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Der Wert Europas
in einer bedeutsameren
Weltgeschichte

Herausgegeben von
Corinne Michaela Flick

 

 

 

 

 

WALLSTEIN      CONVOCO! EDITION

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Celine Singh

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3661-2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4475-4

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4476-1

Inhalt

Einführung

Thesen

Jörn Leonhard
Europa: Einheitsvorstellungen und Krisenbewusstsein

Birke Häcker
Europäische Rechtsidentität(en)

Stefan Korioth
Wohin treibt Europa? Ein Plädoyer für mehr Vielfalt in der Europäischen Union

Yael Tamir
Warum Nationalismus – Gedanken zu einer europäischen Identität

Timo Meynhardt
Europäische Werte und gute Führung: Rollendistanz wagen

Stefan Oschmann
Europas großes Potenzial besser nutzen

Roberto Viola
Europas strategische Autonomie in digitalen Technologien: Wunschtraum oder realistische Vision?

Sven Simon
Was tun, Europa? Die EU zwischen alten Mythen und neuen Herausforderungen

Kai A. Konrad
Die NATO und die strategische Autonomie Europas

Claudia Wiesner
Europäische Identität in fordernden Zeiten: das Erfolgsmodell Europa selbstbewusst vertreten

Hans Ulrich Obrist mit Edi Rama im Gespräch
Neue Betrachtungen eines vertrauten Terrains

Matthias Karl
Rethink Markets: Kriterien einer agilen Wettbewerbspolitik

Rupprecht Podszun mit Convoco im Gespräch
Freiheit ist nicht das Fehlen von Regeln

Jörg Rocholl
Wie sollten Deutschland und Europa mit der wachsenden Bedeutung Chinas umgehen?

Parag Khanna mit Convoco im Gespräch
Das asiatische Jahrhundert

Gabriel Felbermayr
Europa und die globale Wirtschaftsordnung

Fredrik Erixon
Das Ende einer Ära und der Beginn eines neuen Zeitalters: Strukturwandel in der europäischen Wirtschaft

Christoph G. Paulus
Über den Wert der Vielgestaltigkeit Europas

Die Autoren

 

 

 

Es ist des Patrioten Pflicht, den ausschließlichen Vorteil und den Ruhm seines Vaterlandes zu beachten und zu fördern, einem Philosophen aber mag es erlaubt sein, seinen Horizont zu erweitern und Europa als ein großes Gemeinwesen zu betrachten, dessen unterschiedliche Bewohner die fast gleiche Höhe der Gesittung und der Kultur erreicht haben. Die Balance der Macht wird weiterhin schwanken, und der Wohlstand unseres eigenen wie der benachbarten Königreiche mag mal steigen, mal sinken, diese begrenzten Ereignisse können aber dem allgemeinen Zustand unseres Glücks nicht wirklich schaden, diesem System der Künste, Gesetze und Gewohnheiten, das die Europäer vom Rest der Menschheit so vorteilhaft unterscheidet.

 

Edward Gibbon (1737-1794)

Einführung

Liebe Convoco-Freunde,

es ist das erste Mal seit seinem 15jährigen Bestehen, dass Convoco sich ausdrücklich dem Thema Europa widmet. Natürlich wurde Europa seit Jahren immer mittelbar diskutiert. Denn man spricht über Europa, wenn man über das Rechtsstaatsprinzip nachdenkt, wenn man das Thema Demokratie beleuchtet, wenn man das Prinzip des Gemeinwohls, bzw. das des Sozialstaats, untersucht. Die Reihe ließe sich fortsetzen. All dies sind zentrale europäische Werte, auch wenn sie sich in den Interpretationen unterscheiden. Es wird schnell klar, dass Europa der Ursprung von Ideen und Konzepten ist, die ganz wesentlich für die Zivilisation der Welt sind. Und dann ist man auch bereits teilweise bei den Antworten zu den Fragen, um die es im vorliegenden Band geht: Was hat Europa der Welt zu geben? Für was steht Europa? Und was begründet den Anspruch Europas, neben den USA und den aufstrebenden Mächten Asiens ein Global Player zu sein?

Der Glaube an Europa scheint jedoch verloren zu gehen. Die europäische Idee ist im Moment nicht en vogue. Wir beobachten unsere Zeit im Aufruhr: Wut, Verwirrung, Vorurteile und die Radikalisierung von Menschen, die bisher nicht radikal waren. Europa hat das Vertrauen in sich selbst verloren – denken wir an den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und an die voranschreitende Nationalisierung der einzelnen Staaten. Nichts scheint mehr sicher, nachdem Westeuropa 70 Jahre Frieden und Prosperität erlebt hat.

Es wird schnell klar, dass Europa sich mit seinen christlichen Wurzeln und seinen Prinzipien der Aufklärung in einer Identitätskrise befindet. In seiner Geschichte wurde Europa immer wieder neu entworfen und verhandelt. Bis heute ist Europas Motto »in Vielfalt geeint« (etabliert im Jahr 2000) eine Idee, die darauf wartet, tatsächlich realisiert zu werden. Die entscheidende Frage dabei lautet: Wie kann man aus der nationalen europäischen Vielfalt eine Einheit schaffen, in der jede Nation ihr eigenes, individuelles Leben führen kann, während gleichzeitig ihre Souveränität so weit eingeschränkt ist, dass es möglich ist, als Einheit international zu agieren. Es geht darum, eine Einheit durch die Vielfalt, durch die Verschiedenheit zu schaffen, und nicht darum, aus der Vielzahl eine Einheit zu machen. Es geht um ein Nebeneinander, getragen von einem Miteinander. Ein solches Europa entsteht durch die wechselseitige Würdigung des Andersseins.[1] Das heißt, man erkennt die Identität der Anderen, von denen man sich mit Behauptung der eigenen Identität unterscheiden will, an.

Kulturell ist Europa durch den Geist des Christentums geprägt, der auf die römisch-hellenische und jüdische Tradition zurückgeht. Diese Ideen wurden im Zuge der Aufklärung, die dem Einfluss der Kirche Grenzen setzte, tiefgreifend umgestaltet. Europas Eintreten für Freiheit, Demokratie und Individualität, also für die Rechte des Einzelnen, ist das Vermächtnis dieser historischen Entwicklungen. Die rechtsstaatliche Gewährleistung individueller Freiheitsrechte bildete sich beispielsweise im 17. Jahrhundert in England heraus. Ziele des Rechtsstaats sind die Mäßigung der Staatsgewalt, die Gewährung von Grund- und Menschenrechten, die Selbstbestimmung und das Recht des Bürgers, gerichtlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Als die höchste Errungenschaft der Aufklärung ist die Trennung von Staat und Kirche anzusehen. Erst der säkulare Staat machte es möglich, dass sich Wissenschaft als Autorität etablierte, während sich das christliche Prinzip der Nächstenliebe, Brüderlichkeit und Demut im Sozialstaat ausprägte.

Die Konzepte Europas hatten in der Geschichte allerdings auch eine andere Seite. Während innerhalb des Kontinents Toleranz, Freiheit und Gerechtigkeit etabliert wurden, existierte zeitgleich der europäische Imperialismus und Kolonialismus, also Unterdrückung, Sklaverei und Ablehnung des Anderen, getragen von einem europäischen Überlegenheitsgefühl. Ein nicht wegzudenkendes Merkmal Europas ist, dass es einerseits auf dem Prinzip der Inklusion basiert, andererseits auf dem der Exklusion.

Im 17. Jahrhundert fand die Herausbildung des Kontinents vor allem im Abgleich mit außereuropäischen Kulturen statt. In der Geschichte wurde das Fremde als primitiv, wild und exotisch ausgeschlossen. Zum Ende des 18. Jahrhunderts begann Europa ein europäisches Bewusstsein wiederzuerlangen: Das Gefühl einer kollektiven Identität, das durch die Reformation im 16. und 17. Jahrhundert zutiefst erschüttert worden war, fand nach dem Sieg über Napoleon und dem Wiener Kongress von 1815 neuen Ausdruck in dem Versuch, eine funktionsfähige gesamteuropäische Ordnung zu schaffen. Sämtliche Gesellschaftsbereiche wurden weitgehend zusammengedacht: ökonomische und soziale Ordnung, Mode, Architektur, Wissenschaft und technischer Fortschritt. Dieses europäische Bewusstsein deutete das Eigene als historisch gewachsen und kulturell bestimmt, indem es reale und fiktive Kontrastbilder schuf. Die Konstruktionen von kultureller Andersartigkeit dienten einerseits dazu, sich selbstkritisch zu hinterfragen, andererseits sich solidarisch nach außen abzugrenzen.[2]

Das moderne Europabewusstsein lässt sich mit dem französischen Historiker Jean-Baptiste Duroselle auf folgende Formeln bringen: L’Europe face aux Turcs. L’Europe face à l’Amérique. L’Europe face à elle-même.[3] Dieses Europa spiegelte Peter Paul Rubens in seinen Bildern wider. Er stellte einerseits das christliche Europa als bedroht vom Orient dar. Seit dem Fall Konstantinopels 1453 wirkte das muslimische Weltreich, die osmanische Bedrohung, als das »identitätsstiftende Andere« der Christen. Andererseits dokumentierte er das sich durch inneren Machtzwist und Konfessionskriege zerstörende Europa. Im gesamten Jahrhundert gab es in Europa nur drei einzelne Jahre ohne kriegerische Auseinandersetzung. Daraus entstand die europäische Sehnsucht nach Frieden.

Wie auch das Europa des Westfälischen Friedens, das sich aus den Trümmern des Dreißigjährigen Krieges erhob, wurde das heutige Europa durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und den darauffolgenden Idealismus geprägt. Zu den ureuropäischen Ideen der Aufklärung kamen die Konzepte der Europäischen Union: der gemeinsame Markt, die Gleichbehandlung und die europäische Unionsbürgerschaft. Von diesen Prinzipien steht der gemeinsame Markt an erster Stelle. Die EU ist die größte Wirtschaft der Welt mit einem Bruttosozialprodukt von 31.000 Euro pro Kopf bei 500 Millionen Konsumenten. Gleichzeitig ist sie der weltgrößte Handelsblock. Dieser gemeinsame Markt allein kann aber nicht identitätsstiftend wirken. Die Europäische Union, und damit Europa, befindet sich »in need of meaning«, denn die heutige EU hat einen ökonomischen Weg statt des kulturellen Pfads eingeschlagen.

Hans Magnus Enzensberger schrieb bereits 1986: »Die Propagandisten des gemeinsamen Marktes [haben sich mit der Zeit] alle abendländischen Prätentionen abgeschminkt. An die Stelle der Idee sind die Interessen getreten […]. Der einst so eindringlich gepredigte ›Gedanke‹ ist entbehrlich geworden.«[4]

Derzeit gibt es nur ein einziges klares Werte-Narrativ, nämlich Europa als Friedensprojekt. Geschichtlich betrachtet hatte Deutschlands Einigung von 1871 eine Nation im Herzen der europäischen Staaten geschaffen, die zu groß, wirtschaftlich zu stark und zu mächtig war, um ein Gegengewicht innerhalb des Kontinents zu finden. Durch den Zusammenbruch des fragilen europäischen Gleichgewichts kam es zu den zwei Weltkriegen. Es entstand ein Wunsch nach Frieden, der über die verschiedenen europäischen Staatsgrenzen hinausging. So hat die »Deutsche Frage« das Europa von heute gestaltet und ist Grund für die Bildung einer Reihe von europäischen Institutionen, angefangen bei der European Steel and Coal Community (oft auch Montanunion genannt) bis hin zur heutigen Europäischen Union. Daher immer wieder hervorgehoben: Europa als Friedensprojekt. Doch während die kriegerischen Konflikte Europas in immer fernere Vergangenheit rücken, scheint auch das Werte-Narrativ des europäischen Friedens zunehmend in Vergessenheit zu geraten.

Es müssen daher noch weitere sinnstiftende Erzählungen hinzukommen, um einen europaweiten gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen, der nicht nur von wirtschaftlichen Interessen, sondern von Emotionen getragen wird – Emotionen, wie sie auch von EU-kritischen Nationalisten aktiviert werden. In der Geschichte waren es immer kollektive Fiktionen, die Gesellschaften verbunden haben, und durch die Zugehörigkeit entstand. Menschen denken in Form von Geschichten und nicht in Fakten, Zahlen und Statistiken, und je einfacher die Geschichte, desto wirksamer ist sie.[5] Europa selbst hat als literarisches Motiv begonnen. Der Name Europa erscheint zuerst in Homers Ilias, dann wählte Herodot die Bezeichnung im 5. Jahrhundert v. Chr. für die Länder nördlich des Mittelmeers, die nicht zu Asien gehörten.

Eine solche sinnstiftende Erzählung für Europa könnte zum Beispiel die zukünftige Erhaltung des Sozialstaates sein. Bisher sorgt der einzelne Staat für den Ausgleich zwischen Demokratie, Kapitalismus und sozialer Sicherheit. Dafür wird er von seinen Bürgern geschätzt. Dieses Erfolgsmodell gerät aufgrund des demografischen Wandels zunehmend unter Druck. Der Nationalstaat hat immer mehr Schwierigkeiten, seine Bürger effektiv abzusichern. Eine europäische Solidargemeinschaft – also eine Loslösung des Sozialsystems vom Nationalstaat hin zur Union – könnte hier Abhilfe schaffen und zeitgleich die emotionale Bindung Europas stärken.[6] Natürlich liegt hier auch die Gefahr neuer innereuropäischer Spannungen, wenn wirtschaftlich stärkere Mitgliedstaaten den Eindruck bekommen, dass weniger produktive Staaten von einem solchen System ungerechtfertigt profitieren.

Wichtig für die Gesamterzählung Europas ist auch die Demokratie. Als gemeinsamer Wert spielte sie bei der Identitätsfindung von Europa eine entscheidende Rolle. Sie war und ist auch das verknüpfende transatlantische Band. Zeitlicher Höhepunkt ist dabei der Mauerfall 1989 und die Gründung der Europäischen Union 1993. Dieses neue Europa ist die Antwort auf den Nationalismus des 20. Jahrhunderts. Es hat die Bereitschaft hervorgebracht, Souveränität zu teilen und gemeinsam Macht zu demonstrieren. Das heutige Europa und insbesondere das heutige Deutschland sind beide ein Produkt der liberalen Weltordnung.

Und diese liberale Ordnung scheint plötzlich in Gefahr zu sein, denn sie hat keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit wie den Klimawandel und die Disruption durch Technologie, die Hand in Hand geht mit ökonomischer Polarisierung. Weltweit befindet sich das liberale Narrativ in einer Krise. Und diese Krise führt dazu, dass Menschen sich zurückbesinnen auf alte Konzepte, die sich bereits im 20. Jahrhundert als falsch erwiesen haben, wie auf den Nationalismus, den religiösen Fanatismus oder auch auf den Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts. Europa hat also in zweifacher Hinsicht ein Problem. Zum einen fehlt es an sinnstiftenden Erzählungen, zum anderen befindet sich mit dem Liberalismus ein fundamentaler Pfeiler des europäischen Wertesystems weltweit in einer Krise.

Im Osten Europas sind wir konfrontiert mit der Verwandlung unlängst noch demokratischer Regierungen wie die Ungarns und Polens in illiberale, autoritäre Systeme. Im Süden drohen Populismus und ein wirtschaftliches Ausscheren Griechenlands und Italiens. Im Westen verliert Europa einen wichtigen Mitgliedstaat. In ganz Europa sind starke populistische Tendenzen zu beobachten. Die Parteienlandschaft verschiebt sich gravierend und destabilisiert Regierungen.

Europa befindet sich in einem Übergangsstadium zwischen unabhängigen Nationalstaaten und einem geeinten Europa – auch wenn das künftige Ausmaß dieser Einheit kontrovers diskutiert wird. Solche Zeiten der Transformation verunsichern. Die Orientierung geht verloren. Faktoren fallen weg, die den kulturellen Rahmen ausgemacht haben.

Übergänge erfordern daher Rituale und emotionale Hilfestellungen – und genau an diesen mangelt es. Wir sollten mehr Zeit darauf verwenden, darüber nachzudenken, was Europa kulturell ausmacht, und dann Rituale schaffen, die Europa helfen, geeint zu sein. Zum Beispiel sollte die EU die Feierlichkeiten des jährlichen »Europe Day« am 9. Mai stärker ausbauen. Die europäische Idee braucht Wärme, die europäischen Bürger müssen sich für sie begeistern können, nur dann entsteht eine gemeinsam gefühlte europäische Identität.

Aufbauend auf einer gefestigten europäischen Identität sollte man dann überlegen, ob eine größere Einheit nicht zwingend notwendig ist, ein Global Player zu sein. Der geopolitische Stratege Parag Khanna bezeichnet das 21. Jahrhundert als das Asiatische.[7] Nach Jahrhunderten geprägt von Kolonialismus und der Teilung durch den Kalten Krieg kehrt Zusammenhalt nach Asien zurück. Die Ökonomien Asiens sind seit Jahren dabei zu wachsen. Der asiatische Binnenhandel, gesehen als Teil des asiatischen Gesamthandelsverkehrs, hat sich zwischen 2009 und 2016 von 29 Prozent auf 57 Prozent fast verdoppelt. Nicht nur die einzelnen Ökonomien, sondern der gesamte asiatische Raum erstarkt als einheitlicher Handelsraum. Das neue Ausmaß der Handelsbeziehungen innerhalb und zwischen den nicht-westlichen Regionen verringert bzw. beseitigt bestehende Abhängigkeiten von den USA und Europa.

Für Europa bedeutet das, dass es nun sowohl im Westen als auch im Osten zwei starken Handelsräumen gegenübersteht. Die America First-Politik der USA zwingt die EU militärisch wie wirtschaftlich in eine stärkere Eigenständigkeit. Gleichzeitig fordert der amerikanische Protektionismus, dass Europa und Asien neue Handelsbeziehungen aufbauen. Und bei einem Blick in die nahe Zukunft darf man auch nicht Afrika aus den Augen verlieren. Afrika hat eine kontinentale Freihandelszone etabliert, die CFTA. Wenn sie ein Erfolg wird, dann schafft sie einen Markt von heute schon 1,3 Milliarden Menschen mit einer Wirtschaftsleistung von rund 2 Billionen Euro.[8]

Es zeigt sich: Um als Global Player mitzuspielen, um mit den globalen Herausforderungen umgehen zu können, aber auch um den neuen global agierenden Unternehmen wie Amazon, Alphabet, Apple und Facebook zu begegnen – denn auch diese sind Teil der neuen imperialistischen Weltordnung –, muss man eine größere politische und wirtschaftliche Einheit darstellen.

Dabei ist auch zu beachten, dass Europas wirtschaftliche Innovation auf dem Gebiet der Digitalisierung im internationalen Vergleich weitgehend ausbleibt. Bei der Suche nach dem Warum stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Werte und Konzepte, die die Einzigartigkeit Europas ausmachen, auch ein Hindernis in der neuen Welt darstellen. Und gegebenenfalls: Wie müssen sich diese Werte adaptieren, um Europa den Weg in das neue Jahrhundert bzw. in das neue Jahrtausend zu ebnen?

Dieser Gedanke lässt sich am Beispiel des Rechtsstaatsprinzips erläutern. Das Recht ist ein wesentliches Mittel, die Ungewissheit, der Zukunft einzuschränken. Durch rechtlich verbindliche Vereinbarungen wird die Zukunft vorhersagbarer. Es bleibt aber ein großer Rest an Ungewissheit, und gerade diese Ungewissheit ist eine Grundvoraussetzung kapitalistischen Wirtschaftens. Sie eröffnet Chancen für Innovation und Kreativität. Ungewissheit kann als konstitutive Bedingung kapitalistischer Ökonomien angesehen werden. Angesichts dieser Tatsache kann man fragen, ob Europa das Rechtsstaatsprinzip überzogen hat. Zu überlegen ist, ob sich die Rule of Law – zumindest in den westlichen Demokratien Europas – zu einem Innovationshindernis entwickelt hat. In der Regellastigkeit liegt einer der Hauptkritikpunkte an der EU. Man kann hierin auch einen weiteren Grund für den Brexit sehen.

Man darf jedoch nicht vergessen, dass das Rechtsstaatsprinzip zu den wichtigsten Merkmalen europäischer Identität gehört und Voraussetzung für unser freiheitliches Zusammensein ist. Die Erkenntnis, dass erst die Verkehrsregeln und deren Durchsetzung den freien Verkehr gleichberechtigter Verkehrsteilnehmer ermöglichen, ist zentral. Es ist ein schmaler Korridor zwischen einem die Gesellschaft und die Ökonomie erdrückenden Rechtssystem und einem, das Wohlergehen und Innovation fördert. Ein starker Staat und eine starke Gesellschaft müssen sich in Balance befinden, damit Freiheit sich entfalten kann.[9]

Das Rechtsstaatsprinzip ist die Voraussetzung für Grund- und Menschenrechte. António Guterres sagte bei der Verleihung des internationalen Karlspreises im Mai 2019: »Europa ist zu bedeutend, um zu scheitern«, denn das wäre auch ein »Scheitern der Rechtsstaatlichkeit […]. Als Generalsekretär der Vereinten Nationen habe ich die Notwendigkeit eines starken und geeinten Europas nie so klar und deutlich gespürt wie jetzt«.

Noch ist das Projekt eines vereinten Europas nicht gescheitert. In der Vergangenheit hat Europa bewiesen, dass es sich ändern kann und dass es die Fähigkeit hat, sich neu zu definieren. In der Geschichte hat sich Europa immer entwickelt. Durch Anpassung und Veränderung hat es dem Wandel die Gewalt genommen. Fest steht lediglich: So wie bisher geht es nicht weiter.

Im Jahr 2013 diskutierte Convoco das Thema Rechnen mit dem Scheitern - Strategien in ungewissen Zeiten. Nur der Unkluge rechnet nicht damit, scheitern zu können. Der Kluge weiß, dass Scheitern ein Teil erfolgreichen Handelns ist. Der Philosoph Karl Popper zeigte der Wissenschaft, wie man mit Hilfe des fehlgeschlagenen Versuchs zu Erkenntnissen kommt. Das Prinzip Trial and Error ist in der Wissenschaft anerkannt. Wenden wir es auf das Projekt Europa an.

Die Notwendigkeit der Einheit besteht letztendlich nicht nur in Bezug auf Europa, sondern auch auf die Weltgemeinschaft als solche. Denn wie soll man anders als eine universale Gemeinschaft Herausforderungen wie dem Klimawandel entgegentreten? Die Antwort kann nur eine globale Allianz sein, die sich auf eine gemeinsame Ordnung verständigt. Das sollte unser aller Ziel sein.

 

Corinne Michaela Flick, im Januar 2020

Anmerkungen

1      Vgl. Bazon Brock, Europa fällt, in: Die Welt, 11. 5. 2019; ders., Europa bleibt, in: Die Welt, 24. 5. 2019.

2      Nicolas Detering, Krise und Kontinent: Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit, Köln 2017, S. 542.

3      Jean-Baptiste Duroselle (1917-1994), L’idée d’Europe dans l’histoire, Paris 1965, S. 75-103; siehe auch Detering (Anm. 2), S. 545.

4      Hans Magnus Enzensberger, Brüssel oder Europa – eins von beiden, in: Der fliegende Robert, hg. von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1989, S. 117-125, hier S. 118.

5      Yuval Noah Harari, Does Trump’s Rise Mean Liberalism’s End?, in: The New Yorker, 8. 10. 2016.

6      Die Studie »How strong is European Solidarity?« fand in Europa eine mehrheitlich positive Einstellung zu der Idee einer EU-weiten Solidargemeinschaft. Siehe: Martin Heidenreich (Hg.), Horizontal Europeanisation. The Transnationalisation of Daily Life and Social Fields in Europe, New York 2019, S. 39-57.

7      Parag Khanna, The Future is Asian: Global Order in the Twenty-First Century, London 2019; siehe auch Convoco Interview mit Parag Khanna in diesem Band.

8      Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2019, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Schlaglichter-der-Wirtschaftspolitik/2019/09/kapitel-1-6-pan-afrikanische-freihandelszone.html, abgerufen am 14. 1. 2020.

9      Siehe Daron Acemoglu und James A. Robinson, Das Gleichgewicht der Macht: Der ewige Kampf zwischen Staat und Gesellschaft, Frankfurt am Main 2019.

Thesen

Wir brauchen eine Europäische Union, die führend ist in Sachen Wissenschaft und Technologie, deren Forscher und Unternehmer zur technologischen Weltspitze zählen. Ein solches Europa prosperiert, sichert den Wohlstand seiner Bürger und gestaltet die Welt des 21. Jahrhunderts mit.

Stefan Oschmann

 

Gegenüber den USA und China scheint Europa aufgrund seiner Vielgestaltigkeit ins Hintertreffen zu geraten; das gemeinsame, homogene Auftreten und Agieren wird durchweg vermisst. Vielleicht liegt in dieser Dissonanz aber eine Stärke? Beispiele dafür gibt es.

Christoph G. Paulus

 

Das, was uns alle vereint, ist Europa. Das, was unser Leben irgendwie einfacher macht, ist Europa. Das, was das Leben in Europa allerdings erschwert, ist, dass wir kein gemeinsames Narrativ haben.

Edi Rama

 

Im heutigen Europa ist »Rechtsidentität« auf zwei Ebenen zu suchen: einerseits in den unterschiedlichen nationalen Traditionen, andererseits auf supranationaler Ebene. Getreu dem Motto »in Vielfalt geeint« geht es dabei nicht um Abgrenzung nach außen, sondern um innere Integration.

Birke Häcker

 

Man muss Unterschiede aushalten und darf sie nicht vorschnell nivellieren, wenn man dem Kern Europas näherkommen will.

Jörn Leonhard

 

Die Europäer sollten ihre Asienpolitik harmonisieren und sich nicht bei Investitionen und Menschenrechtsfragen von China und anderen Staaten spalten lassen.

Parag Khanna

 

Die Abhängigkeit zwischen China und Deutschland ist wechselseitig. Deutschland und Europa müssen sich strategisch weiterentwickeln, um auf die neuen Herausforderungen vorbereitet zu sein.

Jörg Rocholl

 

In einer Welt mit neuer geostrategischer Konkurrenz und einem Systemwettbewerb, in dem sich entscheidende Protagonisten von Nullsummen-Überlegungen leiten lassen, muss sich Europa fragen, was seine eigenen Interessen sind und wie es sie verteidigen kann.

Gabriel Felbermayr

 

In einer Welt, in der eine Hegemonialmacht die Ziele des Bündnisses festlegt und diese mit den Zielen der anderen Mitglieder nicht mehr kongruent sind, mögen sich die anderen Mitglieder auf ihre eigenen Ziele besinnen und diese unabhängig verfolgen.

Kai A. Konrad

 

Die europäische Idee stärkt das Selbstverständnis von Führungskräften in Europa. Sie kann ihnen Kraft und Zuversicht geben.

Timo Meynhardt

 

Den Bereich des Unverwirklichten kann man in viele Kategorien unterteilen. Da gibt es Projekte, die zu groß sind, um sie umzusetzen, und wiederum Projekte, die zu klein sind. Es gibt zensierte Projekte und sogar – wie Doris Lessing mir einmal erzählte – selbstzensierte Projekte. Ich denke, wir alle haben Projekte in unserem Kopf, an die wir uns noch nicht herangewagt haben.

Hans Ulrich Obrist

 

Es muss darum gehen, wie dem großen Vorhaben der europäischen Einigung auf der Grundlage von Frieden und Freiheit wieder Schwung und Zustimmung gegeben wird. Ein erfolgversprechender Ansatz wäre: die Reduzierung der europäischen Aufgaben und eine größere Offenheit für Besonderheiten, die nicht mit der Querschnittswirkung des europäischen Rechts eingeebnet werden.

Stefan Korioth

 

Wir sollten mehr Zeit darauf verwenden, darüber nachzudenken, was Europa kulturell ausmacht, und dann Rituale schaffen, die Europa helfen, geeint zu sein. Die europäische Idee braucht Wärme, die europäischen Bürger müssen sich für sie begeistern können, nur dann entsteht eine gemeinsam gefühlte europäische Identität.

Corinne Michaela Flick

 

Es ist unsere Entscheidung, ob wir alte Mythen überwinden und die gegenwärtigen Herausforderungen meistern, ob wir die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union in der Wirtschafts-, Umwelt- und Sicherheitspolitik wiederherstellen und ob wir Europäer insgesamt handlungsfähig werden. Die Zukunft Europas liegt in unserer Hand.

Sven Simon

 

Wenn es Europa nicht gelingen sollte, sich als Vorreiter der neuen Marktregeln und Institutionen zu etablieren, die die Wirtschaft des 21. Jahrhundert regeln werden, so werden wir bald feststellen müssen, dass der Rest der Welt sich in Zukunft auch in anderen Bereichen weniger für die Positionen und Beiträge Europas interessieren wird.

Fredrik Erixon

 

Wenn Europa sich der Frage der digitalen Transformation im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft stellt, können wir unseren eigenen digitalen Weg gehen und uns vom »digitalen Imperialismus« anderer Staaten ebenso absetzen wie vom starken Einfluss einiger mächtiger Akteure der privaten Wirtschaft.

Roberto Viola

 

Eine wirklich legitimierte Wettbewerbspolitik darf sich nicht weiter vor der Frage verschließen, wie in einem System unverfälschten Wettbewerbs sachlich und räumlich relevante Märkte abzugrenzen sind.

Matthias Karl

 

Freiheit ist nicht das Fehlen von Regeln. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Märkte ohne Regulierung funktionieren. Wenn es keinen rechtlichen Rahmen gibt, werden die Regeln von den stärksten Akteuren festgelegt.

Rupprecht Podszun

 

Wir müssen eingestehen, dass die gesellschaftlichen Eliten – möglicherweise unbeabsichtigt – ihrer Verantwortung gegenüber den übrigen Bürgern nicht gerecht geworden sind, und wir müssen uns fragen, was wir zum Entstehen eines Prozesses beitragen können, der mehr Menschen als bisher die Nutzung der in Aussicht gestellten Chancen ermöglicht. Dies ist eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen.

Yael Tamir

 

Die EU verbindet ökonomische Prosperität und sozialen Ausgleich mit den Werten aus Artikel 2 des EU-Vertrages: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität. Dieses »Erfolgsmodell Europa« sucht in der Welt seinesgleichen.

Claudia Wiesner

Jörn Leonhard

Europa: Einheitsvorstellungen und Krisenbewusstsein

Was ist Europa? Vor welchen Herausforderungen steht es? Und wie kann es in einer Welt bestehen, die von neuen Konkurrenzen und dem Verlust vieler überkommener Sicherheiten geprägt ist? Historisch gesehen war dieses Europa zunächst ein Mythos, bevor es zu einem eher unscharfen geografischen Begriff und schließlich zu einem konkreten Erfahrungsraum wurde. Es entstand zunächst narrativ aus einem Mythos, der die berühmte Geschichte erzählt, wie sich Zeus / Jupiter in einen Stier verwandelt und Europa entführt. Danach begannen die vielen großen Umdeutungen, die immer mit der Frage verknüpft waren, was Europa ist und sein kann. Bis in die Gegenwart haben diese Fragen nichts von ihrer Sprengkraft verloren.

Am Ende eines krisenhaften 16. Jahrhunderts, dem Jahrhundert der Reformation und der Glaubenskämpfe, stellten sich die Herrscher der Habsburger-Dynastie jenes Europa als eine Reichskönigin vor, als eine Jungfrau, deren Herz in den habsburgischen Stammlanden schlug, deren Kopf in Spanien lag und die Europa bis nach Sizilien zusammenhalten sollte. Das Leitmotiv dieser Vorstellung war eine katholische Universalmonarchie, verknüpft mit der großen Hoffnung, die Einheit des Christentums als Einheit des Abendlandes zu sichern oder wiederherzustellen. Doch die Reformation, die sGlaubenskämpfe und anschließenden konfessionellen Bürgerkriege überholten diese Vorstellungen, und gerade diese Gewalterfahrungen, etwa im Dreißigjährigen Krieg, markierten eine Krise mit weitreichenden Folgen.

Seit dem 18. Jahrhundert begann man, sich Europa als eine Sprachenkarte zu vergegenwärtigen. Die Philosophie der Aufklärung, die kulturelle Selbstvergewisserung durch Literatur, das Nebeneinander je eigener Nationalkulturen schienen sich zur Basis einer europäischen Vergesellschaftung zu entwickeln. Doch die Erfahrungen der Französischen Revolution und der napoleonischen Herrschaft ließen ganz andere Vorstellungen entstehen: Auf dem Höhepunkt der napoleonischen Festlandsherrschaft und der Gründung des Rheinbundes ging es um ein von Frankreich aus hegemonial dominiertes Europa. Dem entsprach die Selbststilisierung Napoleons als Nachfolger Karls des Großen. Zugleich provozierte dies nationale Widerstandsbewegungen, die vielerorts zu Ursprüngen der späteren Nationalbewegungen wurden. Auch in der Auseinandersetzung mit diesen Ansprüchen entwickelte sich das 19. Jahrhundert zu der Phase nationaler Kriege, etwa im italienischen Risorgimento bis 1859/1861 oder in den Kriegen von 1864, 1866 und 1870/71 zur Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaats unter preußischer Regie. Für Zeitgenossen der 1860er Jahre schien Europa zeitweise zum Spielball zwischen Krieg und Frieden geworden.

Europa vor 1914 war aber sehr viel mehr als eine bloße Addition von Nationalstaaten und kontinentaleuropäischen Imperien, also des russischen Zarenreichs, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reichs. Es symbolisierte vor 1914 eine Globalisierung vor der Globalisierung, die weit über die territorialen Grenzen europäischer Staaten und Reiche hinauswies. Das Weltkabelnetz vor 1914 mit seinen charakteristischen highways of empire spiegelte die Routen der modernen Kommunikations- und Mediengesellschaft wider. Darin spielte Europa durchaus noch eine Rolle als einer der Mittelpunkte der Welt neben den Amerikas oder Asien. Gleichzeitig blieb angesichts der monarchischen Verfassung der meisten europäischen Staaten die Hoffnung bestehen, dass es europäischen Dynasten und Monarchen am Ende gelingen werde, den Ausbruch eines großen Krieges zu verhindern. Dieses Europa der Dynasten, der jahrhundertealten europäischen Fürstenfamilien mit ihren personalen Verbindungen, sollte während und nach dem Ersten Weltkrieg einen tiefgreifenden Umbruch erleben. Aus diesen Erfahrungen entstanden im Zeitalter der ideologischen Extreme ganz andere Europa-Vorstellungen, etwa im Nationalsozialismus, dessen Propagandisten Europas historische Sendung im radikalen Vernichtungskrieg gegen Bolschewismus und Juden und auf der Grundlage einer kontinentaleuropäischen Hegemonie Deutschlands erkannten.

Den Höhepunkt dieser Phase und den Umschlag in ganz andere Modelle europäischer Vergesellschaftung nach 1945 markierte der Scheitelpunkt des Zweiten Weltkrieges. Im September 1942 erreichten die nationalsozialistische Herrschaft Deutschlands und die Expansion Japans in Asien und im Pazifik ihre maximale territoriale Ausdehnung. Seit diesem Zeitpunkt begann eine allmähliche Erosion, die nach der doppelten Niederlage Deutschlands und Japans 1945 eine langfristig ganz andere Rolle Europas möglich machte. Aus dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstand eine bipolare Struktur im Zeichen des Kalten Krieges. Im westlichen Teil Europas, der nicht Teil des von der Sowjetunion beherrschten Blocks war, zeichnete sich ein mühsamer Weg zu ersten Integrationsinitiativen ab. Sie konzentrierten sich nicht zufällig nach ersten tastenden Versuchen in der Folge der Friedensverträge von 1919 auf die Vergemeinschaftung und Internationalisierung von Schlüsselindustrien. Robert Schuman und Jean Monnet hatten als junge Männer bereits aufmerksam die auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 geschaffene Neuordnung beobachtet. Nach 1945 ging es umso mehr darum, wie man aus der hoch emotionalisierten Negativspirale, aus dem permanenten Misstrauen insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich, herausfinden könne. Obwohl erste Ideen etwa zu deutsch-französischen Aufsichtsräten großer Unternehmen bereits nach 1918 entwickelt worden waren, konnten solche Konzepte erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Europäischen Montanunion realisiert werden. Diese wirtschaftspolitische Integration bildete die Basis für die sukzessive politische Vergemeinschaftung. 1973 und nach der Vollendung des Gemeinsamen Marktes fragten sich Zeitgenossen dann, welches Ziel die weitere europäische Integration jenseits wirtschaftlicher Logik haben konnte. Eine emotionale, affektive Leerstelle zeichnete sich seither ab – die Frage nämlich, welche Werte Europa jenseits der ökonomischen Marktrationalität verkörpern sollte.

Betrachtet man das Europa der neuzeitlichen Geschichte historisch, dann gehören Einheitsvorstellungen und Krisenbewusstsein immer zusammen. Vor diesem Hintergrund muss man Europa »achsenzeitlich« denken. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers argumentierte 1949, dass es eine weltumfassende kulturelle Achsenzeit zwischen 800 und 200 v. Chr. gegeben habe, in der die jüdisch-christliche Tradition, der Buddhismus, aber auch der Islam entstanden seien, aber letztlich auch alle wichtigen Vorstellungen und Strömungen der griechischen Philosophie. In dieser Achsenzeit seien das Weltliche und das Göttliche auseinandergetreten, so dass die Gottkönige und Götter, die in der Vorstellung der Menschen bislang in der Welt gewohnt hatten, nicht mehr denkbar waren. Damit setzte eine für Europa fundamentale Entwicklung ein, indem politische Herrschaft zum Objekt der Kritik werden und mit übergeordneten Normen verglichen werden konnte.

Als Europa im Übergang von der Antike zum Mittelalter zum ersten Mal stärker territorial imaginiert wurde, als das Römische Reich geteilt wurde, da entstand aus dieser Teilung eine doppelte Spannung zwischen west- und oströmischem Christentum und Kirchenstruktur, sowie zwischen Christentum und Islam, die bis in die Gegenwart reicht. Beide Spannungselemente sind für die Geschichte Russlands und des Osmanischen Reichs bzw. der modernen Türkei elementar.

Im Mittelalter entstand, wie oben angedeutet, eine neuartige Einheitsvorstellung von Europa, die auf der Idee eines christlichen Abendlandes und einer Universalmonarchie gründete. Aus diesen Zusammenhängen erwuchsen nicht zuletzt die Stilisierung Karls des Großen, aber auch die Selbstbilder im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dessen Repräsentanten sich auf diese Tradition und die Kontinuität der Imperien beriefen. Erst in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts schälte sich zum ersten Mal ein vertieftes Bewusstsein für einen europäischen Sonderweg in der Geschichte heraus. Europa erschien als Ausdruck der historischen Entwicklungspotenziale, des Fortschritts der Geschichte und einer besonderen Modernität, von der die Zivilisierung der ganzen Welt ausgehen müsse. Zu Jaspers’ »Achsenzeit« gehört in dieser Perspektive die »Sattelzeit« von Reinhart Koselleck, in der sich zwischen 1770 und 1830 das moderne Vokabular von Politik und Gesellschaft entwickelte, die modernen Ismen im Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, im modernen Konservatismus wie auch in den Begriffen Nation und Nationalismus. Gleichzeitig setzte spätestens seit den 1860er Jahren ein besonderes Krisenbewusstsein ein, für das die Kulturkritik bei Friedrich Nietzsche oder die soziologische Erschließung seiner Gegenwart bei Max Weber standen. Beide akzentuierten aus ihrer eigenen Zeiterfahrung eine Krise des europäischen Sonderweges, etwa in der Frage Max Webers, was den Orient und den Okzident auszeichne. Diese latente Krise wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, die Revolutionen und Gegenrevolutionen zwischen 1917 und 1923 und die Belastungen der Nachkriegsgesellschaften zugespitzt.

Mit dem Umbruch der beiden Weltkriege begann eine intensivierte Auseinandersetzung mit dem dichotomischen Modell von Zentrum und Peripherie, von Europa und Außereuropa. Schon der französische Historiker und Schriftsteller Alexis de Tocqueville hatte seit den 1840er Jahren die Frage gestellt, ob sich die moderne Demokratie nicht mehr in Europa fortentwickele, sondern vielmehr in den Vereinigten Staaten. Die Multiplizierung der Weltzentren und der mit ihnen verknüpften multiple modernities war auch eine Erbschaft des 19. Jahrhunderts. Sie gehört zur Vorgeschichte jener Bipolarität, wie sich Europa gegenüber den Vereinigten Staaten einerseits und China andererseits stellt, die uns in der Gegenwart umtreibt.

Was also ließe sich als das Spezifische von Europa definieren? Es sind vor allem sechs besondere historische Krisenerfahrungen, welche die europäische Geschichte seit der Frühen Neuzeit geprägt haben. An diesen Krisenerfahrungen lässt sich zugleich erkennen, welche Innovationsimpulse Europa immer wieder ausgezeichnet haben.

Erstens zerbrach im Trauma der konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts mit der Glaubenseinheit auch die Idee eines unifizierenden, homogenen Abendlandes. Doch gleichzeitig bildeten diese Bürgerkriege den Ansatzpunkt für einen neuartigen Umgang mit religiöser Vielfalt. Die Geschichte der modernen Toleranz, des modernen Souveränitätsbegriffs und des Völkerrechts, des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche ist nicht erst seit der Aufklärung undenkbar ohne diese Erfahrungen.

Zweitens begann im frühen 18. Jahrhundert eine neuartige Differenzierung von Öffentlichkeit und Privatheit, was die Vorstellung individueller Autonomie genauso maßgeblich prägen sollte wie die Kultur des Rechts als regulative Idee.

Am Ende des 18. Jahrhunderts setzte in den amerikanischen Kolonien wie in Frankreich, drittens, eine Doppelrevolution ein. Sie war nicht allein von der politisch-konstitutionellen Sphäre geprägt, mit Verfassungen, Rechtsstaatlichkeit und Parlamenten verbunden, sondern auch mit einer sozialen und wirtschaftlichen Dynamik, die man in Großbritannien als frühe Industrialisierung erkennen konnte. Geschichte schien gestaltbar zu werden, sie war kein unabänderliches Schicksal mehr und bedingte eine offene Zukunft. Reinhart Koselleck hat das mit dem Begriff des Erwartungsüberschusses charakterisiert und ausgeführt, wie die modernen Ismen aus solchen Erfahrungsüberschüssen, aus antizipierter und antizipierbarer Zukunft entstanden. Aus diesem Kontext gingen neue Antworten auf die in den Revolutionen seit 1776 und 1789 erfahrbare Polarisierung zwischen Staat und Gesellschaft hervor – nicht allein die gewaltsame Revolution, sondern auch die Reform, die Möglichkeit des institutionalisierten Kompromisses. All das gehört zur Wirkungsgeschichte dieser Revolutionen. Zugleich entstand, Ausdruck der so charakteristischen Ambivalenz, das Problem der Demokratisierung als doppelte Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit und zwischen Freiheit und Sicherheit. Viele der heutigen Debatten über das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und politischer Freiheit oder zwischen persönlicher Freiheit und Vigilanz im Zeitalter der Digitalisierung sind im Prinzip in diesen Entwicklungen angelegt.

Als Folge der Industrialisierung und der demografischen Dynamik entwickelten sich, viertens, spezifische soziale und politische Integrationskonflikte. Die innerhalb Europas variantenreiche Klassenbildung erzwang neue Antworten auf das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit, etwa in den Gewerkschaften, dem Genossenschaftsgedanken, dem Konzept des Wohlfahrtsstaates, in der Diskussion um die Grenzen des Marktes – ein bis in die Gegenwart nicht abgeschlossener Prozess, der wesentlich aus den europäischen Erfahrungen des 19. Jahrhunderts gespeist wurde.

Aus den Revolutionen entstanden, fünftens, im Blick auf das neue Konzept der Volkssouveränität Nationen und Nationalstaaten, während alte Reiche, die Habsburger Monarchie, das russische Zarenreich, das Osmanische Reich von diesen neuen Nationalstaaten infrage gestellt wurden. Diese Entwicklung war mit dem Ideal einer Homogenisierung von Staaten und Gesellschaften nach innen verknüpft, dem Vordringen des Staates im Zeitalter der Schul-, Steuer- und Wehrpflicht und des Wahlrechts, und sie basierte immer wieder auf Kriegserfahrungen. Doch aus dieser Erfahrung von Krieg und Gewalt resultierten seit dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert wichtige Ansätze, etwa die Idee eines variablen und flexiblen Gleichgewichts der Kräfte, um Hegemonialbestrebungen zu verhindern, das Konzept des modernen Völkerrechts, und schließlich nach 1918 die Vorstellung kollektiver Sicherheit, etwa im Völkerbund und langfristig in den Vereinten Nationen. Schließlich wirkte der europäische Nationalstaat des 19. Jahrhunderts auch als Gehäuse für Demokratie und mögliche soziale Mobilität, für Wahlrecht und Schulpflicht, aber auch für die Wehrpflicht – auch hier ist die Ambivalenz Europas, das Nebeneinander von Teilhabeverheißung und Gewalt, nicht zu übersehen.

Zu Europa gehört, sechstens