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Memoiren
der
Kurfürstin Sophie von Hannover

Memoiren
der
Kurfürstin Sophie
von Hannover

Ein höfisches Lebensbild
aus dem 17. Jahrhundert

Herausgegeben von
Martina Trauschke

Aus dem Französischen von
Ulrich Klappstein

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2014
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,
unter Verwendung zweier Porträts: Gerrit van Honthorst (Vorderseite)
sowie Andreas Scheits, Historisches Museum Hannover (Rückseite)
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-1514-3
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2644-6
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2645-3

Inhalt

Martina Trauschke:

Sophie von Hannover – Ein Porträt

Memoiren
der Kurfürstin Sophie von Hannover

Kommentar

Ulrich Klappstein:

Zur Textgestalt der Memoiren
und zu dieser Übersetzung

Zeittafel

Literatur

Sophie von Hannover – Ein Porträt

»Das Ende krönt das Werk!«

Sophie im Januar 1680
an ihren Bruder Karl Ludwig

Eine Aristokratin des Geistes ist in ihren Memoiren zu entdecken: die Kurfürstin Sophie von Hannover. Als Frau der höfischen Welt Europas schreibt sie in französischer Sprache. So ist wohl zu erklären, daß sie als Person ihrer Zeit nahezu eine Unbekannte geblieben ist; die anziehende Ausstrahlung ihrer Persönlichkeit ruht in den reichen Hinterlassenschaften ihrer Briefe und ihrer Memoiren. Wir begegnen einer Fürstin in der Barockepoche in einer mittleren norddeutschen Residenzstadt und geraten mit ihr in das geistige Zentrum der Entwicklung der europäischen Kultur der Individualität. Ihre Ausstrahlung und Kraft entwickelt sie aus der Spannung des strengen Form- und Pflichtbewußtseins der höfischen Welt und dem unbeirrbaren Vertrauen in die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Die Balance von angeeigneter Form und Freiheit zum individuellen Ausdruck verleiht ihrer Person die von Zeitgenossen gerühmte Harmonie. Ein befreundeter Gelehrter und Vertrauter aus der Heidelberger Zeit, Ezechiel Spanheim, spricht in einem Brief an sie von den Wundern ihres Geistes, ihrer Seele und ihrer ganzen Person.

Im November 1680 aber ist sie ergriffen von starker innerer Bewegung und überwältigt von Trauer. Der Verlust des nach eigenen Vorstellungen gestalteten Stadtschlosses in Osnabrück, in dem sie die vergangenen Jahre gelebt hat, vor allem aber der Verlust geliebter Menschen, hat ihre Verfassung der gelassenen Heiterkeit tief erschüttert. Ein Jahr zuvor, im Herbst 1679, begann die Folge der ihr Leben verändernden Ereignisse. Ihr Schwager Johann Friedrich war auf dem Weg nach Italien überraschend in Augsburg gestorben. Das ist der Verlust eines geschätzten Menschen; zugleich aber bedeutet sein Tod für Sophie eine Rangerhöhung von der Madame d’Osnabruc zur Herzogin von Hannover; denn ihr Gemahl Ernst August, der Fürstbischof von Osnabrück, erbte vom älteren Bruder Johann Friedrich die Residenz und Herrschaft in Hannover. Ein Stoßseufzer der Erleichterung geht per Brief an ihren Bruder Karl Ludwig: »Jetzt sind meine Kinder in Sicherheit.« Es ist die Sicherheit des eigenen Erbes, mit dem sie ihre Kinder jetzt ausgestattet weiß. Nur kurze Zeit später, am 11. Februar 1680, stirbt Sophies älteste Schwester Elisabeth, die Äbtissin von Herford; als Sophie sie im Dezember besucht hatte, war sie schon von Krankheit gezeichnet. Im August des Jahres erhält sie die niederschmetternde Nachricht vom Tod ihres ältesten Bruders Karl Ludwig, Kurfürst von der Pfalz. Dieser Bruder, den sie manchmal in ihren Briefen »mon chèr papa« nannte, war ihr der vertrauensvollste Freund. Vor ihrer Heirat hatte sie acht Jahre, von 1650 bis 1658, in seiner Residenz des Heidelberger Schlosses gelebt. Mitten in diesen Erschütterungen verabschiedet sich am 12. November 1680 ihr Gemahl Ernst August, um die Wintermonate nach seiner Gewohnheit in Venedig zu verbringen.

Ihre Entscheidung, die Memoiren zu schreiben, läßt eine Haltung erkennen, die den Andrang der verschiedenartigen Ereignisse des Lebens mit dem Streben nach Selbstgewißheit beantwortet. Den befremdenden Zugriff des Schicksals hat sie nicht selten erlitten. Dies hat sie weder stumm noch melancholisch gemacht. In der Epoche des Barock gab es ein waches Bewußtsein für die Widerwärtigkeiten des Lebens. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges waren vor aller Augen. Sophies Vater, Friedrich V., hatte seine böhmische Krone schon verloren, als Sophie geboren wurde. In ihrem Lebensrückblick beweist sie einen bemerkenswert realistischen Blick. Sie übergeht weder die dunklen Seiten ihrer eigenen Person noch die der anderen. Die zum Teil derben Späße, die das lebhafte Kind und junge Mädchen getrieben hat, finden ebenso Erwähnung wie der Blick in den Spiegel als alternde Frau. Durch den eigenen Blick auf Menschen und Dinge entdeckt sie sich in der Welt. Sophie verfolgt die Denkbewegungen ihrer Zeit, der frühen Aufklärung. Die Vernunft ist ihre unzerstörbare Kraftquelle. Der Mensch im Barock unterwirft sich nicht der Autorität und dem Dogma. Damit beginnt die Aneignung der Welt durch die persönliche Perspektive. Im eigenen Durchdenken und im Erzählen des Persönlichen zeigt sich die sich selbst vergewissernde Individualität. Der Ausdruckswillen zum eigenen Blick und zur eigenen Stimme schafft die frische Lebendigkeit der Memoiren.

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Sophie von Hannover an ihren Bruder Karl Ludwig, geschrieben am 2. März 1679 in Osnabrück. Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, NLA Hannover Hann. 91 Sophie Nr. 39/3.

Im niederländischen Exil wird Sophie am 14. Oktober 1630 als zwölftes Kind ihrer Mutter Elisabeth Stuart und ihres Vaters, dem Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz, geboren. Das Schicksal ihres Vaters vollzieht sich in der Dynamik der Machtkämpfe zwischen Protestanten und Katholiken. Seine Annahme der böhmischen Krone zur Stärkung der protestantischen Liga führt unmittelbar in die kriegerische Auseinandersetzung des Dreißigjährigen Krieges, in deren Fortgang er seine Länder verliert. Die Familie findet in Den Haag eine Zuflucht. In der weltoffenen Atmosphäre der Niederlande pulsiert das geistige Leben der europäisch vernetzten Hocharistokratie. Die gebildete Geselligkeit am Hof der Mutter in Den Haag erweist sich als idealer Nährboden für die seelischgeistige Unabhängigkeit und das eigenständige Urteil, das Sophie sich erwirbt.

Zusammen mit den älteren Geschwistern und dem jüngeren Bruder wird sie bis zum Alter von neun Jahren am familieneigenen Prinzenhof in Leiden erzogen. Die Memoiren geben einen Eindruck von der inneren Spannung zwischen dem bindenden Pflichtbewußtsein aristokratischer Haltung und der unbeirrbaren, reichen Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Sophie führt ihre heutigen Leser zu der bemerkenswerten Entdekkung, wie sie ihren Lebensentwurf der freien Selbstbestimmung aus dem Geist der höfischen Kultur entwickelt. Mit ihrem Vergnügen an Witz und Ironie erzählt sie mit spitzer Zunge von der Stupidität mancher Pflichtübungen im streng geregelten Ablauf des Tages ebenso wie von den Gelegenheiten, sich zur Verteidigung der eigenen Person etwas einfallen zu lassen und ihre Schlagfertigkeit zu üben. Nachdem der Prinzenhof zur Erziehung der dreizehn Kinder in Leiden aufgelöst worden ist, da die älteren Geschwister ihm entwachsen waren und der einzige jüngere Bruder starb, lebt sie am Hof ihrer Mutter in Den Haag. Die Mutter, über die Sophie sich bisweilen unbefangen kritisch äußert, beweist ein feines Gespür für den eigenen Sinn und die Begabung ihrer jüngsten Tochter und führt Situationen herbei, deren Eigenheiten zu vervollkommnen. Im Wechselspiel des Lebens bekommt Sophie oft Gelegenheit, den kühnen Zugriff ihrer schnellen Auffassungsgabe und die Stärke ihres Geistes in ihrer Lebensführung zu bewähren.

Das stolze Bewußtsein der hohen Herkunft gab ihr Selbstgewißheit und Festigkeit. Sie stammte aus zwei der ältesten und vornehmsten Adelsgeschlechter Europas. Ihre Mutter war die Tochter König Jakob I. von England und eine Enkelin Maria Stuarts. Ihr Vater war Kurfürst von der Pfalz und König von Böhmen. Als Frau stand ihr keine führende Rolle im politischen Leben offen. Einer der markantesten Spielräume ihres Handelns war die Heiratspolitik ihrer Familie. Hier hat sie Verbindungen erkundet, diplomatisch vorbereitet, herbeigeführt. Dies Handeln wurde mit den Plänen für die eigene Heirat eröffnet, die hochstrebend verheißungsvoll begannen. Der englische Thronfolger, ihr Cousin, der spätere König Karl II., erscheint als möglicher Heiratskandidat. Mit ihm zusammen könnte sie ihre ambitionierten dynastischen Ziele umsetzen und die protestantische Linie der Stuarts auf dem englischen Königsthron sichern. Sophie schildert die fein gesponnenen Intrigen konkurrierender Familien, sie als mögliche Heiratskandidatin zu diskreditieren. Sie durchschaut die Verwicklungen und verwahrt sich dagegen. Nach langem erfolglosen Hoffen und Warten ergreift Sophie beherzt die Initiative, Den Haag zu verlassen, um an den Hof ihres geliebten ältesten Bruders Karl Ludwig von der Pfalz zu gehen. Diesen Plan hat Sophie offenbar, ohne sich mit der Mutter zu beraten, mit dem Bruder zusammen ersonnen. Denn am 29. August 1650 schreibt die Mutter ihrem Sohn Karl Ludwig: »Zu Sophies Reise: Ich werde niemals jemanden halten, der gehen will; denn ich werde mich nicht um die Gesellschaft derjenigen bemühen, die die meine nicht suchen.« Das ist der Stolz einer Königstochter. Über die Differenz in persönlichen Dingen herrscht ein offener Ton.

Am Heidelberger Hof verbrachte Sophie die Jahre zwischen ihrem 20. und 27. Lebensjahr. In der Nähe des Bruders, der ihr den Vater vertritt, ist sie hineingezogen in die Wirrnisse und die unglückliche Entwicklung seiner Ehe mit Charlotte von Hessen-Kassel. Von hier aus werden jetzt die Verbindungen gesucht und geprüft, in denen sie ihren Beitrag zur Erhöhung ihrer Dynastie leisten kann. Und hier erlebt sie den Roman ihres Lebens, von dem sie in den Memoiren freimütig erzählt und uns die Entwicklungen ihrer Verlobungsgeschichte entdeckt.

Der in Hannover regierende Herzog Georg Wilhelm läßt 1656 die Chancen für eine Werbung um Sophie durch seinen Geheimen Rat von Hammerstein in Erfahrung bringen. Für Sophies Zukunft ist die Tür einer neuen Möglichkeit geöffnet. Auf seiner Reise nach Venedig spricht Georg Wilhelm in Begleitung seines jüngeren Bruders Ernst August im Heidelberger Schloß vor. Herzog Georg Wilhelm entstammt einem der ältesten deutschen Adelsgeschlechter und als regierender Herzog von Hannover ist er ein würdiger und attraktiver Bewerber. Sophie ist schnell entschlossen, ein Vertrag wird aufgesetzt und von beiden Seiten bekräftigt. Die beiden Herren setzen ihre Reise nach Venedig fort. Dort aber ereignet sich das Unvorhergesehene mit dramatischer Wirkung für Sophie. Georg Wilhelm läßt sich leicht durch Stimmungen und Affekte leiten. Er ist entschlossen, sich aus dem Verlobungsvertrag zu lösen, und bittet seinen Bruder Ernst August die Verpflichtung des Vertrages »als sein anderes Selbst« zu übernehmen. Die beiden Brüder vereinbaren den Brauttausch. Diesen Affront der Zurückweisung und des Vertragsbruchs muß Sophie erdulden. Dazu noch ist Ernst August der jüngste der Brüder, also ein ›Prinz Ohneland‹. Aufwendige Vereinbarungen werden notwendig, um diese Entscheidung überhaupt annehmbar zu machen. Georg Wilhelm verpflichtet sich zur Ehelosigkeit und verzichtet damit auf legitime Erben. Die aus seinem Erbe folgenden Rechte überträgt er auf Ernst August und Sophie und deren mögliche Nachkommen. Sophie hat den Text des Heiratsverzichts in ihre Memoiren aufgenommen; die hohe Bedeutung für ihr Selbst- und Standesbewußtsein ist daran zu erkennen. Die menschliche Kränkung nimmt sie ohne zu klagen hin: »Ich jedoch war zu stolz, um dadurch verletzt zu sein.« Den Ansprüchen ihrer hohen Herkunft ist mit den Vereinbarungen, die ihr und ihren Nachkommen eine angemessene Versorgung und ein würdevolles Erbe sichern, Genüge getan. Jetzt bewährt sich ihr nüchterner Blick und starker Wirklichkeitssinn; sie meistert die durch eine solche Zumutung möglichen Gefühle. Daß schließlich dieser nicht beabsichtigte Gang der Dinge sich zu ihrem Vorteil auswirken wird, kann sie nicht wissen, als sie mit kühnem Zugriff die veränderte Lage akzeptiert.

Die Mutter meldet sich, nach ihrem Urteil zu diesen Verwicklungen gefragt, in einem Brief an ihren Sohn Karl Ludwig in der ihr eigenen beherrschten Kürze, weil man sie vorher nicht befragt habe, wolle sie auch jetzt sich nicht dazu äußern. Im Oktober 1658 findet die Hochzeit statt. Die Feier in Heidelberg richtet der Bruder aufwendig und glänzend aus, und in Hannover wird Sophie mit Pracht und großen Gefolge empfangen. Das junge Paar lebt zunächst im Stadtschloß, Georg Wilhelms Residenz in der Altstadt an der Leine. Auch wenn sie kein eigenes Anwesen in Besitz nehmen kann, gibt es erfreuliche Überraschungen: Sophie findet ihre nüchterne Erwartung an die Ehe glücklich übertroffen. Triumphierend im Glück schreibt sie am 6. Februar 1659 an Karl Ludwig: »Ich erlebe das Wunder des Jahrhunderts. Meinen Ehemann zu lieben.« Gemessener klingt es in den Memoiren: »Ich war froh, ihn liebenswürdig zu finden, da ich entschlossen war, ihn zu lieben.« Und »ich verspürte alles für ihn, was eine wahre Leidenschaft eingeben kann«.

Am Hof in Hannover lebt man in »sainte trinité«; heilige Dreieinigkeit nennt Sophie die harmonische Verbundenheit des jungen Paares mit dem brüderlich, freundschaftlich verbundenen Georg Wilhelm. Die Verwicklungen lassen aber nicht lange auf sich warten, da Georg Wilhelms Neigungen zu Sophie in ihrer Gegenwart wieder aufflammen. Mit aller ihr möglichen Geschicklichkeit sorgt Sophie für eine fragile Balance. An Georg Wilhelms Realitätssinn appelliert sie: »Wenn man nicht haben kann, was man liebt, muß man lieben, was man hat.« Die Eifersucht Ernst Augusts bemüht sie sich mit Liebesbeweisen zu dämpfen.

Durch Regelungen des Westfälischen Friedens wird Sophies Gemahl Ernst August 1662 Fürstbischof von Osnabrück. »Monsieur der Herzog erhielt die Nachricht vom Tode des Bischofs von Osnabrück. Ich war darüber höchst erfreut, konnte ich doch Hannover verlassen und mich so aus allen Verlegenheiten befreien.« In achtzehn Jahren baut das Paar hier eine eigene Hofhaltung mit neuem, zeitgenössisch modernem Stadtschloß und höfischem Garten auf. In einem Brief vom 23. August 1675 an den Bruder Karl Ludwig zeigt Sophie sich nach dem Sieg im holländischen Krieg über die Franzosen, an dem auch Ernst August mit seinen Truppen beteiligt war, als Landesherrin: »Wir hatten hier eine große Festlichkeit veranstaltet: Letzten Sonntag habe ich die Reichen und die Armen bewirtet, die Weltlichen und die Geistlichen. Habe im unteren Hof Wein und Bier fließen lassen im Schein von Freudenfeuern, die die Bürgermeister auf allen Wällen angezündet haben, auf allen Türmen der Stadt gab es Lichter und Musik. Die Bürgermiliz und die waffentragenden Bürger haben Schüsse abgegeben und man hat die Kanonen abgefeuert beim Klang aller Glocken. Man hat noch nie eine so große Freude gesehen als in Osnabrück, wo sie so gut ihre Pflicht getan haben, von denen jeder ein paar Freunde oder Verwandte [unter den siegreichen Soldaten] hatte.« In der Siegesfreude entgeht ihr nicht ein trauriges Gesicht: »Nicht so die arme Madame Hindersen, die untröstlich ist, da sie einen Ehemann verloren hat, den sie so innig liebte und von dem sie ebenso geliebt wurde, da sie eine sehr hübsche Frau ist, äußerst bescheiden und zurückgezogen, obwohl sie sehr gut zu leben versteht; ihr Anblick hat meine Freude beträchtlich gedämpft.« Sophies Loyalität zu Ernst August bedarf in einer Situation des Sieges und der Feier keiner Erklärung. Sie verhält sich – bis auf eine gewichtige Ausnahme – unverbrüchlich loyal, auch wenn sie dafür kämpfen muß, mit sich ins Reine zu kommen. Für ihre Schwägerin Charlotte von Hessen-Kassel, die Frau ihres Bruders Karl Ludwig in Heidelberg, die sich larmoyant über ihren Ehemann beklagt, hat sie nur ein mitleidiges Bedauern. Ein wehmütiger Blick geht zurück zum höfischen Leben in Den Haag mit seiner kultivierten Emotionalität im geselligen Austausch. »Diese Geständnisse [von Charlotte] machten mich betroffen, ich wünschte mich tausendmal an den Hof von Den Haag zurück, wo es als ein Verbrechen galt, wenn eine Frau sich über ihren Mann beklagt, und wo solche Törinnen lächerlich waren.« Ihre Loyalität, in der sie die Entscheidungen ihres Gemahls akzeptiert oder duldet, einschließlich seiner Liebesaffären und Mätressen, durchbricht sie in der Empörung über die Veränderung des Erbrechts durch Ernst August. Im Zuge der Bemühungen um die Kurfürstenwürde für Hannover führt er das Primogeniturgesetz ein, nachdem nur der erste Sohn erbberechtigt ist. Sie aber fühlt mit allen ihren Kindern und unterstützt die revoltierenden Söhne.

Sophies Verhältnis zu ihren Kindern war herzlich und leidenschaftlich engagiert. Unbefangen äußert sich Sophie in den Memoiren über das kühl distanzierte Verhältnis ihrer Mutter zu deren Kindern. »[…] den Anblick ihrer Meerkatzen und Hunde zog sie dem unsrigen entschieden vor«, kommentiert sie die Entscheidung der Mutter, ihre Kinder in Leiden am Prinzenhof erziehen zu lassen. Im Verhältnis zu ihren eigenen Kindern, sechs Söhnen und einer Tochter, hat Sophie es anders gehalten. Sie begleitet deren Entwicklung mit großer Anteilnahme und Aufmerksamkeit und pflegt ein inniges Verhältnis zu ihnen. Ihre Söhne Georg Ludwig und Friedrich August sind schon geboren, als Sophie sich entschließt, ihren Gemahl auf einer Reise nach Italien zu begleiten. Im Februar 1664 bricht sie auf und während der einjährigen Abwesenheit erkundigt sie sich in den häufig hin- und hergehenden Briefen eingehend bei Frau von Harling, in deren Obhut die Söhne geblieben sind, nach den kleinen täglichen Begebenheiten. Mit einigem Gefolge wird die beschwerliche Reise über die Alpen zum Abenteuer. Aus der heutigen Perspektive ist der mangelnde Blick für die wechselnde Landschaft bemerkenswert. Dagegen weckten die Gärten in Italien ihr höchstes Interesse und finden immer Erwähnung. Die Schönheit der Natur nimmt Sophie wahr, wenn sie durch menschlich schöpferisches Handeln vervollkommnet ist, wie es sich im Wechselspiel von Natur und Kunst im barocken Garten findet. Die Eindrücke der italienischen Gärten in Vicenza, Verona, Florenz und Rom werden prägend für den Garten, der der ihre werden soll: der Große Garten in Herrenhausen vor den Toren Hannovers.

In Venedig taucht sie in die luxuriöse Festlichkeit der venezianischen Lebensart ein. Sie hält sich einen Galan, den sie aber ihren Ehegemahl für sich bestimmen läßt. Sie versteht es mitzuhalten, dennoch wahrt sie die Distanz, wie sie in den Memoiren festhält: »Man kann sich denken, wie fremd sich eine Deutsche wie ich in einem Land gefühlt hat, in dem man nur an Liebesaffären denkt und wo sich die Damen für entehrt halten, wenn sie keinen Verehrer haben. Mir war stets beigebracht worden, Koketterie habe als ein Vergehen zu gelten; in Italien erfuhr ich das genaue Gegenteil.«

Sie lernt die Damen mit großem Namen, die in der Gesellschaft Aufsehen erregen wie Maria Mancini, die Gemahlin des Fürsten Colonna, kennen, mit denen auch Ernst August in näherem Verhältnis steht. Entzückt ist sie vom Ton und den Umgangsformen in der Gesellschaft von Florenz. Man begegnet ihr mit ausgesuchter Höflichkeit und Zuvorkommenheit, die durchdrungen sind von einer gewissen Lässigkeit. Die Anmut dieses Umgangs belebt sie; das Italienische besitzt dafür den schönen Begriff ›sprezzatura‹. Sophie übersetzt sich diese Lebenshaltung in die Trias: Hoheit, Größe und Bequemlichkeit.

Als die Tochter Sophie Charlotte herangewachsen ist, unternimmt Sophie mit ihr eine Reise an den französischen Königshof. Unterstützt wird sie durch die guten Beziehungen ihrer Nichte Liselotte von der Pfalz, einer Tochter ihres geliebten Bruders Karl Ludwig, die mit dem Bruder Ludwigs XIV. verheiratet ist. Sophie engagiert sich tatkräftig für die im dynastischen Sinn erfolgreichen Vermählungen ihrer Kinder. Ein Motiv der Reise nach Paris ist die mögliche Verbindung von Sophie Charlotte mit dem französischen Thronfolger. Wiewohl dieses Ziel nicht erreicht wird, hinterläßt die Reise des Jahres 1679 starke Eindrücke, die auch Ernst August nach ihrer Rückkehr mit lebhaftem Interesse goutiert. Der Sonnenkönig und sein Hof waren der unerreichte Gipfelpunkt der höfischen Welt in Europa. Sophie will alles kennenlernen, erliegt aber nicht den prachtvollen Inszenierungen der Macht. Ludwig XIV. empfängt sie auf das Zuvorkommendste. Sie ist tief zufrieden. Mit nüchternem Blick nimmt sie den Pomp des Hofes und die Verschwendung wahr. Sie sieht die Unbequemlichkeiten des steifen Zeremoniells, seine Langeweile und Geistlosigkeit. Aber sie kann auch tief gekränkt sein, wenn sie sich unter ihrer Würde behandelt fühlt. »Ich sagte zu ihm, ich hätte es nicht gewagt, ein Taburett bei der Königin von Frankreich anzunehmen, nachdem die Kaiserin mir die Ehre erwiesen habe, mir einen Lehnsessel anzubieten.« Den Sitz auf dem angebotenen gepolsterten Hocker nahm sie nicht an, sondern empfahl sich würdevoll. Daher ist Monsieur, Liselottes Gemahl, entsetzt und fürchtet für Sophie, daß dem König ihr Verhalten mißfallen könne. Sophie lakonisch: »Ich sagte, das mache mir wenig Sorge.« In der gebildeten Geselligkeit am Hof in Den Haag hat sie den würdevollen Stolz ihrer Mutter schätzen gelernt und ihre eigene Souveränität entwickelt, in der sie auch am Hof des Sonnenkönigs ihr treffendes Urteil und ihren Realitätssinn bewahrt.

Kurz nach der Rückkehr von dieser Reise erreicht Sophie in ihrem Osnabrücker Stadtschloß die Nachricht vom Tod ihres Schwagers Johann Friedrich, dem regierenden Herzog von Hannover. Jetzt wird sie Herzogin von Hannover sein. Ihre Situation und vor allem die ihrer Kinder ist damit gesichert, doch läßt dieser Umzug sie zunächst den Glanz und die Bequemlichkeit vermissen, die sie sich in ihrem Osnabrücker Stadtschloß mit angrenzendem Garten aufgebaut hatte. In der baulich aus dem Mittelalter stammenden hannoverschen Residenz fehlt ihr, was sie schätzt. An ihren Bruder Karl Ludwig schrieb sie am 5. Juli 1680: »Meine Stimmung beginnt sich bei diesem warmen Wetter ein wenig zu bessern, aber da meine Füße sich nicht bewegen können, wird mein Kopf stumpfsinnig. Ich befinde mich hier wie in einem Gefängnis und bevor man hier einen Garten anlegt, werde ich in einer anderen Welt weilen.« So ist es nicht gekommen.

An diesem entscheidendem Übergang zum Wirkungsort ihrer letzten dreißig Lebensjahre klingt ein bedeutendes Thema an: der von ihr gestaltete Garten. Der Lebendigkeit ihres Geistes entspricht das Vergnügen an der Bewegung im Freien. Zu dieser Zeit, als sie ihre Memoiren schreibt, weiß sie nur, was sie in Osnabrück aufgegeben hat. Sie findet ihre Vorahnungen in Bezug auf den Osnabrücker Park, die sie ihrem Bruder mitgeteilt hatte, bestätigt, nämlich daß sie ihn nicht lange würde genießen können: »Ich fürchte, daß wir längst tot sein werden, bevor man hier Schatten haben wird, wenn man nicht Ernst Augusts Plan ausführen kann, hier ausgewachsene Bäume einzupflanzen.« Bei ihrem Blick in den Herbsthimmel über der Leine weiß sie noch nicht, daß der Garten ihrer Sommerresidenz in Herrenhausen ein geeignetes Objekt ihrer schöpferischen Energie sein wird und welches Vergnügen dieser Salon im Freien ihr in den kommenden dreißig Lebensjahren bieten wird. Bei Spaziergängen sucht sie Linderung der quälenden Unruhe ihres Gemüts, wenn neue Nachrichten vom Welfenhof in Celle, dem Erbhof ihrer Nachkommen, sie erreichen. Der dort regierende Herzog Georg Wilhelm hält seinen vertraglich zugesicherten Heiratsverzicht nicht aufrecht. Er heiratet eine aus Sophies entschiedener Perspektive nicht standesgemäße Frau, Eléonore d’Olbreuse, und erhebt sie in den Rang einer Herzogin. Diese Vorgänge rauben Sophie die heitere Contenance; nur die freie Bewegung im Garten wirkt besänftigend.

Vorzugsweise aber bittet sie geistvolle Menschen wie die Philosophen Helmont und Leibniz – um die berühmtesten unter ihnen zu nennen – zum anregenden Gespräch in ihren Garten; denn in allen Repräsentationsräumen im Innern des Schlosses gehört die Befolgung der höfischen Etikette und die peinlich genaue Einhaltung der Rangordnung zum selbstverständlichen Habitus. Aus der Zeit ihrer Erziehung schildert sie nüchtern die tägliche Einübung der Verbeugungen. Die präzise Kenntnis und Beherzigung der Rangfolge ist eine Angelegenheit von äußerster, ja von existentieller Wichtigkeit in dieser Epoche.

Die geistvolle Konversation aber wird durch eine freiere Atmosphäre im kunstvoll gestalteten Garten begünstigt. Franz Merkur van Helmont ist aus den Niederlanden zu Gast. Sophie kennt ihn aus ihrer Jugend. Sie fordert ihn auf, sein Konzept der Seelenwanderung – mit ihr durch den Garten promenierend – darzustellen. Der hannoversche Hofrat Gottfried Wilhelm Leibniz ist gebeten, sich dazuzugesellen, um diese Ansicht zu widerlegen. Das Feuerwerk des Geistes dieser Männer in Rede und Gegenrede mit kritischen Fragen anzuregen, ist ihr Bedürfnis und Vergnügen. Aufmerksam nimmt sie Teil an den Fragen ihrer Zeit und verfolgt die Entwicklung des Wissens in verschiedenen Gebieten durch ihre umfangreiche Bibliothek und den nicht abreißenden Fluß der Gespräche mit Leibniz in mündlicher oder brieflicher Form. Im abstrakten Denken hat sie sich kaum ausgebildet; dennoch fragt sie nach argumentativer Durchdringung philosophischer und theologischer Themen. In den Begegnungn und Gesprächen erfindet sie den ihr gemäßen Raum: den Salon im Freien.

Ihr Schwager Johann Friedrich hatte 1676 Gottfried Wilhelm Leibniz, den von seinen Zeitgenossen schon bewunderten Universalgelehrten, spektakulären Erfinder, Diplomaten und Wissenschaftler, aus Paris an seinen aufstrebenden Hof nach Hannover geholt. Leibniz ist ein Meister des dialogischen Sprechens und in der Mitteilung seiner wissenschaftlichen Erfindungen und philosophischen Erkenntnisse stellt er sich auf den Gesprächspartner ein. Die Gespräche werden für beide zu einer Quelle der Anregung und des tiefen Vergnügens. Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Leibniz und Sophie belegt diesen Austausch und das breite Spektrum der gemeinsamen Themen. Sophie hat keine hohe Meinung von den Ärzten ihrer Zeit. Darin bestätigt Leibniz sie, allerdings nicht ohne ihr seine Ideen zur strukturellen Verbesserung der Gesundheitsvorsorge zu vermitteln. Religiöse Fragen werden behandelt. Sophie ist im reformiert-calvinistischen Glauben erzogen worden und bleibt diesem Bekenntnis treu, als sie einen evangelisch-lutherischen Mann heiratet. Sie brachte anderen religiösen Bekenntnissen eine kritische Toleranz entgegen. Die verdummenden Spektakel des Wunderglaubens, denen sie auf ihrer Italienreise im Wallfahrtsort Loretto begegnet, lehnt sie strikt ab. Es ist weniger die dogmatische Abgrenzung als das klarblickende Urteil des gesunden Menschenverstands, das sich in ihrer Sichtweise ausspricht. In ihrer Urteilsfreudigkeit verliert sie nicht den Humor, der selbst spitzen Bemerkungen noch Leichtigkeit verleiht. Mit Leibniz ist sie überzeugt, daß Glaube und Vernunft keine unvereinbaren Kräfte sind. Daraus erwächst das gemeinsame Engagement für eine Reunion der protestantischen und katholischen Kirchen. Sie knüpft Beziehungen nach Frankreich, um die Gespräche mit dem bedeutendsten Kirchenvertreter Bossuet zu initiieren, die Leibniz über viele Jahre brieflich führt.

Sophie übergibt Leibniz die Handschrift ihrer Memoiren. Erhalten geblieben ist nur die Abschrift von seiner Hand mit seinem Kommentar: »Der Stil erscheint einfach, hat aber eine wunderbare Kraft in sich, und ich bemerke an ihm jenen Charakter, den Longin (griechischer Rhetoriker) als feinsinnig bezeichnet hat, trotz der augenscheinlichen Nachlässigkeit. Obwohl es so scheint, als würden nur gewöhnliche Dinge mitgeteilt, werden diese doch durch eine bewundernswerte Kunstfertigkeit hervorgehoben, die es gestattet, den menschlichen Verhältnissen eine tiefe Reflexion abzugewinnen.« Durch Sophies Persönlichkeit, die sich in den Memoiren ausspricht, haben sie ihren Platz neben den berühmten Briefen ihrer Nichte Liselotte von der Pfalz.

»Das Ende krönt das Werk!« Das schreibt Sophie am 4. Januar 1680 an Karl Ludwig, den überraschenden Tod Johann Friedrichs in seinen Auswirkungen für sie und ihre Kinder kommentierend. So unerwartet öffnet sich ihr die Zukunft. Das hohe Ziel der jugendlichen Sophie, ihre Nachkommen zu Thronerben zu machen, hat sie nicht auf dem Weg ihres ersten Heiratsplanes erreicht. Längst hatte sie sich davon verabschiedet, als es ihr im Alter durch die eigene Herkunft und Abstammung in Ereignissen und Zusammenhängen zufiel, die nicht vorherzusehen und nicht zu planen waren. »Senza turbarmi al fin m’accosto« – Ohne mich verwirren zu lassen, nähere ich mich dem Ende. Dies Motto bestimmt Sophie 1684 für eine Medaille mit ihrem Bildnis. So pointiert sie ihre Selbstmächtigkeit, die sie in den wechselvollen Affekten des Herzens, in den Bewegungen ihres Schicksal und in den Wirkungen der politischen Mächte behauptet. Der Geist ist die formende Macht ihrer Persönlichkeit. Diese Fürstin der Barockepoche nimmt für sich eine freiheitliche Selbstgewißheit in Anspruch, die sie nicht müde wird, sich zu erwerben.

Martina Trauschke

Memoiren
der
Kurfürstin Sophie von Hannover

 

Zu Hannover, 1680

In meinem Alter gibt es keine bessere Beschäftigung, als sich vergangener Zeiten zu erinnern; dem glaube ich mit dieser Schrift zu genügen; sie ist nur für mich bestimmt und ich will weder als Heldin der Geschichte erscheinen noch jene romantischen Damen nachahmen, die nur durch ihr prachtvolles Leben und ihre außergewöhnlichen Auftritte berühmt geworden sind.1 Ich beabsichtige damit nichts anderes, als mich während der Abwesenheit des Herzogs, meines Gemahls, zu zerstreuen, um die Melancholie zu meiden und mir meinen Humor zu bewahren.2 Denn ich bin überzeugt, daß dadurch die Gesundheit und das Leben, die mir sehr kostbar sind, erhalten bleiben.

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1630

Man hat mir gesagt, daß ich am 14. Oktober des Jahres 1630 geboren wurde und die zwölfte Frucht der Ehe meines Vaters des Königs und meiner Mutter der Königin war.3

Ich glaube, meine Geburt hat ihnen nur deshalb Freude bereitet, weil ich nicht mehr den Platz einnahm wie zuvor. Man war sehr unentschieden, welchen Namen und welche Paten man mir geben sollte, weil alle in Frage kommenden Könige und Prinzen schon mit den Kindern, die mir vorangegangen waren, ihre Last zu tragen hatten. Man schrieb verschiedene Namen auf mehrere Zettel und befand es für richtig, den meinigen auf diese Weise zu bestimmen; so gab mir der Zufall den Namen Sophie. Und um die Patinnen auszuwählen, die diesen Namen trugen, wählte der König die Pfalzgräfin von Birckenfeld und die Gräfin zu Hohenlohe aus, des weiteren die Gräfin von Culenburg sowie Madame von Brederode, die Gräfin von Nassau; die Staaten von Friesland4 wurden mir als Paten zugeteilt.

Als ich alt genug war und man mich wegbringen konnte, schickte mich meine Mutter die Königin nach Leyden, das nur drei Stunden vom Haag entfernt liegt, wo Ihre Majestät alle ihre Kinder fern von sich erziehen ließ, denn den Anblick ihrer Meerkatzen und Hunde zog sie dem unsrigen entschieden vor.5

Wir hatten in Leyden eine ganz und gar deutsche Hofhaltung. Alle Stunden des Tages waren geregelt, so wie unsere Verbeugungen. Meine Gouvernante6, eine Madame von Pless, hatte schon bei meinem Vater dem König diese Stellung eingenommen, woran man ihr Alter ablesen konnte. Ihre beiden Töchter, die älter als ihre Mutter zu sein schienen, halfen ihr bei dieser Aufgabe. Ihre Gesinnung war rechtschaffen, vor Gott wie vor den Menschen; sie weinten bitterliche Tränen für den einen, den anderen haben sie niemals etwas angetan, wenn auch ihr Äußeres fürchterlich anzusehen war und kleinen Kindern Angst machen konnte. Sie lehrten mich Gott zu lieben und den Teufel zu fürchten, und ich wurde in großer Ehrfurcht nach den Lehren Calvins erzogen. Man unterrichtete mich im Heidelberger Katechismus, der in deutscher Sprache geschrieben war.7 Ich konnte ihn vollständig auswendig, ohne ihn zu verstehen. Um sieben Uhr morgens stand ich auf und mußte jeden Tag im Hauskleid bei Mademoiselle Marie von Quadt erscheinen, einer der beiden Töchter, von denen ich gesprochen habe, die mich zu Gott beten und die Bibel lesen ließen. Sie brachte mir die Vierzeiler Pibracs8 bei, während sie sich den Mund spülte und sich die Zähne putzte, die es wahrhaft nötig hatten. Die Grimassen, die sie dabei schnitt, sind mir besser im Gedächtnis geblieben als alles andere, das sie mir beibringen wollte. Danach kleidete man mich an. Dieses geschah um halb neun Uhr, und ich sah dann für gewöhnlich einen Lehrer nach dem anderen zu mir kommen; dies dauerte bis zehn Uhr, falls ihnen der liebe Gott keinen Katarrh schickte, um mich zu retten. Nun wurde der Tanzlehrer willkommen geheißen, der mich bis elf Uhr unterrichtete, der Stunde des Diners. Dieses fand immer sehr zeremoniell an einer langen Tafel statt. Wenn ich in den Saal eintrat, waren meine Brüder alle in einer Linie aufgestellt, hinter ihnen ihr Gouverneur und ihre Hofkavaliere, immer in der gleichen Reihenfolge. Die höfische Etikette verlangte von mir, zuerst eine tiefe Verbeugung vor den Prinzen zu machen, dann eine kleinere vor den anderen, darauf noch einmal eine sehr tiefe, indem ich mich ihnen gegenüber aufstellte, dann noch eine kleine vor meiner Gouvernante, deren Töchter sich ebenfalls sehr tief vor mir verbeugten, wenn sie in den Saal traten. Ich mußte mich tief verbeugen, wenn ich ihnen meine Handschuhe übergab, dann noch einmal, wenn ich mich meinen Brüdern gegenüberstellte, eine Verbeugung machen, wenn mir die Hofkavaliere ein großes Handwaschbecken brachten, noch eine nach dem Gebet und eine letzte, bevor ich mich zu Tisch begab, was wohl, wenn ich richtig gezählt habe, insgesamt neun ausmacht. Alles war genau geregelt, man wußte an jedem Tag, was man essen würde, wie in einem Kloster. Sonntags und Mittwochs waren immer zwei Diener des Wortes Gottes zugegen oder zwei Professoren, die mit uns aßen.

Man glaubte, ich würde sehr gelehrt werden, weil ich eine schnelle Auffassungsgabe hatte; aber ich wollte einfach nichts anderes, als nicht mehr lernen zu müssen; damit ich das, von dem man wollte, daß ich es wissen sollte, eben nicht mehr mühevoll zu lernen hätte. Nach der Mahlzeit ruhte ich bis zwei Uhr nachmittags, bis die Angriffe auf mich wieder begannen; um sechs Uhr ließ man mich zu Abend essen und um halb neun zu Bett gehen, nachdem ich einige Kapitel in der Bibel gelesen und zu Gott gebetet hatte. Dieses Leben habe ich bis zum Alter von neun oder zehn Jahren geführt. Alle Streiche, die ich meiner Gouvernante, welche das Alter hat blind werden lassen, gespielt habe, übergehe ich stillschweigend, denn meine Geschichte soll keine Ähnlichkeit mit der von Lazarillo von Tormes9 bekommen. Ich möchte nur noch hinzufügen, daß die Königin meine heranwachsenden Brüder und Schwestern aus Leyden zurückkommen ließ, die Prinzen, um sie Reisen unternehmen zu lassen, und die Prinzessinnen, um sie bei sich zu haben.

Ich blieb mit einem kleinen Bruder dort, der nur ein Jahr jünger war und der im Alter von acht Jahren starb; die Königin war mit ihm schwanger, als sie die traurige Nachricht vom Tod des Königs, ihres Gemahls, erhielt.10 Das arme Kind wurde von einem Steinleiden gequält, seit es auf der Welt war, und man konnte sich deshalb schon fragen, wie es auch im Evangelium steht, ob er oder seine Eltern gesündigt hatten, weil er so elend geboren worden war; er war sehr hübsch.

Ich erinnere mich, daß die Königin uns beide an einem Nachmittag nach dem Haag kommen ließ, um uns ihrer Cousine, der Prinzessin von Nassau, zu zeigen, so wie man das auf einem Pferdegestüt zu tun pflegt, und daß Madame Gorin, als sie meinen kleinen Bruder und mich sah, sagte: »Er ist sehr hübsch, aber sie ist mager und häßlich, ich hoffe aber, sie versteht unser Englisch nicht.«

Ich verstand es aber nur zu gut, was mich bekümmerte und sehr traurig machte, weil ich glaubte, es gebe gegen mein Übel kein Mittel. Allerdings war es nicht so schlimm wie das meines armen kleinen Bruders, der bald darauf unter entsetzlichsten Schmerzen starb, wovon ich außerordentlich ergriffen und berührt war. Als man seinen Leichnam öffnete, fand man einen Blasenstein so groß wie ein Taubenei, umgeben von vier anderen sehr spitzen Steinen, und einen Nierenstein, der die Form eines großen Zahns hatte, den man mitsamt der Wurzel gezogen hat. Der Gedanke daran macht mich noch heute schaudern, zeigte sich doch die Unwissenheit der Ärzte, von denen er im Laufe seines kurzen Lebens so viele hatte.

Sein Lebensende bedeutete auch das Ende unseres Aufenthaltes am Hof zu Leyden, denn man wollte mich dort nicht alleine zurücklassen; ich empfand große Freude, aber auch einiges Bedauern darüber, meine alten Kindermädchen, die ihren Aufenthaltsort und ihre Gewohnheiten nicht verändern wollten, verlassen zu müssen. Ich liebte sie aus Gewohnheit und Anerkennung, denn zwischen dem Alter und der Jugend gibt es selten Sympathie. Sie wurden wegen ihrer Tugenden von jedermann geachtet, und nachdem sie wie die Heiligen gelebt hatten, sind sie auch so gestorben.

Im Alter von neun bis zehn Jahren kam ich nach dem Haag an den Hof der Königin11, meiner Mutter, und aus Unwissenheit bewunderte ich dort alles. Ich glaubte, dort alle Freuden des Paradieses zu genießen, bei so viel Abwechslung und so vielen neuen Menschen, und weil ich meine Lehrer nicht mehr sehen mußte. Es berührte mich auch nicht, dort drei Schwestern anzutreffen, die viel schöner und gebildeter waren als ich und die von allen bewundert wurden12; ich war damit zufrieden, mit meiner heiteren Art und meinem Witz alle Leute unterhalten zu können. Sogar die Königin fand daran Vergnügen und zeigte sich wohlgelaunt, wenn man mich ärgerte und meinen Witz herausforderte, damit ich mich verteidigen mußte. Ich brachte es immer wieder fertig, die Leute zu verspotten, worüber sich die geistreichen amüsierten, während sich die anderen fürchteten.

Zu diesen gehörte auch der Prinz von Tarent13, der mich mied wie die Pest, da er selbst nicht genug Witz besaß, um sich zu verteidigen. Unter den anderen befanden sich die Messieurs de Zulestem und Marigné. Der eine war ein Flame, ein natürlicher Sohn des Prinzen Heinrich von Oranien, und seine Späße waren nicht sehr höflich. Eines Tages fand ich sie zu indiskret, und um mich sogleich an ihm zu rächen und ihm gehörig den Kopf zu waschen, wollte ich mein Taschentuch in das Wasserbecken tauchen, aus dem die Hunde der Königin gewöhnlich tranken. Aber da es zu viele Hunde waren, fand ich das Becken leer, und so befeuchtete ich das Tuch an einem Ort, wo das Wasser nicht so rein war, und warf es ihm ins Gesicht. Mein Bruder Moritz, der Zeuge davon gewesen war, daß ich mich für meine Rache am Nachtstuhl der Königin bedient hatte, erzählte es sogleich allen Leuten, um den Spott zu steigern; der gute Flame geriet hierüber vollends aus der Fassung.

Der Franzose Marigné besaß viel mehr Geist und Benehmen. Um die Königin zu zerstreuen, schrieb er mir einen Brief im Namen aller Meerkatzen Ihrer Majestät, welche mich zu ihrer Königin machen wollten. Dieser Brief wurde mir vor aller Augen präsentiert, um zu sehen, ob ich meine Haltung bewahren würde. Aber ich fand ihn zu hübsch, um mich über ihn zu ärgern, und ich lachte darüber wie alle anderen.

Man wollte mir noch einen weiteren Streich spielen, und zwar mit dem Sohn des Botschafters aus Venedig, der Contarini hieß; er war sehr hübsch und spielte oft mit mir zusammen. Ein Engländer namens Vain, den man ständig wegen seines großen Kinns aufzog, schrieb nun einen Brief im Namen des kleinen Venezianers, nachdem dieser abgereist war; er übergab ihn mir, um eine Antwort zu entlocken, für die man mich verspotten könnte. Ich bemerkte seine Absicht und legte eine Gegenmine: ich gab ihm heimlich eine kleine Schachtel, die, wie ich ihm sagte, einen Ring zusammen mit einem Brief für den kleinen Venezianer enthielte. In die Schachtel hatte ich aber ein Stück vom Kot der Hunde der Königin getan. In dem Brief stand:

Pour Monsieur le confident

Je luy donne ce présent,

Il es long et de la forme

De son menton si déforme14

Es gab viele solcher Scherze, die aber nicht würdig sind, daß ich sie mir ins Gedächtnis rufe. Lieber wende ich meine Gedanken auf die Zeit, als ich anfing, ein wenig vernünftiger zu werden. Die Königin zog sich gewöhnlich im Sommer auf das Jagdschloß in Rhenen15 zurück. Ihre Majestät weilte gerade dort, als meine Schwestern beschlossen, zu ihrer Zerstreuung das Schauspiel Medea aufzuführen, an dem ich aber nicht mitwirken sollte, weil man dachte, ich sei nicht in der Lage, so viele Verse auswendig zu lernen. Das berührte mich so stark in meiner Ehre, daß ich gleich die ganze Tragödie lernte, obwohl ich bloß die Rolle der Nérine zu lernen brauchte, die man mir immerhin zugestanden hatte.16 Die Königin war’s zufrieden; eine Schneiderin fertigte das Gewand an, und eine Schauspielerin brachte mir die Gesten bei; von dem Text, den ich vorsprach, verstand ich nichts, aber weil ich noch jung war, konnte ich das verschmerzen, denn ich war erst elf Jahre alt.

Einige Zeit später erhielt die Königin, meine Mutter, Besuch von der Königin von England und ihrer Tochter Mademoiselle Marie, welche mit dem jungen Prinzen von Oranien verlobt war.17 Die Königin traf sich mit ihnen in Honslardick18