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Ausgewählte Werke

Herausgegeben von Hans-Gerd Koch

und Hans Dieter Zimmermann

in Zusammenarbeit mit Barbora Šramková

und Norbert Miller

Max Brod

Der Meister

Roman

Mit einem Vorwort von
Schalom Ben-Chorin

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Gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung Köln und
unterstützt vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds
sowie dem deutschen Auswärtigen Amt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2015
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus Aldus Roman
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-1341-5
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2706-1
ISBN (E-Book, epub 978-3-8353-2707-8

Inhalt

Vorwort (Schalom Ben-Chorin)

 

Der Meister. Roman

Erstes Kapitel
Ein Mensch wird verschenkt

Zweites Kapitel
Es begann während der Festfreude

Drittes Kapitel
Im Schatten des Meisters

Viertes Kapitel
Zu Gast im Galil

Fünftes Kapitel
Nah und näher

Sechstes Kapitel
Der Herzensfreund Jason meldet sich mit einigen Briefen

Siebtes Kapitel
Wie einen seine Mutter tröstet

Nachwort des Autors

 

Nachwort (Karl-Josef Kuschel)

Editorische Notiz

Über den Autor

Max Brod
Ausgewählte Werke im Wallstein Verlag

Vorwort

Über ein Jahrhundert nach der Geburt Max Brods ist ein Bekenntnis zu ihm keine Selbstverständlichkeit, denn seit Jahrzehnten steht seine Gestalt im Schatten seines Freundes Franz Kafka, dessen Genialität er zu einer Zeit erkannt hatte, da andere die epochale Bedeutung Kafkas noch nicht ahnten. So ist Brod nur als der umstrittene Kafka-lnterpret gesehen worden und nicht als Dichter, Denker, Kritiker und Musiker in seiner Eigenständigkeit.

Gewiß sind einige der bedeutenden Romane Max Brods in den Jahren nach seinem Tode neu aufgelegt worden, so daß man nicht sagen kann, daß Max Brod vergessen wurde, jedoch bleibt er vorwiegend in der Kafka-Relation im Bewußtsein der Zeit. Ein anderer Prager Autor, Leo Perutz, der wie Brod die letzten Jahre seines Lebens in Tel Aviv verbrachte, meinte einmal ironisch, Franz Kafka sei die beste Romangestalt Max Brods. In der Tat hatte Brod in seinem Roman Zauberreich der Liebe, unmittelbar nach Kafkas Tod, diesen in der Gestalt des Samuel Garta erstmalig poetisch dargestellt, lange vor seiner Kafka-Biographie.

So ist es angemessen und eine Freundespflicht, mich zu dem Mann zu bekennen, dem wir nicht nur schöne Romane, anmutige Novellen, bühnenfeste Dramen und Operntexte, einige gute Gedichte und zahllose anregende Artikel zu verdanken haben, sondern vor allem Denkanstöße, die viel zu wenig gewürdigt wurden.

Die Bibliographie Max Brods ist so umfangreich, daß eine Bewältigung des Gesamtwerkes einem Spezialstudium gleichkäme: sie umfaßt mindestens 83 selbständige Bücher, vier Kompositions-Editionen, Übersetzungen aus dem Tschechischen und dem Hebräischen, etwa zehn Opern-Libretti und zahllose Kritiken, war Max Brod doch am Prager Tagblatt, später in der hebräischen Tageszeitung Davar und in der deutschsprachigen Tel Aviver Tageszeitung Jedioth Chadashoth als Theater- und Musikkritiker tätig.

Die Denkanstöße, zu welchen ich mich bekenne, finden sich in den heute weithin vergessenen philosophischen und religionsphilosophischen Werken Brods, aber auch in seinen Romanen, die immer mit der Erlebnisphilosophie des Dichters befrachtet waren. In erster Linie ist hier das Bekenntnisbuch Heidentum, Christentum, Judentum aus dem Jahre 1922 zu nennen. Brod hat Kerngedanken dieses Werkes später in einer verkürzten Ausgabe, Das Diesseitswunder, wiederholt. In den letzten Jahrzehnten ist aber nur noch eine amerikanische Ausgabe dieses Werkes erschienen. Dem deutschen Leser ist es heute unbekannt. Der Kerngedanke dieses Werkes ist aber heute noch so gültig und fruchtbar wie vor 70 Jahren: die Unterscheidung von edlem und unedlem Unglück als Kriterium für die drei Glaubensweisen Heidentum, Christentum, Judentum.

In der Sicht Max Brods beurteilt das Heidentum jedes Unglück als unedel, das heißt als grundsätzlich behebbar. Das Christentum dagegen ist »pantragistisch«, sieht in jedem Unglück eine göttliche Prüfung und in dieser Erde nur ein Jammertal. Das Judentum aber unterscheidet edles und unedles Unglück. Dem edlen Unglück gegenüber, das heißt mit dem Tod und der Vergänglichkeit konfrontiert, beugt sich der Jude in Demut vor Gott; gegenüber dem unedlen Unglück aber – Krankheit, Krieg, soziales Unrecht – ist er zu voller Aktivität aufgerufen. Sicher ist diese Schematisierung religionsgeschichtlich nicht ganz haltbar, und dennoch können von hier aus wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden.

Brods (jüdische) Religionsphilosophie blieb Erlebnisphilosophie, nicht anders als Martin Bubers Dialogik. Was für Buber die Begegnung (in letzter Konsequenz) war, bezeichnete Max Brod als das »wesenhafte Erlebnis«. In den Augenblicken der Gnade weiß sich der Mensch herausgehoben aus der Trivialität des Tages und verkostet so gewissermaßen die Ewigkeit – schon in der Endlichkeit. In diesem Zusammenhang schrieb Brod: »Von allen Boten Gottes spricht Eros am eindringlichsten zu uns.« Das steht im Einklang mit seinem lyrischen Bekenntnis:

»Nur Liebe – von nichts anderem weiß ich.

Zerreißet, was ich sonst gesungen,

Denn Lüge war’s, wenn es nicht Liebe war.«

Als ich Max Brod im Gespräch an sein Eros-Wort erinnerte, meinte er resigniert: »So, habe ich das geschrieben? – Man wird ja älter.«

Das wesenhafte Erlebnis wird mit einer »Philosophie der schönen Stellen« verbunden, Höhepunkten der Philosophie, der Literatur, der Musik, in welchen sich das wesenhafte Erlebnis des Genies niederschlägt und so der Um- und Nachwe1t mittelbar wird. Im wesenhaften Erlebnis wird der Mensch zu sich selbst geführt, zur Erkenntnis seiner eingeborenen Möglichkeit, der Durchbrechung der Kausalstruktur, die Brod in den Mittelpunkt seines philosophischen Hauptwerkes Diesseits und Jenseits stellte.

Die Welt ist gekennzeichnet vom Kampf aller gegen alle. Der Stärkere vernichtet den Schwächeren, in Natur und Kosmos. Der Mensch aber, wenn er vom Impuls der Liebe getragen wird, durchbricht diese Struktur: der Stärkere schützt den Schwächeren, die Liebe konkretisiert sich (auch) im Mitleid. So wird der leidende, der mitleidende Gott erlebbar. Wenn Gott die Liebe ist (und so tut es sich bei Brod doch wohl dar), muß Er, um vollkommen zu sein, auch die Kategorie des Leidens in sich schließen. Von hier aus wird auch der zage Versuch einer Theodizee gewagt, der allerdings an der Katastrophe des Holocaust letztlich scheitern mußte – wie alle Versuche der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt. Der leidende Gott brachte den Denker Max Brod natürlich in die Nähe des Christentums, das im Gekreuzigten das sichtbare Bild des leidenden Gottes aufgerichtet hat. Brod vermied aber jede Grenzverwischung zwischen Judentum und Christentum.

Max Brod als Zionist im Lande Israel war fraglos in seinem Judentum verwurzelt, bekannte sich zu Israel als seinem Land und seinem Schicksal. Schon als Dreißigjähriger, in Prag, hatte er in dem Gedicht »Hebräische Lektion« einen Hochgesang auf die Sprache seines Volkes angestimmt … allerdings in deutscher Sprache. Dieses uneingeschränkte Bekenntnis ließ ihn aber nicht die Wurzeln seiner dichterischen Schöpfungen im deutschen Sprachboden vergessen. In der Beziehung zu Deutschland, der deutschen Kultur, sprach Brod schon 1934, in seinem Zeitroman Die Frau, die nicht enttäuscht, von »Distanzliebe« – wiederum einer der Begriffe, die zu Denkanstößen werden sollten.

Im Brief an einen Freund, den Philosophen Hugo Bergmann in Jerusalem, schrieb Max Brod noch aus Prag Anfang der dreißiger Jahre: »Daß wir uns nicht hebraisieren, ist Faktum – aber das Leben eines Volkes erschöpft sich nicht in der Sprache allein. Es ist speziell für einen Dichter unmöglich, die Sprache zu ändern. Ich merke täglich mehr und mehr, wie tief ich sprachlich mit dem Deutschen zusammenhänge (…).«

Das hat sich auch in Israel nicht geändert, obwohl Max Brod das Hebräische erlernte, sogar hebräische Artikel schrieb (mit lateinischen Buchstaben), Vorträge in hebräischer Sprache hielt, aber in seiner eigentlich literarischen, dichterischen Produktion beim unveräußerlichen Idiom seiner Herkunft blieb, denn »man kann von einer Sprache in die andere nicht umsteigen wie von einem Zug in den anderen«.

Der deutsche Humorist Hans Reimann, mit dem Max Brod gemeinsam den Braven Soldaten Schweijk von Jaroslav Hašek erfolgreich dramatisierte, veröffentlichte 1952 das Buch Literazzia. Dort heißt es auf Seite 27: »Wenn ich vor Gottes allerhöchstem Richterstuhl stünde und die Frage beantworten müßte, wen ich für den klügsten, nobelsten und gütigsten Menschen halte, ich würde, ohne mich eine Sekunde zu bedenken, Max Brod nennen.« Ich schließe mich dem Zeugnis Reimanns an, und es wird viele Zeugen geben, die dieses Urteil stützen. Vor allem jene Menschen, die Brod persönlich begegnet sind, nicht nur dem Autor.

Zu den großartigen Visionen Brods gehörte seine humanistische Interpretation des traditionellen jüdischen Begriffes der »Jeschiva schel ma’ala«, der oberen Lehrversammlung. Die Aggada, die hebräische Legende, sah hier nur die Weisen Israels, von Mose bis Rabbi Akiba und weiter, Brod aber träumte von einer oberen Lehrversammlung, in welcher Aristoteles mit seinem späten Schüler Maimonides diskutieren wird, Plato mit Kant, Spinoza mit Goethe. Ich sehe auch ihn, »den Lehrer, welcher immer lernt«, wie ihn Heinz Politzer nannte, mit Schopenhauer und Kierkegaard, aber auch mit seinen Lebensfreunden Franz Kafka und Felix Weltsch.

Das Hebräische kennt kein Wort für Jenseits. Es spricht von »Olam a-Emeth«, der Welt der Wahrheit. In diese Welt der Wahrheit führte Max Brod im großen Kranz seiner historischen Romane, die er Kampf um Wahrheit nannte. Der großartigste dieser historischen Romane des Kampfes um Wahrheit scheint mit Der Meister zu sein, der schönste mir bekannte Jesus-Roman. ln dieser epischen Dichtung wird Jesus nicht direkt, sondern nur indirekt gesehen: mit den schwärmerischen Augen einer jungen Stiefschwester, mit dem prüfenden Blick des Griechen Meleagros und mit dem düster-verzehrenden Auge des Judas, der hier kein Verräter, sondern ein messianischer Aktivist ist. Max Brod war sich darüber klar, daß Jesus in vielen Aspekten sichtbar wird und sich doch immer wieder dem Blick entzieht, so daß nur die indirekte Darstellung adäquat sein kann. (Diese Sicht hat Schule gemacht: Die österreichische Schriftstellerin Gertrud Fussenegger hat in ihrem Jesus-Roman Sie waren Zeitgenossen dieselbe Methode angewendet, diesmal in Briefform.)

Aber nicht nur große Gestalten der Geschichte hat Brod nachgestaltet, sondern auch aus eigenem Erleben in seinen Romanen Menschen geschaffen, die wie Freunde unsere Tage begleiten. Vor allem möchte ich da an die Jünglingsgestalt des Stefan Rott erinnern, der ähnlich wie Hans Castorp im Zauberberg von Thomas Mann, wenn auch als jüngerer Typus, in die Erkenntnisse der Philosophie und in die Geheimnisse des Eros eingeführt wird, ehe »aller guten Bindungen ledig, die Erdkugel zu ihrem großen Sturz ins Nichts« ansetzte. Gemeint ist der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der auch das Ende des Zauberbergs markiert. Wenn Brod auch nie die sprachliche Vollendung Thomas Manns erreichte, sie wohl auch nicht anstrebte, so scheint mir doch Stefan Rott ebenbürtig als Bildungsroman einer sich vollendenden Epoche neben dem Zauberberg zu stehen.

In seiner Autobiographie Streitbares Leben ging es diesem so überaus friedlichen Menschen um den Streit für die Wahrheit. Nach einem Wort aus den Sprüchen der Väter hat jeder Streit um des Himmels willen, jeder Streit um die uns erkennbare Wahrheit, Bestand, im Gegensatz zum Streit um Geld, Gut und Ehren. Max Brods Lebenswerk, zu dem ich mich hier als jüngerer Freund bekennen will, ist eine Dokumentation des Streites um die Wahrheit und soll deshalb Bestand haben.

Schalom Ben-Chorin

 

 

 

Der Meister

Roman

 

 

 

Ester Hoffe gewidmet

 

 

ERSTES KAPITEL

Ein Mensch wird verschenkt

Sehr sehnsuchtsvoll denkt Meleagros an die Zeit zurück, die er zu Alexandria in der »Kleinen Halle« der berühmten Bibliothek, des Museions, verbringen durfte. Diese Zeit ist ein großstrahlendes Licht. Und mitten in dem Licht sieht Meleagros sich selbst, den schönen jungen Griechen, den blonden Lockenkopf vom schwarzblauen Band längs der weißen Stirne umwunden, – kein schlechter Anblick übrigens, das darf er sich gern und gut eingestehen. Und damals – damals war er zudem auch noch glücklich zu nennen!

Reine Seeluft strich über den mosaikgepflasterten Estrich des Saales. Sie war es, die diesen Fußboden schimmern ließ wie einen Metallspiegel. Und über dem bunten Grund schwebten fast sichtbar die Gottheiten der Freude, der Stille. In der Ecke hinter der dunklen Erzbüste des Kallimachos sitzen, des hochzuverehrenden Schulhauptes und Urdichters, in dieser Ecke alte Texte miteinander vergleichen, seltene Lesarten auffinden, hie und da selbst einen Vers, ein Erotikon niederschreiben – an die prachtvolle Heliodora etwa, die Flötenspielerin: was konnte es Besseres geben! Wenn ihn diese Heliodora nicht gerade durch Untreue quälte, wenn sie ihm letztens vertraut zugelächelt hatte, dann genoß er in den Räumen der Bibliothek einen Zustand, der jener Seligkeit zumindest benachbart war, wie sie dem Weisen ansteht.

Man atmete förmlich die Ruhe der vielen tausend Papyrosrollen ein, die in roten und blauen Lederkapseln auf den sauber gebeizten, funkelnden Holzregalen lagen oder bündelweise in Tongefäßen standen wie Blumen in geräumigen Vasen. Kühler Schatten weht hinter grünen Vorhängen, in mehr als hundert Sälen. Hundert Nester des Schweigens, des Friedens. Nur aus der »Mittleren Halle« machen sich zuweilen die Gelehrten vernehmbar, die mit leisen Stimmen ihre Streitfragen besprechen oder einander ihre letzten Gedichte vorlesen.

Er selbst ist »Gehilfe der gelehrten Dichter« – dies sein offizieller Titel – und er trägt überdies einen nicht unbedeutenden Plan im Herzen, dessen Ausführung ihn gewiß einst berühmt machen wird; er nimmt ihn immer wieder auf, nach wohligen Unterbrechungen, ohne Hast, langsam und sanft, diesen süßen Plan; in völliger Ausgewogenheit des Gemüts, wie es dem Weisen geziemt, der die Lehren Epikurs befolgt, arbeitet er gelegentlich an dem, was er im stillen sein »bestes Geheimnis« nennt.

Vorbei.

Damals und heute – ein Unterschied wie ein Dolchstoß.

Der Blick damals vom vornehmen Brucheionhügel, auf dem die Bibliothek lag, die größte des Erdrunds, – der Blick öffnete sich aus einem Fächer von Regierungs-Prachtgebäuden hervor auf das blaue Meer hin, zum Hafen der »guten Heimkehr«, dem Eunostos. Dort sah man den langen Damm bis zur Pharosinsel, die den Leuchtturm riesenhaft, grau, drohend, wie einen die Wellen abschüttelnden Meergott gegen den Himmel ansteigen ließ. Auf dreihundert Stadien ist sein Licht den Schiffen auf See sichtbar.

Hier dagegen und heute –, wenn Meleagros heute den Blick von den Akten aufschlägt und zum Fenster hinausschickt, findet er eine wilde, immer unruhige, immer lärmende Barbarenstadt, deren Lehmhütten und rohe niedrige Steinhäuser, deren Mauern, Höfe, Stiegen, übervölkert, stark riechend, an steilen Kalkbergen aufwärtsdrängen, – ein Chaos in Gelb und Schmutzigweiß. Ja, und da ist dann noch dieser ungefüge Block oder Pylon aus weißem Marmor mit dem goldenen Dach – sie nennen ihn den »Tempel des Höchsten Gottes« und treiben viel Wesens mit der Unform, die ihrem mißgebildeten Sinn gefällt. – Des »Höchsten Gottes«? Also haben sie doch mehrere Götter? Ein absurder Einfall überdies, der an die Träumereien unseres guten, törichten Platon erinnert: daß es nur einen einzigen Gott geben soll. Wogegen der Meister gesagt hat, unser Herr, Epikuros selbst: »Wie die Menschen sind auch die Götter gesellig.« – Und in der Tat, ein einziger Gott könnte nie glückselig sein. Er würde sich ja zu Tode langweilen. Da sich die Götter bekanntlich um uns Menschen nicht kümmern (wie könnten sie sonst frei von Sorgen und glücklich sein?), hätte solch eine seltsame Rarität von einem Solo-Gott niemand als sich selbst zur Gesellschaft. Auch wäre die größte Lust, die der Freundschaft, ihm unbekannt. – Dem sei wie immer, schließt Meleagros ab, – jedenfalls erfreut als architektonisches Gebilde die plumpe Masse drüben das an Proportion und Gliederung gewöhnte hellenische Auge nur sehr mäßig. Und so bleibt es dabei: das Land, in das ihn ein Machtspruch verbannt hat, ist pestilenzialisch häßlich und verflucht.

»Diese Provinz« – so hat er seinem Herzensfreund Jason nach Alexandrien geschrieben, bald nachdem er hier eingelangt war – »diese Provinz bietet als einzige Sehenswürdigkeit Erdbeben.«

Im Winter außerdem noch furchtbare Wolkenbrüche und Überschwemmungen, da die Einwohner des in jeder Hinsicht zurückgebliebenen Landes nichts von dem uralten geistreichen System der Kanalanlagen Ägyptens gelernt haben. Den Winter hofft er allerdings nicht mehr in dieser Einöde zu verbringen. Irgendwie ausbrechen – das ist sein einziger Wunsch und Vorsatz. Möge er gelingen!

Ausbrechen! So wie er hier im Hochsommer ausgebrochen ist, als man ihn an irgendeinen galiläischen See geschickt hatte. Unmöglich dort auszuhalten, in einer Höllenlandschaft, einem glühenden Kessel zwischen kahlen Bergen, versengten Abhängen, die nichts als Sonne, Staub, Mist, übelkeiterregende Schwefeldämpfe ausstrahlen. Nun, das war damals gelungen. Den amtlichen Auftrag hatte er rasch einem Unterbeamten, dem Marktaufseher Metilius, weitergegeben und war in die Hauptstadt zurückgekehrt, die zwar auch unwohnlich, aber immerhin eine Stadt ist. So wie er glücklich aus dem Glutkessel ausgebrochen ist, wird er vielleicht einmal auch dem ganzen Land entrinnen.

Er überdenkt es nochmals und erschrickt. Den Römern ausbrechen? Vergebliche Anstrengung. Er weiß es: Wen die eiserne Faust des Imperiums gepackt hat – und sei es auch nur, weil sie zufällig einmal, wie im Traum danebengepackt hat –, der entrinnt ihr nie wieder. Und sei er der mächtigste König des noch uneroberten Teils der Welt: gegen den Willen Roms gibt es keine Auflehnung. Wer sich auflehnt, wird zerdrückt. »Rom hat gesprochen« – damit ist die Entscheidung gefallen.

Wäre es eines Weisen nicht unwürdig, zu hassen oder sonst einem überflutenden Affekt nachzugeben: Meleagros könnte die unmenschlichen Römer mit glühender Wut verdammen, bis in den tiefsten Abgrund hinein, – die Römer, die seine Heimatstadt Antikyra in Phokis vernichtet haben. Ein spät aufflackernder, örtlich geringer Aufstand des längst in die Knie gezwungenen Griechenland war es. Die ganze Einwohnerschaft Antikyras wurde in die Sklaverei verkauft. Die Stadt verfiel der Zerstörung. In Ephesus, auf Kreta, auf allen Sklavenmärkten des Mittelmeeres konnte man damals Phokier sehr billig erwerben. Die Familien wurden selbstverständlich auseinandergerissen. Lebt die Mutter noch? Aristobulos, des Meleagros Bruder, war gefangen worden und aus der Sklavenschaft entwichen, tags darauf wurde er ans Kreuz geschlagen. Die Schwester verschwand in einem Bordell. Meleagros selbst konnte sich retten, indem er nachts von dem Sklavenschiff, das im Hafen von Delos lag, auf einen Kornfrachter hinüberschwamm. Der kam aus Ägypten, ging nach Athen. Hier hatte der Flüchtling Bekannte, fand zunächst Unterschlupf. In der Philosophenschule des Philodemos, der nach den Vorschriften des göttlichen Epikur lehrte, konnte er sich ausbilden, im schattigen Garten – denn das gebot die Lehre des Gründers: der Unterricht finde in schönen Gärten statt. An diesem anmutsvollen Ort erfuhr er, daß man sich nicht zu benehmen habe wie die Anhänger der kynischen Verirrung, jene absurden Rüpel, die es für angezeigt halten, sowohl die Angelegenheiten der Demeter wie die der Aphrodite auf offenem Markt zu verrichten. Aber auch überheblich, heuchlermäßig-statuenhaft und immer gefaßt wie die Stoiker habe man nicht im Leben dazustehen wie sein eigenes Grabmal. Den Stimmen der Natur folgen, das hieß ihn Philodemos, der gern lächelnd, spitznasig, kalkweiß, mit glattgestrichenem Grauhaar überraschend hinter einer Säule hervortrat und mit einem Scherz seinen Lehrvortrag begann, – aber man gehorche einer geläuterten und sozusagen stubenreinen Natur, einer sanften Bewegung der Lust. Schmerzlosigkeit ist noch wichtiger als Lust. Und vor allem keine Angst! Angstlos sieht der Weise auch dem Tode entgegen. Denn der Tod geht uns nichts an. Wo wir sind, ist der Tod nicht; und wo der Tod ist, sind wir nicht.

Dem jungen, munteren Meleagros gefielen solche Sätze nicht übel. Bald war er ein eifriger Jünger. Es ergab sich ja alles so einfach, man brauchte nur die Sätze, die Kernsprüche auswendig zu lernen, die schon vor Jahrhunderten der gefällige Meister, ein wahrer Freund seiner Schüler, in die knappste Form gebracht hatte, so daß man sich sie leicht merken konnte. In jeder Lebenslage steht einem dann sofort der rechte Spruch zur Hand, wie Arznei in einem Fläschchen. Philosophie soll ja auch nichts anderes sein als eine Arznei der Seele, – sogenannte Wahrheit, Erkenntnis, was geht sie einen an! Vor allem eins: Fühle dich wohl, seelenbehaglich, mein Freund, kümmere dich um all das nicht, womit die Unweisen, die keine Philosophie studieren, in nichtiger Art ihre Tage verbringen. Kümmere dich nicht um Sonnenfinsternisse, um die Mondphasen, Planeten, um die Entstehung der Wolken oder des Hagels und anderer Himmelserscheinungen. Man kann diesen oder jenen Grund für sie finden, und alle Gründe sind gleich richtig oder auch unrichtig, ganz wie du willst. Die Sonne ist ungefähr so groß, wie sie dir erscheint. Also etwa zwei Fuß breit, oder etwas mehr. Nimm das nach Belieben an, es ist gänzlich einerlei. Was gehen diese Dinge dich an! Sie haben keinen Bezug auf dich. Es gibt weder böse noch gute Vorzeichen. Sei aufgeklärt, Liebster. Die Götter schlafen. Oder sie befassen sich nur mit sich selbst, haben Besseres zu tun, als nur zu warnen oder den Kosmos zu bauen. Sind sie denn Handwerker? Nein, selige Nichtstuer sind sie. Was aber nicht ausschließt, daß man sie als uns überlegene Wesen anbeten soll, dem landesüblichen und hergebrachten Kult gemäß. Nicht als ob etwa die Götter zürnten, wenn wir diese Gebete und Opfer unterlassen. Aber warum soll man sich bei den Menschen unbeliebt machen, ihnen ihre Freude an den Festen und Prozessionen verderben? Der Weise wird sich fügen, im Verborgenen leben, nicht durch Widerspruch überflüssiges Aufsehen erregen.

»Ihr macht es euch etwas zu bequem,« sagte Philodemos, plötzlich hinter einer Säule auftauchend, einige Schüler bei ihrem Gespräch überraschend. »Du, mein Meleagros, bist von leichtbeweglicher Natur, du nimmst das Leben ohnehin nicht schwer. Nun kommt dir eine Lehre sehr gelegen, die scheinbar dasselbe empfiehlt, was dir eingeboren ist. Prüfe dich aber doch etwas genauer. Der Meister, so sagt man, soll sehr eigensinnig gewesen sein, und nicht immer war es leicht, seinen Worten zu folgen. Aber man erzählt Wunder von seiner Freundlichkeit, seinem höflichen und bescheidenen Wesen. Es ist uns das Wort eines seiner unmittelbaren Schüler überliefert: ›Wenn man das Leben Epikurs mit demjenigen der andern Philosophen vergleicht, so könnte man es um seiner Milde und Selbstgenügsamkeit willen einen Mythos nennen.‹ – Das klingt doch ein wenig anders als euer schallender Leichtsinn, ihr Knaben. Mit Recht heißt es daher bei uns: Handle immer so, als ob Epikuros dir zusähe.«

Und mit noch längerer Nase als sonst wandelte der schwächlich-schlanke, alte Erzieher durch die schattige Allee davon. Die Erstaunten sahen ihm lange nach.

Meleagros war ein guter Junge, an seiner Seele hatten Gewissenhaftigkeit, redliche Bemühung immer einen mindestens ebenso starken Anteil gehabt wie das heitere, unbekümmerte Blut. Er lernte gern. Er vertiefte sich von neuem in die weniger gangbaren Folgerungen und Ausläufer der Lehre, die ihm freilich bei all ihrer menschenfreundlichen Sorge um die Ruhe des Gemüts schon ein wenig spitzfindig vorkamen. Was da vom stillen, wellenlosen Hafen der Schmerzlosigkeit geschrieben stand, der besser sei als brausende Freude: darauf schwor er willig. Schmerzlosigkeit, das höchste Gut, zu dem der Weise gelangt! Wenn man Wasser und Brot hat, darf man sogar mit Zeus an Glückseligkeit wetteifern! Leider fehlte es dem Meleagros, den auf die Dauer zu unterstützen seine Bekannten durchaus abgeneigt waren, bald öfters sogar an Brot zu dem immerhin von den Göttern bereitgestellten Wasser. Unbesorgt! auch für derartige Fälle hatte der Meister Sprüche weislich vorbereitet. Und der Jünger wurde dahin belehrt, daß dem Weisen das Leben unter allen, auch den ungünstigsten Umständen lebenswert erscheine; denn in jedem Falle enthalte es mehr von dem, was wir wollen, als von dem, was wir nicht wollen. Daher sei der von den Stoikern gelegentlich empfohlene Selbstmord durchaus nur als logischer Schnitzer oder als eine Art von grammatikalischem Schreibfehler anzusehen, kurz als ein häßlicher Unsinn. Arme, unbelehrte Stoa! Der Weise wird glückselig sein, auch wenn er gefoltert wird. Allerdings wird er dann stöhnen und jammern, sich also nicht zurückhalten, wie es gewisse Leute wollen, wieder diese Leisetreter, die Herren von der Stoa! – Eigenwillig und mit nachsichtiger Milde schnaufte die Philodemische Spitznase im kalkweißen Gesicht, und die Schüler gestanden sich ganz im stillen, mit ehrfurchtsvollem Schauder ein, daß es in der Tat schwer sei, ihm zu folgen; aber dazu gehe man ja schließlich an die Hochschule, auf das Leichtverständliche wäre man vermutlich auch allein, ganz von selbst gekommen. – Der Weise wird sich immer freuen – so bemerkte Philodemos rätselhaft verschlossen, aber mit gütigem Kopfnicken zur Gemeinschaft einladend, sei es nun, daß dies obenhin geschah, der Schulkonvenienz gemäß, oder aus wirklich hilfreichem Herzen, oder gar ein wenig müde und boshaft, wer konnte das wissen – der Weise wird, selbst wenn er im Stier des Phalaris geröstet wird, zum Schlusse kommen: Das Leben ist eine Wollust und der Schmerz geht mich nichts an.

Mit solchen und mancherlei ähnlichen Kenntnissen ausgerüstet, hätte Meleagros als ein bereits höheres Semester an Philodems erbaulichem Gedanken- und Weisheitsinstitut leicht einen Posten als Sekretär oder stilistischer Hausgeist bei einem der vielen vornehmen jungen römischen Herren und reichen Rittersöhnchen finden können, die in Athens Säulenhallen herumlungerten, um nach ein oder zwei recht vergnüglich zugebrachten Jahren daheim sagen zu können, sie hätten sich jenseits des Jonischen Meeres den letzten Schliff geholt, in Griechenland – oder vielmehr in der »Provinz Achäa«, denn ein freies Griechenland gab es ja seit bald zweihundert Jahren nicht mehr. Aber solch ein Dienst widerstrebte dem jungen Meleagros aufs peinlichste, obwohl er ihm vermutlich Ruhm und jedenfalls einen vollen Beutel eingetragen hätte. Alle diese nichtsnutzigen Wolfsrömer, die nach Athen kamen, um sich mehr oder weniger oberflächlich das Handwerkszeug der Weltbildung zu kaufen, oder, noch praktischer, um als angehende Staatsmänner und Heerführer nur etwas Grammatik, Deklamieren, Geschichte oder Rhetorik, gute Aussprache sowie die üblichen Tricks der Beredsamkeit zu lernen, – alle pflegten sich einen literarischen Hausgriechen, einen Graeculus, oder ein paar von dieser Sorte mit nach Hause zu bringen. So wie man griechische Friseure, griechische Steinschneider, Maler, Vorleser, Tänzer nach Rom importierte, so hatte man als Kavalier von Rang auch eine Zunft von »Griechlein« in seiner Villa unter dem Gesinde sitzen, die einem Briefe und öffentliche Reden korrigierten, womöglich auch noch die »Denkwürdigkeiten« des Herrn, sofern es solche gab, aufzeichneten und ihm zu verfasserschaftlichen Ehren verhalfen. Man sah auf solche Hilfspersonen von oben herab, aber man brauchte sie und bezahlte sie reichlich. – Natürlich gab es unter dem Wolfsgeschlecht der Römer auch einige, die ihre Epistel, Gesetzesanträge, Amtsberichte und Gedichte allein schrieben. Doch die Hauptmasse der Romulusenkel begnügte sich jedenfalls damit, den edlen Honigseim der griechischen Bienen bereits zubereitet aus Attika zu beziehen, nicht selbst aus den Blüten des Hymettos zu saugen. Die Protzen aus den großen römischen Familien rühmten sich, die besten griechischen Ratgeber und Seelentröster zu besitzen, – so wie sie zu ihren Gastereien den besten Wein aus Chios, die geschicktesten Nymphen Thraziens und für ihre Pasteten die teuersten Pfauen aus Tyrus bezogen. Die Kastanien mußten vom Ufer des Tagus, die Datteln aus Ägypten, das Haselhuhn aus Phrygien, das Hammelfleisch aus Ambrakia, die Austern aus Tarent, die Nüsse aus Thasos sein – und der Lehrer weltweiser und künstlerischer Eleganzen aus Athen. Solch ein Lehrertum wäre des jungen Meleagros natürliche Laufbahn gewesen. Er zog es vor, arm und frei zu bleiben.

Es ging, solang es ging. Schließlich duckte ihn das Schicksal, das ihn heimatlos gemacht hatte, dann doch unter seine eherne Sohle. Er hatte sich jahrelang ehrlich gewehrt. Und jetzt – in Jerusalem – was war er jetzt? Ein Gegenstand. Ein Nichts. Ein Geschenk. Das Geschenk, das ein Statthalter dem andern schickt, wie man ein Grußtäfelchen aus Elfenbein mit den Alltagsworten schickt: »Wenn es dir gut geht, ist es recht. Mir geht es gut.«

Ein Mensch wird eines Tages verschenkt. Es gab eben kein Entrinnen und kein gesundes Glück, wenn man es mit den grausamen Kindern der Wölfin Rom zu tun bekam.

Sollte er klagen? Zumindest den Bauch konnte er jetzt füllen. Hatte ja auch genügend Zeit; die er freilich, traurigen Herzens, weniger den Musen als der bekümmerten Untätigkeit weihte, dem erst jetzt erwachten Hang, die mannigfachen Stufen seines abgeglittenen Lebens zu überdenken, während der Schatten des klobigen Turmes Phasael in sein Amtszimmer zu fallen begann, – ein Zeichen immerhin, daß der verhaßte Vormittag zur Hälfte abgelaufen war.

Seine Schreibstube lag in einem der vielen unfreundlichen Zimmer des ehemaligen Königspalastes. Herodes der Große – den Beinamen hatten ihm die gewissen schmeichlerischen Graeculi gegeben – war der Bauherr dieser Residenz gewesen, eines Riesenkomplexes von Hallen, Häusern, Palmenalleen, kunstvoll bewässerten Gärten, in denen es die herrlichsten Rosen gab. Die Faust des Imperiums packt das Haus wie nichts; zu Ende mit dem königlichen Prunk. – Vor Meleagros lag ein Akt über die Besteuerung der Stadt Sepphoris oder Zippori im Galil, das dem Tetrarchen Herodes Antipas, dem Sohne jenes »Großen«, gehört, doch von römischer Oberhoheit streng überwacht wird. Vollendete Narrheit, überlegt Meleagros, nun bin ich ein Teil der Gewalt, die ich hasse, der widerlichen Römergewalt. Ein Teilchen nur, aber doch mit ihnen. Mittyrann unter Tyrannen. Konnte ich tiefer fallen?

Seufzend dreht er am kleinen Finger einen Kameenring. Die liktorischen Beile und Rutenbündel sind eingraviert. Mit denen siegelt er also jetzt, Meleagros. Für den lächerlichsten aller Statthalter wird er auch heute seinen unlustigen Bericht siegeln, im Namen des Senats und des Volkes von Rom; so hieß es immer noch auf dem Ring, obwohl jedermann wußte, daß Seine Gottheit, Kaiser Tiberius, gemeint war.

In Athen war ihm trotz der schlimmen Hungerzeit nie so lächerlich zumute gewesen. Oft hatte er freilich doch so gelitten, daß er an einigen der wichtigsten »Meinungen des Herrn« den unehrerbietigsten und unerlaubtesten Zweifel kaum niederzuzwingen vermochte. Die »Meinungen des Herrn«, die »Kyriai doxai«, prangten in Goldbuchstaben an der Wand eines Landhauses, das einem der dankbaren Schüler gehörte. Was nützte es, daß sie so hell in der Morgensonne durch das Gartengrün schimmerten. Man wußte sie ja auswendig, gewiß, immer wieder sagte man sich etwa den Spruch vor, daß »heftiger Schmerz kurz, langdauernder Schmerz aber wieder nicht heftig sei,« – oder jenen andern: »Die naturgemäßen Begierden sind leicht zu erfüllen, die schwer zu erfüllenden Begierden sind nicht naturgemäß.« Nun wohl, war der Wunsch etwa nicht naturgemäß, zu essen, zu trinken, einen sauberen und unzerrissenen Mantel zu tragen? Aber dieser Wunsch oder diese Begierde war nur sehr unvollständig und, was den Mantel anlangt, überhaupt nicht zu erfüllen. Und der Schmerz, der entstand, als ihm die schönlockige Zenophila die Türe versperrte, eben jenes bereits wirklich in Lumpen zerfallenden Mantels wegen, – dieser Schmerz war heftig und machte doch nicht die geringste Anstalt, spruchgemäß und herrenmeinungsgemäß kurz zu dauern.

Ein Mitstudent, Jason aus Gadara, schenkte ihm einen Mantel. Dann kehrte Meleagros aber nicht mehr zur Zenophila zurück, sein Stolz war verletzt. Auch war er so hübsch, daß alle jungen Hetären und Tänzerinnen ihm bei der Begegnung starr ins Gesicht blickten, dann die Köpfe hinter ihm herdrehten, wenn er vorbeifederte. Zunächst hatte er von ihnen genug, von ihnen und ihrer Dummheit; er zog einen Knaben vor, den entzückenden Leontokles. Doch um den gab es immer Streit, es kam zu lärmenden Überfällen, es setzte Prügel oder man mußte wohl gar gegen einen Nebenbuhler nächtlicherweise das blanke Schwert ziehen und ihn des Wegs verweisen. Das wurde mit der Zeit lästig. Seine nächste Geliebte war dann Demóo, deren »myrrhenduftende, schlafverscheuchende Haut« er in einem sechszeiligen Epigramm lobpries. Unversehens machte es ihn bekannt. Jedermann in dem leichtlebigen Athen wußte es auswendig, vor allem die beiden Schlußzeilen, die von den Küssen der Demóo:

»Nur gering ist der Hauch, den sie mir zum Atmen gelassen.

Willst du, Eros, auch den, gern verström’ ich mich ganz.«

Zwar teilte er dieses begehrenswerte Mädchen mit vielen. Jeden Abend wurde sie zu einem Gastmahl gerufen, hierhin, dorthin. Die angehenden Herren Quästoren und Ädilen schickten ihr die kostbarsten Geschenke. Sie bestellten auch Liebesgedichte bei ihm, – ein »Gedicht für Demóo«, jeder der latinischen Bauernlümmel wollte jetzt eines geschrieben haben. – Meleagros war sorglos genug, solche grobe Anbiederungen nicht übelzunehmen. Ihn allein liebte sie wirklich –, das war ihm genug. Alles andere kümmerte ihn herzlich wenig. Er lachte mit ihr, wenn sie allein waren. Wenn sie die Türe hinter sich geschlossen hatten, las er ihr die gleichen Gedichte vor, die sie eben zusammen mit einem Smaragd an zarter Halskette oder mit einer schweren Goldspange von auswärts erhalten hatte, – doch las er sie jetzt ohne die Fehler, die er absichtlich eingeschmuggelt hatte, um die Wölflinge ihrer Unbildung zu überführen und nebenbei seine eigene Verfasserschaft außer Frage zu stellen.

Ein betrunkener Magistratsherr aus der Hauptstadt – er war nur für einige Tage nach Athen gekommen, auf der Durchreise zu seinem Amt im Pontus – speiste eines Abends mit Demóo. Am Morgen wurde Meleagros gerufen. Er solle Demóo wegbringen. Sie lag tot auf den roten Kissen im Triclinium, den Kranz vollerblühter weißer Rosen in den Locken, das Gesicht zerkratzt, eine gräßliche offene blutige Wunde im Busen. Der syrische Unternehmer, der Gastunterhaltungen besonderer Art für reiche Fremde zu vermitteln pflegte, zupfte seinen schütteren graubraunen Bart, behauptete in einer seltsamen Mischung von Verlegenheit und Unverfrorenheit: die kleine Demóo sei bloß berauscht, sie werde schon wieder zu sich kommen. – Der Körper war kalt, das Gesicht grünlich-blaß wie der fahle Himmel des Frühmorgens, der über der offenen Halle heraufzog.

Als Meleagros wieder aufschaute, zeigte es sich, daß der syrische Biedermann verschwunden war. Die Sklaven flüsterten. Es sei bekannt, daß dieser bestimmte durchreisende Römer seine Triebgelüste nicht anders als mit dem Messer in der Faust zu befriedigen pflege. Er könne nicht anders. »Vorher habt ihr das aber niemandem gesagt,« fahr Meleagros sie an, von Sinnen. Sie darauf, stumpf: »Wir dürfen nicht.«

Auf unbekanntem Weg mußte die Nachricht von dem Geschehnis rasch zu Jason gedrungen sein. Denn der Freund erschien bald nach Meleagros in der Halle, half ihm die Leiche den Beamten der Verbrennungsstätte übergeben. Auf dem Heimweg suchte er ihn zu trösten. Doch was für ein Trost! Dieser Jason erwies sich denn doch als unleidlich. Schon bei früheren Anlässen hatte Meleagros immer wieder einigen Widerwillen gegen ihn unterdrücken müssen. Im Grunde hatte sich ja der Schulgenosse stets willig, klug, gutartig benommen. Er schenkte gern alles weg, nicht bloß den neuen Mantel damals, – dabei war er selbst eher bedürftig als reich. Und dennoch, bei all seinen Vorzügen: er stieß ab, die Luft um ihn verletzte, als zerfiele sie bei seinen Reden in spitze Eissplitter. Dabei hatte er ein schönes, wehmütiges Gesicht, breitflächig, mit hoher Stirn edel aufgebaut, – doch was er sagte, stand meist in schroffem Gegensatz zu diesem Gesicht wie zu der leisen, sanften, gelegentlich ins Unerhörbare sich verlierenden Stimme. Hatte ihn nicht das Schulhaupt, Philodem selbst, aus den Gärten verwiesen? – »er hat einen zersägenden Verstand,« hatte der Lehrer damals gesagt. Nun kam dieser zersägende Verstand mit einer langen und schmerzhaften Untersuchung eingerückt: »Es gibt keine Liebe, du hast die arme kleine Demóo nie geliebt, mein Meleagros, Liebe unter uns brüchigen Erdenkindern ist nichts als ein sinnlicher Dunst, Einbildung.« – Meleagros schrie weinend laut auf.

»Man redet sich Gefühle meist nur ein,« fuhr Jason in weichem Flüstern unaufhaltsam fort. »Das ist des Weisen unwürdig. Du hast, um es ganz offen zu sagen, von Demóo gelebt. Reden wir doch die schlichte Wahrheit, auch wenn sie im ersten Augenblick weh tut.«

Meleagros bückte sich, warf einen Stein auf Jason, der rasch zur Seite sprang. Ein verlegenes Lächeln erschien auf seinem schönen Gesicht, die großen graublauen schweren Augen blickten befangen an Meleagros vorbei. Er redete aber ruhig weiter. »Sie war hübsch. Andere Vorzüge hatte sie nicht, aufrichtig gesagt. Du hast von ihr nicht unbeträchtliche Vorteile gezogen, hast sorglos gelebt. Kannst du das leugnen? Ich sage ja nicht, daß es unrecht oder verwerflich war. Wer wollte uns schwache Sterbliche aburteilen! Aber die Tatsache gib zu! Dann wirst du auch verstehen, warum du jetzt mit besonderem Schmerz um sie trauerst, der nur zum Teil ihrer Person gilt. Sie zu überschätzen liegt kein Grund vor, obwohl ich auch durchaus nichts gegen sie einwenden will. Aber wozu sie jetzt plötzlich in einschmeichelndem Goldlicht sehen? Wenn du damit nicht so schnell wie irgend möglich aufhörst, so müßte ich dich zu den unphilosophischen Toren zählen.«

Das Übermaß von Taktlosigkeit, eine geradezu rückhaltlose Entblößung völliger Gefühlsleere machten den jungen Meleagros aufhorchen. »Aber sie war doch ein Mensch!« sagte er kleinlaut, fast wimmernd, streckte wie flehend die Hände aus. Ein Mensch – und man sollte um sie nicht trauern dürfen? dachte er.

»Nun, ein Mensch. Nun ja, ein Mensch,« wiederholte Jason traurig, wie verloren, an Meleagros vorbeiblickend. Die Stimme blieb warm und angenehm, während der Inhalt der Worte kahl, erbarmungslos hervorkam. »Kann man jemanden mehr beschimpfen, als wenn man feststellt, daß er ein Mensch ist?«

Meleagros tat gewiß das Richtige, als er die Unterredung abbrach und wortlos heimging. Dennoch wurde gerade dieses Gespräch (nach Wochen einsamen Leids, dem er sich um Demóos willen hingegeben) zu einem Wendepunkt in seiner Beziehung zu dem Kauz Jason, dem schrulligen Rohling mit dem süßen Ton in der Kehle. Meleagros konnte nicht verhindern, daß diese Beziehung zwischen ihnen beiden sich vertiefte.

Heute ist er mein einziger Freund, mein Licht – überlegte der Staatsschreiber, indem er die Akten wegschob, die der dunkelhäutige peräische Sklave in Stößen hereinbrachte. Und im Schatten des Turmes Phasael begann er wieder einmal einen Brief nach Alexandria, ohne zu wissen, wann ein Kaufmannsschiff von Gaza oder von Caesarea aus das Schreiben mitnehmen würde. – Zank mit Jason hatte es seit jenem Heimweg von der Leichenstätte noch oft gegeben; doch seltsam genug, jeder Zank hatte das Bedürfnis nach streng unumwundenem Gespräch in beiden nur verstärkt, hatte sie immer nur enger zusammengebracht.

Jetzt war es sozusagen des Meleagros einziger Trost, sich durch briefliche Klagen an Jason zu erleichtern, sich mit ihm, der so ganz anders empfand, auseinanderzusetzen. Wer hätte das damals vorausgesehen – damals, als die kleine liebliche Demóo starb?

 

In Athen hatte Jason noch Gelegenheit gehabt, ihm einen entscheidenden Dienst zu erweisen.

»Kennst du den Kreophylos?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Wohl aber behauptet er, dich zu kennen. Seine Nüstern blähen sich wie die eines Jagdpferdes, wenn dein Name fällt, mein Meleagros.«

»Was will er von mir? Ich habe nie …«

»Er stammt wie du aus Antikyra, so scheint es. Jedenfalls aber ist er ein Angeber im römischen Dienst. Sein Amt sieht er darin, die Letzten aufzuspüren, die dem Blutbad des phokischen Aufstandes entronnen sind.«

»Er hat mich erkannt?«

»Noch suche ich es ihm auszureden. Für ein Weilchen habe ich ihn irregeführt, deinen Namen in Menalkas verwandelt. Aber Rom vergißt nicht so leicht. Hat Blutwitterung, der folgt es unabweichlich. Übrigens sind alle Menschen grausam, einer verschlingt den andern. Alle sind wir Sünder. Es ist das Gesetz des Fleisches, unter dem wir stehen. Ohne Unterschied.«

»Ohne Unterschied? Meinst du das im Ernst? Aber er ist doch ein Verräter. Ein Grieche – und spioniert für Rom! Jetzt sehe ich erst, was für ein heruntergekommenes Volk wir sind. Sag, schämst du dich nicht, ein Grieche zu sein, Jason?«

»Der Weise wird sich nicht damit befassen, die Griechen zu retten, – ein Satz des Epikur, mein Lieber. Ich erinnere dich an die Schule! Und an das Schulgeld, das deine Gönner für dich aufgebracht haben. Soll es ihnen leid darum tun?«

»Es geschieht uns also recht, daß Fremde uns regieren. Daß sie mit uns tun, was sie wollen.« Meleagros senkte die geballte Faust.

»Reden wir nicht lang,« meinte Jason mit leiser, sich ins Unhörbare verlierender Entschiedenheit. »Kreophylos kommt heute wieder in eure Gärten. Er darf dich nicht mehr antreffen. Du übernachtest bei mir. Morgen mußt du fliehen. Dein Name in den Proskriptionslisten ist noch nicht gelöscht.« –

Wieder versteckt sich Meleagros auf einem der plumpen großen schwarzen Kornschiffe, fährt wieder als blinder Passagier. Vor zwei Jahren war er mit dem goldenen Kornsegen nach Athen gereist, jetzt legt er zwischen leeren Holzwänden und Gestellen die gleiche Strecke in umgekehrter Richtung zurück. Es geht nach Delos, schließlich nach Alexandria.

Er denkt heute nicht gern daran, wie er sich in der fremden Stadt durchgeschlagen hat. Es war anfangs eine hundemäßig unsaubere Zeit. Viel von dem leichtlebigen jonischen Blut, das er ja glücklicherweise besaß, gehörte dazu, um überhaupt nur irgendwie durchzurutschen. Und auch so kostbar jungwarmes Blut erinnert sich später der einzelnen Erniedrigungen nicht gern. Weltstadt Alexandria, Kosmopolis, wie sich sie gern nannte, der »Knoten der Welt«, – als Flüchtling konnte man da gut untertauchen, aber ganz unbemerkt von irgend jemandem konnte man auch krepieren in dem erbarmungslosen Menschengewimmel. Es gab keinen Kreophylos hier, keinen Katalog der Verfolgten, das war ja entschieden ein Vorteil – es gab aber auch keinen Jason, keinen Freund. Eine Zeitlang fristete Meleagros als verlauster Obstverkäufer im Bazar sein Leben – oder einen Schatten seines Lebens, besser gesagt; dann arbeitete er als Wasserhändler, der seine rasselnden Metallbecken gegeneinander schlug, später als Ruderer im Hafen Eunostos, noch weiter in der Folge als Jongleur, auch als Schalmeibläser mit einer tanzenden Schlange, die aus einem Korb hervorkam, dann ganz einfach nur als Bettler, endlich als Gesellschafter eines Schwindlers, der auf dem Markt Lotterien veranstaltete und vor der Ziehung durchging; worauf auch Meleagros entrüstet ihn verließ. Er hatte es in all den mannigfachen Gewerben seinen Herren nicht zu Gefallen getan, und sie ihm ebensowenig. Das Schlimmste aber kam, als er, um alle Schulden loszuwerden, Handgeld für ein Jahr vorausnahm. Nicht nur daß der Vermittler ihm den größten Teil dieses Handgelds als Gebühr für den verschafften Posten sofort wieder abnahm: der Dienst selbst, bei einer Kurtisane, der er die Besuche anzumelden hatte, dünkte ihn wenig appetitlich. Nun war er also am Ende Türsteher in einem schlechten Hause geworden. Und Epikur, der göttliche Meister, sieht ihm zu. Er war sich eine Weile lang nicht klar darüber, ob es eine Verbesserung bedeutete, als er der gereiften Frau gefiel, als sie ihn zu ihrem Freund machte. Bald genug wurde es ihm dann aber durchaus klar. Mit der blauäugigen, sanft begehrlichen Demóo konnte die neue Herrin, eine keifend geizige Äthioperin, keineswegs verglichen werden. Schlief er nicht oft genug mit ihr, so ließ sie, beleidigt, ihn von ihren Sklaven bis aufs Blut durchpeitschen. Er lief weg, zu einem Lanista, einem Fechtmeister, der ihn anwarb. Dieser Mann veranstaltete Gladiatorenspiele so großen Stils, wie sie der stolzen Weltstadt Alexandria angemessen waren. Unter eine Rotte von Verzweifelten, von entkommenen Sträflingen, flüchtigen Sklaven war Meleagros somit geraten, die ein für allemal ihr Leben verkauft hatten, um an passenden Festtagen einander abzuschlachten, dem Volk zum Ergötzen und dem »zweiten Athen«, dem »Athen des Ostens« zum Ruhme, wie die reichen Krämer und Reeder ihre Heimat mit Vorliebe titulierten.

Die Aussicht, am Leben zu bleiben, war gering – aber ein schmaler Spalt ins Licht (so will es nun einmal die menschliche Natur, und anders hätte sie den für das Fortbestehen des Unternehmens nötigen Antrieb versagt), ein schmaler Spalt ins Licht blieb dennoch unverschlossen, selbst in dieser schwarzen Kerker- und Untergangswelt. Wer sich nämlich im Kampfspiel auszeichnete, konnte hie und da vom Pöbel begnadigt werden. Es kam selten genug vor. Wehe nur, wenn die Marionetten des Todes nicht fanatisch aufeinander losgingen, – »die ganze Arena – eine einzige Flucht« hieß es dann unter den feinsinnig erfahrenen Zuschauern, und alle Klopffechter mußten einander zusammenhauen oder wurden von den Aufsehern abgetan. Focht einer aber brillant, so konnte er sogar berühmt und reich werden, – dann las man wohl auch seinen Namen an die Straßenwände geschmiert und »medicus puparum« dazu, Arzt der Zuckerpüppchen, denn die Frauen schwärmten nicht einmal einen Schauspieler oder Tenor so hingebend an wie den Schwertvirtuosen des Amphitheaters, und für eine Art Ausgleich gegenüber den Gefahren des Handwerks war demnach auch noch in diesem Beruf am Rande der Menschheit einigermaßen gesorgt. – Überdies gab es nichts zu überlegen, ein anderer Unterschlupf war eben dem jungen Meleagros nicht mehr geblieben. Nur in die Fechtschule folgte ihm der Rechtsanspruch der Herrin nicht, die von dem völlig Verarmten das Handgeld zurückverlangte. Hier endlich war er sicher. Denn wer hier diente, galt ohnehin als gleichsam zum Tode verurteilt; billigerweise ließ ihn also bis zum faktischen Eintritt des Todes die strafende Gerechtigkeit ungeschoren, bot ihm etwas wie eine Tempelfreistatt, wenn es auch nur ein Tempel der unteren Götter und der Gespenster war, der hier schützte.