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Ron Segal
Jeder Tag wie heute

Ron Segal
Jeder Tag wie heute

Roman

Aus dem Hebräischen
von Ruth Achlama

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Ich will sterben, sagte ich.
Du bist schon tot, erwiderte der SS-Offizier.
Warum dann dieses unablässige Wollen?

Adam Schumacher

Für meinen Großvater sel. A. und meine Großmutter
Für meine Eltern

Inhalt

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

Letztes Kapitel

Epilog

Dank

Prolog

Ich begegnete Bella zum ersten Mal, als ich vierzehn und sie elf Jahre alt war. Bevor wir auch nur die ersten Blicke tauschten, hatten wir uns ineinander verliebt. Ich dachte: Wenn ich mal siebzig bin, ist Bella siebenundsechzig. Aber die Jahre vergingen, und das Versprechen wurde nicht eingelöst.

Bella war eine Harfenspielerin von Weltrang. Allerdings war sie auch jüdisch, wie ich, und so musste ihre Begabung ein paar Schritte zurücktreten zugunsten eines Geschichtsabschnitts. Trotzdem nahm sie ihr erstes Konzert schon mit knapp neun Jahren auf; bei Kriegsende wurde im Krematorium von Dachau ein weiteres aufgezeichnet, das eine überraschend gute Akustik abgab, und unzählige Konzerte folgten nach unserer Einwanderung in Israel.

So verwandelte sich Bella vom Wunderkind, dessen Talent sich wegen der künstlichen Unterbrechung durch den Krieg nicht voll hatte entfalten können, in eine erwachsene Musikerin, die praktisch immer noch ein Wunderkind war.

Bella hat wohl kaum geahnt, dass ihre letzte Tonaufnahme von einer Probe stammen würde, an deren Ende man sie lachen hörte. Es mag ein Klischee sein, aber in meinem Alter darf ich sagen, dass das die schönsten Klänge der ganzen Aufnahme waren.

Ich weiß nicht, wie ich die Niederschrift meiner letzten Geschichte angegangen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass es wirklich meine letzte sein würde, aber ich erinnere mich an einen Satz meines guten Freundes Max: Wenn dir die Erinnerungen an Bella verblassen, kannst du wieder leben, wagte er mir zu sagen. Ich wusste: Wenn die Erinnerungen an Bella endeten, würde ich meine letzte Geschichte schreiben.

Die Ereignisse, die ich hier schildern werde, sind wirklich geschehen. Doch selbst wenn es jemandem gelingen sollte, mit der Kamera einen Märchendrachen einzufangen, der in seiner ganzen Pracht vor ihm erscheint, wird das Foto stets unscharf sein, und manche sagen dann, man könne nicht wissen, was auf dem Bild zu sehen sei, denn es sei ja kaum zu erkennen und vielleicht habe der Fotograf selbst es beim Aufnehmen nur unscharf gesehen.

Auch in meinem Fall sagten so einige, man könne nicht wissen, was mir geschehen sei, denn die Zeugenaussagen seien nicht weniger »unscharf« als Hunderttausende Bilder von Göttern und Ungeheuern, und sehr wahrscheinlich hätte ich eine imaginäre Wirklichkeit erlebt, während sonst alle eine andere, offenbar einheitliche Wirklichkeit erlebten – was mich immer belustigt –, und in dieser Wirklichkeit seien mir Dinge vor Augen getreten, die nach dem gesunden Menschenverstand in unserer Wirklichkeit gar nicht existierten.

Aber hier muss ich innehalten, um anzumerken, dass der gesunde Menschenverstand vielleicht tatsächlich einer geraden, aber auch unendlichen Linie gleicht, und wer ihr folgt, wird neue Dinge entdecken, die letzten Endes in die Kategorie »gesunder Menschenverstand« gehören.

Wer je behauptet, unmögliche Dinge könne man nicht glauben, tut das aus Mangel an Erfahrung. Würde er nur täglich eine halbe Stunde trainieren, könnte er bald noch vor dem Frühstück sogar sechs unmögliche Dinge glauben.

Nun möchte ich aber auch nicht empfehlen, beim nächsten Mal überstürzt alles Unmögliche zu glauben, denn im Bemühen, alles zu glauben, werdet ihr schließlich eure Gehirnzellen überanstrengen, und dann seid ihr zu schwach, noch die einfachsten Wahrheiten glauben zu können.

So kommt hier später beispielsweise, wenn auch aus einem anderen Buch, eine Geschichte über meine Bella, die in ihrem großen Bemühen, ein unmögliches Ereignis zu glauben, gar nicht merkte, wie leicht sie selbst gerade ein solches auslöste, etwas, das sie dann bis ans Lebensende verfolgte.

Ich werde die Ereignisse so schildern, wie sie mir geschehen sind, wie ich sie früher bereits erzählt habe, und eines wird den Beweis für meine Glaubwürdigkeit erbringen, falls mein über die Jahre erworbener guter Ruf nicht schon allein dafür bürgen sollte: Meine Geschichte ist konsequent. So wie sie hier erzählt wird, wurde sie früher erzählt, und der einzige Unterschied liegt in den Satzzeichen.

1

Ich werde, wie man es von mir erwartet, nicht mit dem Anfang beginnen.

Vor zwei Wochen und einem Tag nahm ich wie immer den Bus von meinem Haus im Jerusalemer Viertel Nachlaot nach Yad Vashem und bemerkte gleich beim Einsteigen einen Mann im hinteren Teil: Er war jung, hielt eine Zeitung, und eigentlich gab es keinen Grund, ihn unter den wenigen Fahrgästen an diesem Tag herauszupicken. Aber ich, dessen Sinne durch all die Erlebnisse in den zwei Monaten vor diesem Tag geschärft waren, hatte einen Grund. Ich ging geradewegs auf ihn zu in der Absicht, ihn ohne Zögern anzusprechen, aber da entdeckte ich den grünen Sauerstoffballon, der zu seinen Füßen auf dem Boden lag, an einen kleinen Einkaufswagen gebunden. Ich änderte meinen Plan und setzte mich ihm gegenüber. Es war ein Moment der Unsicherheit, aufgrund all der Jahre vor diesen zwei Monaten, als dächte ich mir plötzlich: Was denn, jeder Mensch irrt sich mal, jeder kann etwas sagen und dann entdecken, dass er damit einem Wissen vorausgreift, das seine Aussage praktisch widerlegt. Aber dann sah ich die Überschrift des Artikels, den er las – »Ein Arzt, der Sterbehilfe für den Verein Natural Resort geleistet hatte, beging Selbstmord, als er entdeckte, dass die betreffende Patientin gar nicht todkrank gewesen war« –, und fing mich wieder.

Sagen Sie, wissen Sie eigentlich, dass Sie die Zeitung von vorgestern lesen?, sprach ich ihn an, ohne daran zu zweifeln, dass er es wusste, und wartete auf die Antwort, die auch prompt kam: Vor zwei Tagen ist die Welt für mich eingestürzt, und deshalb wollte ich zurückgehen und dort weitermachen, wo ich aufgehört hatte.

Ich dachte mir, wenn ich die Zeitung von vor zwei Monaten aufgehoben hätte, könnte ich in der Zeit zurückgehen und es auch so machen wie er. Und er, der erkannte, dass mir dasselbe wie ihm passiert war, wunderte sich nicht, dass ich nun nachdachte, statt ihm zu antworten, und eine recht lange Schweigepause zwischen uns entstehen ließ.

Von der Seite beobachtete uns ein kleiner Junge – wie Kinder halt gucken: ohne sich zu schämen. Denkst du denn, Kind, ich wüsste nicht, wie ich aussehe: alt und über dem einen Auge eine selbstgebastelte Klappe, die nicht mal für mein Alter gut aussieht? Aber der Unterschied zwischen uns, Junge, besteht darin, dass du dir nicht vorstellen kannst, was mir durch den Kopf geht, dass ich aber genau weiß, was in deinem Kopf abläuft. Ich erwiderte seinen Blick, bemüht, eine Mutter auszumachen, die ihm sagen würde, man dürfe nicht so glotzen, das sei ungehörig, aber es war keine Mutter in Sicht.

Vor zwei Monaten war ich ins Münchner Verlagsbüro des Magazins Schwarz mit Farbe gerufen worden; ein blöder Name, zugegeben, aber tatsächlich geht es um ein angesehenes Magazin, das im internationalen Literaturbetrieb höchste Reputation genießt und auch noch gut verdient. Ich betrat das Büro des Chefredakteurs Max Vérité, den ich seit Jahren kenne, eine Art Glaskasten, bestehend aus vier durchsichtigen Wänden und einer Decke, die das Sonnenlicht auf ganz spezielle Weise filtert, und schloss die Tür hinter mir. Damit verstummte der Lärm der großen Redaktion einer Zeitschrift mit ihrem Termindruck, und so glaubte ich auch, dass die Unterhaltung zwischen Max und mir für die übrigen Mitarbeiter unhörbar sei. Aber es war nicht völlig still auf unserer Seite; ein Geräusch drang herein, das Klappern einer Schreibmaschine vom Typ Remington Nr. 7, deren genaue Modellnummer ich nur deshalb nennen kann, weil es die einzige Schreibmaschine ist, die ich je benutzt habe. Ich blickte hinaus ins Großraumbüro, sah sie dort aber auf keinem Tisch stehen. Logisch, was hätte so eine alte Schreibmaschine wohl in diesem modernen Büro zu suchen. Sicher verdichteten die Glaswände das leise Klicken Dutzender moderner Tastaturen auf der anderen Seite zu einem uralten Geräusch.

Als wir fertig waren und uns die Hand gaben, hörte ich die Remington eine Zeile beenden und den Wagen auf Hebeldruck zum nächsten Zeilenanfang zurückfahren, doch anstelle des vertrauten Klingeltons erklang ein Krachen, und die Glastür hinter mir zerbrach in tausend Splitter, was die Stille im Büro empfindlich störte. Alles hielt inne. Ist das meinetwegen?, fragte ich Max. Nein, das wäre ohnehin passiert, sagte er. Nun kam wieder Bewegung ins Büro, und einige Mitarbeiter tappten zur Tür wie zu einem Unfallopfer, um nachzusehen, was noch zu machen war, ehe sie sich in nichts als neugierige Passanten verwandelten.

Adam Schumacher? Ja, antworte ich. Schließlich ist das mein Name. Ein kleines Gesicht blickt mir aus dem Handy-Display entgegen, bemüht, nach oben zu sehen, wie aus einem offenen Fenster, und mein Gesicht zu betrachten, aber das Display ist auf meine Brust gerichtet, während ich gehe. Eva Weiß, sagt sie. Max habe sie an mich verwiesen, und sie wolle mich bei nächster Gelegenheit treffen. Was würde ich dazu sagen? Wäre es ihr jetzt recht?, frage ich. Sie ist überrascht über die kurzentschlossene Rückfrage, aber ja, jetzt ginge es. Wo? Kennen Sie die Buchhandlung Bookowski? Treffen Sie mich draußen am Springbrunnen, und wir setzen uns ins nahe Café, sage ich. Sie lacht, das kennt sie. Das ist ein Kalauer, wissen Sie, sagt sie zu mir. Ein Kalauer? Sie blickt wieder aus dem Display, reckt den Hals so lang wie möglich. Okay, ich werde Sie wohl an dem blauen Hemd erkennen, schließt sie.

Ich überquere die Straße zum Landtag, um die U-Bahn zum Geschwister-Scholl-Platz zu erwischen; auf genau dieser Straße ist mal ein anderer Jude, Kurt Eisner, seinerzeit bayerischer Ministerpräsident, entlanggegangen, um nach der Wahlniederlage seiner Partei seinen Rücktritt einzureichen, und genau hier wurde er von einem adligen Offizier namens Anton Graf von Arco auf Valley erschossen.

Der Legende nach wollte die Landesregierung an der Frontseite des Gebäudes eine Plakette mit einer Schilderung des Attentats anbringen, was der Hauseigentümer jedoch energisch verweigerte, weil er ein schlechtes Image für sein Anwesen befürchtete. Der Bürgersteig hingegen ist öffentliches Gelände, und so erinnerten sie dort an Eisner, ersetzten den berühmten Kreideumriss, der die vorletzte Ruhestätte des Ermordeten markierte, durch haltbarere Farbe. Kreide oder nicht – für mich sieht er immer noch aus, als tanze er, die Rechte hochgeschwungen, das linke Bein etwas angezogen, und ich meine genau über den unsichtbaren Blutfleck zu gehen.

Unser zweites Gespräch begann noch viel seltsamer, diesmal war ich es, der sich bei ihr meldete: Na, junge Dame, finden Sie es höflich, die Zeit eines Menschen zu verschwenden, der nur noch so wenig davon hat? Verzeihung?, sagt sie, versteht nicht, wovon ich rede. Ich warte hier am Springbrunnen auf Sie. Wie, was ich denn meinte? Wir hatten uns am Brunnen verabredet, erinnere ich sie, und ich warte nun schon über zwanzig Minuten. Nein, aber was meinen Sie denn?, fragt sie verstört, sei denn der Mann, mit dem sie seit zwanzig Minuten zusammensitze, nicht ich?! Ich scherze doch sicher nur mit ihr, richtig? Jetzt bekomme ich einen Lachanfall. Nein, nein, ich solle sofort aufhören, verlangt sie, das könne nicht angehen, und flüchtet auf die Toilette, um das Gespräch fortzusetzen.

Ist das Ihr Ernst, sagen Sie mal, warten Sie tatsächlich immer noch am Springbrunnen? Kommen Sie ans Fenster, antworte ich, und sehen Sie selbst. Sie tritt ans Fenster des Cafés; ich sehe sie sich geheimnistuerisch ducken mit dem Handy am Ohr, doch sie sieht mich erst, als ich ihr mit dem leuchtenden Handy zuwinke. Kommen Sie am besten heraus, sage ich. Nein, um nichts in der Welt sei sie bereit, an ihrem Tisch vorbeizugehen, an dem das andere Ich sitze. Ich solle hereinkommen, bittet sie, so schnell wie möglich.

Ich gehe hinein, immer noch belustigt über die Situation, und steuere auf sie zu. Wir treffen uns auf halbem Weg an ihrem Tisch; das andere Ich steht lächelnd auf; komisch, sogar abgesehen von dem blauen Hemd sieht er mir etwas ähnlich, ist nur selbstzufriedener, vielleicht weil es ihm vorübergehend gelungen ist, ein anderer zu sein.

Warum haben Sie mir gesagt, Sie hießen Adam?, fragt sie ihn empört, warum sind Sie mit mir hereingekommen? Er lächelt immer noch, behauptet, sie habe ihn angesprochen und er heiße in Wirklichkeit Rolf Eidehalt; ja, diesen Namen gebe es, es sei ein bayerischer Name. Und sehe sie jetzt ein, wie sie sich habe irren können? Sie sieht es ein. Passen Sie auf sie auf, wagt er mir im Gehen noch zu sagen und legt mir, immer noch lächelnd, die Hand auf die Schulter.

Sie kann sich nicht beruhigen; verstehen Sie diesen Kerl, faucht sie empört, ich kann nicht glauben, dass mir das passiert ist. Sie setzt sich erst, als sie merkt, dass ich warte, bis sie Platz nimmt. Wissen Sie was?, sagt sie nach längerem Schweigen, wie jemand, der nach kurzem Lauf wieder ruhig zu atmen sucht, sie habe ihn tatsächlich angesprochen, zugegeben; er habe Adam gesagt, oder das habe sie zumindest verstanden, und er trug ein blaues Hemd … Und am Ende dieses Satzes deutet sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mein Hemd, das eigentlich eher hellblau ist.

So, sie hat sich beruhigt. Die übrigen Finger gesellen sich dazu, und sie reicht mir die Hand zu einem warmen Händedruck. Eva Weiß, Adam Schumacher, sehr angenehm. Ob ich einen Teil des Manuskripts mitgebracht hätte, möchte sie wissen. Ich erinnere sie daran, dass ich laut Plan bei null anfangen solle, jede Woche ein Kapitel: »Adam Schumachers Rückkehr« – Max’ zündender Einfall, wie ich mich als Schriftsteller neu erfinden könne.

Ja, richtig, was rede sie denn. Ob ich vorhätte, über meine Frau zu schreiben, fragt sie, holt eine Zigarette heraus, und ihre Frage klingt wie: Stört es Sie, wenn ich rauche?

Verzeihung, sagt sie, als sie mein Schweigen bemerkt, nach dem Vorfall mit Rolf hatte sie gedacht, das Eis sei gebrochen, sie bittet um Entschuldigung und steckt die Zigarette wieder in die Handtasche. Ich habe wohl ohnehin schon eine Exklusivmeldung für die Abendausgabe, sagt sie lächelnd. Ob sie vorhätte, über das hier Geschehene zu schreiben? Nein, sie weiß nicht, vielleicht.

Gut, wieso schreibe ein Schriftsteller wie ich einen Fortsetzungsroman, fragt sie und stellt ein kleines Aufnahmegerät zwischen uns, wobei ihre Augen wieder sagen: Stört es Sie, wenn ich rauche? Aber sie meint das Gerät. Wenn Sie einen Scoop haben wollen, liefere ich Ihnen einen, sage ich, und sie hört tatsächlich zu. Ich tue es, weil ich so was noch nie gemacht habe, die Herausforderung lockt mich. Ob ich die deutsche Sprache denn nicht mehr beherrsche, fragt sie, versteht noch nicht. Ich fahre fort: Vielleicht würde ich eine Schreibblockade erleben, eine Lähmung der Schaffenskraft, weil ich wie vor laufender Kamera schreiben müsse, es gibt ja kein fertiges Manuskript, das ich Max übergeben könne. Sie nickt, das weiß sie, aber wo sei der Scoop, fragt sie. Wollen Sie mir sagen, dass es heutzutage kein Scoop mehr ist, wenn Adam Schumacher eine Schreibblockade befürchtet? Sie zögert, sieht aus, als stünde sie wieder, wie vor einigen Minuten, geduckt mit dem Handy am Kaffeehausfenster. Ich entblöße ein wenig die immer noch schneeweißen Schneidezähne, und sie beruhigt sich und lächelt. Wieder bittet sie um Verzeihung, sie sei nervös, komme über diesen Kerl nicht weg.

2

Ein einziger dumpfer Schlag auf den Kopf, heißt es im Bericht des Pathologen. Als ich den Pathologen traf, der diesen Bericht vor über zwanzig Jahren eigenhändig unterschrieben hatte – auch eine Art Schriftsteller –, erklärte er mir so aufgeregt wie ein Astronom, der eine nur alle Million Jahre vorkommende Erscheinung beobachten konnte, wie selten jemand von einem Buch erschlagen werde. Erst später, als ihm einfiel, dass ich dessen Verfasser war, verebbte seine Erregung.

Was für eine große Ehre für einen Schriftsteller, sein Buch nach hunderttausend verkauften Exemplaren in einer limitierten Hardcover-Sonderausgabe gedruckt zu sehen – ein Muss in jedem Bücherschrank. Was mir eine Ehre war, wurde meiner Frau zum Verhängnis. Warum hatte ich so viele Wörter gebraucht, um jene Geschichte zu erzählen, die jetzt so überflüssig erscheint? Was macht es aus, ob ich bei meinem Tod ein Buch mehr oder weniger hinterlasse?

Ich musste mit dem Pathologen in dem kleinen Vorraum der Station sitzen, wo Trauergestalten an uns vorüberhuschten und die Aufmerksamkeit auf ihren Schmerz lenkten, während das Unglück bei mir schon längst an die Tür klopfte.

Ihr Schädel ist buchstäblich entzweigebrochen vom Schlag mit meinem Buch auf ihren Kopf. Ihre Gesichtszüge haben sich dabei kaum verändert, nur eine leichte Verzerrung links des linken Auges gibt es, so geringfügig, dass nur ich sie erkenne, und ich identifiziere ihre Leiche ohne weiteres.

Hat man ein Indiz gefunden, das auf den Mörder hinweisen könnte? Ein dünnes Lachen, wie das eines Hamsters, entfährt dem kleinen Mund des Pathologen, ein wissendes Lachen: Wir sind hier nicht bei der Rechtsmedizin, hier wird nicht aufgedeckt, wer warum gemordet hat, sondern woran der Patient gestorben ist und wann.

Meine Frau ist am 30. Januar 1983 im Zeitraum zwischen achtzehn Uhr und Mitternacht gestorben. Tatsächlich lässt sich nicht genau sagen, wann sie ermordet wurde; diesen Umstand erfuhr ich, weil ich darauf bestand, den Obduktionsbericht einzusehen, und dabei entdeckte, dass der Todeszeitpunkt dort zwischen vierzehn und zwanzig Uhr angegeben war. Ich sagte dem Pathologen, dass ich bis neunzehn Uhr mit Bella zu Hause gewesen sei und es daher nicht stimmen könne. Nun war er sichtlich verwirrt, nahm seine Brille ab und putzte sie, um mir nicht in die Augen schauen zu müssen, während er mir erklärte, dass der Todeszeitpunkt einer Leiche, die vor Ablauf von achtundvierzig Stunden nach dem Tod aufgefunden wurde, nur mit einer Genauigkeit von etwa sechs Stunden bestimmt werden könne, sodass es ihm schwerfalle, meine Aussage zu akzeptieren. Erst später begriff ich, dass er die Brille nicht deshalb abgenommen hatte, weil es ihm peinlich war, mit mir über die Todesstunde meiner Frau zu sprechen, sondern weil ich ihm, dem Gerichtspathologen, praktisch gestanden hatte, daheim gewesen zu sein, als meine Frau durch einen Schlag mit meinem Buch ermordet wurde.

Da halfen mir nicht die hundertsiebzig Personen, die mich bei der Konferenz zum Thema »Die Shoa im Spiegel der modernen Literatur«, die an jenem Abend von acht bis halb elf Uhr im Saal von Yad Vashem stattfand, über mein neuestes Buch hatten referieren hören, eben jenes mit dem harten Einband, das genau zu diesem Zeitpunkt unsanft auf Bellas Kopf gelandet war. Ihr Applaus diente mir nicht als Alibi.

Der Ermittler, der mich am Ende dieser polizeilichen Ermittlungskette, deren Endprodukt ein »Beschuldigter« ist, erwartete, starrte mich mit vorwurfsvollen Augen an. Finden Sie es nicht seltsam, fragte er, dass der Mörder sich unter allen möglichen Waffen ausgerechnet Ihr Buch ausgesucht hat, um sie damit zu erschlagen? Oder hat er vielleicht einfach das ihm Nächstliegende genommen? Wissen Sie, Ihre Fingerabdrücke sind überall auf dem Buch zu finden … Dieser Mann, der doch eigentlich klug und erfahren sein sollte, will mich so verunsichern, dass ich einen Mord gestehe, weil meine Fingerabdrücke an meinem Buch kleben? Wie auch an den übrigen Büchern, den Tischen, den Stühlen, dem Porzellangeschirr und dem Besteck in diesem Haus. Wie auch an meiner Frau.

Altersfreude, sage ich. Die wahre Bedeutung dieses Begriffs ist mir erst am Ende meines Lebens bewusst geworden, aber jetzt amüsiert er mich; es geht hier nicht um echte Freude, sondern mehr um Spaß – um Dinge, die mir irgendwann einmal wichtig erschienen, während ich jetzt, im hohen Alter, lauthals darüber lachen kann. Diese Perspektive erlaubt so viel Heiterkeit, Kind.

Mit dem Bericht in der Hand fuhr er fort: Die Totenflecken, die sich durch das Absinken des Bluts nach dem Herzstillstand bilden, entstehen an typischen Stellen je nach Position der Leiche – liegt sie auf dem Rücken, wird der Rücken violett, abgesehen von den Berührungsflächen mit dem Boden. Findet man also etwa eine auf dem Bauch liegende Leiche beispielsweise mit Totenflecken auf dem Rücken, dann heißt das, dass jemand sie einige Stunden nach dem Tod umgelagert haben muss. Aber warum sollte der Mörder so lange bei Bella geblieben sein, bis die Flecken auf dem Rücken entstanden, um sie dann umzudrehen? Oder ist er seinen Besorgungen nachgegangen und ein paar Stunden später wiedergekommen? Der Tatort in Ihrem Haus gleicht wirklich einer Löwenhöhle: Viele Spuren führen hinein, aber nicht hinaus …

Ich konnte nicht umhin, mich durch die Löwenmetapher, die mir da angehängt wurde, geschmeichelt zu fühlen; gewiss war er wegen der weißen Haarmähne darauf gekommen, deren Stirnlinie sich seit meinen Dreißigern nicht verändert hat. Er hoffte wohl, wenn er Bellas Leiche beschrieb und ihren Namen nannte, würde bei mir ein verborgener Beichtreflex aktiviert; aber da ich nicht der Mörder bin, geschah das nicht.