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Ines Langelüddecke

Alter Adel – Neues Land?

Die Erben der Gutsbesitzer
und ihre umstrittene Rückkehr
ins postsozialistische
Brandenburg

 

 

 

 

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung

des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

 

 

 

 

 

Für meine Kinder Salka und Frida

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

Umschlagfotos: Oliver Mark, Berlin

 

ISBN (Print) 978-3-8353-3635-3

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4458-7

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4459-4

Inhalt

Einleitung. Probleme der Wiederbegegnung von Adligen und Dorfbevölkerung nach 1989/90

1. Geschichte als Rahmen. Die Zäsuren des 20. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf das Gutsdorf

1.1. Die deutsche Einheit 1990: Neuordnung von Grund und Boden

1.2. Das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945: Der Untergang der alten Welt von Adel und Dorf

1.3. Getrennte Wege 1945-1990: Adelsfamilien in der Bundesrepublik und Dorfbevölkerung in der DDR

1.4. Drei ehemalige Gutsdörfer nach 1990: Siebeneichen, Bandenow und Kuritz

2. Gutshäuser und Schlösser. Widerstände gegen die Neugestaltung des ehemaligen Herrschaftszentrums

2.1. Dorf ohne Schloss: Das Ringen um die leere Mitte von Siebeneichen

2.2. Ein Schloss, das nicht sein soll: Distanz und Diskretion im Sprechen über die Gutshäuser von Bandenow

2.3. Schloss ohne Gutsherr: Ein öffentlicher Ort in Kuritz

2.4. Fazit

3. Die Kirche im Dorf. Zwischen Gut, Gemeinde und Gott

3.1. Patronat im Wandel: Die Kirchenrestauration in Siebeneichen als Aushandlungsprozess

3.2. Adliges Engagement und dörfliches Desinteresse: Die Kirche von Bandenow

3.3. Rivalen vor Gott und vor der Gemeinde: Pastoraler Geltungsanspruch und adliger Rückzug in Kuritz

3.4. Fazit

4. Adlige Familienfriedhöfe. Bedrängte Bastionen der Tradition

4.1. Urnen auf Reisen: Grabpflege in Siebeneichen zwischen symbolischer Präsenz und materieller Aneignung

4.2. Traditionswahrung über Systemgrenzen hinweg: Die Erhaltung der Adelsgrabstätte in Bandenow vor und nach 1989/90

4.3. Zwischen den Gräbern Pferde, Schweine und Gänse: Der Konflikt um die Nutzung des Adelsfriedhofs in Kuritz

4.4. Fazit

5. Bauernland in Junkerhand? Felder und Wälder als Konfliktquelle zwischen Adelsfamilien und Dorfbevölkerung

5.1. Belasteter Boden, geschichtete Erinnerung: Strategien adliger Vertrauensbildung in Siebeneichen

5.2. Adel, der arbeitet: Unternehmertum in Bandenow zwischen symbolischer Inszenierung und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit

5.3. Streitbarer Adel: Der Gutsherr mit der Peitsche und die Last der Vergangenheit in Kuritz

5.4. Fazit

6. Der Park, ein Privileg. Adlige Grenzziehung als Ausdruck der neuen Raumordnung zwischen Gut und Dorf

6.1. »Es wäre auch ganz schön, mal einen Gartenzaun zu haben«: Adliges Understatement in der räumlichen Expansion in Siebeneichen

6.2. »Nun hat er es wieder«: Dörfliche Kritik an der Parkgestaltung in Bandenow

6.3. »Und grade rüber vom Schloss war ein verwilderter Park«: Vom unsentimentalen Verschwinden eines Repräsentationsraumes in Kuritz

6.4. Fazit

7. Und was ist mit dem Ungesagten? Das Schweigen des Dorfes als Ausdruck asymmetrischer Machtverhältnisse

Schluss: Der Transformationsprozess in historischer Tiefe

Dank

Kurzbiographien der Interviewten

Literatur- und Quellenverzeichnis

Anmerkungen

Einleitung

Probleme der Wiederbegegnung von Adligen und Dorfbevölkerung nach 1989/90

Ein Gutsdorf zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Als der junge Adlige Jasper von Sierstedt im September 1990 aus Bayern nach Brandenburg übersiedelte, begann er bald ein neues Haus für seine Familie zu bauen. Das Schloss gab es nicht mehr.[1] Parallel dazu sanierte der damals 29-jährige Enkel des letzten Gutsbesitzers zusammen mit der Pfarrerin und den Kirchenmitgliedern die verfallene Kirche. Sogar die Patronatsloge wurde so rekonstruiert, wie sie ausgesehen hatte, als sein Großvater noch Kirchenpatron von Siebeneichen war. Heute bleibt die Loge über dem Kirchenschiff leer, denn im Unterschied zu der Zeit vor 1945 sitzt die Adelsfamilie in den Kirchenbänken, wie alle anderen Gläubigen auch. Die Kirche von Siebeneichen hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war sie als Patronatskirche im Adelsbesitz. Während der Jahre der DDR verfiel sie immer mehr, bis sie nach 1990 auf Initiative der Adelsfamilie rekonstruiert und wiederaufgebaut wurde. Heute vermittelt die Kirche den Eindruck, als hätte es im Dorf nie eine Zeit ohne die lokale Adelsfamilie gegeben.

Jasper von Sierstedt, der 1961 in der Bundesrepublik geboren wurde und das Projekt der Kirchenrenovierung maßgeblich vorantrieb, kannte Siebeneichen bis 1990 nur aus den mündlichen und schriftlichen Erzählungen, die in seiner Familie weitergegeben wurden. Zu dieser Familienüberlieferung gehört auch ein kleines Heft mit Tagebuchaufzeichnungen seines Großvaters aus dem Jahre 1945. In kurzen Einträgen hielt dieser den Alltag und den Untergang der alten Welt des Adels fest. Am 15. April 1945 notierte der damals 51-jährige Botho von Sierstedt:

»Unser Dasein hier ist wohl nur noch nach Stunden zu zählen. Früh trommelt der Russe im nördlichen Abschnitt. Danach streut er mit großen Haubitzen. Die ersten Dinger pfeifen uns über den Kopf in den Acker hinter der Koppel. Dann eins auf die Koppel hinter dem Ersatzteilschuppen und verletzt dabei unseren letzten Treckerfahrer. Das kann Einschießen zur großen Kanonade bedeuten, die sehr bald einsetzen wird und Siebeneichen zerschlagen wird. Man sitzt herum, hat nichts zu tun und wird geplagt von den Gedanken, was werden soll. […] Noch schlägt die Kirchturmuhr getreulich ihre Stunden.«[2]

Einen Tag später, am 16. April, folgte dann wie erwartet der Angriff der sowjetischen Truppen, der das östlich von Berlin gelegene Dorf in Trümmer legte. Botho von Sierstedt, der kurz vor der sowjetischen Großoffensive noch seine verbliebenen Angestellten mit der Frühjahrsbestellung auf seinen Feldern beauftragt hatte, musste das Dorf und sein Gut für immer verlassen. Seine Frau und die sieben Kinder waren schon vor ihm aus Siebeneichen geflohen.

Drei Jahre später berichtete ihm seine ehemalige Angestellte Helene Kaiser in einem Brief vom 29. Januar 1948, was aus dieser letzten Aussaat auf seinen Äckern geworden war. Anfang des Jahres 1948, als ein sehr kalter Winter mit Nahrungsmittelknappheit herrschte, erinnerte sie sich an die Fürsorge des Gutsherrn für seine Angestellten. Sie schrieb:

»Als wir im Herbst 45 nichts zu essen hatten und die Not so furchtbar groß war, weil alles Land nicht bestellt war, da war es eine Fügung, dass hinter dem großen Schuppen der große Schlag mit Pferdebohnen stand, […] und der Schlag mit den Mohrrüben, der allerdings von den Russen bewacht wurde. Aber beim Auspflügen durften Frauen und Kinder abdrehen helfen und dafür bekamen wir dann welche. Mindestens zwei Wochen lang dauerte die Ernte. […] Schauen Sie, verehrter Herr von Sierstedt, trotzdem Sie nicht mehr da waren, ist durch die Fürsorge der Landbestellung vielen Menschen geholfen worden. Und dafür müsste der Herrgott Ihnen und Ihrer Familie auch wieder helfen.«[3]

In einer Deutung, die an Theodor Fontanes Gedicht über Herrn Ribbeck auf Ribbeck im Havelland[4] denken lässt, bezog sich Helene Kaiser in ihrem Brief auf die traditionelle Gutsherrschaft, in deren Rahmen sich die Angestellten unterordneten, dafür aber gutsherrschaftlicher Fürsorge gewiss sein konnten. So wie auf dem Grab des verstorbenen Gutsbesitzers in Ribbeck ein Birnbaum wächst und Früchte trägt, die die Kinder des Dorfes jedes Jahr wieder essen, so konnten in Siebeneichen Frauen und Kinder auf den Feldern des Gutes wenigstens noch einmal die Mohrrüben ernten, die Botho von Sierstedt im Frühjahr kurz vor Kriegsende hatte aussäen lassen. Diese letzte Ernte im Herbst 1945 beschrieb Helene Kaiser im Rückblick als bedeutendes Ereignis der Nachkriegsmonate. Zugleich versorgte sie den enteigneten Gutsbesitzer, der mittlerweile im Rheinland lebte, auch mit Neuigkeiten darüber, wie sich die Verhältnisse im Dorf verändert hatten:

»In Siebeneichen würde sich manch einer freuen, wenn ›der Chef‹ bald wieder käme. Aber leider sind auch welche dabei, die Sie einst ihre Getreuen nannten, die heute sagen: ›Mir geht es so viel besser.‹ Ein paar Neubauten sind auch schon in Siebeneichen entstanden.«[5]

Die Adelsfamilie und die Dorfbewohner waren 1948 noch verbunden durch die gemeinsame Geschichte, die der Enteignung vorausgegangen war.[6] Daran erinnerte Helene Kaiser in ihrem Brief über die Zonengrenze hinweg. Zugleich hatte mit dem Umbruch von 1945 eine neue Zeit begonnen, in der sich die Verbundenheit der früheren Angestellten mit dem Gutsherrn, der nicht mehr im Dorf lebte, allmählich lockerte. Für Botho von Sierstedt erfüllte sich nicht mehr, was er in seinem Antwortbrief an Helene Kaiser vom 1. April 1948 ersehnt hatte: »Im tiefsten Herzen aber bleibt doch immer noch die Hoffnung, dass wir doch einmal noch die Heimat wiedersehn dürfen. Es gilt nur noch lang hübsch geduldig bleiben.«[7] Er starb 1982 in Köln. Der letzte Brief von Helene Kaiser stammt aus dem Jahr 1975, als sie aus einem Pflegeheim an den ehemaligen Gutsbesitzer schrieb.[8] Auch sie erlebte das Ende der deutschen Teilung nicht mehr. 1990 begegneten die Nachfahren des enteigneten Gutsbesitzers der Dorfbevölkerung von Siebeneichen. Jetzt erhoben beide Seiten, Adelsfamilie wie Dorfbewohner, Anspruch auf das ehemalige Gut. Teilweise kooperierten sie, beispielsweise bei der Wiederinstandsetzung der Dorfkirche, sie verhandelten aber auch und stritten über die Frage, wie die ehemalige Gutsanlage und die dazugehörigen Gebäude praktisch und symbolisch genutzt werden sollten.

Historischer Hintergrund

Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 befanden sich in Brandenburg die großen landwirtschaftlichen Güter (mit Acker- und Waldflächen von häufig über 1000 Hektar) im Besitz der jeweiligen Adelsfamilie, oftmals seit Jahrhunderten.[9] Als Folge der Bodenreformverordnung, die auf Initiative der KPD und der sowjetischen Besatzungsmacht in Brandenburg am 6. September 1945 in Kraft getreten war, bildeten sich in den Dörfern Bodenreformkommissionen, die das Land der Gutsbesitzer und Großbauern, die über 100 Hektar besaßen, an landlose und landarme Bauern verteilten.[10] Die Gutsgebäude gingen in die neugeschaffene Rechtsform des Volkseigentums über. In der ersten Zeit nach der Enteignung dienten sie häufig als Unterkünfte für die sogenannten Umsiedler, später dann als Altersheime, Schulen, Kindergärten oder landwirtschaftliche Betriebe. Ungefähr 420 Gutsbetriebe in adligem Besitz waren 1945 in Brandenburg enteignet worden.[11] Nach dem Ende der DDR und der Wiedervereinigung 1990 veränderten sich die Eigentumsverhältnisse in Ostdeutschland erneut. Etwa 30 bis 40 Adelsfamilien kehrten zwischen 1990 und 2010 nach Brandenburg zurück.[12] Die Nachfahren der enteigneten Gutsbesitzer kauften 1990 das Land und die Gebäude des ehemaligen Gutes aus staatlichem Besitz, denn die Enteignungen im Zeitraum zwischen 1945 und 1949 wurden nicht rückgängig gemacht.[13] Die Adelsfamilien sanierten die Gebäude, gründeten Unternehmen, engagierten sich in der Lokalpolitik und verhandelten mit der Dorfbevölkerung über die Verpachtung oder den Verkauf von Ackerflächen.[14] Schlösser, Kirchen, Friedhöfe, Parks, Felder und Wälder im ehemaligen Gutsdorf sind heute nicht nur private, sondern zumindest zum Teil auch öffentliche Räume.[15] Sie sind, wie die ehemalige Patronatskirche in Siebeneichen, immer auch Symbole einer standesspezifischen Familienerinnerung. In der Zeit der deutsch-deutschen Teilung waren sie für die Adelsfamilie mit dem Verlust ihres Gutes verknüpft. Die Gutsgebäude haben im Laufe der Zeit ihr Aussehen verändert. In ihrer Materialität weisen sie aber bis heute Spuren von Macht, Repräsentation und Reichtum auf. Sie zeugen von dem Willen der adligen Oberschicht, das Gutsdorf als Herrschaftsraum zu gestalten. Die Gutsanlagen mit ihrer repräsentativen Architektur befinden sich häufig im Zentrum der ehemaligen Gutsdörfer. Doch nicht nur für die Adelsfamilien, auch für die Dorfbewohner sind die Schlösser, Kirchen und Parks Bezugspunkte für die lokale Geschichte. Für beide Seiten verbinden sich damit Vorstellungen von Heimat und regionaler Zugehörigkeit.[16]

Forschungsgegenstand und Fragen

Drei brandenburgische Gutsdörfer, in denen seit 1990 wieder die enteigneten Adelsfamilien von einst leben, sind Gegenstand der Fallstudien, auf denen diese Untersuchung basiert.[17] Hier verlief die Geschichte nach 1945 und 1990 ganz unterschiedlich: In Siebeneichen wurde das Schloss nach Kriegsende zerstört und nicht wieder aufgebaut. In Kuritz ist das ehemalige Schloss heute ein kulturelles Zentrum, das dem Landkreis gehört. In Bandenow lebt die zurückgekehrte Adelsfamilie wieder im Gutsgebäude. Nach dem Ende der DDR trafen die adligen Rückkehrer in den drei Dörfern auf drei unterschiedliche Konstellationen: der Abbruch der Adelsgeschichte nach 1945 in Siebeneichen, die Weiterführung der vom Adel begründeten landwirtschaftlichen Traditionen in Bandenow sowie die Umwidmung der Adelsgeschichte in eine lokale Geschichtserzählung in Kuritz. Diese Unterschiede im Umgang mit der lokalen Adelstradition sind der Grund für die Auswahl dieser spezifischen drei Dörfer. Siebeneichen, Bandenow und Kuritz gibt es jedoch auch zahlreiche Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Gutsgeschichte und den Gebäuden des Gutes.

Im Zentrum der Untersuchung stehen die Rückkehr dieser Adelsfamilien nach Brandenburg und die Begegnung mit den Menschen im Dorf seit 1990. Beide Gruppen sind durch eine geteilte Vergangenheit bis zur Enteignung 1945 miteinander verbunden, waren aber die folgenden 40 Jahre lang voneinander getrennt. Im ehemaligen Gutsdorf wurden wie unter einem Brennglas spezifische Probleme und Dynamiken sichtbar, die seit 1990 überall im Osten Deutschlands auftraten. Selten trafen Ostdeutsche und Westdeutsche so direkt aufeinander wie in diesen ehemaligen brandenburgischen Gutsdörfern.

Inwiefern versuchten die Nachfahren der 1945 enteigneten Herrschaftselite nach 1990, also 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, an ihre Familiengeschichte anzuknüpfen? Nahmen sie dafür Umbauten an den ehemaligen Gutsanlagen vor? Wie und mit welchen Ergebnissen verhandelten sie mit der Dorfbevölkerung über die Neuordnung des Gutes, das sich nach Enteignung und Bodenreform nun wiederholt veränderte? Welche Konflikte ergaben sich aus dem Problem, unter den neuen Bedingungen einer demokratischen Gesellschaft Gebäude zu rekonstruieren, die in ihrer Materialität auf die traditionelle Gutsherrschaft verwiesen?[18] Wie sprechen beide Seiten rückblickend über diesen Transformationsprozess im ehemaligen Gutsdorf? Wie unterscheiden sich dabei die Erzählungen der im DDR-Sozialismus aufgewachsenen Bewohner der Dörfer von denen der bundesrepublikanisch sozialisierten Adligen, den Nachfahren der »Junker und Ausbeuter«, wie sie im SED-Propagandajargon abschätzig genannt wurden?[19] Welche Narrative über den Raum sind auf beiden Seiten mit dieser Rückkehr des Adels nach Brandenburg verbunden?

Die Kategorie des Raumes

In diesem Buch gehe ich von der Annahme aus, dass sich im Reden über den Raum zwischen Dorf und Gut Beziehungsverhältnisse und Interessen sowie Erwartungen und Erfahrungen niederschlagen.[20] Der Raum ist eine Kategorie, um die physischen Bedingungen eines konkreten Ortes und die damit verbundenen menschlichen Handlungen und Deutungen zu analysieren.[21] Innerpersönliche Erzählmuster der Selbst- und Fremdwahrnehmung sind dabei mit äußeren Prozessen verknüpft, die sich aus der baulichen Umgestaltung der ehemaligen Güter nach 1989/90 ergeben. Das ehemalige Gut kann nicht als ein abgeschlossener »Containerraum« gesehen werden, der unveränderlich in der Topographie des Dorfes verankert wäre.[22] Schloss und Kirche, Park und Wald, Friedhof und Feld bestehen zum einen aus ihrer Materialität,[23] zum anderen bilden sie eine »Kontaktarena«,[24] in der sich die adligen Rückkehrer und die Dorfbevölkerung in der Gegenwart begegnen und miteinander aushandeln, wie der Raum genutzt werden soll. Dieser soziale Raum des früheren Gutes ist durch seine materiellen ebenso wie durch seine symbolischen Charakteristika geprägt.[25] In meinem Buch untersuche ich, wie dieser Raum des ehemaligen Gutes nach dem Umbruch von 1989/90 sozial (wieder)hergestellt wird, aber auch, was dieser spezifische Raum aufgrund seiner Materialität selbst vorgibt.[26]

»Der Raum ist ein Ort, mit dem man etwas macht« – so setzt der französische Historiker Michel de Certeau diese beiden Begriffe ins Verhältnis.[27] An de Certeau und Martina Löw anknüpfend wird in diesem Buch deshalb unterschieden zwischen Räumen, in denen Akteure aufeinandertreffen und Aushandlungsprozesse stattfinden, und Orten, die konkrete Gebäude und Gebiete beschreiben.[28] »Im Raume lesen wir die Zeit«, hat der Osteuropahistoriker Karl Schlögel festgestellt: allerdings, so muss man einschränken, nur bei sehr genauer Betrachtung.[29] Nicht immer lässt sich genau unterscheiden, was alt und was neu ist, was restauriert und was hinzugefügt wurde. Bei der Analyse von Räumen geht es um Grenzen zwischen Innen und Außen, um Zugehörigkeit und Fremdheit.[30] Welche spezifischen Raumvorstellungen konkurrierten also in diesem Aushandlungsprozess auf der lokalen Ebene im ehemaligen Gutsdorf, und welche Vergangenheits- und Gegenwartsbezüge wurden dabei von allen Beteiligten hergestellt?[31] In diesem Buch werden Raum- und Erinnerungstheorie methodisch miteinander verschränkt. Dabei finden die Perspektiven einer Kulturgeschichte nach dem Spatial Turn Anwendung.[32]

Quellenlage

Oral History-Interviews sowie Archivmaterialien bilden die Quellenbasis für diese Studie. In zwei Dörfern, Bandenow und Kuritz, geben die Dorfarchive ausführlich darüber Auskunft, wie die Gebäude des Gutes nach der Enteignung 1945 genutzt und wie die staatlichen Vorgaben zur Bodenreform umgesetzt wurden, welche Aushandlungsprozesse auf lokaler Ebene und mit den zuständigen Landesbehörden und SED-Abteilungen darüber erfolgten, aber auch, wie sich der Umgang mit diesen Gebäuden über die Zeit der DDR veränderte. Für Siebeneichen ist hingegen nur eine schmale, wenig ergiebige Gemeindeüberlieferung im Kreisarchiv vorhanden. In allen drei Kreisarchiven, im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam sowie im Bundesarchiv Berlin konnten Gemeindeakten, SED-Berichte, behördliche Protokolle und Presseberichte eingesehen werden.[33] Für das Dorf Siebeneichen existiert ein sehr ausführlicher Nachlass der adligen Familie, der die Nutzung des Gutes vor 1945 dokumentiert und zahlreiche Aufzeichnungen, Briefe und Tagebücher des enteigneten Gutsbesitzers aus der Zeit der Bundesrepublik enthält. Auch für Bandenow ist eine eigene Überlieferung der Adelsfamilie vorhanden. Beide Bestände befinden sich im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam.

Die Methode der Oral History

In dieser Studie werden die Aussagen von Frauen und Männern, von Menschen adliger und nicht-adliger Herkunft analysiert, die mir Auskunft darüber gegeben haben, wie sie die Begegnungen zwischen den beiden Akteursgruppen – Adelsfamilien und Dorfbevölkerung – und die damit verbundenen lokalen Aushandlungsprozesse nach 1990 wahrgenommen haben. In themenzentrierten Interviews mit autobiographischen Anteilen haben Landwirte, Handwerker, ein Pfarrer und eine Pfarrerin, Bürgermeister, Menschen im Ruhestand und Angestellte, insgesamt 21 adlige und nicht-adlige Interviewte aus drei ehemaligen Gutsdörfern, berichtet, wie sich ihr Leben nach dem Umbruch von 1990 verändert hat. Ihre erzählten Erinnerungen handeln von der Zeit nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung, aber auch von der Zeit der DDR, der Zeit der Bundesrepublik und von den Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, als in ihren Dörfern mit der Enteignung und der Bodenreform die traditionelle Gutsherrschaft endete. Sieben Adlige, die drei Adelsfamilien angehören, und vierzehn Einwohner aus drei verschiedenen Dörfern blickten aus den Jahren 2010 und 2011, als diese Interviews entstanden, auf ein wechselvolles 20. Jahrhundert zurück.[34] Es war mir wichtig, mit Schlüsselpersonen des öffentlichen Lebens in dem jeweiligen Dorf ins Gespräch zu kommen, mit Bürgermeistern und Pfarrern, die nicht nur über ihre eigene Lebensgeschichte, sondern auch über allgemeinere Angelegenheiten Auskunft geben konnten. Außerdem habe ich Personen mit einer engeren Beziehung zur Geschichte des Guts befragt, beispielsweise Kinder von Gutsangestellten. Von allen angefragten Zeitzeugen erklärten sich nur zwei Siebeneichener nicht zu einem Interview bereit. Das könnte Zufall sein, hat aber möglicherweise auch Gründe, um die es in den Kapiteln über Siebeneichen gehen soll. Bei den Adligen war die Bereitschaft, sich interviewen zu lassen, hingegen sehr groß: Alle, die ich um ein Interview bat, reagierten ausnahmslos mit Zusagen. Mit den Nachfahren der Gutsbesitzer in den drei ausgewählten Dörfern habe ich nach dem ersten Interview noch ein weiteres geführt, in dem ich auf ungeklärte Fragen zurückkam und eine biographische Erzählung, vor allem mit Schwerpunkt auf deren Leben in der Bundesrepublik, anregte. Besonders interessierte mich in diesen Gesprächen die innerfamiliäre Tradierung von Erinnerungen innerhalb der Adelsfamilien.[35] Für die beiden Dörfer Siebeneichen und Bandenow konnte ich zwei Generationen der ehemaligen Gutsfamilie interviewen. In Kuritz konnte ich nur den Enkel des letzten Gutsbesitzers befragen, der heute wieder in diesem Dorf lebt.

Die in den Interviews greifbaren Erinnerungen sind ebenso konkretes Ergebnis des Interviewprozesses selbst wie der individuellen Erfahrungsaufschichtung innerhalb jeder Lebensgeschichte.[36] Biographisches Erzählen zielt zum einen auf die Vergegenwärtigung der Vergangenheit und zum anderen auf die Darstellung einer in sich kohärenten Lebensgeschichte. Jede subjektive Erinnerungserzählung ist zudem sozial gerahmt, das heißt, sie ist an die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen gebunden, wie zum Beispiel Familie, soziale Schicht, Altersgruppe, Beruf, Religion oder Geschlecht. Ob Mann oder Frau, adlig oder nicht-adlig, jung oder alt, Pfarrer oder Bäuerin: In allen diesen Erzählungen gibt es Schichten, die auf die jeweilige soziale Gruppe verweisen, aber auch solche Aspekte, die die Individualität jedes einzelnen Gedächtnisses ausmachen.[37] Die eigene Biographie zu erzählen heißt also nicht nur, eine in sich selbst schlüssige Geschichte zu präsentieren. Mit jeder lebensgeschichtlichen Interviewerzählung wird die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bekräftigt.[38] Das Erzählen folgt immer einem spezifischen sozialen Drehbuch oder Skript.[39] Bei der Interviewanalyse stehen nicht nur die dominanten Erzählmuster innerhalb dieses Drehbuchs im Mittelpunkt, sondern auch die Brüche und Widersprüche, die aus dem Erzählkontext hervorscheinen und auf tiefere Schichten der Erfahrung verweisen können.[40]

Die Erzählgemeinschaften von Adligen und Dorfbevölkerung

Im Unterschied zu anderen Oral-History-Studien geht es in meinem Buch nicht um eine einzige Gruppe oder eine Generation, sondern um zwei unterschiedliche Erzählgemeinschaften.[41] Nach Albrecht Lehmann konstituiert sich eine Erzählgemeinschaft aus der Gemeinsamkeit des sozialen Erlebens in einer Familie oder in einem sozialen Milieu, in einem Dorf oder auch in einem städtischen Wohnmilieu.[42]

Adlige und Menschen im Dorf stehen sich als zwei voneinander getrennte Erzählgemeinschaften gegenüber.[43] Für die interviewten Adligen ist die Enteignung von 1945 ein zentrales Ereignis ihrer Familiengeschichte im 20. Jahrhundert.[44] Die Erinnerung an diese Erfahrung konnten die adligen Familien innerhalb ihrer spezifischen Sozialformation in der Zeit der Bundesrepublik weitergeben und sich innerhalb ihrer sozialen Gruppe darüber solidarisieren.[45] Mit dem materiellen Verlust des Eigentums und mit dem verlorenen Zugang zum früheren Gutsdorf waren für diese Familien die zentralen Ressourcen für Macht und Herrschaft verlorengegangen. Vor allem die Schlösser und Gutshäuser, die Kirchen und die Friedhöfe sind die zentralen Räume des Gutes, mit denen sich auf einer symbolischen Ebene die Zugehörigkeit zu einem generationenübergreifenden Familienverband verknüpft. Der Pflege der Familienerinnerung kommt für den Adel eine besondere Bedeutung zu, weil auf diese Weise die herausgehobene gesellschaftliche Position auch in Niedergangsprozessen, wie nach dem Ende der Monarchie 1918 und der Enteignung 1945, zumindest symbolisch gehalten werden kann.[46] Die Selbstwahrnehmung der Erzählgemeinschaft der adligen Rückkehrer ist charakterisiert durch den Bezug auf die eigene Familiengeschichte mit der Gutsherrschaft vor 1945, den Erlebnissen von Enteignung, Flucht und Vertreibung, der Zeit in der Bundesrepublik und vor allem auf das Ereignis der Rückkehr nach Brandenburg.

In den Deutungen der Leute aus dem Dorf und in ihrem Reden über die Adligen verbinden sich hingegen Anti-Junker-Ressentiments aus der Zeit der DDR mit Erwartungshaltungen an einen paternalistischen, fürsorglich agierenden Gutsherrn oder auch mit Kritik an westdeutschen Investoren in der Zeit der Wiedervereinigung. Zentrale Ereignisse in diesen Erzählungen sind die Enteignung, die Bodenreform, die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Umbruch von 1989/90. Die Erzählgemeinschaft der Dorfbevölkerung ist in sich heterogener als die der Adelsfamilien. Unter ihren Angehörigen dominiert eine Selbstwahrnehmung, die vor allem auf die DDR und die Erfahrung des Umbruchs von 1989/90 konzentriert ist. Aus diesen konträren Grunderfahrungen in beiden Gemeinschaften resultieren unterschiedliche Wahrnehmungen und Interessen, die sich auf die Aushandlungsprozesse im Dorf auswirken.

Forschungsperspektive

In allen Interviewerzählungen überlagern sich verschiedene Schichten von individuellen Erfahrungen und Deutungen mit Bildern und Vorstellungen, die in sozialen Gruppen und Gemeinschaften überliefert werden. In einem multiperspektivischen Zugriff verknüpfe ich in meiner Untersuchung diese unterschiedlichen subjektiven Erzählungen mit dem vorhandenen Archivmaterial. In einigen Fällen bestätigen die schriftlichen Überlieferungen die mündlichen Äußerungen, in anderen nicht.[47] Dann stellt sich die Frage, warum einige historische Ereignisse, die sich aus der schriftlichen Überlieferung rekonstruieren lassen, nicht Bestandteil der Erzählungen sind. Daneben existieren zahlreiche Geschichten, die von verschiedenen Interviewpartnern weitergegeben werden, für die es aber keine Entsprechung in den schriftlichen Quellen gibt. In dieser Untersuchung geht es nicht darum, die Aussagen der mündlichen Quellen mit den schriftlichen Überlieferungen abzugleichen und eventuelle Inkonsistenzen herauszuarbeiten. Die rekonstruierbaren historischen Ereignisse bilden vielmehr die Grundlage für die Untersuchung der Deutungen, die innerhalb der beiden Erzählgemeinschaften formuliert werden. Diese Vergangenheitskonstruktionen, Sinnzuschreibungen und räumlichen Narrative, die mit Erwartungen und konkreten Interessen verknüpft sind und die zum Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen beiden Akteursgruppen werden, stehen im Mittelpunkt dieses Buches.[48]

Wie bereits erwähnt wähle ich in meinem Buch einen methodischen Zugang, der sich aus der Verbindung von Raum- und Erinnerungstheorie ergibt. Daneben verorte ich meine Untersuchung in so unterschiedlichen Feldern wie Adels-, DDR- und Transformationsforschung und folge damit einem kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Ansatz.[49] An die Forschungen von Arnd Bauerkämper und Jens Schöne anknüpfend, untersuche ich die historische Entwicklung in drei ehemaligen Gutsdörfern nach 1945.[50] Ich betrachte die Gutsdörfer in der DDR und die Adelsfamilien in der Bundesrepublik dabei in einer beziehungsgeschichtlichen Perspektive.[51] Diese »asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte« über die Begegnung zweier unterschiedlicher Akteursgruppen in drei ehemaligen Gutsdörfern verfolge ich außerdem über die Zäsur von 1989/90 hinaus bis fast in die Gegenwart.[52] Der Untersuchungszeitraum der Arbeit erstreckt sich dabei vom Zeitpunkt der Interviews 2010/2011 rückblickend in eine Vergangenheit, die ungefähr 80 bis 100 Jahre zurückliegt. Der zeitliche Erfahrungsraum umfasst jeweils drei Generationen[53] und damit diejenigen Erinnerungen, die beispielsweise in einer Familie von der Elterngeneration an die Kinder und Enkelkinder weitergegeben werden.[54] Meine älteste Interviewpartnerin, Clara von Sierstedt aus Siebeneichen, ist 1922 geboren: Ihre Erzählungen und die einiger anderer Zeitzeugen reichen bis in die Zeit der Gutsherrschaft zurück.

Meine Annäherung an die untersuchten Gutsdörfer in der Zeit der DDR und vor 1945 sowie an die Adelsfamilien in der Bundesrepublik erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch eröffnet sich durch die Auswahl der Beispiele, die mündlichen Erzählungen und die schriftlichen Quellen ein Mosaik, in dem die Konflikte, Kompromisse und Konsensbildungen in den ehemaligen Gutsdörfern nach 1989/90 und zugleich die damit verbundenen tieferen Zeitschichten aufgezeigt werden können. In den Auseinandersetzungen der Transformationsperiode beziehen sich die unterschiedlichen Akteure auf verschiedene Zeitschichten aus der Zeit der DDR, der Bundesrepublik und der vorangegangenen Gutsherrschaft, die in den Erzählungen gleichzeitig vorhanden und wirksam sind.[55]

Der Umbruch von 1989/90 und der Systemwechsel nach dem Ende der DDR sollen hier nicht als eine eindeutige Zäsur, sondern – unter Einbeziehung seiner Vorgeschichte und seiner langfristigen Folgen – als eine längere Übergangsperiode betrachtet werden. Im ehemaligen Gutsdorf lässt sich der »Wandel nach der Wende«[56] nur im Zusammenhang mit dem Umbruch von 1945 und den jeweiligen politischen und sozialen Parallelentwicklungen in der DDR und in der Bundesrepublik verstehen. Mit dieser These schließe ich an neuere Studien zur historischen Transformationsforschung an, die ihren Untersuchungszeitraum über die Zäsur von 1989/90 hinweg ausdehnen und auch die Vorgeschichte in der DDR und in der Bundesrepublik mit einbeziehen.[57] Im Unterschied zur bereits existierenden, in erster Linie politikwissenschaftlich und an den Ereignissen von Mauerfall und Wiedervereinigung ausgerichteten Transformationsforschung[58] soll mit diesem Ansatz eine Vereinigungsgesellschaft in den Blick genommen werden, in der sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern über einen längeren Zeitraum vor, während und nach 1989/90 Entwicklungen und Aushandlungsprozesse mit ihren spezifischen Dynamiken vollzogen haben.[59]

Den Umbruch von 1989/90 und die Jahre danach hat der Historiker Jürgen Danyel als eine Zeit beschrieben, »in der das Alte noch nicht völlig verschwunden war und das Neue sich erst allmählich zu etablieren begann«.[60] Alt und Neu sind als konträres Begriffspaar auch in meinem Buch zentral. In jeder sozialen Gruppe, in jedem Individuum, in jeder Erfahrung – »in der viele Schichten früherer Zeiten zugleich präsent sind, ohne über deren Vorher und Nachher Auskunft zu geben«, so der Historiker Reinhart Koselleck[61] – ist Altes und Neues in einem sich ständig verändernden Mischungsverhältnis verwoben. So sind Geschichte, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Der Titel dieses Buches »Alter Adel – neues Land?« verweist auf die Konstruktion einer langen generationenübergreifenden Kontinuitätslinie innerhalb der Adelsfamilien, die sich nach 1990 wieder in einem Land ansiedeln, dessen Bewohner vom SED-Sozialismus geprägt sind und dessen Bevölkerungsstruktur sich nach den Umbrüchen von 1945 und 1989/90 tiefgreifend verändert hat. Aber auch die Umkehrung des Begriffspaares wäre möglich: »Neuer Adel – altes Land?« – weil sich nicht nur das Land und seine Bewohner in der Zeit des Sozialismus verändert haben, sondern auch der Adel während der Jahre der Bundesrepublik soziale Wandlungsprozesse erlebt hat.[62]

Bei der Rückkehr der Adligen in die ehemalige DDR geht es nicht nur um lokal begrenzte Dorfgeschichte. Die umstrittene Rolle der adligen Gutsbesitzer als militärisch-politische Elite bis 1945 wurde in der Geschichtswissenschaft, in der Öffentlichkeit der alten Bundesrepublik und nach 1990 kontrovers diskutiert.[63] Die Debatte über die Rolle der Adligen ist nach dem Ende der DDR im Zusammenhang mit der Debatte über die nicht erfolgte Rückgabe des enteigneten Landes neu entflammt und bis heute aktuell.[64] Die Auseinandersetzungen zwischen Adligen und Dorfbevölkerung in der postsozialistischen Gesellschaft sind bisher vor allem ein medial vielfach beleuchtetes Thema gewesen.[65] Geschichtswissenschaftliche Arbeiten, die das Verhältnis zwischen beiden Gruppen mit einem beziehungs- und erinnerungsgeschichtlichen Ansatz in den Blick nehmen, gibt es jedoch bislang nicht.[66] Diese Lücke möchte dieses Buch schließen.

Aufbau des Buches

Im ersten Kapitel werden die historischen Rahmenbedingungen für die Rückkehr der Adligen in die früheren Gutsdörfer nach 1990 vorgestellt. Damit wird der Bogen über das 20. Jahrhundert von der Gutsherrschaft über die Enteignung 1945, die Zeit der Bundesrepublik und der DDR bis in die Gegenwart gespannt. Anschließend werden in einem Überblick die drei Dörfer vorgestellt. In den folgenden fünf Kapiteln werden die Räume der früheren Güter, die damit verbundenen Erzählungen und die Auseinandersetzungen zwischen Adligen und Dorfbevölkerung in den drei Dörfern untersucht, beginnend mit den Gutshäusern und Schlössern, danach die ehemaligen Patronatskirchen, die adligen Familienfriedhöfe, die Felder und Wälder und zuletzt die Parks. An diese Kapitel schließt sich jeweils ein kurzer Vergleich zur Situation in den drei Dörfern an, in dem die Unterschiede und Parallelen in der Auseinandersetzung um den jeweiligen Raum von der Zeit der Gutsherrschaft über die DDR bis nach 1989/90 diskutiert werden. Auf diesen Hauptteil der Untersuchung folgt ein Exkurs zum ambivalenten Verhältnis von Schweigen und Reden in diesen Dörfern von der Gutsherrschaft bis in die Gegenwart. Ein Schlusskapitel fasst die Ergebnisse der Untersuchung zusammen.

Siebeneichen gibt es nicht, genauso wenig wie Bandenow und Kuritz – aber natürlich gibt es die drei Dörfer, die sich hinter diesen Namen verbergen.[67] Um die Persönlichkeitsrechte der befragten Interviewten zu wahren, wurden für alle Personen und Orte fiktive Namen gewählt.[68] Die Untersuchung folgt damit den Standards der Oral-History-Forschung, doch hat die Anonymisierung noch einen weiteren Grund: In diesem Buch soll es nicht in erster Linie um den Einzelfall eines ehemaligen Gutsdorfs mit seiner spezifischen Lokalgeschichte gehen, sondern darum, wie sich das Allgemeine im Besonderen zeigt. In der Auswertung der Interviews möchte ich verallgemeinerbare Muster und Tendenzen im Umgang mit den früheren Gütern für diese drei Dörfer deutlich machen. Jedes Dorf für sich ist ein Sonderfall der deutsch-deutschen Wiedervereinigungsgeschichte. Auf lokaler Ebene sind sich in diesen Dörfern seit 1990 Ostdeutsche und Westdeutsche begegnet und haben sich in komplexen Aushandlungsprozessen mit der Neuordnung des dörflichen Raumes auseinandergesetzt. Lässt sich von diesem lokalen Sonderfall der Transformationsgeschichte etwas für die gesamtdeutsche Situation ableiten? Vom Besonderen zum Allgemeinen und von der Nahaufnahme zur Sicht auf das Ganze, das ist die Suchbewegung, der ich mit dieser Studie folge.[69]

1. Geschichte als Rahmen

Die Zäsuren des 20. Jahrhunderts
und ihre Auswirkungen auf das Gutsdorf

1.1. Die deutsche Einheit 1990:
Neuordnung von Grund und Boden

Den Rahmen für die Auseinandersetzungen zwischen adligen Rückkehrern und Dorfbewohnern im postsozialistischen Brandenburg bildet eine Vereinbarung, die als »Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen« am 15. Juni 1990 getroffen wurde. Im Dezember 1989 hatten sich Bundeskanzler Helmut Kohl und DDR-Ministerpräsident Hans Modrow darauf geeinigt, eine deutsch-deutsche Arbeitsgruppe zur Klärung der Vermögensfragen einzusetzen.[1] Im ersten Halbjahr 1990 trafen sich dazu Experten aus beiden Staaten mehrfach.[2] Die »Gemeinsame Erklärung« vom 15. Juni 1990 war das Ergebnis dieses bilateralen Aushandlungsprozesses. Sie wurde mit demselben Wortlaut in den Artikel 41 und als Anlage in den Einigungsvertrag vom 3. Oktober 1990 übernommen – und damit Gesetz.[3] In diesem heißt es:

»Die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) sind nicht mehr rückgängig zu machen. Die Regierungen der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik sehen keine Möglichkeit, die damals getroffenen Maßnahmen zu revidieren. Die Regierung der Bundesrepublik nimmt dies im Hinblick auf die historische Entwicklung zur Kenntnis. Sie ist der Auffassung, dass einem künftigen gesamtdeutschen Parlament eine abschließende Entscheidung über etwaige staatliche Ausgleichsleistungen vorbehalten bleiben muss.«[4]

Für diejenigen, die bereits unter sowjetischer Besatzungsherrschaft enteignet worden waren, sah dieses Gesetz also keine Entschädigung für verlorenes Eigentum und Vermögen vor, ebenso wenig für ihre Nachfahren. Im Unterschied dazu galt für Enteignungen nach der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 der Grundsatz der Restitution – und zwar nach dem Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung«. Ab September 1945 waren in der sowjetischen Besatzungszone im Zuge der Bodenreform alle Großbauern mit einem Betrieb über 100 Hektar Größe sowie diejenigen, denen eine Beteiligung an NS-Verbrechen vorgeworfen wurde, entschädigungslos enteignet worden. Der aus der Bodenreform resultierende Strukturwandel in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands sollte 1990 nicht wieder rückgängig gemacht werden. Dadurch sollten mögliche Konflikte zwischen DDR-Bürgern, die auf Bodenreform-Land ihre Häuser gebaut hatten, und Bundesbürgern, die auf dieses Land Anspruch erheben würden, verhindert werden. Die Regierung der Bundesrepublik fügte sich also in diesem Punkt den Interessen der sowjetischen wie der DDR-Regierung. Im Gesetzestext erläuterte sie diese Entscheidung unter Verweis auf die historische Entwicklung. Mit dem Hinweis auf eine noch ausstehende Regelung, die der Bundestag verabschieden sollte, machte sie den Betroffenen zugleich Hoffnung auf spätere Ausgleichsleistungen.[5]

Warum mit den Enteignungen, die vor 1949 in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt wurden, grundsätzlich anders umgegangen wurde als mit denjenigen, die nach 1949 in der DDR stattfanden, ist zum einen mit einer verhandlungstaktischen Ebene im Einigungsprozess zu erklären. Zum anderen geht es um die historische Entwicklung, auf die im Gesetz verwiesen wird. Diese im Wortlaut nicht genauer erläuterten geschichtlichen Zusammenhänge, als deren Folge das Gesetz selbst zu verstehen ist, sind Ausdruck der komplexen Problemlage von 1990. Damals ging es darum, in einem relativ kurzen Verhandlungszeitraum zwischen Dezember 1989 bis Oktober 1990 einen sozialverträglichen Ausgleich zwischen den rechtlichen Ansprüchen der DDR-Bürger, die Bodenreform-Eigentum besaßen und nutzten, und den Erwartungen der Enteigneten auf Wiedergutmachung herzustellen. Außerdem musste die Position der Sowjetunion berücksichtigt werden, die 1945 als Besatzungsmacht die Bodenreform in ihrem Einflussbereich durchgesetzt hatte. Nach der Wiedervereinigung standen sich damit zwei konkurrierende Eigentumsansprüche, gegenüber, die einander ausschlossen. Vor allem die Frankfurter Allgemeine Zeitung bot in den folgenden Jahren eine Plattform für konservative Kritik an dieser nicht erfolgten Restitution.[6]

Dieser umstrittene Umgang mit den SBZ-Enteignungen nach 1990, gegen den die Nachfahren der früheren Guts- und Großgrundbesitzer erfolglos vor dem Bundesverfassungsgericht und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagten, steht in einer längeren Kontinuitätslinie, die über die Zeit der DDR und die Jahre der sowjetischen Besatzungsherrschaft bis in die Jahrzehnte vor 1945 zurückreicht. In den folgenden Kapiteln soll die »Gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen« vom Juni 1990 vor dem Hintergrund der Umbrüche des 20. Jahrhunderts eingeordnet werden. Zuerst betrachte ich die soziale Situation im preußischen Gutsdorf vor 1945 sowie anschließend die unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR und der Bundesrepublik nach der Enteignung der Gutsbesitzer und der Bodenreform 1945. Auf diese Weise soll der historische Kontext erläutert werden, in den die Rückkehr der Adelsfamilien nach Brandenburg seit 1990 eingeordnet werden kann.

1.2. Das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945:
Der Untergang der alten Welt von Adel und Dorf

Der Abstieg des Adels und das preußische Gutsdorf

Das 19. und 20. Jahrhundert waren für den preußischen Adel eine Zeit des gesellschaftlichen Abstiegs. Auf gesetzlicher Ebene hatten die Gutsbesitzer mit den Agrarreformen seit 1807 in den Dörfern immer mehr an Einfluss und Macht verloren; außerdem konnten die Gutsbesitzer nun nicht-adliger Herkunft sein.[7] Mit dem Ablösungs- und Regulierungsgesetz vom 2. März 1850 wurden die leibherrlichen Bindungen, die sogenannte Erbuntertänigkeit, aufgehoben. In der Folge konnten sich die Bauern und Leibeigenen gegen eine Entschädigungszahlung von ihren traditionellen Diensten und Abgaben gegenüber ihrem Lehnsherrn freikaufen.[8] Damit war die jahrhundertelange Verfügungsgewalt des Adels über »Land und Leute« aufgehoben, die der preußische König nach mittelalterlichem Lehnsrecht an den Landadel verliehen hatte. 1872 wurden zudem die gutsherrliche Polizeigewalt und die Gerichtsbarkeit aufgehoben.[9] Die größte Zäsur in diesem Abstiegsprozess des Adels aber war das Ende der Monarchie. Am 9. November 1918 dankte Wilhelm II. als letzter deutscher Kaiser ab und emigrierte ins niederländische Exil nach Doorn. Der preußische Hof wurde aufgelöst. Mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung 1919 (Artikel 109, Absatz 3) wurde der Adel als eigener Stand abgeschafft.[10] Noch bis zum 1. Oktober 1928 bestanden in Preußen neben kommunal verwalteten Bezirken allerdings die sogenannten »Gutsbezirke« fort, in denen der Gutsherr qua Gesetz auch Oberhaupt der lokalen Selbstverwaltung war.[11] Außerdem nutzten die Gutsbesitzer seit dem 19. Jahrhundert ein besitzrechtliches Privileg, ihr Eigentum abzusichern, den sogenannten »Fideikommiss«.[12] Damit wurde das Gut zu einer rechtlichen Einheit zusammengefasst, das nicht verkauft, an verschiedene Erben weitergegeben oder mit Krediten belastet werden durfte.[13] Obwohl in der Weimarer Reichsverfassung festgeschrieben worden war, dass die Fideikommisse aufzulösen seien, zog sich dieser Prozess aufgrund von Protesten aus adligen Kreisen bis 1938 hin.[14]

Diese rechtlichen und politischen Veränderungen im 19. und im beginnenden 20. Jahrhunderts die von einer zunehmenden Industrialisierung und Modernisierung der Arbeits- und Produktionsprozesse in der Landwirtschaft begleitet waren, führten zu einem Wandel im Gutsdorf. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs machten sich hier aber immer noch vormoderne, feudale Herrschaftsbeziehungen bemerkbar. Zu diesen Überresten gehörte auch das Kirchenpatronat, mit dem für den Adel Privilegien und Herrschaftsrechte verbunden waren. Der adlige Kirchenpatron hatte das Recht, den protestantischen Pfarrer zu bestimmen, und verfügte damit über eine Möglichkeit, das soziale Gefüge des Dorfes zu beeinflussen und zu steuern. Gleichzeitig war der Gutsherr für die Renovierungsmaßnahmen an der Kirche zuständig. Das Patronat existierte in den Gutsdörfern bis 1945, obwohl in Preußen schon seit 1848/49 über seine Aufhebung diskutiert worden war.[15] Die landeskirchlichen Leitungsorgane hatten letztlich kein Interesse daran, die Patronate aufzulösen, vor allem weil der Patron die notwendigen Kirchensanierungen, die sogenannte »Baulast«, übernahm.

Trotz aller weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen blieb das preußische Gutsdorf noch während der Zeit des Nationalsozialismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein Ort, an dem die Gutsbesitzer und ihre Angestellten zusammen mit den Bauern und Handwerkern des Dorfes in einem klar geordneten Herrschaftsgefüge lebten. Bis zum Mai 1945 waren der Gutsbetrieb der dominierende Wirtschaftsfaktor und der Gutsherr die unangefochtene Respektsperson im Dorf. Die Gutsangestellten erlebten in diesem hierarchisch gegliederten Verhältnis Fürsorge und Schutz, aber auch Ausbeutung und Abhängigkeit. Dieser sogenannte Paternalismus beruhte auf persönlichen Autoritätsbeziehungen und konnte so die Gutsherrschaft als informelles, aber dennoch wirkungsmächtiges Strukturprinzip im Dorf bis 1945 stabilisieren und erhalten.[16]

Perspektiven über das Gutsdorf hinaus

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