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Lars Gustafsson

Dr. Weiss’ letzter Auftrag

 

Aus dem Schwedischen von
Verena Reichel

 

 

 

 

Wallstein Verlag

 

EDITION PETRARCA

 

Herausgegeben von Hubert Burda, Peter Hamm,

Peter Handke, Alfred Kolleritsch

und Michael Krüger

 

 

 

 

Hier bei Tibbles weiten Feldern,

einst von der Krähen Nahrung bedeckt,

liegt die Thingstätte von vier Fürsten.

Das tiefe Grab teilen sie.

Leer ist die Zahl

die ihre Wiederkehr bestimmt

 

  Der schwarze Stein bei Tibble

 

 

 

– Videtur mihi nihil aliquid esse.

– Nomen est. Res non est.

 

  Fredegisus von Tours, De nihilo et tenebris

 

 

 

So what sort of connection is the connection between

the last room I entered and the rooms that led up to it?

One possible answer is of course to say that there is no

connection at all.

 

  Timothy Sachsberg, On High-Level Connectedness,
  Oxford University Press, 1957

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

 

Dr Weiss sista uppdrag © 2019 Lars Gustafsson

Originally published in Swedish by Norstedts Förlag, Stockholm.

Published by agreement with agentur literatur gudrun hebel, Berlin.

 

Umschlaggestaltung: Eva Wilsson, Schweden

unter Verwendung einer Fotografie von Karin Gustafsson

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3604-9

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4483-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4484-6

Inhalt

Das letzte Kapitel

Der Auftrag

Ein Frühlingsabend, den es noch nicht gibt

Im Moorland

Durch die silberglänzende Wand

Eine Erinnerung holte mich ein

Ein ereignisreicher Nachmittag

Im Schatten der Schiffe

Futurum Præteriti

Unter der weißen Kuppel

Neben der durchsichtigen Wand

Adagio und Allegro Köchel 594

Graf Joseph von Deym

Bei den Kleinwüchsigen

Der Übergang

Die Wiederkehr

Letztes Ufer

Ein Winterabend in Stockholm

Der Bahnhof von Worthington

Aus den verbotenen Büchern

Nachbemerkung
von Michael Krüger

Das letzte Kapitel

Ein Monat! Welch falsches, unsicheres Versprechen! Zwei, vielleicht drei, was wusste ich! Vielleicht würde uns bald noch mehr trennen?

Mit dumpf zitterndem Rumpf bahnte sich das Passagierschiff Le Havre mit seiner Perlenkette von erleuchteten Bullaugen seinen Weg hinaus durch die Flussmündung.

Die unzähligen kleinen Fähren, die sich zwischen den Stränden bewegten, stießen ihre Signale mit scharfen, gleichsam klagenden Lauten von Steuerbord und Backbord aus, und durch die nächtliche Dunkelheit wurde ihr unruhiges Pfeifen von dem dumpferen Ton des Schiffs beantwortet.

Eine frische Brise begegnete uns draußen an den äußersten Sandbänken, die jetzt wie große Walrücken im Mondschein sichtbar wurden. Es herrschte extreme Ebbe.

Bald würden auch die letzten Lichter verschwinden, die undeutlich blinkenden Lichter, die sich vom Land her zu uns hinübertasteten.

 

Tatsächlich würde es mehr als fünfzehn Jahre dauern, ehe ich in die Stadt Worthington zurückkehrte. Es war ein warmer und klarer Junitag. Diesmal traf ich unter erheblich trivialeren Umständen ein, stieg ganz einfach aus dem Zug und betrat die verräucherte kleine Bahnhofshalle. Die Reiseplakate und Reklameschilder für diverse, längst verschwundene Zigarettenmarken, die immer noch die Wände des Wartesaals zierten, schienen sich nicht verändert zu haben. Ich war der einzige Reisende, der ausstieg.

Als ich durch das schmutzige Abteilfenster die wohlbekannte Silhouette am Horizont auftauchen sah, hatte ich für einen Augenblick eine tiefe Unruhe verspürt. In diesem Moment war sie ganz und gar verschwunden.

Auf Anraten eines alten Freundes quartierte ich mich dieses Mal in einem angesehenen, altmodischen Hotel im Zentrum der Stadt ein, gleich neben der ursprünglichen, mittelalterlichen Stadtmauer. Aufgrund der Jahreszeit gab es nur eine kleine Anzahl von Reisenden, einen älteren Herrn, der anscheinend ganze Tage im Leseraum verbrachte, mit dem Schreiben von Briefen beschäftigt, zwei magere Lehrerinnen in den Dreißigern, einen Studenten.

Nachdem ich mein verwohntes, aber gemütliches Zimmer bezogen hatte, kehrte ich ins Foyer zurück. Mein erster Impuls war, nach dem örtlichen Telefonbuch zu fragen. Dieses Anliegen weckte keine Verwunderung.

Ich ließ mich mit Papier und Bleistift nieder. Der dumpfe Schlag der Kirchturmuhren drang durch das halboffene Fenster herein, ein leichter Duft von Kirschblüten vermischte sich mit der muffigen Atmosphäre im Raucherzimmer.

Was für ein eigentümliches Gefühl! Nichts deutete darauf hin, dass eine so lange Zeit vergangen war! Der Apfelduft, der Glockenschlag, alles war genauso wie in diesem fernen Sommer vor mehr als fünfzehn Jahren. Und mit Schaudern sah ich mich im Raum um, um mich zu vergewissern, dass mich niemand erkannte. Was für eine sinnlose Unruhe!

Dr. Alberstein wohnte offenbar immer noch, wenn ich mich recht erinnerte, an der alten Adresse, in der 12 Polstead Road. Zumindest musste die Straße damals einen ähnlichen Namen gehabt haben. Und ich konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken, als ich den Namen zwischen zwei anderen Albersteins auftauchen sah, von denen der eine Ophthalmologe und der andere Versicherungsvertreter war. Hatte er je begriffen, welch eine wertvolle Hilfe er mir einmal geleistet hatte, als er mir dieses abgegriffene und fleckige Exemplar von Graf von Deyms Eurydike geliehen hatte? Ich glaube nicht.

Einen Augenblick lang spielte ich schon mit dem sentimentalen Gedanken, ihn aufzusuchen, mich wieder in den Lehnstuhl in seiner Bibliothek niederzulassen und unsere langsamen, schläfrigen Gespräche über »das Gewebe«, »die drei Schlösser« und Mozarts Musik wiederaufzunehmen, als mir plötzlich einfiel, dass dieser Alberstein die Initiale T. hatte, während der alte Sammler, Experte für seltsame Spieluhren und verzwickte Mechanismen aus dem 18. Jahrhundert tatsächlich Wilhelm von Alberstein geheißen hatte. Konnte das Telefonbuch einen Druckfehler enthalten? Aber warum gerade bei seinem Namen? Oder handelte es sich ganz einfach um einen Verwandten? Einen Sohn?

Ich blätterte weiter. Wie schnell die Jahre vergehen! Kaum ein Name war noch da! Roland Berth musste seine Studien fortgesetzt haben, er war als Leiter eines Instituts angegeben. Also war es nur ein Zufall, dass er an jenem Abend nicht zu Hause gewesen war, als ich ihn fieberhaft am Telefon zu erreichen versucht hatte. Von Betsina von Deym und ihrem extravaganten Ehemann gab es keine Spur. So viele Namen, nach denen zu suchen war, und die wichtigsten waren kaum zu finden!

Halb widerwillig – und vielleicht war dieses ganze planlose Suchen im Telefonbuch nur eine Art, den Beschluss aufzuschieben – entschied ich mich schließlich doch, Alberstein aufzusuchen.

Noch auf der Schwelle verspürte ich einen fast kindlichen Widerwillen, dem verwandt, den man als kleiner Junge empfinden kann, wenn man sich in jemandes Augen blamiert hatte, dessen Urteil etwas für seine Selbstachtung bedeutet hatte.

Als sich die Tür schließlich öffnete und er vor mir stand, konnte ich keine Veränderung entdecken, nur, dass er sich mit der rechten Hand auf einen Stock stützte und unser ganzes Gespräch über diesen Stock in Reichweite behielt. Ich konnte nicht sehen, ob er hinkte, und schon gar nicht danach fragen, wozu er ihn brauchte.

Er zeigte nicht das geringste Erstaunen darüber, mich zu sehen, und auch nicht die Geringschätzung, nach der ich die ganze Zeit unruhig in seinem Tonfall horchte. Wir bahnten uns einen Weg durch die mit Möbeln vollgestellten Zimmer, dieselben Zimmer, in denen ich mich einst in der Dunkelheit wütend zwischen Stühlen und Tischen durchgedrängt hatte, und ließen uns in dem kleinen Esszimmer nieder, wo Hastings’ »Die Boote bei Perth« immer noch in einsamer Majestät auf einer Tapete hing, die möglicherweise mit den Jahren ein wenig verblichen war.

Ich hatte erwartet, das Gespräch würde sich vielleicht irgendwie von selbst ergeben, er würde es auf seine rasche und energische Art mit einer Anzahl von Fragen einleiten. Viele Punkte mussten ihm noch heute unklar sein, und er musste seinen schicksalhaften Anteil an den bizarren und bestürzenden Ereignissen in jenen letzten Tagen erkannt haben.

Stattdessen schien es so, als erwartete er, dass ich das Gespräch eröffnen würde. Das hätte ich gern getan, ja, für einen Augenblick meinte ich ein fast unmerkliches Flehen in seiner Haltung wahrzunehmen. Aber wie sollte ich anfangen? Was wusste er, und was wusste er nicht?

Tatsächlich schien er, zumindest glaube ich das, wenn ich nun im Nachhinein das Gespräch überdenke, völlig uninteressiert an meinem Aufenthalt in Worthington vor fünfzehn Jahren.

Beiläufig begannen wir nun ein Gespräch, das die ganze Zeit um rein Oberflächliches kreiste, Veränderungen im Stadtbild, die neuen Flugzeugfabriken in Aft, zwei Kilometer außerhalb der Stadt, und die hässliche Brücke, welche die schöne alte Promenade verschandelt hatte, auf der ich einst Elisabeth Weed ihr fest zusammengerolltes Taschentuch entrissen hatte.

– Über die Brücke geht nun, sagte er, ein ununterbrochener Verkehr von schweren Lastwagen, Motorrädern und gewöhnlichen Autofahrern. Diese Nachtigallen, die in den Büschen neben der Ruine singen, hört man nicht mehr.

Wir trennten uns unter höflichen, aber ganz und gar unpersönlichen Förmlichkeiten; nichts von dem Vergangenen schien bei ihm eine Spur hinterlassen zu haben. Für einen Augenblick war ich beunruhigt, als er während des Gesprächs in ausweichenden Worten auf eine »persönliche Katastrophe« in längst vergangener Zeit zu sprechen kam, beruhigte mich aber schnell, als ich verstand, dass er von der tragischen Feuersbrunst sprach, bei der er das Ergebnis von mehreren Jahren anthropologischer Forschung verloren hatte. Die – wie es etwas ungenau heißt – unter einem eigenartigen Zwergenvolk betrieben wurde, das er in Kleinasien aufgespürt hatte.

Von dieser Feuersbrunst hatte ich schon bei unserem ersten Treffen auf dem Hügel außerhalb von Aft gehört. Es war ein in der Stadt wohlbekanntes Ereignis.

 

Ein paar Tage vergingen. Es herrschte wie immer noch strahlendes Juniwetter. Ich streifte umher, erneuerte die Bekanntschaft mit alten Plätzen und Orten und stellte fest, wie sich die Stadt in den vielen Jahren verändert hatte. Ich sah die alte Brücke wieder und fragte mich, was wohl aus dem dänischen Philosophen Søndertoft geworden war und welche komplizierten Gründe er gehabt hatte, mir an dem Tag von Elisabeths Verschwinden sein klappriges altes Fahrrad zu leihen. Niemand von denen, mit denen ich sprach, erinnerte sich an ihn. Für sie hätte er genauso gut nicht existiert haben können.

 

Natürlich traf ich auch Elisabeth Weed. Tatsächlich war es purer Zufall. Sie war über den Schulhof unterwegs unter den schweren, duftenden Balsampappeln, mit einem Packen unkorrigierter Aufsätze unter dem Arm. Ihr Gang war noch genauso federnd, ihre Haare genauso kohlschwarz, ihr Profil ein wenig schärfer. Lange musterte sie mich mit ihren klugen, kurzsichtigen Augen. Es war eine Enttäuschung, ich kann es nicht leugnen, dass sie mich anscheinend überhaupt nicht wiedererkannte. Nicht einmal, als ich ihr meinen Namen sagte, schien sie zu reagieren, sondern erst meine Anspielung auf Alberstein ließ ihr Gesicht aufleuchten.

– Oh, sagte sie mit einem unbeschreiblichen, strahlenden Lächeln, dann sind Sie dieser komische Ausländer, der mit mir einen Fahrradausflug nach Aft machen wollte. Damals haben Sie viel mit Doktor Alberstein verkehrt, nicht wahr? Sie haben Gespräche geführt, denen ich oft kaum folgen konnte.

Wie sonderbar, offenbar ist er in all diesen Jahren unter falschem Namen aufgetreten. Eigentlich hieß er Joseph von Deym, Graf Joseph von Deym. Er war Österreicher …

Ja, in Worthington geschehen jetzt viele seltsame Dinge. Aber wie geht das Leben mit Ihnen selbst um, Doktor Weiss? Sie wohnen im Ausland, nicht wahr? Finden Sie nicht, dass die Stadt sich nur wenig verändert hat?

Ich nickte, stumm.

– Oh, jetzt erinnere ich mich, fuhr sie mit demselben freundlichen, himmlischen Lächeln fort, wir hatten einmal einen so heftigen Streit wegen der Uhren oben im Turm, wissen Sie noch?

Ich traute mich nicht, zu antworten. Ich begriff, dass wir zu einem entscheidenden Punkt in unserem Gespräch gekommen waren. Ich wusste, das, was sie jetzt sagen würde, würde für mich all diese Jahre zusammenfassen und endlich dem »Gewebe«, dem entsetzlichen, unüberschaubaren, sinnlosen »Gewebe«, den Sinn wiedergeben, den es einmal gehabt haben musste.

Während ich auf ihre Antwort wartete, die schließlich, wie auch immer, das Ende enthalten musste, betrachtete ich ihr noch immer schönes Gesicht und entdeckte, dass es mit den Jahren freundlicher und zugleich lehrerinnenhafter geworden war, und fragte mich, was hätte geschehen können, hätte ich nicht an diesem regnerischen Aprilabend so brutal und endgültig in ihr Leben eingegriffen.

– Ich habe nachgesehen. Sie hatten tatsächlich recht. Einst haben sie dieselbe Zeit angezeigt, aber nunmehr sind sie alle vier bei verschiedenen Glockenschlägen stehengeblieben. Es muss nach Ihrer Abreise geschehen sein.

Ich nickte freundlich.

– Und Sie, Elisabeth, sind mit den Jahren nur noch schöner geworden.

An die verbleibenden Tage dieses zweiten Besuchs in Worthington habe ich kaum eine Erinnerung. Ich erinnere mich an einen überwältigend blauen Himmel, Sonnenlicht, menschenleere Straßen, halbleere Cafés, wo ein schläfriger Kellner die Bierflecken von den Tischen wischte, sanft ein Lied summend, das im Übrigen sehr gut »Das Lied von Henriette« sein konnte.

Ich erinnere mich an eine Ödnis ohnegleichen, als hätte sich die Stadt plötzlich endgültig entvölkert, und an ein Gefühl, als sei ich nicht mehr in meinem Leben zu Hause, ja, als sei ich eigentlich nie dort zu Hause gewesen. Vielleicht gehörte ich nirgends hin.

Am zehnten Tag reiste ich nach Bristol ab. Seitdem habe ich Worthington nicht wiedergesehen.

Der Auftrag

Es gab keinen Zweifel mehr.

Ich war frei.

Frei, durch einen leicht ansteigenden Korridor zu gehen, dessen Wände aussahen wie durch ein Wunder senkrecht stehendes Wasser. Ich hoffte wirklich, diese neugewonnene Freiheit würde sich früher oder später als etwas mehr als das erweisen.

Im nächsten Augenblick war ich umgeben von energisch summenden Hummeln. Oder richtiger: etwas, das so klang und sich benahm wie Hummeln, aber erheblich kleiner war, etwas anderes als Hummeln. Sie folgten mir auf dem Korridor. Es gab keinen Zweifel: Sie folgten mir. Und keinem anderen.

Bei jeder Abzweigung wurden es mehr. Hummeln waren es jedoch nicht.

Das war unangenehm, aber nicht ganz unerwartet.

An einer Kreuzung zwischen zwei Korridoren löste sich der Insektenschwarm auf, genauso überraschend, wie er gekommen war. Und verschwand in die Richtung, die ich erwartungsgemäß nicht nehmen würde.

Offenbar hatten die hartnäckigen Insekten ihre Neugier gestillt und all ihre Fragen beantwortet bekommen.

Und der Korridor? Er war von einer Art, die ich noch nie gesehen hatte. Die Wände waren spiegelblank. Bestanden diese Wände wirklich aus Wasser? Einem Wasser, das die Kunst beherrschte, totenstill auf einer senkrechten Ebene zu verweilen!

Aber, erkannte ich im selben Moment, woher wusste ich, was in dieser Umgebung waagerecht und was senkrecht war? Konnte ich überhaupt sicher sein, was oben und unten war?

Der Korridor stieg leicht nach oben an, aber nicht so sehr, dass es unbequem war, ihn entlangzugehen. Eher hatte ich das Gefühl, der Gehsteig unter mir würde sich in die gleiche Richtung bewegen wie ich selbst. Der Korridor wählte die ganze Zeit die Richtung für mich. Sobald ich eine Abzweigung erreichte, verschlossen sich rasch alle Alternativen.

Ich erkannte, dass die Wände keine Wände waren. Sie hatten eine Innenseite, aber keine Außenseite. Ich befand mich in einer Kleinschen Flasche, unerbittlich in sich selbst gekrümmt, wo jede Wand eine Innenwand war. Außerhalb gab es buchstäblich nichts.

Hier wird nun Raum zu Zeit und Zeit zu Raum, dachte ich. Und mit einem Schauder begriff ich, was ich da zitierte.

Mein Weg führte durch den Hilbert-Raum.

Ich konnte das unangenehme Gefühl, vielleicht einen Schwindel, nicht unterdrücken, das ich von anderen Fortbewegungen entlang der stillen Rückseite der Raumzeit kannte – die totenstillen, melancholischen Moore, die Speicher der Wirklichkeit. Das Gefühl, allzu nahe an einem Abgrund zu stehen, tiefer als alle anderen Abgründe, war sehr unangenehm. Sich durch etwas zu bewegen, das abgrundtiefer und stiller war als jedes andere Element, war eigentlich unerträglich.

Ein alter Gedanke tauchte auf und verschwand, das Bild eines Schneiders – also des Insekts –, der souverän über eine blanke Wasserfläche gleitet, ohne zu ahnen, was sich darunter befindet. In gewisser Weise, habe ich in solchen Situationen immer gedacht, ist die ganze Angst kindisch. Alle intelligenten Geschöpfe in allen bewohnten Welten bewegen sich durch den Hilbert-Raum, zusammen mit diesem Universum, dem wir offenbar angehören. Es gibt nur einen Unterschied: Hier wird die Wand sichtbar. Man steht an diesem Abgrund, wo alle anderen Welten beginnen. Sie sind nicht weit weg, sie sind ganz nah, und dieses »ganz nah« ist weiter weg, als alle Lichtjahre messen können. Der Hilbert-Raum, für einen Moment sichtbar. Das große, aufrichtig leere Gesicht der Welt.

 

Wie lange kann die Gefangenschaft gedauert haben? Zehn Jahre? Vielleicht länger? Oder möglicherweise nur eine Minute? Es gab keine Möglichkeit, etwas Derartiges zu entscheiden. Nicht an diesem Ort.

Wie fühlt es sich an? Das hat man mich oft gefragt. Wie fühlt es sich an, einer der Überschreiter zu sein? Nicht in eine Zeit zu gehören, sondern in viele?

Es ist entsetzlich. Ich gewöhne mich nie daran. Meine Existenz ist im Grunde ein langgezogener Zustand des Ertrinkens. Ich existiere, aber nur als ein Ersatz für jemand anderen, jemand, der ich einmal gewesen sein muss, ein Mensch mit Hunger und Durst. Mit menschlichen Poren und menschlichem Schaudern.