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Kai Weyand

Am Dienstag stürzen die Neubauten ein

Erzählungen

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Für Beate

Inhalt

Liebesfilm

Am Dienstag stürzen die Neubauten ein

Gefüllte Auberginen

Knockout

Sonntag, im Regen

Happy Hour

Rythm ’n’ Blues

Sonnenstrahlen, seitlich einfallend

Zentimeter

Weiche Lippen

Zelluloid

Liebesfilm

Es kam mir so vor, als sackte ich ein. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, eher in die Knie zu sacken, als in die Knie zu gehen. Obwohl das Sacken meiner Knie von außen betrachtet sicherlich gar nicht als solches zu erkennen war. Wie ja nie von außen betrachtet werden kann, was eigentlich ist.

Neben meinem Teller lag ein Zettel.

Ich möchte, dass du mich verlässt, und zwar sofort. Komme nie wieder in meine Nähe. Wir werden uns nicht mehr wiedersehen. Es wird keine Zukunft für uns geben. Also bitte, geh. Viel Glück

P.S.: Ich fühle mich gut mit Kontaktlinsen, verdammt gut.

Ich glaubte, diese Worte so oder ähnlich schon einmal irgendwo gehört zu haben. Doch sogleich dachte ich, es ist Mittwochmorgen, da passiert so etwas nicht. Ein Irrtum, eine Verwechslung, sie hat sich geirrt, meint jemand anderen. Helen hat mir noch nie einen Zettel geschrieben. Aber ich las den Zettel noch mal durch, wieder und wieder und merkte, es war kein Irrtum, keine Verwechslung.

Der erste Zettel in drei Jahren, überhaupt das erste, was ich jemals neben meinem Teller vorgefunden hatte. Keine Rose, keine Konzertkarte, noch nicht einmal eine Serviette mit einem Kussmund darauf. Nichts. Und dann einen Zettel. Einen abgerissenen Fresszettel.

Mir fiel auf, dass es keine Marmelade gab. Nur Honig und Nuss-Nougatcremes. Ich erinnerte mich, dass wir beide früher Marmeladenbrote gegessen und dazu »Strawberry Fields forever« gesungen hatten. Jetzt konnte ich mich nicht erinnern, wann es zuletzt einmal Marmelade gegeben hatte.

Alles hatte auf einer Party angefangen, die so langweilig war, dass ich mich bald bereit erklärt hatte, Cocktails zu mixen. Auf einmal war eine Frau in die Küche gekommen. Sie hatte feine Finger und trug eine Brille mit Horngestell, die ihre Augen hinter den Gläsern groß erscheinen ließen. Es gefiel mir, dass sie mich mit großen Augen ansah, und so dauerte es nicht lange, bis ich mir wünschte, ihr die Brille von der Nase nehmen zu können und sie zu küssen. Ich drückte ihr eine Bloody Mary in die Hand und sagte: Auch wenn du weniger als 1,5 Dioptrien hast, die Brille steht dir ausgezeichnet.

Sie kippte die Bloody Mary in einem Zug, lächelte und sagte: Auch wenn du mehr als 1,5 Promille hast, wäre es mir lieber, du würdest präzise formulieren, was du von mir willst.

So etwas hatte noch nie eine Frau zu mir gesagt. Also kippte auch ich meine Bloody Mary in einem Zug, nahm ihr mit beiden Händen die Brille von der Nase und küsste sie. Das fand sie offenbar präzise, sie sagte sogar: sehr präzise. Ich heiße Helen. So hatte es angefangen.

Helen studierte Filmwissenschaft und wollte später Regisseurin werden. Sie sagte, du küsst wie Cary Grant. Das klang wie eine Auszeichnung.

Es war Frühling, irgendwie eine präzise Jahreszeit, dachte ich, als ich die spitz zulaufenden Knospen langsam aufbrechen sah. Ich nahm mir vor, ebenfalls so präzise wie möglich zu sein. Am Wochenende fuhren wir raus auf die Felder und spielten »Der unsichtbare Dritte«, Helens Lieblingsfilm mit Cary Grant. Ich rannte stolpernd und mich immer wieder nach Helen umdrehend über das Feld. Helen war das Flugzeug, machte brumm brumm und rannte mit ausgebreiteten Armen hinter mir her. Wir lachten, änderten das Drehbuch, ich schoss das Flugzeug ab, Helen stotterte brumm brumm und fiel mit ausgebreiteten Armen, großen Augen und weichen Lippen auf mich. Wir fuhren mit dem Zug, sagten uns, es sei der New York Central, stiegen in verschiedene Waggons und spielten die Szene, in der Cary Grant eine geheimnisvolle Fremde im Zug trifft, und dann küssten wir den längsten und verschlungensten Kuss der Filmgeschichte nach. Eines Tages sagte ich, ich könne auch Fassaden hochklettern, dann könnten wir »Über den Dächern von Nizza« spielen, aber da nahm Helen ihre Brille von der Nase und sagte, wenn man zuviel kopiert, wird man blass, mein Lieber.

Ich betrachtete die Gläser mit den verschiedenen Brotaufstrichen und dachte, vielleicht hätte sie sich gefreut, wenn ich sie einmal Juliette genannt hätte. Helen konnte lächeln wie Juliette Binoche. Das erkannte ich, als ich einmal in »Chocolat« gegangen war. Ich hätte sie gerne Juliette genannt, weil auch Juliette einen mit großen Augen anschauen konnte, aber Helen verdrehte bei »Chocolat« die Augen und sprach von anspruchslosem Hollywoodkommerz und dem Untergang des europäischen Films. Binoche, sagte sie abfällig, reiß dich mal zusammen. Die guten Filme, sagte sie einmal, kämen aus Osteuropa. Polen, Tschechien, Russland. Selbst Bulgarien, sagte sie, hätte mehr zu bieten als diese Californian Dream Boys Fraktion aus Hollywood. Ich sagte, Osteuropäer würden mir irgendwie Angst machen. Die würde man nie verstehen, selbst wenn man wollte, und außerdem hätten die immer ein Messer in der Hose. Da nahm Helen ihre Brille herunter und sagte, lieber ein Messer in der Hose als eine Schere im Kopf.

Wir küssten uns immer weniger, drehten uns dafür immer öfter mit angezogenen Beinen auf die Seite. Eines Abends versuchte ich die Verkrampfung zu lösen und fragte: »Wo bitte geht’s zur Front?« Sie lachte noch einmal und sagte: Gut, spielen wir Feldlazarett. Wir verarzteten uns gegenseitig die ganze Nacht, und sie sagte, ich sei ein guter Arzt. Ich hoffte, es könne wieder so werden wie zu Zeiten Cary Grants, und fragte immer mal wieder: Feldlazarett? Aber eines Tages knallte sie die Tür und schrie, sie sei weder ein Fall für die Pflege noch habe sie Lust auf einen Pflegefall. Ich wollte ihr mit beiden Händen die Brille von der Nase nehmen, um etwas Präzises zu machen, aber sie wandte sich ab. Zwei Tage später trug sie Kontaktlinsen.

Ich versuchte noch einige Male in andere Rollen zu schlüpfen, in präzise Rollen, wie ich dachte. Ich spielte den »Paten« und stopfte mir zwei Tischtennisbälle in die Backen wie Marlon Brando, ich lief breitbeinig und mit verknittertem Gesicht herum wie John Wayne, setzte mir einen Hut auf wie Humphrey Bogart in »Casablanca« und sagte: Du bist Regisseurin, ich spiele, was du willst. Aber Helen sagte, entscheidend ist der Cut.

Und so fand ich heute von ihr diesen Zettel. Ich sah auf den gedeckten Frühstückstisch mit der blauen Tischdecke und fragte mich, warum Helen noch den Tisch gedeckt hatte.

Kurz darauf stand sie in der Küche. Sie trug wieder ihre Brille mit Horngestell auf der Nase, schaute mich mit großen Augen an, und ich fragte mich, warum ich sie nicht einmal Juliette genannt hatte. Sie sagte, wenn du es mit »Die Liebenden von Pont Neuf« verbunden hättest, hätte es mir gefallen. Sie strich sich mit einer Hand die Haare hinters Ohr und flüsterte: Was ist los, Cary? Du hast es doch kommen sehen, oder?

Warum hast du nicht schon früher mal einen Zettel geschrieben? sagte ich. Du hättest mich warnen können.

Doch bevor ich eine Antwort erhielt oder sie fragen konnte, ob ich ihr noch ein letztes Mal die Brille von der Nase nehmen dürfte, um sie zu küssen, war Helen schon wieder verschwunden, und alles, was blieb, war ein Schuldgefühl und die Gewissheit, dass Helen bald ein anderer küssen würde, vielleicht nicht so präzise wie Cary Grant, dafür so entschlossen wie Gary Cooper.

Es war Zeit zu gehen.

Ich nahm einen Zettel und einen Stift aus der Tischschublade und begann zu schreiben.

Liebe Helen,

ich erinnere mich. Die Worte auf deinem Zettel: »Der unsichtbare Dritte«. Eva Marie Saint sagt sie zu Cary Grant in ihrem Hotelzimmer in Chicago. Aber Cary Grant will nicht gehen, er sagt, erst nach dem Essen, alles andere wäre nicht fair. Deshalb hast du noch den Frühstückstisch gedeckt, nicht wahr? Durchdacht bis ins Detail. Aber doch bloß eine Kopie, liebe Helen. Und eine Kopie, du hast recht, ist blass.

Gute Nacht, Liebling, die Stunden mit dir waren bezaubernd.

Ich faltete den Zettel zusammen und legte ihn auf das vor mir liegende Brot mit Butter. Dann stand ich auf.

Am Dienstag stürzen die Neubauten ein

Dienstage sind eigentlich furchtbar langweilige Tage. Es gibt kein langweiligeres und emotionsloseres Wort als Dienst. Und so gibt es auch keine trostloseren Tage als Dienstage. Die Emotion, die eigentlich bei jedem Wort in irgendeiner Form zuschlagen sollte, wird bei dem Wort Dienst müde, dienstmüde, vergisst darüber ihre Dienstpflicht, verweigert fortan jeglichen Dienst und wird dienstkrank. Und auch ich melde mich dienstags meistens krank.

Letzten Dienstag jedoch kam alles ganz anders. Da brachte ich meinen Onkel Bruno um, und das war ein durchaus emotionsgeladener Vorgang. Es war der Dienstag, an dem Freud und Bügel kamen. Ich erzählte ihnen, dass Onkel Bruno tot sei, nicht aber, dass ich ihn umgebracht hätte. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich Onkel Bruno das erste Mal gesehen habe. Es war ein Dienstag und ich 7 Jahre alt. Meine Mutter sagte wie aus heiterem Himmel: Onkel Bruno hat Geburtstag. Ich kannte keinen Onkel Bruno, aber das sollte sich schnell ändern. Denn von nun an hieß Onkel Bruno hat Geburtstag: wir fahren zu Onkel Bruno. Jedes Jahr. Die Fahrt begann schon Wochen vor dem eigentlichen Geburtstag. Meine Mutter sagte: Weißt du noch, letztes Jahr, wie Onkel Bruno sich über dein Geschenk gefreut hat?

Ja, ja, sagte ich dann, schon gut, ich male ihm wieder ein Bild.

Es war wie ein Pawlowscher Reflex: Meine Mutter sagte, Onkel Bruno hat Geburtstag, und ich setzte mich hin und malte ein Bild.

Oh, ein Bild, säuselte Onkel Bruno jedes Mal. Ich aber säuselte schon, während ich das Bild malte: Oh, ein Bild. Ich spürte bereits damals, auch wenn ich es nicht in Worte hätte fassen können, dass man sich in seiner Sprache dem Gegenüber anpasst. Und säuseln tut man nur, wenn man glaubt, einen Idioten vor sich zu haben. Onkel Bruno hielt mich für einen Idioten. Also säuselte ich, noch bevor er überhaupt daran denken konnte zu säuseln, ich aber schon wusste, dass er säuseln würde. So, dachte ich, machte ich ihn zum Idioten. Aber man besucht nicht gerne einen Idioten. Und so drückte ich mich verlegen an der Eingangstür herum, versuchte das zusammengerollte und mit einer roten Schnur zusammengebundene Bild hinter meinem Rücken zu verstecken, bis meine Mutter schließlich ihre Hand in meinen Nacken legte, um mich sanft, aber unmissverständlich zu Onkel Bruno zu schieben. Dabei flüsterte sie mir zu: Du weißt doch, wie Onkel Bruno sich freut. Natürlich wusste ich, wie Onkel Bruno sich freut. Er lacht mir immer ins Gesicht und stinkt zum Gotterbarmen aus dem Mund, erzählte ich Freud und Bügel. Die finden seitdem ihre ganze Verwandtschaft zum Gotterbarmen.

So stand ich dann mit meinem Bild hinterm Rücken vor meinem Onkel – meine Mutter hatte rechtzeitig ihre Hand von mir genommen, dass es nicht so aussah, als würde ich nicht freiwillig zu ihm kommen – und murmelte: Herzlichen Glückwunsch, Onkel. Er nahm mich nie gleich wahr, weil er immer mit irgendwelchen Leuten in ein Gespräch vertieft war, und einen Idioten konnte man warten lassen. So stand ich viele Jahre vor ihm, starrte auf seine Hosentasche, in der seine Finger mit einem Schlüsselbund spielten, murmelte immer wieder einmal Herzlichen Glückwunsch, Onkel und wartete, bis ihn einer der Umstehenden auf mich aufmerksam machte.

Ah, du bist’s. Du willst mir gratulieren, alles klar, tönte er dann laut und lachte mir ins Gesicht, dass ich vor Scham rote Ohren bekam. Dann beugte er sich zu mir und dröhnte: Was hast du denn da hinterm Rücken? Ist das für mich? Also holte ich meine Hände hinterm Rücken hervor und zählte leise bis drei. Wenn er bis drei säuselte, hatte ich gewonnen. Es war ein absurdes Spiel. Ein Spiel, das man spielt, wenn man rote Ohren hat.

Natürlich freute sich mein Onkel nicht wirklich über meine Bilder. Immer, wenn wir ihn besuchten, lief ich durch die ganze Wohnung und schaute an den Wänden, ob irgendwo ein Bild von mir hing. Nie habe ich eines entdeckt.

Es war aber auch mein Onkel, der mir bei jedem Besuch einen Fünfer zusteckte. Und es war mein Onkel, der mir, als ich zwölf war, einen Schal meines Lieblingsklubs mit den Unterschriften von Herbert Reiss und Paul Dörflinger schenkte. Und es war mein Onkel, der mit seinen Zehen Chips aus einer vor ihm liegenden Schüssel greifen konnte, ohne dabei zu krümeln. Und es war mein Onkel, der sich wunderte, warum ich keine Chips essen wollte.

Leider ist diese Geschichte nicht wahr. Ich habe sie mir nur ausgedacht. Onkel Bruno hat nie Oh, ein Bild! gesäuselt, und er hat auch nie Chips mit den Zehen aus der Schüssel geholt. Und meine Mutter hat mich nie gezwungen, Onkel Bruno zum Geburtstag zu gratulieren, geschweige denn ihn zu besuchen. Onkel Bruno hatte nie Geburtstag. Ich habe ihn erfunden, ihn mir nur vorgestellt. Und wenn ich am Anfang sagte, dass ich Onkel Bruno getötet habe, so war es natürlich kein richtiger Mord, wenngleich – vielleicht ist es doch ein Mord, wenn man eine Person zum Leben erweckt, ihr einen Atem einhaucht und sie fast dreizehn Jahre lang wie einen Schlüssel in der Hosentasche tagtäglich mit sich herumträgt, bereit, sie jederzeit hervorzuholen und etwas über sie zu erzählen. Ich wusste alles über ihn, welche Strümpfe er trug, dass es Kniestrümpfe waren und er sie tatsächlich bis zu den Knien hochzog; ich wusste, dass ich ihn einmal nackt unter der Dusche gesehen hatte, wie groß sein Glied war, wie seine Schambehaarung aussah, dass er eine Hühnerbrust hatte, manchmal Wurst aufs Marmeladenbrot legte und sich heimlich die Beine rasierte.

Aber das alles habe ich mir, wie gesagt, nur ausgedacht oder hätte ich mir ausdenken können. Ich habe Onkel Bruno erfunden, als ich 7 Jahre alt war und einmal mit Freud und Bügel auf dem Schulhof stand. Ich erinnere mich noch genau, wie wir beisammenstanden, es war ein Dienstag und wir wollten uns für den nächsten Tag verabreden, wahrscheinlich zum Fußballspielen. Auf einmal sagte Freud: Scheiße, ich kann nicht, Tante Käthe wird fünfzig. Wer ist Tante Käthe? fragte Bügel. Und Freud fing an zu erzählen von Tante Käthe, ihren falschen Zähnen, dass sie sich unter den Achseln rasierte und – wie er glaubte – auch woanders, von Onkel Josef, der ein Loch in ein Papiertaschentuch pupsen und die Tonleiter rülpsen konnte, und Bügel fing an zu lachen und ich auch, und Bügel krümmte sich vor Lachen und ich auch, aber bald merkte ich, dass Bügel aus einem ganz anderen Grund lachte und sich krümmte als ich. Nicht, weil Freuds Erzählung so witzig war, sondern weil er, Bügel, das alles kannte, weil er auch Tante Käthes und Onkel Josefs und andere Verwandte hatte, die komisch waren. Ich aber hatte bislang nicht einmal gewusst, dass Verwandte komisch waren, denn ich hatte gar keine, keinen Opa, keine Oma, nicht einmal einen Vater, von dem ich einen Onkel hätte erben können. Und mir fiel das Lachen immer schwerer, und krümmen konnte ich mich schon gar nicht mehr. Und ich merkte, wie Freud und Bügel mir entglitten, wie sie sich Schritt für Schritt von mir entfernten und ich immer weiter ins Abseits rutschte. Sie waren in eine Welt abgetaucht, die mir fremd war, und ich fühlte mich wie jemand am falschen Ort, der sich inbrünstig wünscht, es wäre der richtige. So erfand ich Onkel Bruno. Und meinen Onkel Bruno stellte ich mir so vor, dass er es locker mit all den Tante Käthes und Onkel Josefs von Freud und Bügel aufnehmen konnte. Und tatsächlich hatte ich nie wieder das Gefühl, im Abseits zu stehen.