptstadt wird schon bald abgebrochen. Die SS-Division »Wiking« begibt sich auf den Rückzug Richtung Westen. Bei den Rückzugsgefechten werden Teile der Einheit immer wieder von sowjetischen Truppen eingekesselt oder von feindlichen Einheiten umgangen und überlaufen. Eine Hauptkampflinie gibt es nicht mehr, aufgebaute Stellungen können nur noch wenige Tage gehalten werden. Bald ging es nur mehr darum, Ausbruchstellen freizukämpfen und kurze Zeit für den Rückzug offen zu halten. Truppenteile mussten sich einigeln, Kampfgruppen saßen in abgesplitterten »Sonderkesseln« fest und warteten vergeblich auf Entsatz. Bestenfalls gelang es, die Rote Armee in einzelnen Abschnitten für ein paar Tage aufzuhalten. Weiter westwärts geht es nach Székesfehérvár (Stuhlweißenburg), der Komitatshauptstadt nordöstlich des Plattensees. Sie ist strategisch wichtig, bündeln sich doch hier Eisenbahnlinien und Rollbahnen von Budapest nach Wien, Zagreb und Graz. Am 16. März 1945 erreicht die Division »Wiking« die Stadt und wird von der Roten Armee umgehend auf breiter Front von Panzerpulks und Infanterie angegriffen. Schon zwei Tage später wird die deutsche Hauptkampflinie überlaufen, am 20. März ist die Stadt eingeschlossen, die feindlichen Truppen sind schon weit westlich der Stadt vorgestoßen:

Wir erhielten den Befehl, die Stadt unbedingt zu halten. Ich darf von mir behaupten, dass die Tage bis zum 21. März die schrecklichsten waren, die ich im Kriege erlebte. Auf den 21. März zu wurde unsere Lage in der Stadt immer verzweifelter. Der Russe hatte uns im Umgriff in den Stadtkern zurückgedrängt, wo wir in einer Mausefalle saßen. Immer noch stand ein Absetzbefehl der Division aus. Im Hinblick auf die vielen Verwundeten, die nebenan im Keller lagen, graute mir vor der nahen Zukunft. Wir waren uns klar, dass es unter diesen Umständen zu einem Kampf bis zum letzten Mann bzw. bis zur Selbstaufgabe kommen musste, da keiner dem Russen lebend in die Hände fallen wollte,32

erinnert sich ein Truppenarzt der Division.

Im Nahkampf wurde um jedes Haus gekämpft, was zu hohen Verlusten führte. Doch Hitlers Befehl lautete weiterhin, die Stadt ohne Rücksicht auf Verluste zu halten. In der Nacht vom 21. auf den 22. März nutzt die Division »Wiking« das letzte Schlupfloch aus der Stadt und setzt sich, entgegen dem Führerbefehl, aus Stuhlweißenburg ab. In Nachhutgefechten gegen sowjetische Verbände kämpfte sie sich von Abwehrabschnitt zu Abwehrabschnitt.

Einer dieser Abwehrabschnitte war die 45 km westlich von Stuhlweißenburg gelegene Stadt Veszprém:

STORMS: Am 1. Januar 1945 sind wir dann verlegt worden nach Ungarn. Es hat geheißen, wir sollten Budapest freimachen. Ich bin aber nie dahin gekommen.

AUTOR: Da hat es schwere Verluste gegeben. Die Division hat da 8000 Mann verloren in Budapest.

STORMS: Davon haben wir nicht so viel mitgekriegt. Dann ging’s dem Ende zu. Da waren wir in Veszprém am Plattensee. Dort ist unsere Kompanie in der Nacht von Russen überrannt worden. Meine Waffenkammer war unten in einem Keller. Das war ein ziemlich verwinkelter Keller. Abends ist die Kompanie ausgegangen. Ich hatte alle Waffen ausgegeben und somit hatte ich Ruhe. Da habe ich mich in meiner Waffenkammer da unten hingelegt. In der Früh, als ich aufwachte, wollte ich mal sehen, was draußen los ist. Da war nämlich so ein Kellerfenster, so eine Kellerluke, hinten raus und gleich da draußen war die Feldküche. Ich stand in der Feldküche und wollte mal gucken, wer da ist, wegen eines Kaffees. Da wusste ich noch nicht, wo die Kompanie geblieben war. In der Feldküche waren aber Russen drinnen. So wartete ich bis nachts und dann habe ich mich in der Nacht über den Platz davongemacht. Auf der anderen Seite war ein Flugplatz und ein Steinbruch. Da bin ich dann durchgekommen bis zum Morgen. Dann kam ja das Schwierigste. Erst mal musste man ja immer hinter dem Russen herlaufen, weil der war noch vor mir nach dem Westen zu. Das konnte man auch bloß nachts machen. Da muss man mal gucken und dann muss man sich ein bisschen verstecken.

AUTOR: Haben Sie sich orientieren können?

STORMS: Einigermaßen. Die Ortschaften, das war einem alles fremd. Aber ansonsten hatte ich doch noch einen Teil der Karte und so wusste ich, wo es langging. Einen Kompass hatte ich auch noch. Der war immer zum Westen hin.

AUTOR: Wie lange waren sie da in etwa unterwegs?

STORMS: Hinter dem Russen her bin ich noch so ein paar Tage. Da habe ich mich tagsüber in einer Friedhofsgruft versteckt, weil ich am Tag nicht weiterkonnte.

AUTOR: Waren Sie noch bewaffnet, in Uniform oder haben Sie da irgendwo Zivilkleidung aufgetrieben?

STORMS: Ich war noch in Uniform, aber ich habe dann unterwegs so einen rostbraunen Mantel gefunden, so einen Glockenmantel, so einen Frauenmantel, und den habe ich dann noch übergehängt. Ein bisschen musste man sich ja tarnen.

AUTOR: Aber Sie waren nicht gut getarnt.

STORMS: Nein, ich war nicht gut getarnt. Ich hatte nichts anderes.

AUTOR: Dann haben Sie es in einigen Tagen geschafft, über die österreichisch-ungarische Grenze zu kommen?

STORMS: Da waren schon wieder deutsche Truppen da. Man war da bei einer Truppe, man ist da schon mal mitgenommen worden. So mal einen Tag oder einen halben. Dann musste man wieder sehen, wo man blieb.

AUTOR: Warum konnten sie nicht bei dieser Truppe bleiben? Sie waren ja versprengt.

STORMS: Die haben einen nicht aufgenommen.

AUTOR: Aber warum haben die das nicht gemacht? Wenn Sie ein versprengter Kamerad sind?

STORMS: Nein, die haben ihre Listen, die haben ihre Leute und ein Fremder kommt nicht da rein. Das war nun mal so beim deutschen Militär.

AUTOR: Die haben Sie wieder weitergeschickt alleine? Aber wenn Sie die Feldgendarmerie erwischt, dann erschießen sie Sie als Deserteur?

STORMS: Ja.

AUTOR: Na super!

STORMS: Da musste man eben sehen, wie man so durchkam.

AUTOR: Sie haben es bei den Russen geschafft, durchzukommen, und jetzt hat die Feldgendarmerie gewartet?

STORMS: Na ja, da kommst du auch noch durch: Da findest du die anderen auch wieder. Einmal muss ja Schluss sein. Und wenn nicht, hat man eben Pech gehabt.

AUTOR: Das klingt sehr fatalistisch.

STORMS: Tja, nun – andere Gedanken blieben da gar nicht zu der Zeit.

AUTOR: Das heißt, Sie haben gewusst, das Ganze wird bald zu Ende sein?

STORMS: Ja, man hat gewusst, bald wird’s zu Ende sein. Vielleicht überlebst du noch, vielleicht auch nicht.

AUTOR: Das erste Mal, als Sie wieder auf Kameraden der Waffen-SS gestoßen sind, war dann im Burgenland.

STORMS: Das war an der Grenze. Das war an der Grenze im Burgenland. Ich weiß nicht, wie der Ort hieß.

AUTOR: Ich kann Ihnen helfen, ich weiß, wie der Ort geheißen hat.

STORMS: Ich weiß nicht, wie der Ort hieß. Es war ja auch dunkel, als ich hinkam.33

Antisemitische Maßnahmen in Ungarn

1944 war nur ein einziges Land von Deportationen verschont, war nur eine einzige Judengemeinde intakt geblieben. Dieses Land war Ungarn; in seinen Grenzen hatten 750.000 Juden überlebt.34

 

Bis zur reibungslos durchgeführten Besetzung Ungarns am 19. März 1944 durch das Deutsche Reich lebte die jüdische Bevölkerung mehr oder weniger in Sicherheit. Einen Tag zuvor hatte der ungarische Reichsverweser Miklós Horthy Adolf Hitler zugestanden, dass alle als Juden geltenden ungarischen Staatsbürger der SS und der Gestapo ausgeliefert werden. Damit war die bislang autonome Politik Ungarns gegenüber seiner jüdischen Minderheit mit einem Schlag beendet.

Trotz der zunehmend stärker werdenden antisemitischen Grundtendenzen in Gesellschaft und Politik war das mit dem Dritten Reich verbündete Ungarn bis zum März 1944 hinsichtlich seiner Politik gegenüber der in seinen Gebieten lebenden jüdischen Bevölkerung den deutschen Vorstellungen und Wünschen nicht nachgekommen.

Ungarn hatte bereits 1920 als erstes europäisches Land einen numerus clausus für Studienbewerber eingeführt und ab dem Frühjahr 1938 sogenannte »Judengesetze« beschlossen, die zuerst die beruflichen Freiheiten und in der Folge auch die politischen Rechte (Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts) der jüdischen Minderheit massiv einschränkten.35 Wer als Jude galt, hing nicht länger vom religiösen Bekenntnis, sondern von der Zugehörigkeit zu einer »Rasse« ab. Zudem wurden die Quoten für bestimmte Berufe weiter gesenkt und ein verpflichtender Arbeitsdienst eingeführt. Im Sommer 1941 wurde das sogenannte »Rassenschutzgesetz« verabschiedet. Nunmehr wurde jeder als Jude angesehen, von dessen Großeltern wenigstens zwei als Mitglieder der israelitischen Konfession geboren wurden, sowie – ungeachtet der großelterlichen Geburtsreligion – jeder, der sich selbst zur jüdischen Religion bekannte. Von diesem Gesetz waren über 800.000 Personen betroffen, von denen zumindest 60.000 nicht der jüdischen Religion angehörten, jedoch vor dem Gesetz als Juden galten.36

Nachdem die Slowakei, Kroatien und Rumänien mit der Deportation der Juden aus den von ihnen neu erworbenen Gebieten begonnen hatten, erhöhte sich der deutsche Druck auf Ungarn. So forderte das Auswärtige Amt im Herbst 1941 von Ungarn die Einführung weiterer Judengesetze, die Kennzeichnung der Juden mit dem gelbem Stern sowie die »Aussiedlung nach Osten […] mit dem Endziel einer restlosen Erledigung der Judenfrage in Ungarn«.37

Doch Ungarn lehnte diese Forderung als Eingriff in die inneren Angelegenheiten ab. Während in dem von den Nazis und ihren Verbündeten besetzten Europa die Mordmaschinerie zu laufen begann, blieben die ungarischen Juden vorerst verschont.

Jüdische Arbeitskommandos

Durch den gesetzlichen Ausschluss von Juden aus bestimmten Beschäftigungssparten entstand ein Heer von Arbeitslosen, das ab Sommer 1939 per Gesetz zur Zwangsarbeit gezwungen wurde. Galten die Bestimmungen vorerst für alle jüdischen wehrpflichtigen Staatsbürger im Alter zwischen 21 und 24 Jahren, so wurde die Altersgrenze bis Herbst 1944 sukzessive auf 60 Jahre ausgedehnt.38 Sie wurden im Rahmen der ungarischen Armee in eigene Hundertschaften und Bataillone zusammengefasst und ab Sommer 1941 an die Ostfront verlegt, wo sie neben Straßen-, Gleisbau- und Schanzarbeiten auch zur Entminung eingesetzt wurden. Bis Ende 1943 waren zumindest 40.000 in den Arbeitskommandos tätige Juden gefallen und 20.000 in sowjetische Gefangenschaft geraten.39 Von den im Winter 1942/43 an der Ostfront eingesetzten etwa 50.000 mehrheitlich jüdischen Arbeitsdienstlern haben die Niederlage der 2. ungarischen Armee im Januar 1943 etwa 43.000 nicht überlebt. Die sadistische und brutale Behandlung durch die Wachmannschaften und die mangelnde Ausrüstung und Verpflegung waren die wesentlichsten Gründe für die immensen Verlustzahlen.

Bis April 1944 waren etwa 80.000 ungarische Juden zum Zwangsarbeitsdienst eingezogen worden. Dann wurde der Zwangsarbeitsdienst erweitert mit dem Ziel, insgesamt 150.000 jüdische Arbeiter innerhalb Ungarns einzusetzen.40 Tatsächlich dürften etwa 130.000 jüdische Männer militärische Zwangsarbeit verrichtet haben.

Zahlreiche dieser Hundertschaften von jüdischen Zwangsarbeitern wurden ab Herbst 1944 geschlossen an die burgenländisch-ungarische Grenze deportiert und dort zum Bau des Südostwalls gezwungen.

Deportationen bis Juli 1944

Am 19. März 1944 wurde Ungarn durch Truppen des Großdeutschen Reiches besetzt. Zwar blieb das Land auch nach der Okkupation formal in seinen Handlungen souverän, praktisch jedoch unterlag die Politik der Kontrolle Hitlers Generalbevollmächtigten in Ungarn, SS-Standartenführer Edmund Veesenmayer.

Die Deportationspolitik wurde vom 50 Mann umfassenden Sonder- und Einsatzkommando (SEK) in Ungarn unter Leitung von Adolf Eichmann gesteuert. Horthy hatte schon am Tag vor der Okkupation Hitler zugesagt, dass die als Juden geltenden ungarischen Staatsbürger der SS und der Gestapo ausgeliefert werden sollten. So begann die erste Verhaftungswelle bereits am Tag der Besetzung. In einem unheimlichen Tempo wurde der Fahrplan der Vernichtung in Angriff genommen, wobei Eichmann und seine Männer die praktische Arbeit weitgehend den ungarischen Behörden überließen.41

Trotz dieser Maßnahmen war zu diesem Zeitpunkt noch keine Entscheidung über die Vernichtung der ungarischen Juden getroffen worden. Erst in der zweiten Aprilhälfte war der vielschichtige und komplexe Entscheidungsprozess über das Schicksal der ungarischen Juden und Jüdinnen abgeschlossen. Er sah vor, den überwiegenden Teil der ungarischen jüdischen Bevölkerung nach Auschwitz zu deportieren und einen kleineren Teil für den Zwangsarbeitseinsatz im Deutschen Reich zu verwenden. In einem ersten Schritt war geplant, die jüdische Bevölkerung aus den von Ungarn annektierten Gebieten Karpato-Ukraine, der Südslowakei, aus Nordtranssylvanien und aus dem Gebiet von Trianon-Ungarn zu deportieren. Während dieser ersten Deportationswelle waren von Mitte Mai bis Anfang Juli 1944 mehr als 430.000 ungarische Juden nach Auschwitz verfrachtet worden. Davon dürften etwa 110.000 nicht sofort in den Vergasungsanlagen getötet, also 25 % zur Zwangsarbeit ausgesondert worden sein.42