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Joseph Roth

Die Rebellion

Roman

 

Nach dem Manuskript ediert

und mit einem Nachwort

herausgegeben von

Ralph Schock

 

 

 

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Zweite, verbesserte Auflage 2019

Wallstein Verlag, Göttingen 2019

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

© SG-Image unter Verwendung eines Szenenphotos aus

»Die Rebellion« von Wolfgang Staudte, Darsteller: Joseph Meinrad

© United Archives / Siegfried Pilz/Süddeutsche Zeitung Photo

ISBN (Print) 978-3-8353-3690-2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4497-6

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4498-3

Inhalt

Die Rebellion

   Feuilletons

Arbeitslos (Ein Zeitbild)

Die Spieldose

Die Kugel am Bein – Schicksale eines Entlassenen

Lebende Kriegsdenkmäler

Das Varieté der Besitzlosen

Aus der Unterwelt von Berlin

Aus der Unterwelt von Berlin (2)

Nächte in Kaschemmen

Nächte in Kaschemmen (2)

Berliner Bettelmusikanten

Spaziergang

Die Abseits-Menschen

Die Toten ohne Namen

Der Mann in der Toilette

Berliner Norden

In der Region des Hungers – Bilder aus dem besetzten Gebiet

Keine Bettler, nur Schnorrer

Bilder aus Düsseldorf

Der Wanderredner und die Taschenbatterie

Der Gesang des Bettlers

Der Mensch aus Pappkarton

Der Zug der Fünftausend

Aus den Sümpfen

Die Krüppel – Ein polnisches Invalidenbegräbnis

   Anhang

Editorische Notiz

Vergleich der Varianten von Manuskript und Erstausgabe

Anmerkungen

Otto Roeld: Die Rebellion

Max Herrmann-Neiße: Unpedantischer, ungebundener, phantastischer Realismus

Übersetzungen

Forschungsliteratur zu »Die Rebellion« (Auswahl)

Nachwort

 

Die Rebellion
Roman

 

 

 

 

Die Baracken des Kriegsspitals Numero XXIV lagen am Rande der Stadt. Von der Endstation der Straßenbahn bis zum Krankenhaus hätte ein Gesunder eine halbe Stunde rüstig wandern müssen. Die Straßenbahn führte in die Welt, in die große Stadt, in das Leben. Aber die Insassen des Kriegsspitals Numero XXIV konnten die Endstation der Straßenbahn nicht erreichen.

Sie waren blind oder lahm. Sie hinkten. Sie hatten ein zerschossenes Rückgrat. Sie erwarteten eine Amputation oder waren bereits amputiert. Weit hinter ihnen lag der Krieg. Vergessen hatten sie die Abrichtung; den Feldwebel; den Herrn Hauptmann; die Marschkompagnie; den Feldprediger; Kaisers Geburtstag; die Menage; den Schützengraben; den Sturm. Ihr Frieden mit dem Feind war besiegelt. Sie rüsteten schon zu einem neuen Krieg: gegen die Schmerzen; gegen die Prothesen; gegen die lahmen Gliedmaßen; gegen die krummen Rücken; gegen die Nächte ohne Schlaf; und gegen die Gesunden.

Nur Andreas Pum war mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Er hatte ein Bein verloren und eine Auszeichnung bekommen. Viele besaßen keine Auszeichnung, obwohl sie mehr, als nur ein Bein verloren hatten. Sie waren arm- und beinlos. Oder sie mußten immer im Bett liegen, weil ihr Rückenmark kaputt war. Andreas Pum freute sich, wenn er die Andern leiden sah.

Er glaubte an einen gerechten Gott. Dieser verteilte Rückenmarkschüsse, Amputationen, aber auch Auszeichnungen nach Verdienst. Bedachte man es recht, so war der Verlust eines Beines nicht sehr schlimm und das Glück, eine Auszeichnung erhalten zu haben, ein großes. Ein Invalider durfte auf die Achtung der Welt rechnen. Ein ausgezeichneter Invalider auf die der Regierung.

Die Regierung ist etwas, das über den Menschen liegt, wie der Himmel über der Erde. Was von ihr kommt, kann gut oder böse sein, aber immer ist es groß und übermächtig, unerforscht und unerforschbar, wenn auch manchmal für gewöhnliche Menschen verständlich.

Es gibt Kameraden, die auf die Regierung schimpfen. Ihrer Meinung nach geschieht ihnen immer Unrecht. Als ob der Krieg nicht eine Notwendigkeit wäre! Als ob seine Folgen nicht selbstverständlich Schmerzen, Amputationen, Hunger und Not sein müßten! Was wollten sie? Sie hatten keinen Gott, keinen Kaiser, kein Vaterland. Sie waren wohl Heiden. »Heiden« ist der beste Ausdruck für Leute, die sich gegen Alles wehren, was von der Regierung kommt.

Es war ein warmer Sonntag im April, Andreas Pum saß auf einer der rohgezimmerten weißen Holzbänke, die mitten im Rasen vor den Baracken des Spitals aufgestellt waren. Fast auf jeder Bank saßen zwei und drei Rekonvaleszente zusammen und sprachen. Nur Andreas saß allein und freute sich über die Bezeichnung, die er für seine Kameraden gefunden hatte.

Sie waren Heiden, wie zum Beispiel Leute, die wegen falscher Eide und wegen Diebstahls, Totschlags, Mordes oder gar Raubmordes im Zuchthaus saßen. Warum stahlen die Leute, töteten, raubten, desertierten sie? Weil sie Heiden waren.

Wenn jemand in diesem Augenblick Andreas gefragt hätte, was die Heiden sind, so hätte er geantwortet: zum Beispiel Menschen, die im Gefängnis sitzen, oder auch jene, die man zufällig noch nicht erwischt hat. Andreas Pum war sehr froh, daß ihm die »Heiden« eingefallen waren. Das Wort genügte ihm, es befriedigte seine kreisenden Fragen und gab Antwort auf viele Rätsel. Es enthob ihn der Verpflichtung, weiter nachdenken und sich mit der Erforschung der Anderen abquälen zu müssen. Andreas freute sich über das Wort. Zugleich verlieh es ihm das Gefühl der Überlegenheit über die Kameraden, die auf den Bänken saßen und schwatzten. Sie hatten zum Teil schwerere Wunden und keine Auszeichnungen. Geschah ihnen nicht Recht? Weshalb schimpften sie? Warum waren sie unzufrieden? Fürchteten sie um ihre Zukunft? Wenn sie weiter in ihrem Trotz verharrten, dann hatten sie wohl recht, um ihre Zukunft bang zu sein. Sie schaufelten sich ja selbst ihre Gräber! Wie sollte sich die Regierung ihrer Feinde annehmen? Ihn, Andreas Pum, dagegen, wird sie schon versorgen.

Und während die Sonne schnell und sicher am wolkenlosen Himmel ihrem Höhepunkt zustrebte und immer glühender und fast schon sommerlich wurde, dachte Andreas Pum an die nächsten Jahre seines Lebens. Die Regierung hat ihm einen kleinen Briefmarkenverschleiß übergeben oder eine Wächterstelle in einem schattigen Park, oder in einem kühlen Museum. Da sitzt er nun mit seinem Kreuz auf der Brust, Soldaten grüßen ihn, ein etwa vorbeigehender General klopft ihm auf die Schulter und die Kinder fürchten sich vor ihm. Er aber tut ihnen nichts zuleide, er gibt nur acht, daß sie nicht auf den Rasen springen. Oder die Leute, die in’s Museum kommen, kaufen bei ihm Kataloge und Künstlerkarten und betrachten ihn dennoch nicht als einen gewöhnlichen Händler, sondern als eine Amtsperson, vielleicht findet sich auch noch eine Witwe, kinderlos oder mit einem Kind, oder ein älteres Mädchen. Ein gutversorgter Invalider mit einer Pension ist keine schlechte Partie und Männer sind nach dem Krieg sehr gesucht.

Der helle Klang einer Glocke hüpfte über den Rasen vor den Baracken und verkündete das Mittagessen. Die Invaliden erhoben sich schwer und wankten aufeinander gestützt der großen langgestreckten hölzernen Speisebaracke entgegen. Andreas hob mit eiliger Beflissenheit seine heruntergefallene Krücke auf und humpelte munter hinter den Kameraden, um sie zu überholen. Er glaubte nicht recht an ihre Schmerzen. Auch er mußte leiden. Und dennoch – seht! – wie flink er sein kann, wenn ihn die Glocke ruft!

Selbstverständlich überholt er die Lahmen, die Blinden, die Männer mit den krummen Wirbelsäulen, deren Rücken so gebückt ist, daß er einen parallelen Strich zur Erde bildet, auf der sie gehen. Hinter Andreas rufen sie her, aber er wird sie nicht hören.

Es gab wieder Hafergrütze, wie jeden Sonntag. Die Kranken wiederholten, was sie alle Sonntage zu sagen gewohnt waren: Hafergrütze ist langweilig. Andreas aber fand sie gar nicht langweilig. Er hob den Teller an die Lippen und trank den Rest, nach dem er ein paarmal mit dem Löffel vergeblich gefischt hatte. Die Andern sahen ihm zu und folgten zaghaft seinem Beispiel. Er hielt den Teller lange vor dem Gesicht und schielte über den Rand nach den Kameraden. Er stellte fest, daß ihnen die Suppe schmeckte und daß ihre Reden Prahlerei und Übermut gewesen waren. Sie sind Heiden! – frohlockte Andreas und setzte den Teller ab.

Das Dörrgemüse, das die Andern »Drahtverhau« nannten, schmeckte ihm weniger. Dennoch leerte er den Teller. Er hatte dann das befriedigende Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben, wie wenn er ein rostiges Gewehr blank geputzt hätte. Er bedauerte, daß kein Unteroffizier kam, um die Teller zu kontrollieren. Sein Teller war sauber, wie sein Gewissen. Ein Sonnenstrahl fiel auf das Porzellan und es glänzte. Das nahm sich aus, wie ein offizielles Lob des Himmels.

Am Nachmittag kam die längst angekündigte Prinzessin Mathilde in einer Krankenschwestertracht. Andreas der in seiner Abteilung das Zimmerkommando führte stand stramm an der Tür. Die Prinzessin gab ihm die Hand und er verneigte sich, wider Willen, obwohl er sich vorgenommen hatte, stramm zu bleiben. Seine Krücke fiel zu Boden, die Begleiterin der Prinzessin Mathilde bückte sich und hob sie auf.

Die Prinzessin ging, hinter ihr die Oberschwester, der Oberarzt und der Priester. Alte Nutte! – sagte ein Mann von der zweiten Bettreihe. »Unverschämt!« schrie Andreas. Die Andern lachten. Andreas wurde zornig. Er befahl: Betten in Ordnung bringen, obwohl alle Decken sauber und vorschriftsmäßig dreimal gefaltet waren. Niemand rührte sich. Einige begannen, ihre Pfeifen zu stopfen.

Da kam der Gefreite Lang, ein Ingenieur, dem der rechte Arm fehlte und vor dem auch Andreas Respekt hatte und sagte: »Reg Dich nicht auf, Andreas. Wir sind ja alle arme Teufel.«

Es wurde sehr still in der Baracke, alle sahen den Ingenieur an, Lang stand vor Andreas und sprach. Man wußte nicht, ob er zu Andreas oder zu den Andern, oder auch nur für sich selbst sprach. Er blickte zum Fenster hinaus und sagte:

»Die Prinzessin Mathilde wird jetzt sehr zufrieden sein. Auch sie hat einen schweren Tag hinter sich. Sie besucht jeden Sonntag vier Krankenhäuser. Denn es gibt, müßt ihr wissen, schon mehr Krankenhäuser, als Prinzessinnen und mehr Kranke, als Gesunde. Auch die scheinbar Gesunden sind krank, viele wissen es nur nicht. Vielleicht machen sie bald Friede.«

Einige räusperten sich. Der Mann in der zweiten Bettreihe, der vorher »alte Nutte« gesagt hatte, hustete laut. Andreas humpelte zu seinem Bett, nahm vom Kopfbrett eine Schachtel Zigaretten und rief den Ingenieur herbei. »Gute Zigarette, Herr Doktor!« sagte Andreas. Er nannte den Ingenieur »Doktor«.

Lang sprach, wie ein Heide, aber auch, wie ein Geistlicher. Vielleicht, weil er so gebildet war, aber immer hatte er recht. Man hatte Lust, ihm zu widersprechen und fand keine Argumente. Er mußte recht haben, wenn man ihm nicht widersprechen konnte.

Am Abend lag der Ingenieur auf dem Bett in Kleidern und sagte: »Wenn die Grenzen wieder offen sind, fahre ich weit weg. Es wird nichts mehr zu holen sein in Europa.«

»Wenn wir nur den Krieg gewinnen«, sagte Andreas[.]

»Alle werden ihn verlieren« erwiderte der Ingenieur. Andreas Pum verstand es nicht, aber er nickte achtungsvoll, als müßte er dem Lang recht geben.

Indessen nahm er sich vor, im Land zu bleiben und künstlerische Postkarten in einem Museum zu verkaufen. Er sah ja ein, daß für Gebildete vielleicht kein Platz war. Sollte der Ingenieur etwa Parkwächter werden?

Andreas hatte keine Angehörigen. Wenn andere Besuche empfingen, ging er hinaus und las ein Buch aus der Spitalsbibliothek. Er war oft nahe daran gewesen, zu heiraten. Aber die Furcht, daß er zu wenig verdiente, um eine Familie zu erhalten, hatte ihn gehindert, um Anny, die Köchin, die Näherin Amalie, das Kindermädchen Poldi anzuhalten.

Er war mit allen Drei nur »gegangen«. Sein Beruf war allerdings auch nichts für junge Frauen. Andreas war Nachtwächter in einem Holzlager außerhalb der Stadt und nur einmal in der Woche frei. Seine eifersüchtige Natur hätte ihm die ruhige Freude am gewissenhaft ausgeübten Dienst gestört, oder diesen ganz unmöglich gemacht.

Einige schliefen und schnarchten. Der Ingenieur Lang las. »Soll ich abdrehn?« fragte Andreas.

Ja, sagte der Ingenieur und legte das Buch weg.

Gute Nacht, Doktor, erwiderte Andreas. Er knipste das Licht ab. Er zog sich im Dunkeln aus. Seine Krücke lehnte an der Wand zur rechten Seite.

Andreas denkt, ehe er einschläft, an die Prothese, die ihm der Oberarzt versprochen hat. Es wird eine tadellose Prothese sein, wie sie der Hauptmann Hainigl trägt. Man merkt gar nicht, daß ihm ein Bein fehlt. Der Hauptmann geht frei, ohne Stock, durchs Zimmer, als hätte er nur ein kürzeres Bein. Die Prothesen sind eine großartige Erfindung der hohen Herren, der Regierung, die sich wirklich was kosten läßt. Das muß man sagen.

II.

Die Prothese kam nicht. Statt ihrer kam die Unordnung, der Untergang, die Revolution. Andreas Pum beruhigte sich erst zwei Wochen später, nachdem er aus den Zeitungen, den Vorgängen, den Reden der Menschen entnommen hatte, daß auch in Republiken Regierungen über die Schicksale des Landes walteten. In den großen Städten schoß man auf die Empörer. Die heidnischen Spartakisten, die gaben keine Ruhe. Wahrscheinlich wollten sie die Regierung abschaffen. Sie wußten nicht, was dann folgen würde. Sie waren schlecht oder töricht, sie wurden erschossen, es geschah ihnen Recht. Gewöhnliche Menschen sollen sich nicht in die Angelegenheiten der Klugen mischen.

Man erwartete eine ärztliche Kommission. Sie hatte über den Bestand des Spitals, über die Arbeitsunfähigkeit, über die Versorgung seiner Insassen zu entscheiden. Das Gerücht, aus andern Krankenhäusern herüberflatternd, wollte wissen, daß nur die Zitterer bleiben würden. Alle andern bekämen Geld und vielleicht eine Drehorgellizenz. Von einem Briefmarkenverschleiß, einer Wächterstelle in einem Park, in einem Museum könne keine Rede sein.

Andreas begann, zu bedauern, daß er kein Zitterer war. Von den hundertsechsundfünfzig Kranken des Kriegsspitals Numero XXIV zitterte nur Einer. Alle beneideten ihn. Er war ein Schmied, namens Bossi, italienischer Abkunft, schwarz, breitschultrig, finster. Sein Haar wuchs schwer über den Augen und drohte, sich über das ganze Angesicht auszubreiten, die schmale Stirn zu überwuchern und, die Wangen bedeckend, eine Vereinigung mit dem wilden Bart zu finden.

Bossis Krankheit milderte nicht die furchtbare Wirkung seiner körperlichen Gewalt, sondern vergrößerte seine Unheimlichkeit. Die schmale Stirn faltete sich und verschwand zwischen den buschigen Augenbrauen und dem Haaransatz. So traten die grünen Augen hervor, der Bart bebte, man hörte die Zähne klappern. Die mächtigen Beine krümmten sich, daß sich die Kniescheiben innen bald berührten und bald auseinanderstrebten und die Schultern zuckten empor und fielen zurück, während der wuchtige Kopf in einem ständigen leisen, verneinenden Schütteln verharrte, wie man es bei kraftlosen Häuptern alter Frauen sieht. Die ununterbrochenen Bewegungen des Körpers hinderten den Schmied, deutlich zu sprechen. Er sprudelte halbe Sätze hervor, spuckte ein Wort aus, blieb eine Weile stumm und setzte wieder an. Daß ein so kräftiger wilder Mann zittern mußte, ließ die allgemein bekannte Krankheit furchtbarer erscheinen, als sie war. Eine große Traurigkeit befiel jeden, der den zitternden Schmied sah. Er war, wie ein schwankender Koloß auf unsicherm Grunde. Er hielt alle in der Erwartung seines bald erfolgenden Zusammenbruchs und brach dennoch nicht nieder. Unglaubhaft war, daß ein Mann von solchen Ausmaßen beständig wankte, ohne, sich selbst und seine Umgebung erlösend, endgültig auseinanderzustürzen. Sogar die unglücklichsten Invaliden, die ein zerschossenes Rückgrat hatten, gerieten in Bossis Nähe in einen Zustand einer unübersichtlich endlosen Furcht, wie man sie vor Katastrophen empfindet, die nicht eintreffen wollen und deren Ausbruch eine Erlösung wäre.

Wer ihn sah, fühlte die Notwendigkeit ihm beizustehen und die Ohnmacht zugleich. Schmerzlich war die Erkenntnis, daß man ihm nicht helfen konnte und beschämend. Aus Scham hätte man selbst zittern mögen. Die Krankheit übertrug sich auf den Betrachter. Schließlich zog man sich zurück, entwich, und konnte dennoch das Bild des zitternden Riesen nicht vergessen.

Drei Tage vor der Ankunft der Kommission begab sich Andreas in die Baracke Bossis, den er immer gemieden hatte. Zwanzig Lahme und Einarmige waren um den Schmied versammelt und sahen ihm in einer leidenschaftlichen Stille zu. Vielleicht hofften sie auf die ansteckende Wirkung des Zitterns. Jedenfalls verspürte bald der Eine und bald ein Anderer ein heftiges Zucken in Knien, Ellenbogen und Handgelenken. Sie gestanden es einander nicht. Einzelne schlichen davon und probierten, zu zittern, wenn sie einen Augenblick allein waren.

Der mißtrauische Andreas, der Bossi aus ganz unbestimmten Gründen nicht leiden mochte, zweifelte zuerst an der Krankheit. Neid erfaßte ihn und zum ersten Mal Bitterkeit gegen die Regierung, die just Zitterer belohnen wollte und keine andern. Zum ersten Mal durchdrang ihn etwas, wie eine Erkenntnis von der Ungerechtigkeit derjenigen, die zu befehlen und zu bestimmen hatten. Plötzlich fühlte er, daß seine Muskeln zuckten, sein Mund sich verschob, sein rechtes Augenlid zu flackern begann. Ein freudiger Schrecken überfiel ihn. Er humpelte davon. Seine Muskeln beruhigten sich. Sein Augenlid flackerte nicht mehr.

Er schlief nicht ein. Im Finstern kleidete er sich an, ohne Krücken, um die Schlafenden nicht zu wecken, die Hände auf den Kopf des Bettes und auf den Tisch stützend, schwang er sein Bein zum Fenster und ließ den Oberkörper nachfolgen. Er sah ein Stück der nächtlichen Wiese, und das schimmernde weiß gestrichene Gitter. Länger, als eine Stunde stand er so und dachte an einen Leierkasten.

Es ist ein heller Sommernachmittag. Andreas steht im Hof eines großen Hauses, im Schatten eines alten breiten Baumes. Es mag eine Linde sein. Andreas dreht die Kurbel seines Kastens und spielt: Ich hatt einen Kameraden. Oder: Draußen vor dem Tore; oder die Nationalhymne. Er ist in Uniform. Er trägt sein Kreuz. Aus allen offenen Fenstern fliegen Münzen, in Seidenpapier eingewickelte. Man hört den gedämpften Metallklang des fallenden Geldes. Kinder sind da. Dienstmädchen lehnen über die Fensterbrüstungen. Sie achten der Gefahr nicht. Andreas spielt.

Der Mond kam über den Rand des Waldes, der vor den Baracken lag. Es wurde hell. Andreas fürchtete, seine Kameraden könnten ihn entdecken. Er wollte nicht mitten in der fahlen Helle stehen. Er schwang sich wieder ins Bett.

Zwei Tage lebte er still und versonnen.

Die Kommission kam. Jeder wurde einzeln hereingerufen. Ein Mann stand an der Portiere, welche die Kommission vor den Augen der wartenden Invaliden verbarg. Der Mann schlug jedes Mal die Portiere zurück und warf einen Namen hinaus. Jedes Mal löste sich ein gebrechlicher Körper aus der Reihe der andern, schwankte, humpelte, polterte und verschwand hinter dem Vorhang.

Die gemusterten Invaliden kamen nicht mehr zurück. Sie mußten den Saal durch einen andern Ausgang verlassen. Sie bekamen einen Zettel und gingen dann in ihre Baracken, packten ihre Sachen und krochen zur Endstation der Straßenbahn.

Andreas wartete unter den Andern, er beteiligte sich nicht an ihrer geflüsterten Unterhaltung. Er schwieg, wie Einer, der sich nicht verraten will und der in der Furcht lebt, eine kleine Äußerung könnte ihn verleiten, sein ganzes großes Geheimnis herzugeben.

Der Mann warf den Vorhang zurück und rief den Namen: Andreas Pum in den Saal. Einige Mal schlug Andreas Pums Krücke auf den Boden und widerhallte in der eingetretenen Stille.

Plötzlich begann Andreas zu zittern. Er sah den Vorsitzenden der Kommission, einen hohen Offizier mit goldenem Kragen und blondem Bart. Bart, Antlitz und Uniformkragen vermischten sich zu einer Masse aus Gold und Weiß. Jemand sagte: »Noch ein Zitterer.« Die Krücke in Andreas’ Hand begann selbständig über den Boden zu hüpfen. Zwei Schreiber sprangen auf und stützten Andreas.

»Lizenz!« befahl die Stimme des hohen Offiziers. Die Schreiber drückten Andreas auf einen Stuhl und eilten an ihre Arbeit. Schon saßen sie gebeugt über raschelnden Papieren und ihre Federn tanzten.

Dann hielt Andreas ein Bündel Papiere in der zappelnden Hand und humpelte zur Tür hinaus.

Als er seine Sachen zu packen anfing, verließ ihn das Zittern. Er dachte nur: Ein Wunder ist geschehen! Ein Wunder ist geschehen!

Er wartete im Klosett, bis alle Kameraden verschwunden waren. Dann zählte er sein Geld.

In der Straßenbahn machten ihm die Leute Platz. Er wählte den besten der ihm angebotenen Plätze. Er saß gegenüber dem Eingang, neben ihm lag seine Krücke quer über die Mitte des Wagens, wie ein Grenzpfahl. Alle sahen Andreas an.

Er fuhr in das Hospiz, das ihm bekannt war.

III.

Der Leierkasten stammt aus der Drehorgelfabrik Drecoli und Co. Er hat die Form eines Würfels und ruht auf einem hölzernen Gestell, das man zusammenklappen und wie einen dicken Stock tragen kann. An zwei Riemen trägt Andreas seinen Kasten auf dem Rücken, wie einen Tornister. An der linken Seitenwand des Instruments befinden sich nicht weniger, als acht Schrauben. Mit ihrer Hilfe bestimmt man die Melodien. Acht Walzen enthält der Kasten, darunter die Nationalhymne und die Loreley.

Andreas Pum hat seine Lizenz neben den größeren Geldscheinen in einer Brieftasche, die eigentlich einmal der Ledereinband eines Notizbuches war und sich zufällig in einem Misthaufen gefunden hat, an dem Andreas täglich vorbeigeht. Mit der Lizenz in der Tasche wandelt der Mensch sicher durch die Straßen dieser Welt, in denen die Polizisten lauern. Man scheut keine Gefahr, ja, man kennt keine. Die Anzeige des brotneidischen bösen Nachbarn brauchen wir nicht zu beachten. Auf einer Postkarte teilen wir der Behörde mit, worum es sich handelt. Wir schreiben knapp und sachlich. Wir sind sozusagen der Behörde gleichgestellt, dank unserer Lizenz. Wir sind von der Regierung ermächtigt, zu spielen, wo und wann es uns gefällt. Wir dürfen an den belebten Straßenecken unsern Kasten aufstellen. Selbstverständlich kommt nach fünf Minuten die Polizei. Lassen wir sie ruhig herankommen. Mitten in einem Kreis gespannt zusehender Leute ziehen wir unsere Lizenz hervor. Die Polizei salutiert. Wir spielen weiter, was uns gerade in den Sinn kommt: »Mädchen, weine nicht!« – und »Schwarzbraunes Mägdlein!« – und »An der Quelle saß der Knabe!« Für ein mondänes Publikum haben wir einen Walzer aus der vorjährigen Operette.

Andreas kann, je nach seiner Stimmung, die Kurbel so schnell drehen, daß der Walzer flott und kriegerisch wird, wie ein Marsch. Denn er selbst hat manchmal ein Bedürfnis nach einer Marschmelodie, besonders an trüben und kühlen Tagen, wenn sich der Regen durch Schmerzen in der Gegend des amputierten Beins ankündigt. Das längst begrabene Bein tut ihm weh. Die Stelle am Knie, an der es abgesägt wurde, läuft blau an. Das Kissen in der Kniehöhlung der hölzernen Krücke ist nicht mehr weich genug. Es ist mit Roßhaaren gefüttert und schon durchgetreten. Es müßte mit Daunen gefüttert sein, oder mit Pelz. An solchen Tagen muß Andreas einige Taschentücher in die Kniehöhlung der Krücke legen. Sie sind kein vollwertiger Ersatz.

Die Schmerzen verschwanden, sobald der Regen kam. An Regentagen aber konnte Andreas nicht viel verdienen. Das Wachstuch, einst glänzend, hart und wasserdicht, war an einzelnen Stellen gesprungen, Risse durchzogen seine Fläche und bildeten eine Art Landkarte. Gelang es dem Regen, was Gott bis jetzt verhütet hatte, durch die Hülle in das edle Holz und durch dieses in das Innere des Instruments zu dringen, so waren die Walzen verloren.

Andreas stand, wenn es regnete, stundenlang in einem jener freundlichen Hausflure, in denen das »Betteln und Hausieren« nicht verboten war, in denen kein scharfer Hund wachte, kein knurriger Hausbesorger, oder gar dessen Frau die Heiligkeit des Hauseingangs hüteten. Denn mit dem weiblichen Geschlecht hatte Andreas unangenehme Erfahrungen gemacht. Sie hinderten ihn nicht, von der grausamen Süße einer vorläufig noch ganz unbestimmten Frauenhand zu träumen, die man sein eigen nennen könnte. Andreas besaß keinen alltäglichen Geschmack: je bissiger der Fluch einer Frau war, die ihn zur Flucht veranlaßte, je schneidender der Klang ihrer Stimme, je drohender die Haltung ihrer Gestalt, desto besser gefiel sie ihm. Und während er der ungastlichen Pförtnerin den Rücken kehrte, entzückte ihn ihre Weiblichkeit in dem Maße, in dem ihn der unerwartete Verdienstentgang enttäuschte. Abenteuer dieser Art bestand Andreas oft. Es waren seine einzigen tieferen Erlebnisse. Sie beschäftigten seine Nächte, schufen ihm Traumbilder von wehrhaften Frauen und die Gedanken an sie begleiteten, wie ein malerischer Text, die seriöseren unter den Melodien seines Leierkastens. So kam es, daß er sein Instrument nicht, wie ein mechanisches und sein Spiel als ein Virtuosentum betrachtete. Denn die Sehnsucht, die Bangigkeit, die Trauer seiner Seele legte er in die Hand, welche die Kurbel drehte und er glaubte, nach Wunsch und Stimmung, stärker und leiser, gefühlvoller oder kriegerischer spielen zu können. Er begann sein Instrument zu lieben, mit dem er eine unverständliche Zwiesprache hielt, die er selbst nur verstand. Andreas Pum war ein echter Musikant.

Wollte er sich zerstreuen, so betrachtete er die bunte Malerei auf der Rückwand des Leierkastens. Das Bild stellte die Szenerie eines Puppentheaters dar und einen Teil seines Stehparketts. Blonde und schwarze Kinder spähten in die Richtung der Bühne, auf der sich spannende Ereignisse vollzogen. Eine grau- und wirrhaarige Hexe hielt eine Zaubergabel in der Hand. Vor ihr standen zwei Kinder, auf deren Köpfen Geweihe wuchsen. Neben den Kindern weidete eine Hirschkuh. Es war kein Zweifel, daß dieses Bild eine Verzauberung menschlicher Wesen durch ein böses Weib darstellen sollte. Andreas hatte niemals an die Möglichkeit solcher Ereignisse in der wirklichen Welt gedacht. Weil er aber das Bildnis häufig betrachten mußte, wurde es ihm vertraut und glaubhaft, wie irgendein anderer täglich genossener Anblick. Es war fast nichts mehr Märchen- haftes an solch einer Verzauberung. Wunderbarer, als der Vorgang selbst, waren die bunten Farben, in denen er dargestellt erschien. Andreas’ Augen tranken die ölige Sattheit dieser Farben und es berauschte sich seine Seele an der klangvollen Harmonie, mit der ein blutendes Rot in ein sehnsüchtiges Orange des Abendhimmels im Hintergrund verfloß.

Zeit zu solchen Betrachtungen hatte er zu Hause genug. Allerdings war sein Heim, nicht eines jener Art, in dem der Mensch etwa den ganzen Tag verweilen kann. Es bestand vielmehr aus einer Bettstelle in einem, wie es Andreas vorkam, geräumigen Zimmer. In diesem schliefen außer Andreas noch ein Mädchen und ihr Freund. Sie hieß Klara und er Willi. Sie war stellvertretende Kassiererin in einem kleinen Kaffeehaus und er ein arbeitsloser Metalldreher. Willi arbeitete nur einmal in der Woche und auch dann nicht in seinem Berufe. Er führte einen Handwagen durch die Straßen, um Zeitungspapier einzukaufen. Am Abend brachte er seine Waren dem Althändler. Von jedem Pfund erhielt Willi ein Drittel. Denn auch das geringe Betriebskapital lieh ihm der Althändler. Es war klar, daß Willi von seinen Einnahmen nicht leben konnte. Er lebte von Klara. Sie hatte Nebenverdienste. Er war eifersüchtig. Aber in der Nacht, wenn sie sich beide unter der dünnen Decke fanden, suchte er zu vergessen, wovon er lebte und es gelang ihm. Am Morgen blieb er liegen, wenn Klara und Andreas längst aufgestanden waren. Er blieb den ganzen Tag zu Haus und ließ Andreas nicht vor dem Einbruch der Nacht in’s Zimmer. Das begründete er immer mit dem Wort: Ordnung muß sein! Denn er war weit davon entfernt, Andreas, den Krüppel etwa zu hassen. Er liebte die Ordnung. Andreas Pum hatte eine Schlafstelle, aber keine Wohnung. Es ist so in der Welt eingerichtet, daß jeder nur das genießen darf, was er bezahlen kann.

Auch Andreas war mit dieser Ordnung zufrieden und kam pünktlich nach Anbruch der Dämmerung. Er kochte Tee auf einer Spiritusmaschine. Willi trank den in einem Wasserglas verdünnten Spiritus, Andreas den Tee. Er aß dazu ein Brot. Willi lieferte manchmal die Wurst. Denn es ereignete sich nicht selten, daß Willi, wenn er an angenehmen Tagen einen Spaziergang unternahm, sich vor das Delikatessengeschäft begab, an dessen Tür die prallen Würste, wie Gehenkte, an einem Nagel hingen. Mehr aus Übermut, als aus Lust am Diebstahl schnitt Willi dann zwei oder drei Würste ab. Ihn lockten Gefahr und Freude an der eigenen Geschicklichkeit. Man hätte es außerdem als Sünde bezeichnen können, wenn er das Angebot des Schicksals ausgeschlagen hätte. Andreas ahnte etwas von der Herkunft dieser Würste. Einmal fragte er, woher sie stammten. »Iß und schweig’« sagte Willi »Ordnung muß sein.«

Es verstieß glücklicherweise nicht gegen die Ordnung, wenn sich Andreas, während er sein Abendessen verdaute, der Betrachtung der Malereien am Leierkasten hingab. Die unvollendete Verzauberung, welche das Bild darstellte, zwang zu Fortsetzungen. Andreas hätte gerne weitergemalt. Er hätte auch die zwei noch in menschlicher Gestalt lebenden Kinder in Hirschkühe verwandelt, oder in andere Tiere. Es ergaben sich viele Möglichkeiten. Konnte man Kinder nicht in Ratten verwandeln? Huh! Ratten! Oder in Katzen; in junge Löwen; in kleine niedliche Krokodile; in Eidechsen; in Bienen; in Vögel – Tirili! In Vögel. Ein guter Maler, der mit Pinsel und Farben umzugehen verstand, könnte das Bild fortsetzen.

Kurz nach Mitternacht kam Klara. Sie entkleidete sich. Andreas ließ eine Augenlidspalte offen und sah sie im Hemd. Sein Blick angelte nach ihrer freien Brust und sein Herz klopfte in der Hoffnung, ein Schulterband würde sich lösen. Dann hörte er Küsse und Umarmungen und schlief ein, von kräftigen, breithüftigen, Witwen mit vorgewölbten Busen träumend.

Ach, er sehnte sich nach einem Weibe und einem eigenen Zimmer und einem breiten Ehebett voll schwellender Wärme. Denn weit vorgeschritten war der Sommer und ließ die Grausamkeit des Winters ahnen. Allein stand Andreas in der Welt. Den letzten Winter hatte er noch im Spital verlebt. Jetzt drohte die winterliche Straße und erhob sich manchmal vor ihm, steil geneigt, wie eine Rodelbahn. Unser Feind ist die Straße. In Wirklichkeit ist sie so, wie uns erscheint, steil und eine schiefe Ebene. Wir merken es nur nicht, wenn wir sie durchschreiten. Aber im Winter – man liest es in den Zeitungen – vergessen die Portiers und die Ladendiener, dieselben, die uns aus den Häusern und Höfen treiben und deren scheltende Worte uns verfolgen, Asche oder Sand auf das Glatteis zu streuen und wir stürzen, von der Kälte der Beweglichkeit unserer Glieder beraubt.

Andreas hätte gerne bis zum Winter eine Frau gehabt, eine jener wehrhaften, starken und streitbaren Frauen, vor denen er fliehen mußte und deren imposante Stellung er stets dennoch ahnte: er sah sie, die Hände in die Hüften stemmen, so daß diese und die Brüste hervorquollen und das Hinterteil sich straffte, massig und weiß unter den Röcken. Solch ein Weib sein eigen nennen – das gab Kraft, gab Mut und Sicherheit und machte den Winter zum Kinderspiel.

Früh schon weckte ihn der Fluch Willis, den die aufstehende Klara im besten Morgenschlaf gestört hatte. Dann betrat Andreas die morgendliche Straße und hinkte eilig mit den Eilenden, als riefe ihn nicht die freie Lust, in einem beliebigen Hof zu spielen, sondern die Notwendigkeit einen ganz bestimmten weit abgelegenen zu erreichen. Er hatte auch die Stadt nach Bezirken geordnet und eingeteilt, ganz willkürlich, nach seinen privaten Zwecken und jedem Tag einen eigenen Bezirk zugedacht. So kam er in immer neue Gegenden, forschend und neugierig, hinkte furchtlos über den glatten Asphalt weiter Straßen und war vorsichtig, hielt heranfahrende Automobile mit seinem erhobenen Stock auf und fluchte hinter bedenkenlosen Chauffeuren. So lernte er die Straße besiegen, die gefährliche Straße, die unser aller Feind ist. Von ihr ließ er sich noch lange nicht unterdrücken. Er besaß die Lizenz. Eine Lizenz von der Regierung, zu spielen, wo und zu welcher Zeit immer es ihm behagte. Er besaß eine Krücke und eine Lizenz und eine Auszeichnung. Alle sahen, daß er invalid war, ein Soldat, der für’s Vaterland geblutet. Und es gab immer noch Achtung vor solchen Männern. Wehe, wenn man ihn nicht geachtet hätte!

Denn wie? erfüllte er nicht eine Pflicht, wenn er auf seinem Leierkasten musizierte? War die Lizenz, die ihm die Regierung gewissermaßen eigenhändig überreicht hatte, nicht eine Verpflichtung und keine Vergünstigung? Indem er spielte, enthob er sie der Sorge um ihn und befreite das Land von einer ständigen Steuer. Ja, es war kein Zweifel, daß seine Tätigkeit nur mit jener der Behörden zu vergleichen war und er selbst etwa mit einem Beamten; insbesondere, wenn er die Nationalhymne spielte.

IV.

Es geschah in der Pestalozzistraße, an einem heißen Donnerstag und im Hof des Hauses Nummer 37 (der Kirche aus gelben Ziegelsteinen gegenüber, die, rings um sich, mitten in der Straße einen grünen Rasen geschaffen hatte, als hätte sie ihre Besonderheit vor allen anderen Häusern hervorheben wollen) – daß Andreas Pum das Verlangen überwältigte, einen Marsch zu spielen, vielleicht, weil die wachsende Mattigkeit des Tages und Andreas’ eigene eine aufrüttelnde Unterbrechung nötig machten.

Andreas stellte den Wirbel an der linken Seitenwand des Leierkastens auf: »Nationalhymne« und drehte die Kurbel so hurtig, daß die feierlichen Klänge ihre langsame Pracht verloren und hastig zu hüpfen begannen, die Pausen vergaßen und wirklich eine entfernte Ähnlichkeit mit der Melodie eines Marsches erreichten.

Fünf Kinder standen im Hof und zwei Dienstmädchen lehnten ergriffen über die Fensterbrüstungen. Eine schwarzgekleidete Frau trat aus dem Hausflur, lenkte ihre männlichen und zielbewußten Schritte in die Richtung, in der sich Andreas befand und blieb hinter ihm stehen. Sie legte eine kräftige Hand auf die Schulter Andreas Pums und sagte: »Mein guter Gustav ist gestern selig geworden. Spielen Sie was Melancholisches!«

Andreas, obwohl nicht feige von Natur, erschrak dennoch ob der Überraschung, brach ab, so, daß die Kurbel mit aufwärts ragendem Griff stecken blieb und wandte sich um. Dabei tat es ihm leid, daß die starke und warme Hand zögernd, aber notgedrungen von seiner Schulter glitt. Er sah der Witwe in das gerötete Antlitz. Es gefiel ihm. Wenn er auch nicht Zeit genug fand, ihr Alter abzuschätzen, so durchströmte ihn doch plötzlich, wie eine Erleuchtung, die Erkenntnis, daß die schwarzgekleidete blonde Frau eine Witwe in jenem Alter war, welches man »das beste« nennt. Aus dieser Einsicht zog Andreas vorläufig noch keine weiteren Schlüsse. Allein, eine dunkle Empfindung breitete sich in ihm aus, daß diese Frau zugleich in den Hof, und in sein Leben getreten war. Es war ihm, als begänne es, in seiner Seele zu dämmern.

»Mit dem größten Vergnügen« sagte Andreas und vollzog eine leichte Verbeugung mit dem Kopfe. Als erforderte ein melancholisches Lied ganz besondere Vorbereitungen, schraubte er mit wichtiger Umständlichkeit den Nationalhymne-Wirbel ab, gab der Kurbel einen Schwung, daß ihr Handgriff hinunter glitt und der letzte noch steckengebliebene Ton dem Kasten entfloh, ähnlich einem unterdrückten und abgebrochenen Gähnen. Hierauf drehte Andreas den viertletzten Wirbel. Er hatte eine Sekunde lang zwischen der Loreley und An der Quelle saß der Knabe geschwankt. Er entschied sich für die Loreley, weil er annahm, daß dieses Lied der Witwe bekannt sein müsse.

Diese Annahme bestätigte sich. Die Witwe, die sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, um die melancholische Weise bequemer an ihrem Fenster zu genießen, begann zu singen. Sie bemühte sich, den Klängen des Instruments zuvorzukommen, so, als triebe sie die Ungeduld und der Ehrgeiz, sich und den Zuhörern zu beweisen, daß sie die Melodie auswendig kannte und gleichsam auf den Kasten nicht angewiesen war; während Andreas, im Gegensatz zu der Eile der Frau, eine ganz besondere Langsamkeit nötig befand und gemächliche Drehungen vollführte, um die Melancholie des Liedes deutlicher wirken zu lassen. Auch befand er sich selbst in jener Stimmung, die uns in entscheidenden Augenblicken unseres Lebens befällt und der wir gerne durch eine hervorragende Feierlichkeit nachzugeben gewohnt sind.

Nachdem er die Lorelei über eine Viertelstunde gedehnt hatte, kam die Witwe wieder in den Hof, Kuchen, Brot und eine Düte mit Früchten in der Hand. Andreas dankte. Die Witwe sagte: »Mein Name ist Blumich, geborene Menz. Kommen Sie nach dem Leichenbegängnis wieder.« Andreas fand, daß es angemessen sei, ihr die Hand zu drücken. Er tat es, ihre geschlossene Faust mit seinen Fingern umspannend, und sagte: »Mein Beileid, Frau Blumich.«

An diesem Tage spielte er nicht mehr. Er begab sich zu einer Bank vor der Kirche, verzehrte den Kuchen und das Obst und verwahrte das Brot im Sack.

Später, als gewöhnlich, kam er nach Hause. Willi war darüber ungehalten. Er hatte schon längst das Bedürfnis gefühlt, sich im Bett auszustrecken und wartete nur noch aus Furcht, daß er einschlafen und später geweckt werden könnte, um aus dem Bett steigen und »dem Krüppel« die geschlossene Tür öffnen zu müssen. Als Andreas das Zimmer betrat, erwiderte Willi den Gruß nicht. Das tat Andreas leid. Es war ein Tag, an dem er eine große Güte für Willi empfand. Er holte den Spirituskocher hervor, um seinen Tee zu bereiten. Willi ärgerte die Schweigsamkeit. Er hätte gerne mit Andreas gestritten. Deshalb sagte er: »Wenn Du morgen wieder so spät kommst, zerschmettere ich Deinen Kasten. Du mußt pünktlich kommen! Ordnung muß sein!« – Andreas aber war gerade heute nicht leicht zu erzürnen. Er lächelte Willi an, legte das Brot auf den Tisch und sagte höflich, mit der Galanterie eines Mannes von Welt: »Bedienen Sie sich, Herr Willy.«

»Daß Du mir aber pünktlich zu Hause bist!« sagte Willy und setzte sich an den Tisch. Eigentlich ein lustiger Bruder! – dachte er und war bereits versöhnt. Er hatte noch eine Wurst vom letzten Spaziergang. Sie hing an einem Nagel, über dem Bett. Sachte nahm sie Willi herab, brach sie in der Mitte entzwei und gab die Hälfte Andreas.

»Ich habe heute eine Frau kennen gelernt«, drängte es, Andreas zu sagen.

»Gratuliere!« sagte Willi.

»Eine Witwe, namens Blumich.«

»Jung?«

»Ja – jung.«

»Glückskind!«

»Ihr Mann ist gestern gestorben«

»Und schon –?«

»Nein!«

»Beeil’ Dich, Freund! Witwen warten nicht lange!«

Dieses Wort merkte sich Andreas. Er war nicht gesonnen, Willi als einen hervorragenden Menschen zu schätzen, aber er gab zu, daß Leute dieses Schlages bessere Frauenkenner waren und eine Menge Erfahrungen gesammelt hatten. Vielleicht wäre es nützlich, ja sogar aus Schicklichkeitsgründen notwendig, am Leichenzug teilzunehmen? Vielleicht aber schickte es sich auch nicht, wegen der Nachbarn und auch der Frau Blumich war es gar nicht recht? Es schmerzte ihn fast, daß er ihren Vornamen nicht kannte. Er mußte sie in innigem Gedenken »Frau Blumich« nennen und fühlte dennoch, daß sie ihm längst keine Fremde mehr war. Denn je länger er an sie dachte, desto vertrauter war sie ihm. Kein Mensch auf Erden stand ihm so nahe, wie sie. Niemandem glaubte er so nahe zu sein, wie ihr, obwohl er keine Beweise dafür hatte. Denn war es nicht der Schmerz um den eben verlorenen Gatten gewesen, dem er, Andreas, ihre Bekanntschaft und ihre Freundlichkeit zu verdanken hatte? Vergaß eine Frau so leicht? Und – vermochte sie es, war sie da noch wertvoll? Wer kannte die Frauen? Wer weiß, wie lange ihr Mann krank gewesen war, ein lebender Leichnam? Wie lange die Arme ihre natürliche Lebensfreude hatte hemmen müssen? Andreas wurde von Mitleid geschüttelt.

Auch heute ließ er eine Augenlidspalte offen und sein Blick angelte nach der Brust des Mädchens. Aber kein Neid erfaßte ihn, sondern nur der Wunsch, zu vergleichen. Jene kurzen Augenblicke im Hof hatten genügt, um ihm eine Vorstellung von der körperlichen Beschaffenheit der Frau Blumich zu vermitteln. Ach, sie war stämmig und man sah, wie das knappe Kleid ihre widerspenstig strotzenden Brüste gleichsam im Kampf bändigen mußte; wie sich ihre Hüften breit und versprechend, kraftvoll und wollüstig gegen das Mieder stemmten; wie alles gesunde Fülle war und gar nichts überflüssig. Ein Strom von Leben und Lust kam aus ihren warmen Händen und wie zwei kecke Wünsche waren ihre braunen, ein wenig rotgeweinten Augen.

War ein Mann, wie Andreas, einer solchen Frau ebenbürtig? Was gab er ihr? Gesund konnte man ihn wohl nennen, obwohl das fehlende Bein manchmal, an Regentagen, schmerzte. Das aber hing mit dem schlechten Leben zusammen. Er war stramm, er hatte breite Schultern, eine imponierend schmale und knöcherne Nase, schwellende Muskeln, dichtes braunes Haar und, wenn er nur wollte und sein Angesicht straffte, den kühnen Adlerblick eines Kriegsmannes, besonders, wenn der dunkle, noch lange nicht graue Schnurrbart nach beiden Enden hin flott gezogen war und mit Vaseline gefettet. Auch war er in Dingen der Liebe kein unerfahrener Knabe mehr und gerade jetzt, nach langer Enthaltsamkeit, von vielversprechender Manneskraft gefüllt. Er war der Mann, eine anspruchsvolle Witwe zufrieden zu stellen.

Mit diesen stolzen Gedanken schlief Andreas ein, mit ihnen wachte er auf. Zum ersten Mal, nach langer Zeit, blickte er beim Ankleiden ausdauernd und peinlich genau in einen Spiegel, wie vor dem Appell in der Militärzeit. Das metallene Kreuz hauchte er an und rieb es am Ärmel blank, so daß es möglichst strahlend wurde. Dreimal setzte er den Kamm an, ehe er die gerade Linie des Scheitels gefunden hatte. Sein erster Weg führte in die Pestalozzistraße.

Unterwegs fiel ihm ein, daß er sich nicht oft genug rasieren ließ. An zwei Tagen in der Woche, Freitag und Dienstag, pflegte er die Lehrlingsschule der Barbiere aufzusuchen, wo die Lehrlinge schmerzhaft, aber umsonst die Bärte kratzten. Diese Lehrlingsschule, sowie die Übung, sich nur zweimal wöchentlich rasieren zu lassen, erschienen Andreas unwürdig eines Mannes, der gesonnen war, dauernden und erfolgreichen Eindruck auf eine schmucke Witwe zu machen. Und jener siegreiche Leichtsinn, dem wir selig unterliegen, wenn wir einer Eroberung sicher sind, ergriff auch Andreas Pum gewaltsam und ward stärker als seine sonst so wachsame Besonnenheit. Andreas begab sich in eine Barbierstube, die sich nicht mit Unrecht: Frisiersalon nannte und begegnete, obwohl sein Leierkasten ein wenig Verwunderung hätte erregen müssen, dennoch derselben herzlichen und warmen Höflichkeit, die allen Eintretenden aus den Friseurläden, wie eine milde Frühlingsluft entgegenströmt.

Er sah sich im Spiegel, das Gesicht weißbestäubt von Puder, seinen Scheitel glänzend von Öl, und den vornehmen Duft, der von ihm selbst ausging, atmete er mit stolzem Behagen. Der Entschluß, die Lehrlingsschule überhaupt nicht mehr, dafür aber diverse Friseurläden um so häufiger zu besuchen, wuchs in ihm unerschütterlich. Er straffte die Kopfhaut, die Stirn, rief die zwei kleinen imponierenden Falten an der Nasenwurzel hervor und brachte so den Adlerblick zustande, den er immer in den entscheidenden Augenblicken seiner militärischen Laufbahn angelegt hatte. Dann gelang es ihm, mit einer solch vornehmen Bewegung den Leierkasten umzuhängen, daß er fast einem Rechnungsfeldwebel glich, der seinen Säbel umschnallt.

Bedenken verschiedener Natur und Wichtigkeit überfielen ihn erst auf der Straße, in der Nähe des Hauses Nummer 34, wie eine lästige Fliegenschar. Er kam sich, wie ein hartherziger Egoist vor, ein kalter Mensch und ein eitler obendrein, der ohne Rücksicht auf den schmerzvollen Tag der Witwe Blumich, vielleicht den schmerzvollsten ihres jungen Lebens, geckenhafte Toilette gemacht hatte. Was würde sie denken, wenn er so vor ihr erschiene, nachdem sie ihn gestern in seinem gewöhnlichen Zustand gesehen hatte? Würde sie nicht mit Recht beleidigt, getroffen, ja schmerzlich bewegt sein? Es war vielleicht überhaupt nicht günstig, heute die Witwe Blumich zu besuchen. Man müßte sich ein wenig auch vor dem toten Mann schämen, der noch nicht in der Erde lag. Andreas hätte eigentlich sehr viel Grund, zu warten, der Witwe Zeit zu lassen, bis sie mit ihrem ersten Mann vollkommen in’s Reine kommen würde. Außerdem hatte sie ihn ja selbst nicht etwa für heute, sondern erst für morgen bestellt, ja, man konnte sagen: gebeten.