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Rosemarie Bovier

Heimat ist das,
wovon die anderen reden

Kindheitserinnerungen einer Vertriebenen
der zweiten Generation

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Inhalt

Text

Dank

Literatur

Museen

Anhang: Fotografien, Karten

Impressum

Erste Bilder

Es ist ein kalter Novembertag 1949. Da setzen die Bilder ein, zuerst nur weit verstreute Inseln der Erinnerung, die später dichter und dichter werden sollen.

Ich stehe mit meiner Mutter in Obersuhl an der Hauptstraße, die das Dorf von West nach Ost durchzieht und von der ich noch so wenig gesehen habe. Wir warten auf einen Wagen mit Pferden davor. Hinter uns ist ein großer Schaukasten aufgebaut, in dem bunte Plakate Filme ankündigen, vor uns stehen Stühle, die die Breitbardin, der das Kino gehört, uns geborgt hat, damit wir etwas haben, was wir in die große Wohnung stellen können, die wir jetzt auf dem Lager kriegen. Später, viel später, ich kann einen Stuhl dann schon alleine tragen, werden wir sie zurückbringen. Dann können wir uns endlich selber Stühle kaufen.

Beim Warten wird mir kalt. Ich trippele von einem Fuß auf den anderen. Ob es der Versuch war, die Füße, die in Sommerschuhen stecken, ein bisschen zu wärmen, oder die Aufregung, kann ich heute nicht mehr entscheiden. Vielleicht war es beides.

Ich erahne mehr, als dass ich es verstehe, dass etwas Einschneidendes in unserem Leben geschieht. Wir werden nie mehr zu Lehmanns auf den Dachboden nach Hause gehen.

Lehmanns, das sind: der alte Lehmann, unser Hausherr, der eine Baufirma hat und die Wohnung im ersten Stock direkt unter uns alleine bewohnt, ein polternder, oft angetrunkener Mensch, der über die aufgezwungenen Bewohner des Dachbodens murrt, und wenn die Kinderfüße über ihm trippeln, brüllt er. Im Erdgeschoss wohnen seine geschiedene Frau, der Sohn mit seiner Frau und den beiden Töchtern, etwa im Alter meiner Brüder. Zwei streiten immer, entweder der alte und der junge Lehmann wegen der Firma oder der alte Lehmann und die alte Frau Lehmann, sobald sie aufeinander treffen. Zwischen dem alten Lehmann und den Bewohnern unter dem Dach gibt es keinen Streit, er braucht nur »Ruhe da oben!« zu brüllen, und die eingeschüchterten Mitbewohner verstummen und vermeiden jedes Geräusch. Das herumhüpfende Kind wird mit einem gereizten »Pscht, der Hausherr schimpft« zum Stillsitzen gebracht.

Das Warten wird langweilig. Mein ständig wiederkehrendes »Wann kommen sie denn?« wird genauso oft mit einem ungeduldigen »Gleich!« meiner Mutter erwidert. Auf der Straße ist nichts los, nur ein dreirädriger Pritschenwagen kommt vorbei und biegt nebenan in die Kohlenhandlung ein. Bei dem schaurigen Wetter sind auch kaum Fußgänger unterwegs. Meiner Mutter ist das recht, die Obersuhler brauchen nicht zu sehen, wie arm wir sind.

Sechsundvierzig, erzählt meine Mutter später, sind wir nach Deutschland gekommen, nach Nordhessen, erst waren wir drei Wochen lang in Iba im Durchgangslager, von da haben sie uns nach Obersuhl gebracht. Das war im September. Die Obersuhler wollten die Flüchtlinge nicht haben, aber sie konnten ja nichts machen. Uns haben sie bei Lehmanns einquartiert! Aber das war doch keine Wohnung! Zwei Zimmer direkt unterm Dach, eins davon war eine alte Wurstkammer, das andere ein langer Schlauch mit ’nem alten Eisenbett und ’nem Schrank von Lehmanns und unsren paar Kisten, die wir aus den Flüchtlingslagern in Österreich mitgebracht hatten. Der erste Abend, das war furchtbar! Wir saßen da auf unseren Kisten bei Kartoffeln, die wir noch in Iba von den Feldern gestohlen hatten. Sonst hätten wir eh nix zu essen gehabt. Wir schliefen auf dem Fußboden. Am zweiten Tag hat uns der junge Herr Lehmann einen Tisch und Stühle gebracht und am nächsten Tag noch ein Bett vom Boden. Man hat ja nichts gehabt außer ’nem alten Herd aus Österreich und ein paar Lagerdecken, die waren wie Rossdecken. Und der Winter 47, der war doch so eiskalt. Wenn dein Vater nicht im November bei der Bahn hätt’ anfangen können, wären wir erfroren. Aber so hat er Schichtdienst gehabt, und bei der Nachtschicht hat er dann von den Kohlen, mit denen sie die Loks geheizt haben, immer eine Tasche voll mitgebracht. So konnten wir wenigstens ein Zimmer heizen. Das ging ja schon! Aber nachts unter den Lagerdecken haben wir gefroren wie nur was, ich hab geheult: Wir kriegen unser Leben lang keine Duchede, keine Federbetten, mehr.

Ein Pferdegespann taucht in der Kurve auf.

»Sind sie das?« Sie sind es! Endlich wird er wahr, der heiß ersehnte Umzug ins Lager, in eine richtige Wohnung, wenn auch nur in einer Baracke. Ein Gefühl der Befreiung stellt sich ein, man ist wieder sein eigener Herr. Es gibt keinen Hausherrn mehr, der einem vorschreiben kann, was man zu machen hat. Und wenn eine Rückkehr nach Brestowatz in der Batschka, wo man Herr in seinem eigenen Haus gewesen ist, schon nicht möglich ist, dann wird einem da oben auf dem Lager wenigstens keiner mehr reinreden, und man wird wieder unter sich sein.

Neben dem Kutscher auf dem Leiterwagen erkenne ich meinen Vater. Auf der schmalen Ladefläche hinter ihm ist unser ganzer Besitz aufgetürmt: das Ami-Feldbett, ein mit grünem Zeltstoff bezogenes Faltbett, das noch von den Amerikanern aus einem Flüchtlingslager in Österreich stammt, ein eisernes Bettgestell mit einem Strohsack, ein Hocker mit einem dreibeinigen Eisengestell, ein Kochherd, der auch noch aus Österreich stammt, und ein kleiner, weiß lackierter Küchenschrank mit jeweils zwei Türen im oberen und unteren Teil. Das sind die Stücke, die in meiner Erinnerung bleiben, wahrscheinlich, weil sie mich noch viele, viele Jahre meines Lebens begleitet haben, bis sie nach und nach durch neue ersetzt wurden. Am längsten wird der Küchenschrank erhalten bleiben, er wird den Umzug nach Bebra ins Eisenbahnerhaus miterleben und dort in der Küche stehen, er wird mitziehen ins eigene Haus, wo er als Vorratsschrank im Heizungskeller stehen wird. Es wird seine letzte Station sein.

Sechsundvierzig, da müssen sie allerdings noch lange auf warme Federbetten und so manches andere warten. Dafür kriegen sie mich, nach einem Jahr bei Lehmanns in der Wurstkammer unter dem Dach. Und das, so meine Mutter, wo man nichts gehabt hat. Man war froh, wenn was zu essen auf dem Tisch war. Sie hat geheult, wo sollte man denn was herkriegen für ein kleines Kind. Und dann die Leute, was werden die sagen: Nix zu essen, aber noch ein Kind, als wären zwei Kinder nicht genug, und in dem Alter!

Nein, sie wollte 1947 kein Kind. Die materielle Not, die ungewisse Zukunft ließen in ihren Augen kein drittes Kind zu. Dazu kam die Scham, in ihrem Alter, mit zweiunddreißig Jahren, noch ein Kind zu kriegen, die Scham auch vor den eigenen Söhnen, vor allem dem älteren, der mit fast fünfzehn Jahren doch schon etwas verstand, wie sie glaubte. Derhōm, so sagt sie mir später, hat man doch keine Kinder mehr gekriegt, wenn man mal über dreißig war.

Ich werde zusammen mit den Stühlen auf dem Wagen verstaut, mitten zwischen unseren wenigen Habseligkeiten. Für meine Mutter ist kein Platz mehr. Sie muss zu Fuß gehen. »Ist ja nicht weit«, sagt sie. Die erste Fahrt meines Lebens beginnt. Ich erlebe, dass ich fahre und die anderen laufen müssen; ich spüre, dass Fahren ein Privileg ist. Stolz sitze ich auf dem Wagen, und das Gefühl stellt sich ein, dass alle anderen neidisch auf unser Fuhrwerk blicken. So werde ich noch lange auf die Kinder gucken, die in einem Auto fahren dürfen.

Die Fahrt mit dem Fuhrwerk scheint kein Ende zu nehmen. Das Pferd zieht den Wagen über eine gepflasterte Straße durch das Dorf, dann unter der Bahnlinie hindurch, am Friedhof vorbei. Hinter der Bahnlinie stehen keine Häuser mehr, hier ist das Dorf zu Ende. Die gepflasterte Straße biegt zum Friedhof ab. Wir nehmen den Fahrweg, der geradeaus weiterführt auf einen kleinen Berg hinauf. Der Weg ist holperig und die Räder unseres Wagens zeichnen parallele Spuren in die aufgeweichte Oberfläche.

Ein paar Jahre später, auf dem Rückweg aus der Schule, wird der Bäcker hier gelegentlich mit seinem Auto anhalten, in dem er an jedem Wochentag das Brot auf das Lager bringt, und mich das letzte Stück des Weges mitnehmen. Dieser Bäcker hat ein Herz für die Flüchtlinge, höre ich die Erwachsenen sagen. Für sie backt er das Mischbrot besonders hell, fast so hell wie derhōm, daheim in Brestowatz, aber das richtige Brot, das nur aus Weizenmehl gebacken wird, das kommt dōhaus, hier in Deutschland, zu teuer. Da braucht man zu viel, bis man satt ist. Schon vor der Währungsreform hat ihr Bäcker den Flüchtlingen auch ohne Karten hin und wieder ein Brot gegeben. Bei den anderen Bäckern im Dorf war da nichts zu machen, die haben nur den Obersuhlern Brot gegeben. Ja, jetzt würden die schon gern an die Flüchtlinge verkaufen. Aber da werden sie lange drauf warten, dass die Flüchtlinge ihr Geld zu denen bringen! Die sollen nur weiter ihr Brot an die Obersuhler verkaufen.

Schließlich biegt das Fuhrwerk scharf nach rechts ab. Wir sind da, auf dem Lager, unserem neuen Zuhause. Da bleiben wir jetzt! Und wir gehen nie mehr zurück zu Lehmanns.

Auf der Wache 27

Fast zehn Jahre lang soll das Lager unser Zuhause bleiben. Es wird meinen Begriff von Lager prägen. Wann immer auf dem Lager von einem Lager die Rede sein wird, und es wird besonders in den ersten Jahren oft davon die Rede sein, vom Lager in Gakovo, vom Lager in Puch, vom Lager in Saalfelden, vom Lager in Iba, vom Lager in Russland, entsteht als Vorstellung in meinem Kopf die Projektion des Obersuhler Lagers. Dass es Lager gibt, in denen es einem schlecht geht, wie in Gakovo, und solche, in denen es einem gut geht, wie in Obersuhl, lerne ich früh. Von Konzentrationslagern höre ich auf dem Lager nichts, nichts von Sachsenhausen, nichts von Buchenwald. Das Konzentrationslager in Dachau wird das erste sein, von dem ich erfahre, aber das erst viel später und nicht von den Obersuhler Lagerbewohnern.

’S Lager! So nennen es die Flüchtlinge, um es vom Dorf abzuheben. Das Lager, so nennen es die Obersuhler, um sich von dessen Bewohnern abzugrenzen. Von unten aus dem Dorf auf das Lager ziehen die Flüchtlinge, auf dem Lager, nicht im Lager, wie in Puch und Saalfelden, wollen sie fortan hier oben leben.

Das Lager liegt auf einer kleinen Verflachung am Nordhang des Obersuhler Beckens. Der alte Flurname »Auf der Wache« legt den Gedanken nahe, dass hier einst Wachposten ihren Dienst versahen. Und in der Tat, diese kleine Anhöhe oberhalb des Gerstungen-Obersuhler Beckens, die schon die Menschen der Bronze- und Eisenzeit als Siedlungs- und Begräbnisplatz zu schätzen wussten, stellt einen idealen Ort für Wachposten dar. Die erhöhte Lage über dem Dorf, auch wenn es nur rund dreißig Meter sind, ermöglicht einen weiten Blick über das Becken, über die alten Verkehrswege und über die Werra. Nur wenige hundert Meter weiter östlich verläuft die Landesgrenze zwischen Hessen und Thüringen.

Die Zeiten, in denen hier möglicherweise Posten die Verkehrswege und die umkämpfte Landesgrenze überwacht haben, gehören der Geschichte an und sind längst in Vergessenheit geraten. Der überlieferte Flurname lebt in der offiziellen Adresse des Lagers weiter. Schon früh wird mir beigebracht, wenn mich jemand fragt, wo ich wohne, so muss ich sagen: »Auf der Wache 27«. Ich präge es mir ein, verstehe nicht, warum ich das sagen muss, obwohl doch alle nur vom Lager reden, auf dem wir wohnen.

Ein kleines Wäldchen, das sich südlich an das Lager anschließt, verhindert heute den freien Blick auf das Dorf, schirmt aber auch die Holzbaracken, die »Auf der Wache« errichtet worden sind, vor den Blicken der Dorfbewohner ab.

Ab wann wohl mag es ratsam erschienen sein, das Lager zu verbergen? 1936/1937, als die Baracken errichtet worden sind, wohl noch nicht. Da konnten sie sich sehen lassen, zeigten sie doch, dass es mit Deutschland wieder aufwärts ging! Hier, beim Bau der Reichsautobahn, sah man, wie der »Führer« die Arbeitslosen von der Straße holte. Und wenn auf den Fahrbahnen erst die Autos aus dem Westen nach Berlin rollen würden, dann konnten auch die Obersuhler daran verdienen! Nein, die Behelfsunterkünfte nahe der Autobahn, in der die Hilfstruppen des Reichsarbeitsdienstes untergebracht waren, mussten nicht versteckt werden. Waren es doch Boten besserer Zeiten, und wenn diese Zeiten dann da sein würden, konnten die einfachen Baracken wieder abgerissen werden.

Sie brauchten aber nicht abgerissen zu werden. Der »Führer« sorgte dafür, dass bald neue Lagerinsassen nachgeliefert wurden. Keine Zeugen des wirtschaftlichen Aufschwungs mehr: Je länger die Militärkolonnen nach Osten rollten, desto mehr Kriegsgefangene wurden aus dem Osten ins Reich gebracht. Die ehemaligen Unterkünfte des Arbeitsdienstes füllten sich mit Zwangsarbeitern, wurden zum Gefangenenlager, dessen Insassen bei Bauern auf den Feldern der Umgebung arbeiten mussten. Mit den neuen Bewohnern zogen erneut Posten »Auf der Wache« ein. Viele Änderungen waren nicht erforderlich. Die nach allen Seiten hin geschlossene Anlage ließ sich leicht überwachen, die erhöhte Lage über dem Dorf schied es von den Dorfbewohnern ab. Ist das Wäldchen zwischen dem Dorf und dem Lager in dieser Zeit entstanden?

Im Jahr 1945, nach dem Abzug der Kriegsgefangenen, standen die Baracken wieder nur für kurze Zeit leer. Zum Abriss, zumal in den Zeiten der wirtschaftlichen Not nach Kriegsende, waren sie allemal noch zu schade. Die Gemeinde Obersuhl nahm sich ihrer an, ließ sie renovieren und richtete ein Altersheim darin ein.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges sorgte nicht nur dafür, dass Obersuhl seine unfreiwilligen Arbeitskräfte verlor, sondern führte dem Dorf auch Hunderte von Menschen zu, die ihre östlichen Heimatländer hatten verlassen müssen, auch sie kamen unfreiwillig. Flüchtlinge aus Schlesien, dem Sudetenland oder Ostpreußen trafen ein. Obersuhl hatte auf einmal über tausend Einwohner mehr als 1939. Im Herbst 1946 trafen noch einmal rund dreihundert Flüchtlinge ein, die aus Südosteuropa kamen und die nicht protestantisch waren wie die Obersuhler Bevölkerung und die meisten der anderen Flüchtlinge, die schon einige Monate früher in den Häusern des Dorfes einquartiert worden waren. Was sollten die Obersuhler mit den Katholiken anfangen? Die wenigen ortsansässigen katholischen Familien wie die des Apothekers oder die des Försters waren nach Gerstungen in Thüringen zur Messe gefahren. Aber da waren jetzt die Russen. Da konnten sie die Flüchtlinge nicht hinschicken.

Die Donauschwaben blieben hartnäckig. Etwa vierzig Familien, darunter meine Eltern mit meinen Brüdern, stammten aus dem gleichen Dorf, Brestowatz in der Batschka, das nach wechselnder Staatszugehörigkeit heute zu Serbien gehört. Im Oktober 1944 hatten sie zusammen mit über zweitausend anderen deutschstämmigen Bewohnern ihr Dorf in der Batschka verlassen, um sich vor den herannahenden Truppen der Sowjetarmee und befürchteten Gräueltaten von Titos Partisanen in Sicherheit zu bringen. Nach mehreren Stationen in Österreich trafen sie zwei Jahre nach ihrem Aufbruch in Obersuhl ein, wo ihnen Wohnungen in Häusern der Obersuhler Dorfbewohner zugewiesen wurden.

Die Obersuhler Brestowatzer waren sich einig: Sie wollten einen Ort, wo sie zusammenkommen durften, um gemeinsam zu beten. Die Türen der evangelischen Kirche blieben ihnen verschlossen. Aber in den Speisesaal des Altersheims, wo die alten Bewohner die gemeinsamen Mahlzeiten einnahmen, dahin konnten sie am Sonntagvormittag kommen, um den Leib des Herrn zu sich zu nehmen. Der Pfarrer aus Richelsdorf teilte ihn ihnen aus. Er war damit beauftragt worden, die kleine katholische Gemeinde in Obersuhl mitzuversorgen.

Die Sonntags-Sternmärsche der katholischen Flüchtlinge auf das Lager begannen. Die Flüchtlinge aus Brestowatz hatten einen Fuß in die Tür gesetzt und ließen das Lager nicht mehr los.

1949 schließlich wollten die Obersuhler es den Bewohnern des Altersheims nicht mehr länger zumuten, in Baracken zu wohnen. Sie verlegten deren Wohnsitz nach und nach in den Nachbarort Richelsdorf, wo in dem »Schlösschen« ein Altersheim eingerichtet worden war. Die Baracken in Obersuhl wurden erneut leer. Nun war von Abriss die Rede. Ja, aber wo sollten sie, die katholischen Donauschwaben, dann mit ihrem Glauben bleiben? Und überhaupt, zum Abreißen waren die Baracken noch viel zu schade, da könnten sie doch reinziehen! Da ließen sich leicht Wohnungen draus machen. Man sollte sie nur lassen!

Die Obersuhler Brestowatzer sahen ihre Chance. Sie bedrängten den Bürgermeister. Der ließ sich erweichen. Sie durften die Baracken umbauen und in abgeschlossene Wohnungen untergliedern, sogar Ställe und Schuppen durften sie errichten. Nicht nur das! Die Gemeinde stellte ihnen auch noch die Baumaterialien zur Verfügung. Nur die erforderlichen Arbeiten, die mussten die künftigen Bewohner selbst ausführen. Wenn’s nicht mehr war, das wollten sie schon in die Hand nehmen, da wollten sie schon alle zusammen Hand anlegen. Mit so viel Entgegenkommen hatten sie gar nicht gerechnet.

Dieser Großmut des Bürgermeisters wurde nicht vergessen: Die Flüchtlinge aus Brestowatz wurden zu seinen treuen Wählern und Anhängern. Hatte er doch so viel für sie getan! Das Interesse der Obersuhler, die ihnen aufgezwungenen Hausgenossen los zu werden, sahen sie wohl, aber es schmälerte in ihren Augen nicht das Verdienst des Bürgermeisters.

Der Umbau der ersten Baracke wird noch im Herbst abgeschlossen. An jenem kalten Novembertag gehören wir zu den ersten, die das Dorf verlassen und in eine der begehrten Wohnungen einziehen können. Eine der anderen Baracken ist den Winter über noch von Bewohnerinnen des Altenheims belegt.

Klein-Brestowatz entsteht

Es ist Winter, mein erster Winter auf dem Lager. Außer mir sind noch keine weiteren Kinder da. Schnee liegt auf den Holzbaracken, die im rechten Winkel zueinander stehen, und bedeckt die scheinbar endlos weite Fläche, die dazwischen liegt. Nur wenige kahle Bäume ragen über die flachen, lang gezogenen Gebäude hinaus. Ich drücke meine Nase gegen die Scheibe des kleinen Fensters und sehe zu, wie die Vögel draußen hin- und herhüpfen. Das wird mit der Zeit langweilig. Ich warte darauf, dass endlich mal eine der Türen der gegenüberliegenden Baracke aufgeht und eine der alten Frauen heraustritt. Meine Ausdauer wird schließlich belohnt. Die am weitesten entfernt liegende Tür öffnet sich, eine Frau, ganz in Schwarz gehüllt, tritt heraus und schüttet Brotkrumen auf den Schnee. Sofort stürzt sich eine Schar Vögel darauf, um die Leckerbissen aufzupicken. Die vielen Vögel streiten sich noch um die letzten Krümel.

Ich habe eine neue Erfahrung gemacht: Brot kann man nicht nur selbst essen, man kann auch Vögel damit füttern. Jeden Tag füttert die Vogel-Oma, wie ich sie bald nenne, die Vögel. Ich möchte auch die Vögel füttern, aber ich weiß: Wir müssen froh sein, dass wir selber was zu essen haben. Ich gehe oft zur Vogel-Oma. Sie ist die letzte, die nach Richelsdorf ins Altersheim wechselt. Nun ist keiner mehr da, der die Vögel füttert.

Im Laufe des Winters und des darauf folgenden Frühlings werden die übrigen Baracken, ebenso wie die erste, in gemeinsamer Arbeit von ihren künftigen Bewohnern umgebaut. Zum dritten Mal verdankt das Lager seine Bewohner dem Wirken des »Führers«: Dieses Mal ziehen Menschen ein, deren Vorfahren vor vielen Generationen Deutschland verlassen hatten, um in fernen Gebieten eine bessere Zukunft zu finden, und die nach der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg ihre Heimatländer verlassen mussten, weil sie zu dem deutschen Volk gehörten. Dabei hatten sie doch niemandem etwas getan! So glaubte ich. Dass sie in ihrer Heimat begeisterte Anhänger Hitlers waren, davon habe ich auf dem Lager nie etwas gehört.

Etwas mehr als zwanzig der Brestowatzer Familien, die im Dorf einquartiert gewesen sind, bekommen hier ihre ersehnte Wohnung. Sie haben das große Los gezogen. Etwa genauso viele Familien müssen weiterhin im ungeliebten Dorf wohnen bleiben.

Im Frühjahr kommen endlich auch die ersten Familien mit Kindern. In unsere Nachbarwohnung, mit der wir eine gemeinsame Eingangstür haben und einen Windfang teilen, zieht bald nach uns ein Ehepaar, jünger als meine Eltern, aus dem Banat ein. Ihr Sohn Friedhelm ist so alt wie ich. Er wird mein erster Spielkamerad.

Der Friedhelm, so meine Mutter, das war vielleicht ein Wildfang, der hat immer mit dir gerauft. Einmal hat er dir ein Eimerchen auf den Kopf geschlagen, da hab ich ihm aber eine runtergehauen. Seine Mutter sieht das, na, da war was los. Was war das für eine Streiterei! Ihr habt schon längst wieder miteinander gespielt. Wir haben immer noch gestritten. Jahrelang werden die Mütter kein Wort miteinander sprechen, auch noch als Friedhelm und ich später in die gleiche Klasse gehen und die Familie schon lange nicht mehr neben uns wohnt, sondern in einem der beiden Steinhäuser, die zwischen den Baracken stehen.

Zwei Baracken sind reine Brestowatzer Baracken, in die anderen ziehen neben Familien aus Brestowatz auch welche aus Ungarn, aus Schlesien, aus dem Sudetenland ein. Immer mehr Kinder bringen sie mit auf das Lager. Viele sind älter als ich, so wie meine Brüder, die nicht mehr mit mir, der Kleinen, spielen wollen. Viele sind noch so klein, dass ich nicht mit ihnen spielen will. Endlich kommen auch zwei Mädchen, die so alt sind wie ich. Von nun an brauche ich nicht mehr mit einem Jungen zu spielen, nun habe ich Inge und Ina.

Im Laufe des Sommers hält die Bautätigkeit auf dem Lager weiter an. In insgesamt sechs Baracken entstehen Wohnungen mit zwei bis vier Räumen. Zwei Wohnungen teilen sich jeweils einen Eingang. Die Bewohner beginnen damit, sich wieder häuslich einzurichten. Unermüdlich arbeiten die älteren Männer, die keinen Arbeitsplatz mehr gefunden haben, daran, das Lager den Bedürfnissen seiner neuen Bewohner anzupassen. Die Berufstätigen helfen am Feierabend und am Wochenende mit, selbst diejenigen, die im Dorf haben bleiben müssen, kommen hoch, um zu helfen. Die Brestowatzer halten zusammen.

Schuppen werden eingerichtet, Schweineställe mit darüber liegenden Hühnerställen gebaut, der Gehweg gepflastert, Blumengärtchen vor und Gemüsegärten hinter den Baracken angelegt, Obstbäume gepflanzt, ein Lebensmittellädchen eröffnet. Die Inhaber, Familie Breuer, sind keine Brestowatzer, sondern Sudetendeutsche. Die überwiegende Mehrheit ihrer Kunden jedoch sind Brestowatzer, also ist es durchaus ein Brestowatzer Laden. Breuers lernen schnell, sich auf die Bedürfnisse ihrer Kunden einzustellen und vor allem scharfes Paprikapulver in genügender Menge vorrätig zu haben. Die Brestowatzer kaufen nicht viel, aber sie zahlen gleich. Mit einem Aufschreibheft statt mit dem Portemonnaie Einkaufen gehen, nein, so was gibt es bei ihnen nicht. Wie kann man denn was kaufen, wenn man’s nicht bezahlen kann! Verständnislos schütteln die Brestowatzer ihre Köpfe, wenn einer der Hochdeutsch sprechenden Kunden in Breuers Laden zum Monatsende hin wieder anschreiben lässt. Haben die denn gar keine Einteilung! Wenn die kein Geld mehr haben zum Bezahlen, sollen die halt warten, bis wieder welches da ist! Sie warten doch auch! So was hätt’s derhōm nicht gegeben. Aber da haben sie auch nicht so viel einkaufen müssen. Fast alle haben wenigstens so viel Land und Vieh gehabt, dass sie zum Essen genug gehabt haben.

Als die neuen Lagerbewohner zu Beginn des Sommers ihr neues Zuhause betrachten, stellen sie fest, es fehlt doch etwas. Und so wie seinerzeit die Ansiedler, die im 18. Jahrhundert nach Brestowatz gekommen sind, so bauen sie in der Mitte ihrer kleinen Siedlung ein Kirchlein. Ein katholisches natürlich, aus Holz wie die Baracken, darunter kleine Kellerzellen wie unter den beiden Steinhäusern. Hier wollen die Lagerbewohner ihre Vorräte unterbringen. Vorräte, die sie von nun an endlich wieder haben würden.

Der Bau der Kirche wird mit allem Eifer vorangetrieben, soll sie doch bis Anfang September fertig sein. Am 12. September, am Namenstag Marias, da war in Brestowatz Kirchweih und da soll auf dem Lager auch wieder Kirchweih sein. Sie schaffen es. Aus Fulda kommt sogar der Weihbischof. Nein, der ist sich nicht zu schade, zu den Flüchtlingen aufs Lager zu kommen und ihre Kirche einzuweihen. Auf den Namen der Gottesmutter Maria, wie die Brestowatzer Kirche, weiht er sie. Nun haben die Brestowatzer nicht nur wieder eine Kirche, sie haben auch ihr Kirchweihfest wieder und feiern es wie derhōm, mit Brezeln und Kipfeln, die derhōm der Bäcker gebacken hat, dōhaus backen die Frauen sie selber; nur das Karussell und der Tanz am Abend im Wirtshaus fehlen. Jedes Jahr aufs Neue wird die doppelte Kirchweihe, die betagte und die frische, das Band zwischen derhōm und dōhaus, im Lager gefeiert. Von der Zeit, in der sie nicht die Kirchweihe, sondern den Geburtstag des »Führers« feierten und nicht in die Kirche gingen, reden sie nicht. Derhōm ist man jeden Sonntag in die Kirche gegangen, die Männer sind danach ins Wirtshaus und die Frauen nach Hause zum Kochen. Das war das Bild, das sie vermitteln wollten, und ich habe es geglaubt. Die Zweifel stellten sich erst viel später ein.

Dōhaus gehen die Brestowatzer, die vom Lager und die aus dem Dorf, wieder jeden Sonntag in die Kirche und einmal im Monat zur Kommunion. Feste werden gemeinsam wie derhōm begangen. Selbst der Pfarrer stellt sich darauf ein und übernimmt ihre Bräuche. Palmsonntag weiht er ihre Palme, die in der Stube hängen, bis sie an Erntedank durch geweihte Ährenbündel ersetzt werden. An St. Blasius weiht er die röhrenartigen Stängel der Liebstöckelpflanzen. Wenn ich Halsweh habe, muss ich sie beim Trinken als Strohhalm benutzen, damit das Halsweh weggeht.

Im Palmengarten in München, den ich später bei einem meiner Ferienaufenthalte bei meiner Großmutter in Dachau besuchen werde, suche ich erfolglos nach Palmen, wie ich sie vom Heil und erst recht von den Weiden zwischen dem Lager und der Autobahn in Obersuhl kenne.

Meine Tante lacht und klärt meinen Irrtum auf: »Ach, die Brestowatzer, die sagen halt zu Weidenkätzchen Palmen. Weil es in Brestowatz keine Palmen gegeben hat, haben sie halt Weidenkätzchen am Palmsonntag mit in die Kirche genommen und Palmen dazu gesagt. Aber das sind keine richtigen Palmen.«

Wir fahren noch einmal nach München, zum Sommerschlussverkauf. Auf den Tischen der Kaufhäuser liegen riesige Stapeln von Stoffballen. Ich darf mir einen aussuchen, die Oma bezahlt den Stoff, die Tante näht mir das Kleid. Ich wähle einen weißen Stoff mit blauen Palmen darauf.

»So«, sagt die Tante beim Anprobieren, »jetzt kannst du allen auf dem Lager zeigen, wie richtige Palmen aussehen.«

Kirchenschändung

Stolz blicken die Brestowatzer auf ihr Werk, haben sie den Obersuhlern doch gezeigt, dass sie kein hergelaufenes Gesindel sind, sondern fleißige und ordentliche Leute, die sich ein schönes Zuhause machen und auch Kultur haben; man musste sie ihre Kultur nur pflegen lassen.

Und man ließ sie sie fortan pflegen. Und je mehr sie sie pflegten, desto mehr schotteten sie sich ab. So wie sie sich, solange sie noch in ihren alten Heimatländern lebten, von den Ungarn und den Serben abgeschottet hatten, um ihr Deutschtum zu bewahren, so schotten sie sich jetzt von den Deutschen ab, um im Herkunftsland ihrer Vorfahren ihr mitgebrachtes Donauschwabentum zu bewahren.

Es ist Sonntag. Ich habe mein Sonntagskleid an, das ich nur in die Kirche anziehen darf, weil es zum Spielen in der Woche oder für die Schule zu schade ist. Es ist zu empfindlich, und wenn es verdreckt wird oder zerreißt, dann habe ich nichts Ordentliches mehr für die Kirche. Ich hole Inge ab, um mit ihr zusammen wie jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Auch sie hat ihr Sonntagskleid an. Auf Ina brauchen wir nicht zu warten, ihre Eltern sind nicht katholisch und nehmen sie mit hinunter ins Dorf, nicht in die große Kirche, in eine kleine Kirche neben dem Bürgermeisteramt, die gar nicht so aussieht wie eine Kirche. Die Kirche auf dem Lager hat auch keinen Turm und keine Glocken, nur ein Kreuz über der Eingangstür. Inge und ich betreten gemeinsam die Kirche, tauchen unsere Hände in den Weihwasserkessel gleich neben der Tür, machen einen tiefen Knicks und gehen den Mittelgang entlang nach vorne auf den Altar zu. In den hinteren drei Reihen stehen Hocker. Sie sind noch frei. Hier sitzen die Männer, die kommen immer zuletzt, kurz bevor der Pfarrer vor den Altar tritt. In der Mitte stehen Bänke mit Rückenlehnen. Hier sitzen die Frauen. Viele Plätze sind da schon besetzt. Wir gehen ganz nach vorne durch, wo drei Bänke ohne Rückenlehnen stehen. Hier sitzen die Kinder, rechts die Jungen, links die Mädchen, und die kleinen, wie wir, sitzen auf der ersten Bank, ganz nah an der Kommunionsbank, obwohl wir noch nicht zur Kommunion gehen dürfen.